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Oskar Loerke: Franz Pfinz


Drittes Kapitel

Wenige Tage später fegte um die achte Abendstunde Frau Ladwig durch die Straßen, ihre Freundin Antonie Pfinz zu besuchen. Ihr Gang und ihre Bewegungen hatten etwas vom Märzwind, in dem die Vogelscheuchen wackeln, und doch war sie schon einundsechzig Jahre alt. Die dunklen Augen schwärmten noch und lagen gleichsam immer auf der Lauer in den schon umrunzelten Höhlen. Im Gesicht, einst rosa, jetzt ganz weiß, zogen sich nur weiche Falten hin. Eine kecke Haube schwebte auf der äußersten Spitze des Kopfes. Die schwarzen Haare, in der Mitte gescheitelt, waren dicht und glänzend gleich gelacktem Porzellan auf Puppenköpfen. Die Leute in der Stadt, die sie kannten, sahen ihr nach und sagten wohl: „Es ist noch lange nicht Winter“, und behaupteten, sie schwippe und wippe, als hätte sie den Geist ihres lustigen, verstorbenen Mannes noch am Arm, ginge mit ihm auf Visite und gäbe wie ehemals die stattlichen Karten ab, worauf in Buchstaben, die allesamt wie geringelte Katerschwänze aussahen, zu lesen stand: „Ludwig Ladwig und Hedwig Ladwig.“ Diese Worte mit den vier wig (gesprochen wich) üben die Kinder bis auf den heutigen Tag, ob ihre Zungen nicht stolpern, und immer lachen und hüpfen sie dabei, wie es dem Geiste der Nameninhaber entspricht.

Antonie rief hastig aus, als sie ihr öffnete:

„Ach! — Frau Ladwig!“

„Mein Gott, Sie erschrecken ja so, beste Frau Pfinz. — Sind Sie krank? — Unwohl? Sie sehen nicht wohl aus.“

„— — mir geht's ganz gut. — Ich dachte, mein Mann käme endlich. Der ist ganz verändert, macht Spaziergänge — von übermäßiger Ausdehnung. — Heut ist er schon seit Mittag weg.“

Frau Ladwig war von einer mehrwöchentlichen Reise heimgekehrt und wußte viel zu erzählen. Die Zeit verging dabei leidlich schnell.

Endlich kam Franz. Er schlug draußen mit der Tür.

Frau Ladwig horchte auf den Lärm und fragte abwartend: „Na?“

„Hören Sie nur,“ sagte Antonie bestürzt.

„Sei mal nicht böse!“ rief Franz in der Tür lallend.

„Endlich, Franz. Hast du die Klavierstunde gegeben?“

„Das war heute nicht möglich. Unmöglich.“

„Franz, du bist ja so heiser. Was ist dir, Franz?“ Sie stand auf und sah ihm in die Augen. „Wie riecht du? Du bist betrunken, Franz!“

„Ach, betrunken. Nun bloß keinen Lärm. Freilich ein paar Kognaks. Wißt ihr nicht, daß mein Freund Albrecht Ullerich tot ist und daß ich Beethoven —. Ich betrinke mich nie. Nie betrinke ich mich. Ich gehe ja doch nie aus. Gehe ich aus? In die Kneipen? Und nun Lärm? Gehe ich aus? Gehe ich aus, Frau Ladwig?“

„Das ist ja wahr,“ erwiderte Antonie. „Aber erstens lärme ich doch nicht und zweitens finde ich es sonderbar, daß du Frau Ladwig anredest, ohne sie zu begrüßen.“

Er lächelte und knixte vor Frau Ladwig.

Antonie mußte trotz all ihrer Erregung ebenfalls lächeln und sagte:

„Ist er nicht drollig, Frau Ladwig?“ sie umarmte Franz.

Frau Ladwig war überrascht und antwortete nicht gleich. Das ärgerte Antonien. Sie sagte zu Franz:

„Ganz egal, wir sind doch gute Freunde, Franz, nicht wahr?“

„So bist du, Liebste?“ sagte er, und die hellen Tränen standen ihm im Auge. Er machte sich aus ihrer Umschlingung los, bot ihr den Arm und führte sie vor Frau Ladwig, vor der er sich verbeugte und jubilierte:

„Das ist mein Weib!“ und krähte: „Gu'n Mo'jn! Stolz bin ich, stolz, Frau Ladwig.“

Hedwig Ladwig war lustig geworden, sprang auf, reichte eine Hand Pfinz, eine Antonien, so daß der Kreis geschlossen war, und rief aus voller Kehle, die Arme auf- und abschwenkend:

„Hurra!“

Die andern beiden riefen mit. — Antonien kostete die Ausgelassenheit nun doch einige Mühe.

