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Oskar Loerke: Franz Pfinz


Zweites Kapitel

Wer durfte hoffen, einen Verein, dessen Mitglieder in der ganzen Stadt zusammengesucht werden mußten, plötzlich zustande zu bringen, wenn er nicht die Hilfe des Bauunternehmers und Hausbesitzers Hohenkrähn gewann? Wer befuhr so oft wie er die sämtlichen fünf Linien der elektrischen Bahn? Er hatte eben überall dabei zu sein als ein guter Geist der Stadt. Obwohl diese knapp fünfzigtausend Einwohner zählte, flimmerte sie abends von Osten bis Westen, von Norden bis Süden in elektrischer Beleuchtung; und Hohenkrähn hatte als einer der eifrigsten dafür gewirkt, daß die günstige Wasserkraft dafür ausgenützt werde. In wenigstens einem halben Dutzend gemeinnütziger Vereine war er aktives oder passives Mitglied. Wer grüßte bei jedem Ausgang so viele Leute wie er und wer wurde so oft gegrüßt? Er wurde in seinem ausgedehnten Bekanntenkreis eigentlich nirgends ungern gesehen, obwohl er doch oft genug gezwungen war, die Interessen eines eben Begünstigten zu schädigen, indem er sich mit einem andern verband. So mußte wohl das Geheimnis seines Umgangs nicht auf seiner Tätigkeit, sondern auf persönlichen Eigenschaften beruhen. Ja, die Nächstbefreundeten wußten von einem halben Geheimnis seines Blutes.

Émile Hohenkrähn vermutete, daß er einem alten Adelshaus entstamme. Zwar der aparte, französische Vorname war noch nicht lange familienüblich, obwohl doch schon sein Urgroßvater den accent aigu im Kopfe gehabt und seinem Sohne auf den Vornamen gesetzt hatte. Dieser accent war durch die drei Generationen gehüpft und hatte bereits über dem ersten, zweiten und dritten Gliede der Namenreihe wie ein Schwanzstern geprangt. Des gegenwärtigen Herrn Hohenkrähn ältester Sohn, des kleinen David Pfinz Spielgefährte, hieß Maximilian Émile Ottokar Hohenkrähn. Wie gern hätte der Vater ein v. vor das letzte Wort gesetzt! Indessen dieses v. war noch nicht erwiesen. Zwar, hätte seine Frau ihn nicht gehindert, würde er längst eine Reise nach Baden unternommen und in alten Kirchenbüchern nachgeforscht haben. Es war ihm nämlich verdächtig, daß Hohenkrähn ein Ortsname war. Ob er dies infolge seiner historisch-geographischen Kenntnisse wußte oder sich die Kenntnisse seinem Namen nachschnüffelnd erworben hatte, ist zweifelhaft. Jedenfalls prahlte er, daß im sechzehnten Jahrhundert sogar der Kaiser erst seine besten Kanonen Burlebaus und Weckauf gegen Hohenkrähns kühne Plünderer richten mußte, ehe sie besiegt wurden. Er glaubte sich aus dem Hegau gebürtig und — ohne das Aufgebot eines antiquarischen Zwanges — ein Nachkomme jener räuberischen Ritterschaft und fühlte sich, als hätte er gegen den schwäbischen Bund mitgekämpft. Wenn die Ortsbezeichnung zum Personennamen werden konnte, war doch die Vermutung berechtigt, sie sei einem besonders verdienten Manne als Adel verliehen worden.

Wer weiß, vielleicht dieser erhabenen Verhältnisse wegen war ihm eine gewisse Weite in allen Dingen naturnotwendig. Seine Wohnung war nicht nur geräumig, sondern ein mikroskopisches Abbild oder wenigstens Sinnbild der ganzen Welt. In der Küche schimmerte Delfter Porzellan, auf dem Ofen standen chinesische Götzenbilder, von der Salonwand schaute sein eigenes Bild in japanischer Seidenstickerei; sein Bruder, Maat in der kaiserlichen Kriegsmarine, hatte es nach einer kleinen Photographie heimlich anfertigen lassen und einmal beim Weihnachtsurlaub mitgebracht. Japanische Fächer dagegen hatte Hohenkrähn einem einheimischen Hausierer abgekauft, italienischen Tuffstein auf einer eigenen Reise erbeutet und eine geschnitzte Uhr aus dem Odenwald mitgebracht. Zum Pendant des japanischen Porträts hatte er eine Reproduktion der Holbeinschen Jane Seymour gewählt und zwischen beiden Bildern den Apollon Sauroktonos des Praxiteles (in Gips) auf ein Wandbrett gesetzt.

