Max Kommerell: Aus dem Nachlaß


Gehen im Schnee

 

Ich wandere. Es fällt der Schnee,

Der ebnende, der weiche —

So weit ich sehe, fällt der Schnee,

Der allen Formen gleiche.

 

Und keine Spur im lockern Flaum,

Als die ich selber trete.

Hier aber kreuzt mich eine kaum

Vertiefte, halb verwehte,

 

Leicht hingezauberte. Sie zeugt

In mir das Bild des Rehes,

Wie es den Hals hebt, wie es äugt —

Und auf dem Grund des Schnees

 

Den Umriß seines Leibes, nein,

Der Haare feines Ende;

Sein Springen, sein Entsprungensein,

Das schnellende, behende...

 

Nur der Gedanke der Gestalt,

Statt wirklichen Begegnens!

Doch was dem Geist vorüberwallt

An Lieblichem — wir segnens!

 

Der beinah dichterische Gruß

Des zarten Wildes neben

Dem schweren Eindruck meines Schuhs!

Ein Schreiten, ein Entschweben!

 

Und hafte ich mit dem Gewicht

Des Menschenleides länger —

Wie bald verlernt die weiße Schicht

Den leicht- und schweren Gänger!

 

O Vorrat des Vergessens! rinn’

Aus grauen Himmeln, rinne,

Weichflockiger, herab! Ich bin

Der Erde fromm jetzt inne,

 

Die sich in dies Vergessen schmiegt,

Die blutende und wehe,

Das niederrieselnd nie versiegt.

Es flüstert. Ich verstehe.

 

Viel mehr der Flocken, als im Schnee

Der Fuß, bevor er ruhn wird,

An Schritten — und viel mehr, als je

Das Herz an Schlägen tun wird!

 

Hör ich im Schnee noch meinen Tritt?

Ich höre, fast erschrocken,

Die Flocke nur, die niederglitt

Zu vielen andern Flocken.

 

Und alle Wege sehn sich gleich

Und werden ungenauer

Und endigen in dem Bereich

Der schlichten weißen Trauer.