Max Kommerell: Das letzte Lied


Die Rune

 

Wenn ich ersterbe, bin ich Stein

Und ruhe dumpf vom Weh und Wohle.

Von Menschen ein und aber ein

Bewandelt achtlos mich die Sohle.

Der Stein ist stumm.

Wer weiß darum

Daß jeder Stein ein Grab ist, jede Erde

Zerfallenes von Seele und Gebärde?

 

Und Staub befleckt mich, Regen speit,

Wind rüttelt beide aus dem Rechte.

Doch meine Schmerzverhaltenheit

Sprengt weder Frost noch Haar der Flechte.

Kein Blitz zerdrischt

Kein Wind verwischt

Die in mir eingeprägt geheimnisreichen,

Gelebten Sinn verewigenden Zeichen.

 

Ich bin gewidmet. Mir verblieb

Untilgbar eigen durch Erstarrung

Was in mich einst die Liebe schrieb

Und mein Jahrtausend heißt Beharrung.

Bis dessen Hand

Sich um mich wand

Der sich, dem einst in mir verschloßnen Blitze

Gehorsam, bücken wird auf mein Geritze.

 

Sein Mund, von Fieber eingeknittert,

Errät die Rune. Er erschrickt,

Weil er den Geistergriffel wittert.

Und Deine Form, nicht mehr verstrickt

In Kreuz und Strich,

Gebäre ich,

Wenn er mich preßt an die durchglühte Stirne,

Aufs neue seinem schaffenden Gehirne.