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Max Kommerell: Dichterisches Tagebuch


Auf der Brücke

 

Lieb sind mir Brücken. Denn in diesen

Geben zwei Ufer sich die Hände,

Getrost, daß überm Fliehn und Fließen

Sie Unverbrüchliches verbände.

 

Oft flößt sich dann der Geist der Brücke

Dem ein, der drüber geht. Verändert

Sieht er das Domgrau in der Reihe

Von Häusern, die das Flußbett rändert —

Beinah mit ihr aus einem Stücke,

So frei getragen, wie wir Zweie

Sanft angestreift mit abendrotem Glücke.

 

Aus lichten Dünsten regnete

Ein Schwarm von Möwen — o ihr reich

Mit Schwebeglück Gesegnete!

Sodaß die Luft von ihrer Schwingen Streich

Fast unsanft deiner Stirn begegnete.

Und Hände werfen Brot,

Das sie, mit aufgeregtem Flattern

An gleicher Stelle, überm Strom ergattern,

Gebrüstet mit ganz blassem Rot.

Es war ein Haschen in klangvoller Luft

Weißflügliger Begier nach schwanker Beute!

Von Licht und Blitz und Schrei und Duft,

Von silbernem Geschwirr bestürzt

Empfing ich schwelgerisch verkürzt

Die Gunst des ganzen Jahrs in diesem Heute.

 

Und irgendwo, indes du in dir ruhst

Mit weggewendetem Gesichte,

Und deiner Seele lieber, da

Sie gern auf solch verklärten Inseln fußt —

Und irgendwo (so sage ich) geschah

Uns von zwei Wolken die Geschichte.

Die waren regungslos sich nah

Und regungslos darüber hangend

Der Ball der Sonne. Es zertroff

Die aus durchsichtigerem Stoff

Geformte, so zur andern langend.

Sie hatten Ränder klarsten Golds,

Als hinter sie die Sonne trat und mitten

Als Herz in sie hinabgeglitten

Blutrot sie tränkte und verschmolz.

_ _ _ _ _

 

Aus Jahren träufelt die Sekunde

Wo wir durch plötzliches Vertauschen

Von stumpfem Nichtklang schnell Gesunde

In liebem Ding uns selbst belauschen,

Zu zweien klingend; aber gelten

Wir dann als Ich noch und als Du?

Zwar reich an allem ist, doch selten

Schlägt dieses reiche Herz der Erde

Durch uns hinauf mit einer Urgebärde,

Und Liebe geht (sei es durch Welten,

Sei’s kurzen Pfad nur) auf demselben Schuh

Worein zuerst den Fuß sie schnürte,

Weil jede Seele ein Berührtes ist

Von fremden Grüßen, und als so Berührte

Unsterblich, wenn sie ganz sich selbst, doch jenes nie vergißt.