Max Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel


Die versäumte Begehung

 

Den Untergang des Lichtes zu verehren

Stieg ich den Waldpfad, bis gebietend ihn

Ein Urfels mir verlegt, und andre, deren

Geringere Gestalten sich wie Schüler

Am Moose seines milden Ernsts erziehn;

Und Tannen stehn so dicht, daß ich in kühler,

Blaugrüner Dämmerung gefangen schien,

 

Und doch war nur ein Schritt noch zur Terrasse,

Wo Grenzenlosigkeit den Geist ergriff,

Ein Schritt nur — den ich freilich unterlasse!

Weil so wie öfter wohl, und doch betörend

Wie nie zuvor, jetzt eine Amsel pfiff.

Ja, das so alt ist wie die Welt — sie hörend

Ward das granitene, ward jenes Riff

 

Beinahe geistig. O wie schön! Jetzt eben

Zu schön! Die Lust erdunkelt und wird bang.

Nein — daß ein kleines, unbewußtes Leben,

Das Vogel heißt, die Töne in der Brust hat,

Nach denen ich, und stets vergebens, rang!

Die Seele springt. Wie sie sich nie gewußt hat —

Sie, neben sich, sie, noch einmal: als Klang!

 

Und je nachdem bald mächtiger die Klage

Des Vogels schwillt und bald ersterbend bricht,

Wird Fels und Moos, wie ich mir selber sage,

Hauch-rosa oder purpurn angerötet.

Ist solcher Rosen zauberisches Licht,

Auf einmal aus dem Fels hervorgeflötet,

O Amsel! dein entzückendes Gedicht?

 

Schräg auf dem Felsen aber lag ein Schatte,

Ein veilchenfarbener. Er überkroch

Der Rosen Licht, das sterbende und matte,

Und sog die letzten Klänge auf. Wie nüchtern

Das Grau! Das Grün wie ernst! Die Kühle roch

Nach Ewigkeit. Ich schrecke auf. Und schüchtern

Betret' ich das zuvor vermiedne Joch.

 

Noch um den Hingang wehen letzte Flore.

Doch wagt der Himmel nicht zu trauern mehr,

Das Sternbild prüft mich, dem ich jetzt gehöre.

Versäumt ist der Belehrung untre Stufe.

Läßt man mich zu in höherem Verkehr,

Der ich dem Echo folgte statt dem Rufe?

Ich schweig' und harre — seltsam leicht und schwer...