Max Kommerell: Aus dem Nachlaß


Prosafassung

 

Wenn ein Liebendes sich nach Geliebtem lang und heftig sehnt, zur stummen Nachtzeit, wo die Wellen leis gewünschter Wünsche beredsam an ein vorbereitetes Gehör dringen, und wenn das Geliebte im Schlaf liegt, ganz ausgefüllt von der Kraft unbewußten Gedenkens.. dann löst sich ihm die Seele aus dem schlaffen Leib, geht auf die Wanderschaft, leis die Lippen bewegend wie in einem großen Frost, schwebt, mit geschlossenen Füßen schneller als sie es weiß, gerufen von dem Wunsch, tritt vor das Lager des Freundes, streckt ihm die Hände aus und sagt: mich friert. Der aber richtet sich auf, und bewegt diese Hände stumm gegen seine Brust, und haucht in sie, haucht allen Hauch in sie, den seine Liebe vermag. Die Seele aber schließt dann die Hände fest zusammen, als hüte sie den Hauch darin, und wird nachhause geweht, heim in den schlafenden Leib. Aber unterweges ist ihr bald als hätte sie einen Edelstein in den Händen mit der unruhigen Gewalt eingegrabener Zeichen, einen kühlen, ihr durch die Finger leuchtenden, bald eine brennende Flamme oder goldene Schlange, bald ein Herz, ja das schlagende Herz eines Vogels, das schauerlich süß gegen die Wand seines lebendigen Kerkers klopft. So ein geheimnisvolles Leben in ihren Händen hegend kehrt sie in den schlafenden Leib zurück. Und wenn nun das geliebte Wesen erwacht, so ist immerzu etwas bei ihm zu Gast. Erst ist es in zwei goldnen Stäben, die das durch den Fensterladen dringende Licht an die Wand wirft und die eine unbegreifliche Seligkeit einflößen; nachher ists im Feuer, das sie anzündet und mit dem sie plötzlich so sonderbar bekannt ist, oder eine Kinderhand hat genau den Puls wie das Klopfen jenes Vogelherzens. Es kann aber auch im Auge der alten Magd sein die hereintritt, oder es kann ganz geistig mit einem kühlen Duft aus dem Garten hereindringen. Denn der Duft weiß die vergessenen Wege der Seele. Immer aber dient ihm das Unscheinbarste als Wohnung, obwohl es von nicht geringem Rang ist, und es genügt ihm der bescheidene Sieg daß das Geliebte nie allein sein kann, auch wenn es möchte, und immer etwas mit ihm geht: wie man dem Wind nicht wehren kann, daß er im Haar spielt, oder wie man einen Spinnenfaden mitstreifte, oder einem eine Melodie nicht aus dem Sinn will — oder auch, wie man von einem gewürzten Bad an seinem Leib ein Nachgefühl spürt — den ganzen Tag lang.