Max Kommerell: Aus dem Nachlaß


Auf einem kleinen Friedhof in Marburg

 

Der Stein, in den der Schmerz

Sein Zeichen schlug

Mit einem Keil von Erz,

Drückt auf der Toten Herz

Schwer genug.

 

Dann ist es oft, als ob

Vor Bangigkeit

Sich eine Brust noch hob —

Die Erde sinkt darob

Fingerbreit.

 

Und kein Geäder, nein,

Nur Efeu legt

Ein Flechtwerk fadenfein

Den Toten ums Gebein,

Klimmt und schlägt

 

Im Grabstein Wurzel, bis

Zur Stelle, da

Der Schmerz sein Zeichen riß,

Und flüstert: o vergiß! —

Löscht etwa

 

Ihr Toten — und durch ihn —

Dieweil ihr starbt,

Den Namen, der geliehn

Nur eine Wunde schien,

Die vernarbt,

 

Ein Zeichen das verjährt?...

Und manches Mal

(Denn hier wie nirgends währt

Auf Moosen so verklärt

Letzter Strahl,

 

Und zwischen Efeublatt

Und Sandstein träumt

Sich hier wie nirgends satt

Der Schatten. Luft ist glatt,

Weltlauf säumt.)

 

Ja manchmal macht hier stumm

Ein Dichter Halt.

O Efeu, wie so krumm,

Dem Steine um und um

Angekrallt!

 

O Stein! Und wirst zu Staub,

Wo Wurzel webt!

So nährst du, blind und taub

Den Totenbaum. Sein Laub

Aber lebt.

 

Komm Vogel! Sei ein Gast

Der Menschenhand!

Dort tanzen Kinder, fast

Noch wenigere Last

Stillem Land!

 

Der Dichter fühlt sich klein,

Die Toten groß.

Jetzt weihen sie ihn ein

Schon hier wie sie zu sein:

Namenlos.

 

Indessen stellt ein Kind

Den Toten dar,

Die lernend Lehrer sind,

Wie man zu sein beginnt,

Wenn man war —