Dissonanzen empfand er nicht, weil er nie auf den stillen Einklang der Dinge lauschte, sondern lieber durch ein Vielerlei sich die Gedanken entzünden ließ, um sie in zischenden Raketenbahnen in die Weite zu schleudern.

Franz Pfinz hoffte denn, Hohenkrähn werde nur den kleinen Finger zu rühren brauchen, und ein Musikverein war da.

Hohenkrähn staunte und betrachtete seine chinesischen Götzen, während er Franzens Plan anhörte, höhere Justizbeamte, Offiziere und andre Leute von Rang und Ansehen, soweit sie feine Ohren und fertige Finger hätten, sollten zu ihrer Erbauung Beethovens und Schumanns Symphonien spielen lernen, ganz für sich natürlich, ohne den Gedanken an öffentliche Aufführungen. Es sollte etwas Geistigeres und Edleres erstehen, als es Militärkapellen zu bieten vermöchten. Die mißliche Frage des entlassenen Schulmeisterleins sollte bei jedem der ins Vertrauen gezogenen Herren individuell behandelt werden. Franz hatte nach einer kleinen Pause noch hinzuzufügen, daß es sich um keinen Geldverdienst für ihn handele: Geld sei durch fleißiges Erteilen von Privatstunden aufzubringen. Höchstens könnte man ihm einen kleinen Ehrensold aussetzen. — Dann schwieg er.

Auf Hohenkrähns Kopfe nun saß nur noch ein rötliches Haarinselchen von der Form einer laufenden Eidechse, die jeden Augenblick heruntergleiten und auf den Boden stürzen zu können schien. Hohenkrähn kratzte diese Eidechse in allen Lebenslagen, vornehmlich dann, wenn er etwas Peinliches zu sagen hatte, und das Spiel seiner fetten Finger dabei sah urdrollig aus. Da er jetzt das Kratzen vornahm, erkannte Pfinz, wie phantastisch sein Plan war, denn in Dingen des praktischen Lebens räumte er Hohenkrähn eine unbedingte Autorität ein.

Hohenkrähn sagte: „Lieber Freund, da wirst du in der Bevölkerung doch wohl eine Stufe tiefer steigen müssen, aber du findest dort ebensoviel Fertigkeit und guten Willen wie oben.“

„Meinst du?“ fragte Franz.

„Natürlich, natürlich. Überhaupt besteht dein Verein ja schon. — Du nimmst die Melodia.“

Vor zwei Jahren nämlich war ein gewisser Herr Scharbok als hochbetagter Mann gestorben, der es sich in vierzigjähriger Arbeit hatte angelegen sein lassen, die musikalischen Kräfte der Stadt zu wecken. Zuerst hatten nur wenige Herren mit ihm Kammermusikwerke gespielt. Allmählich hatte er, da er die technische Ausbildung mancher neuen Mitglieder übernahm und durch Liebenswürdigkeit, Eifer und stattliches Können immer weitere Kreise aufmerksam machte, ein Orchester zusammengebracht, das zuletzt italienische Ouvertüren und Haydnsche Symphonieen ausführte. Nach seinem Tode fand sich nicht gleich ein tüchtiger Leiter, und die Melodia löste sich auf. Franz lebte damals noch in einer andern Stadt. Neuerdings regten sich die ehemaligen Mitglieder und, wie das Gerücht ging, waren jetzt zwei musikalische Vereine in der Entwickelung begriffen, der eine natürlich aus Rivalität gegen den andern. Beide warben neue Mitglieder und etliche Herren fanden Vergnügen daran, auf ihre alten Tage noch fiedeln und blasen zu lernen.

„Die alle vereinigen wir,“ sagte Hohenkrähn, „und du dirigierst. Du hast viele gute Freunde unter den Mitgliedern, z. B. mich. Ich habe mit meinem Cello ja immer mitgetan und werde es selbstverständlich wieder. — Hm, hast du schon eine Wohnung?“

Franz erzählte. Die Trauer um Albrecht stand ihm rührend an. Hohenkrähn wollte für den guten Narren etwas tun. „Franz, im nächsten Jahre mußt du zu mir ziehen. Ich gebe dir eine feine Wohnung, natürlich gratis. Das darfst du einem guten Freunde nicht übel nehmen. Denn! Höre!“

Ihm war das Glück widerfahren, daß die Stadtverordneten beschlossen hatten, eine neue Straße als Querverbindung zwischen zwei Hauptstraßen gerade dort zu führen, wo er hinter einem seiner Häuser ein Gartengelände besaß. Dieses konnte er nun erst nutzbar machen, es gab ihm zwei Baustellen her.

