Max Kommerell: Mein Anteil


Eichen bei Schwanheim

 

Ein Schlag von Birken, wehenden und jungen,

Begrenzt den Wald. Fernab vom Wege blenden

Gestreckte, grell besonnte Siedelungen.

Dahinter steigt von beiden Himmelsenden

In einer Linie, die rein gezogen

Im Ebenmaß zur sanften Kuppe klimmt,

Des Flachgebirgs mir einzig lieber Bogen,

Der zu Vollkommenem die Seele stimmt.

 

Dazwischen sie. Du glaubst sie nicht. Im strengen

Abstand der Größe. Jede eine Mitte.

Und braunes, leises Gras. Denn sie verhängen

Ein Schweigen wie um Totes. Ihre Sitte

Ist: das Gewesene in sich begraben.

Das sind die Bäume, die ein Schicksal haben.

 

Die eine trägt auf der geborstnen Säule

Noch eine Welt: von Armen, welche ringen,

Als juble sie und schaudere und heule

Mit vielen Seelen... ihre Rinden springen,

In Zacken wirft sich aufwärts das Geäst,

Weil es mit einem Krampf geschlagen war

Vom Ungeheuren, das zu sagen war;

Und biegt, weil es sich doch nicht sagen läßt,

Selbeinwärts sich und dauert so und ragt,

Nur weil es war, nicht mehr, damit es werde,

Und ist die tausendarmige Gebärde,

Mit der die Erde in den Himmel fragt.

 

Dem ähnlich, dünkt mir, an Gestalt und Mühn

Sind ihre Wurzeln, die mit greisem Munde

Erdeingekrochen dort das Feuchte lecken,

Das zwischen rissigen, versteinten Decken

Und der im Innern hohlgebrannten Wunde

Aufsteigt; denn oben treibt noch kleines Grün,

So wie das Haar fortwächst an einer Leiche.

Wem Blitze so die Brust ausweideten,

Wie der noch lebt, das frage sie — die Eiche!

 

Durch das Gezweig der noch Beneideten

Zieht Wandelndes und Stetes. In ihm fängt

Sich eine Wolke, sich die Silhouette

Von einem großen Vogel — wie gedrängt!

Und dicht an uns herangerückt, als hätte

Sich eine Riesenblüte reinen Golds

Auf einmal losgewunden aus dem Holz,

Der runde Mond. Manch andrem hohen Lichte,

Das so die Eiche aus dem Weltall schnitt

Mit zackigem und krummem Griff, gefiel es,

Hierinnen Bild zu werden und Geschichte,

Und unsre Seele fing darin sich mit

Wie in den Reden eines Trauerspieles.

 

Die andre ist von weitem wie ein Mann,

Der auf dem Feld den Arm wirft und sich Raum macht

In einem Schrei, fast schamlos. Denn man kann

Nichts an ihr sehn, was einen Baum zum Baum macht:

Nichts was sich streckt, was schlank ist und was zweigt.

Ein Rumpf, vier Stämme stark. Ins Leere zeigt

Mit einem Stummel er. Ein Arm, so dick

Fast wie der Stamm, hintüberwärts gerenkt,

Verkohlt... Wohl ist ein andrer Augenblick

Um diesen, als um andre Bäume, denen

Mit Sonn und Stern zu wechselvollen Szenen

Das All sich dreht. Ihn denkt sie, immer denkt

Sie ihn: wie da ein Wirbel gor

Von Pfiff und gelbem Rauch, der in ein spitzes,

In sie gequirltes Feuer sich verlor —

Sie denkt des Augenblickes, der sie fällte,

Daß als Gestalt nicht mehr, daß als Entstellte

Sie Beispiel sei für die Gewalt des Blitzes.

 

Der Blitz geht unbegriffen durch die Welt

In seiner Plötzlichkeit des Glanzes

Vom Stier, der murrt, vom Menschenmund,

Der sprachlos aufklafft. Denn ein Ganzes

Ist immer er, das ganze Feuer rund

Um all das All! Ihn, daß er einzeln werde,

Lockt, was da strotzt von Mark, was gierig ist,

Statt grünen Jahrs für eine schnelle Frist

Fackel zu sein. So nascht er an der Erde,

Und Male, steil an seiner Lust verkohlte,

Sind übrig, wenn er rückwärts in das Rad

Der eignen Umfahrt schnellend sich erholte

In junger Stürme, junger Feuer Bad.

 

Drum jauchzt das Herz, wenn es euch Tote sieht,

Mehr als vor Lebenden... geht durch die Reihe

Der Zeugenschaft und deutet viel und kniet

Vor jeder, wie sie ihrem Lebensschreie

Vereinzelt abrang ein Gepräge

Sich selber gleich — geht bei euch Unbegrabnen

Ergriffen in die Schule des Erhabnen

Und schlägt wie große, wie beklommne Schläge...

Lernt Schicksal, lernt den Lebensbrand,

Der auffliegt, lernt die Offenheit

Des Ausdrucks, der das Sein verstand:

Den stummen Ausdruck der Betroffenheit.