Frau Ladwig sang:

„Ringel—ringel—Rosenkranz“ und ging drei Schritte herum, bis sie lachend ins Sofa sank.

Antonie ließ Franz los und sagte gerührt zu ihr:

„Ich danke Ihnen, liebste Frau Hedwig. Wer so jung bleibt und in Ihrem Alter Spaß versteht —“

Franz rückte sie einen Stuhl zurecht und drückte ihn hinein. „Nun sei vernünftig, Franz. Ein bißchen weniger vorlaut,“ mahnte sie mit reizender Betonung und Stimme. „Ich nehme dir die Kognaks nicht übel, du alter —. Ich habe dich gar lieb so, weil es seit Wochen das erstemal ist, daß du von Herzen frei und heiter bist. Soll das von nun ab auch ohne den gräßlichen Schnaps so bleiben? Hm?“

„Von nun ab“ — fing Franz selig zu schreien an.

„Hand aufs Herz!“

Er legte die Hand aufs Herz.

„Von nun ab —“. —

Er blieb aber versunken und hatte immer dieses Sehnen in sich: rissig, tränig, abgebrochen wie der Klang jahrhundertalter Glockenspiele, die in Türmen mit phantastischer Zier und dunklen Scharten Choräle spielen.

Schon an seinem Geburtstage fand der Umzug zu Ullerichs statt, an seinem Geburtstage der Feierlichkeit halber. Abends würde er zum erstenmal dirigieren, und so sollte das neue Leben von Anfang an in einer neuen Wohnung gelebt werden.

Der erste Wagen mit den besseren Möbeln, dem Flügel, Schreibtisch, Sofa fuhr ab, den kleinen David holte Julius Fürchtegott Ullerich gleichzeitig. Ein Leiterwagen wurde mit dem Reste beladen. Das große Waschfaß drohte hinabzugleiten, Antonie machte Franz darauf aufmerksam.

„Ich werde es selbst festhalten,“ sagte er und schickte sich an, den Wagen zu besteigen. Antonie ergriff ihn beim Arm und suchte ihm klar zu machen, daß er dies wegen der Leute nicht dürfe. Er schien darüber ärgerlich und sagte: „Die Leute, die mich nicht achten können, wenn ich beim Transport meiner Sachen mithelfe, sollen es nur bleiben lassen. Trefflich, Antonie — wir nehmen gleich eine Sonderung der Schafe von den Böcken vor.“

Er machte ein Gesicht wie ein König, als er auf den Turm von Gerümpel stieg, den Geigenkasten in der Hand.

Antonie folgte. Sie fand keine andre Beziehung zu ihm als Mitleid. Sie sah, wie ihn sonst die Anhänglichkeit an Bekannte für eine Weile halb blind und halb taub gemacht hatte, so hielt ihn jetzt der Gedanke, Musiker zu sein, oberhalb der grauen Wirklichkeit fest.

Immerhin erhielt Franz sofort seine kleine Lektion, als die Pferde anzogen und der Wagen zu wackeln begann. Er erschrak nicht wenig. Antonie reichte ihm die Hand. Er faßte sie und schmiegte seinen Arm an ihren. Sie saßen den ganzen Weg zuhöchst des Leiterwagens. Die Bodenrumpelkammer hatte ihren Inhalt für die oberste Schicht hergegeben, die Instrumente aus der Seminaristenzeit lagen um Franz gruppiert. Die Geige setzte er sich schnell auf den Schoß, denn der große flache Bottich erforderte tatsächlich ein Festhalten. Franzens Füße standen auf dem Lorbeerblattrahmen des Briefes vom Vormund. Er saß unsicher und blieb bleich vor uneingestandener Furcht herunterzupurzeln, denn auch Musiker können von dieser höchst irdischen Furcht befallen werden, und diese Furcht zwang ihn auch wohl, einen Arm zu lösen und um sein Weib zu schlingen. Doch dachte er dabei an musikalische Ideale und eine treue Lebensgefährtin und bohrte sich tief in heilige Geburtstagsbetrachtungen, zumal ihm einen Augenblick die fatale Idee kam, der Beethoven, der ihm die Lampe umgeworfen, ihn vorwärts zu bringen, habe sich den Spaß gemacht, ihn auf diesen Kehrrichthaufen zu setzen. Er sah nicht um sich, er las den Brief, über dem auf einer holperigen Stelle des Pflasters das Glas sprang. Das rührte ihn ungemein. Gewiß bedeutete es etwas. Er schloß schmerzvoll ein Weilchen die Augen und vernahm mählich eine Art barbarische Musik. Den flachen Bottich hielt er wie eine große Trommel vor sich, und wie der Wagen wankte, trommelten die dagegenstoßenden Gegenstände einen gar unregelmäßigen Takt. Das war ihm ein Marsch des Lebens, übelklingend, zischend, Teufelsmusik, Hexenritt. Zwei Haarbesen musizierten auf seinem Fasse, der eine klopfte mit dem Stielende, der andre, umgekehrt, wischte seine Haare an den Dauben, und die ordentlichen Instrumente waren stumm davor. Der Geigenkasten ruhte steif und schüchtern auf seinem Schoß. Er schloß wieder die Augen und tat sie nicht mehr auf, und das Musikwäglein holterte und polterte kläglich vorwärts. Antonie sah ihm in das angespannte Gesicht und sagte kein Wort. Verlegen und leise scheuerte sie ihre Schuhsohle an seinem Stiefel.

