Max Kommerell: Das letzte Lied


Das Lied des Zentauren

 

Übrig sein ist solche Scham

Daß der tiefste Wald der Erde

Mich in sein Geheimnis nahm.

In nachdenklicher Gebärde

Der verwichnen Meinesgleichen

Tröst’ ich mich, zu also tiefen

Frühlingen zurückzureichen

Daß die Zeiten mir entliefen

Und sogar die Sagen mich verlernen.

Denn ich lebe unter falschen Sternen.

 

Mit dem Auge mild und weit

Blick’ ich wie ein Geist hernieder

Auf die erdbraun, auf die breit

Ruhende Gewalt der Glieder.

Der ich mich mit Urgesängen

Und mit Waldgerüchen salbe

Zu gewitterlichen Gängen:

Ich bin ganz und ihr seid Halbe,

Da ich von den Ahnen: Sturm und Stute

Stern- und Erdkraft einige im Blute.

 

Ach wie waren wir zu zwein

Mit manch feinem Heldenkinde!

Lehrten es die Arzenein

Aus den Kräutern ziehn und linde

Meere Wohllauts wachzuspielen,

Meere in schildkrötner Schale...

Ach wie waren wir zu vielen

Als der Halbgott kam zum Mahle:

Scharenweis aus Höhlen vorgebrochen

Weil wir Weinduft durch die Wildnis rochen!

 

Unsrer riesenhaften Wut

War Erfüllung zugeschworen.

Aus Geklüft und Laub und Flut

Wurde jählings uns geboren

Ein mit dumpfem Ruf gepacktes

Rehgleich zitterndes, im sausend

Reinen Strom der Lüfte Nacktes..

Wurde Eines uns zu tausend!

Jetzt ist alle Heirat mir verboten

Und mein Huf pocht ans Gewölb der Toten.

 

Statt lebendiger Leiber schickt

Sie gedämpfte Klagelaute.

Ich erschrecke. Es erschrickt

Drunten, drinnen die Vertraute

Meiner einsam späten Weihe.

Lebst du, liebst du? «Nicht mehr lange»

Bin ich reif, daß ich dich freie?

«Ja, mit deinem Untergange»

Bleibst du bei mir, wenn ich untergehe?

«Tot beim Toten in geheimer Ehe.»

 

Wem dies Fühlen ich beschriebe

Den verdrösse Wein und Brod.

Denn das Leben will die Liebe

Und die Liebe will den Tod.

Liebe kennt allein den alten

Einklang. Schmerz ist, ihn zu kennen.

Liebe blutet aus den Spalten

Die das All in Dinge trennen.

Eine Wahl nur haben, die ihr dienen:

Sterben sie nicht, stirbt der Gott in ihnen.

 

Letzter sein ist eine Scham

Und ein Übermaß an Wehe.

Eil’ ich denn hinunter, ehe

Bei den Menschen man vernahm,

Seltsam wie ein Vorwelt-Schatte

Hause noch ein Ding in Forsten!..

Wo ich sonst das Lager hatte

Warst du, Erde, heut geborsten,

Legtest eine Schlange mir als Knoten

Um den Fuß. Ich grüße deinen Boten.

 

Ein ganz Reiner kommt und muß

Noch dem Lied des Abschieds lauschen.

Tödlich wird es ihn berauschen.

Nieder treibt er mit dem Fluß.

Und ein andrer, der zum Bunde

Mit ihm tauschte Blut und Wesen,

Wird von seinem starren Munde

Die verschwiegne Botschaft lesen.

Stirbt ein Mensch, so weinen Menschen — nicht

Einer, wenn das Herz der Erde bricht.