„Fein, sage ich dir. — Breites Portal. Im Flur Marmorimitation. Mensch, Franz, komm zu mir. Also unten Marmorimitation und zwischen Pilastern Gemälde, Weiher mit Lotos und Schilf und Schifferin. Das ist der Sommer. Auf der andern Seite Kiefernforst im Schnee, im Hintergrund eine Hütte, wo man den Weihnachtsbaum durchs Fenster strahlen sieht. Pm, ich sage dir, pikfein ausgedacht. Hier der Grundriß als Bleistiftskizze — alles selbst gemacht. Natürlich Warmwasserheizung und Glühbirnen im Treppenhaus und in allen Zimmern.“

„Schön,“ sagte Franz lächelnd, „du das Haus und ich die Fünfte Symphonie. Wir fangen zugleich an. Wollen sehen, wer früher fertig ist.“

Der Verein wurde einige Tage später im Neptunswirtshaus am Markt, das als Übungslokal dienen sollte, gegründet. Hohenkrähn und Pfinz sprachen, so gut sie konnten, auf die Versammlung ein.

Vorsitzender wurde Herr Fröschke, ein lieber Bekannter Pfinzens, wenn auch kein Duzfreund. Erstens war er allen gut bekannt, zweitens hatte ihn Hohenkrähn, der den Posten für sich selbst von vornherein ablehnte, in kurzer Rede als einen liebenswürdigen und besonnenen Mann vorgeschlagen, und drittens war der kleine dicke Herr sozusagen doppelt vorhanden, denn sein Kompagnon, der ebenfalls sehr besonnene, nur noch kürzere Herr Meuslin begleitete ihn auf Schritt und Tritt wie sein eigener Schatten. Die beiden waren Inhaber des größten Schnittwarengeschäftes der Stadt und sind es heute noch. Ihre Firma „Fröschke und Meuslin“ wird gesprochen wie ein einziges Wort, das den Ton auf der äußersten Spitze des Schwanzes trägt, alles andre ist Auftakt. Die Formel herrscht in den Nähstuben der Stadt fast hieratisch.

Als Fröschke, sich zu bedanken, das Podium bestieg, verbreitete sich in allen Herzen das äußerste Wohlbehagen. Seine Stimme war die bare Würde und das schiere Fett. Er hatte beinahe keine Lippen im feisten Gesicht, dagegen nisteten eine auffällige Warze und ein joviales Lächeln in seinem rechten Mundwinkel zusammen wie ein ewiges Lämpchen samt seinem Schein. Den Vorsitzenden merkte man ihm sofort an, denn wenn er seine Augen zwischen den wippenden, fetten Schenkeln bedächtig zu Boden senkte, war es, als sähe er dreimal um seine Person herum. Er spielte Fagott...

Nach ihm betrat Herr Aberwitz, Schlächtermeister und zukünftiger erster Klarinettist, die Bühne, und alles schwieg. Es war ein großer Mann mit unsäglich hochmütigem Gesicht, in dem sich kleine schwarze Augen lebhaft drehten. Auf seinem bis in den Nacken hinab gescheitelten schwarzen Haare tanzte bei jeder Bewegung ein fetter Wichseglanz. — Nun, er schlug auch vor, dem Verein den Namen „Symphonie“ zu geben, weil dadurch zugleich die Höhe des Strebens und die Brüderlichkeit der Mitglieder angedeutet würde.

Das geschah denn, weil ein Weihnachtsmann, vor dem auch böse Rangen beten sollen, einen tüchtigen Vollbart haben muß.

In langer, sehr langer Beratung wurden die Statuten festgesetzt, auch dem Dirigenten Franz Pfinz ein ziemlich beträchtliches Honorar bewilligt, wofür sich außer den Herren Fröschke und Hohenkrähn der mädchenhaft seufzende Baßspieler Herr Krunkekrumm in einer wie pure Totenklage klingenden Rede verwandte. Schließlich verteilte Franz die Stimmen der Fünften Symphonie, und Herr Fröschke ermahnte unterdessen liebenswürdig die Herren Musici, fleißig zu üben.

Franz befand sich in schmerzlicher Seligkeit. Nun begann doch endlich sein Leben. Viele seiner Bekannten im Vereine meldeten ihre Söhne und Töchter als Privatstundenschüler bei ihm an, damit er keinen Geldmangel litte.

Er spielte die Fünfte Symphonie zu Hause auf dem Flügel dreimal hintereinander und versank recht in Beethoven. Was wollte er alles herausholen! Er hatte für Beethoven seinen Verein — und was für einen Verein!