Max Kommerell: Dichterisches Tagebuch


Ein Brief

 

Die schweigsamen Zypressen

Erraten viel, doch haben keinen Mund,

Nur dunkles Flüstern und

Ein Vorrecht, nie Gestorbnes zu vergessen.

Doch ihre kühle Kraft beschwor

Die treue Erde unter ihnen,

Mit einem Tranke, der kristallen ist,

Dem Durst des Würdigen zu dienen,

Und wo den Andern nur ein leeres Lallen ist,

Sagt ihm die Mutter etwas in das Ohr. —

So bist du schön auf wunderbar

Mir einzig liebe Weise, bist

Das Wissen, das sich selbst vergißt;

Nur wer im Traume spricht, sagt wahr.

Denn was aus einer Nacht, die ewig schweigt,

Leis aufwärts in dein süßes Leben steigt,

Ist nicht für sie, die sich so eilig

Um dich zerstreuen wie versammeln.

Mir, wenn du klagst «ich kann nur stammeln»

Ist dein Nichtsprechenkönnen heilig.

Dann lese ich aus deines Mundes

Liebwertester Verschlossenheit:

Nur wenn du liebst, erkennst du dich und sprichst.

Du fandest dich und achtest nicht des Fundes.

Doch den du liebhast, der ist eingeweiht.

Und wenn du eines Götterwinks

Versichert dann dein Schweigen brichst

Ist es das Rätsel nicht der Sphinx.

Fragt dich das Leben nach sich selbst, so legst

Du dich in es und sagst «Wie bist du gut»

Fragt dich ein Banger nach sich selbst, so hegst

Du ihn in so vertrauensstarker Hut

Daß er, den deine Antwort nicht verwarf,

Von Neuem an sich selber glauben darf.