Max Kommerell: Das letzte Lied


Das Urteil der Gewalten

 

Sanduhr Tierkreis Stab und Glas

Hölzer streng im Brand verriechend

Ließen mich gelähmt und siechend.

Nun allmählich ich genas

 

Und nach reinerm Dasein arte

Rüttelt unwirsch mir der Wind

Des Gebirgs am falschen Barte:

«Fort vom Kinne das! Sei Kind!

 

Ein Gelächter ist hier Zoll!»

Ich erschaudere und lasse

Die verzauberte Grimasse

Lachen — Echo weiß wie toll!

 

Fort ihr feierlichen Tücken!

Hier ist alles keusch und kühl.

Nimm mich, Wind, auf deinen Rücken

Zu centaurischem Gefühl!

 

Heimat ist, eh ich’s gedenk’ —

Ortschaft kindlich eingefaltet

Aber riesenhaft gestaltet

Das umgürtende Gesenk.

 

Über den vergessnen Rain

Klimme ich empor zur Tenne

Wo ich mich vom Falschen trenne

Edelgrauer Buchenhain!

 

In der Mitte ragt ein Steinmal.

Ich umarm’ es ungestüm.

Säuselt Laub und summt Geblüm:

«Alles Tausendmal ist Einmal.

 

Liebe Ihn nur, der entblößt

Hier mit dir sich gibt der Stummen

Und nur Sie, der unser Summen

Sich in Wahrsagungen löst!»

 

Ich gelobte es und schnitt es

In das knirschende Gestein.

Doch noch harrt die Quelle mein,

Keusche Schwester des Granites.

 

Sie entschied: «Wenn dies Gewog

Nach mäanderhaftem Wallen

Salzigem anheimgefallen

Zum Gestirn als Dunst verflog

 

Regnet es, ein unvermengt

Lauteres, ein sickernd Feines,

Bis ein Becken Urgesteines

Es zum Höhlenwasser engt,

 

Ihm ins Freie bahnt der Grundgang.

An wieviel ich mich verlor:

Quelle bin ich wie zuvor.

Reinigung ist aller Rundgang.

 

Bücke dich, daß du erfahrest

Wie du in dir selbst dich irrst.

Schlürfe mich — und wieder wirst

Du was du beim Ursprung warest!»