Und dazu ein Himmel —! Die Dächer der ungleich hohen Häuser um den kleinen Markt schnitten aus dem Himmel eine Kappe mit scharfen, ganz regellosen Zacken. Den weißblauen Milchglanz dieser Kappe unterbrach kein Wölkchen, doch trotz ihrer Unbewegtheit schwebte sie leicht über den Häusern, scheinbar jeden Augenblick im Begriff aufzufliegen. Fast mit der Keckheit eines Narrenhutes saß sie auf dem Ruß der Schornsteine und dem Moose der Gesimse, und lauschte man willigen Ohres in das Geräusch der entlegeneren Straßen, konnte man wohl gar übermütigen Schellenklang heraushören, über die greisbärtige Würde des Turmuhrenschlages stutzen und ein verwirrtes Heimweh fühlen — wie Antonie.

So ist es die Art des Frühsommerhimmels am Nachmittag.

Beim Anlangen am Ziele sagte Antonie: „Wir sind da“, — schwer. Sie sah die Straße, die sie gekommen waren, zurück: Auf der einen Seite erhoben sich lärmende, qualmende Fabriken, auf der andern hockten abgerissene, schmutzige Vorstadtkaten, deren Abschluß das immerhin ordentliche, wenn auch nüchterne Fachwerkhaus Ullerichs bildete. Unten standen die in verbogenen Haspen hängenden Fenster nach den Vorgärten hinaus offen, soweit man über die hohen Teufelszwirnhecken hinweg wahrnehmen konnte. Das Fabrikgebäude gegenüber war eine Mühle. Vierstöckig sah es aus mehlstaubverschmutzten kleinen Fenstern wie aus halbblinden Eiteraugen vor sich hinab. Manchmal lebte in diesen Augen eine Menschengestalt auf. Soeben gellte die Dampfsirene der Mühle ihren Pfiff: eine unreine kleine Terz. Ein weißer Rauchwirbel kringelte empor. Antonie wandte gequält ihren Kopf ab.

Doch Franz gab sich in seinem Arbeitszimmer innigen Vorgefühlen hin. Leider öffnete es die beiden Fenster nicht nach dem zu dieser unteren Wohnung gehörigen Vorgarten, sondern nach dem Ullerichschen. Über die Hecke hinweg links von der Mühle gewahrte man einen alten Hollunderbusch und weit im Felde zwei einsame Pappeln. Das Zimmer jenseits des Flurs nach dem eigenen Vorgarten hinaus war reizlos.

Die Arbeit an der Fünften Symphonie begann. Jeden Sonnabend wurde im Neptun geübt. Obwohl Franz seine ganze Kraft anstrengte, das Orchester ziemlich eingespielt und ihm völlig zu Willen war, zeigten sich nur langsam Fortschritte. Franz ließ sich das aber nicht verdrießen.

Nur, weil er merkte, daß seine gar zu voreilige Flucht aus der Schule seine früheren Kollegen kühl gegen ihn gemacht hatte, ging er kopfhängerisch daher. Sein begeisterter Umzug war viel besprochen und belacht worden, und es erwies sich, daß unter den Schafen recht viele Böcke gewesen waren.