nach_oben

Oskar Loerke: Franz Pfinz


Viertes Kapitel

Franz liebte die Sonne, Antonie liebte sie, aber nun sie draußen in der Sonne wohnten, war es, als sei ihnen diese Liebe halb vergangen; denn Franz war besessen von dem großen Gefühl: ich bin Musiker; der spukhaft komische Umzug an seinem Geburtstag hatte ihm einen verbissenen Ernst eingeflößt; und Antonie auch war befangen in dem Bewußtsein: er ist Musiker. Darum hatte ihnen der Sonnenschein etwas von Gewesenheit, ein so großer Haufe auf dem Ihrigen lag, Beete, Rosenstöcke und Rosenblüten, sie selbst umglänzend wie ein herabgesunkenes Stück Himmelinneres. Sie fühlten sich gelenker, wandten dem Gefühl aber keine weicheren Worte zu, sie ließen sich auch wohl erheitern, hielten das aber nicht für genügend Grund, um zu lachen — etwas Verschollenes ringsum dämpfte die Worte, deckte die Seele leise zu: die Jugend war vertan.

Der helllichte Mittag hatte eine Schönheit, wo in den Schein ein Stück Traum von Sagenprinzessinnen, die vom Söller phantastischer Burgen in weite grüne Gründe sehnen und schmachten, gemischt ist. Am Nachmittag fraß die Sonne die Farben fast auf. Verblichen — freilich nur auf eine Stunde verblichen — blieben sie zurück wie auf Gegenständen lang verlassener Säle, die immer so angegreist aussehen. Alles schien porös wie Bimsstein, zerfallsam wie bleiche Silberasche. Die Dinge wurden leicht, die Pappeln am Horizont waren, als könnte man sie auf den ausgestreckten Finger stellen, und den Hollunderbusch links von der Mühle hob wohl die flache Hand.

Franz und Antonie liebten die Sonne, aber sie gingen ernst an ihr vorbei durch das Vorgärtchen mit dem Teufelszwirnzaun. Der Teufelszwirn behielt unverändert seine dunkelrötlichen, fast violetten Blüten. Sechsblättrig fielen sie aus den Kelchen, zweireihig im Zickzack geordnet, an jedem Zweige herunter bis an die Erde, und die Strahlen lagen sanft und glatt übereinander wie Flechten grünen Nixenhaars. Der dicke Wall gewann in den weißen Julitagen ein ungemein liebliches Aussehen, und er umschloß ein recht einsames, wenn auch köstlich einsames Reich.

Franz spürte Lockungen der Natureinsamkeit, die er nicht gekannt hatte, doch scheute er sich, ihnen nachzugeben. Man schämt sich eben vor allerhand holdem Schnack, wenn man seinen Ernst, seine neue große Aufgabe im Leben hat und eines treuen, verstorbenen Freundes Testament erfüllt.

Man schämt sich, die kleinen tanzenden Lichtflecke an der Hauswand, die so steif in den Garten stößt, zuzudecken, obwohl sie fast kichernd dahinspaßen, daß man nach der Sonne schauen möchte, ob nicht auf einem Beistern der liebe, lang tote Jugendgespiele Wilhelm reitet und mit seinem nichtsnutzigen Blendspiegel die Sonnenstrahlen herüberschäkert ... denn die Toten werden ja unter die Gestirne versetzt. In die Erinnerung mengen sich Flüsterchöre, — ganz verstohlen, — wichtig betont, — aus der einzigen, großen und stolzen Kastanie des Gartens, deren Blätterhände beim geringsten Anhauch so hold segnende Bewegungen über dem Kopfe machen, immer wieder, immer wieder, — Flüsterchöre: „Um der Erinnerung willen an den Blondkopf Wilhelm, — streichle den spaßenden Fleck, laß ihn dir die Finger mit Gold waschen, denk, es sei ein Fetzen goldener Zeit selbst. Da du keine Blumen auf das ferne Grab häufen kannst und doch möchtest, erkenne die Erinnerung an, die leibhaft wurde, wenngleich seltsam leibhaft, fasse sie, gib dem Wunderlichen nach, weil die Unnachgiebigkeit dagegen dich doch quält, — um des Spaßes willen nur!“ So die Flüsterchöre, und die Blätterhände der Kastanie segneten dabei, segneten, segneten unaufhörlich. Franz löckte wider den Stachel des Scherzes und bedeckte das Licht nicht, dachte vielmehr, er sei doch kein Idiot: er hatte seine Aufgabe und — seufzte.

Der Abend war sonst für die Eheleute die Tummelzeit der Schelmgeister gewesen. Das geschweifte Sofa über dem Flicketeppich blieb nun leer. Vielleicht nicht das Lachen, (das ist nicht der größte Verlust) aber das Lächeln wurde seltener. Neben dem Abendbrot hatte Franz ein Buch oder eine Partitur liegen; wenn die Schelmgeister kamen, quetschte das Buch sie und lag breit auf ihrem Rücken. Ein Scherzwort klang in seinem Ohr auf und kitzelte wie die Spitze eines Grashalmes. Er bezwang sich und stellte die Zähne soldatisch ordentlich aufeinander. Das nächste Mal war der Reiz nicht mehr so groß, und die Seele ging andre Wege.

Die Schelme kommen ja zu manchen Menschen bei jeder Gelegenheit Glück wünschen. Sie sind fein und zart und können gleich dem Staube auch durch Schlüssellöcher, aber sie sind leicht zu beleidigen, ziehen sich dann ihre Schellenkappe flugs tief ins Gesicht und fliehen weit weg, und dann muß man schon Rad schlagen und auf dem Kopfe stehen, ehe sie wieder kommen. Sie lieben die Einsamkeit wenig, außer daß sie manchmal auf den in der Sonne tanzenden Stäubchen abgelegener Turmstuben und Keller für Sonntagskinder reiten, sie schwirren gern, wo man jungen Mädchen in die Augen guckt und schwimmen auch im Wein, wenn nicht eklige Leute, fettleibige Rentiers und Pferdehändler sie herauszufischen drohen wie tote Fliegen. Manchen Leuten aber schwirren sie gar so dicht und unablässig um den Kopf, daß sich nie ein Heiligenschein herumbilden könnte. Wo sie zu Hause sind, weiß keiner. In der Seele? Nicht doch. Höchstens ganz an ihrer Oberfläche, wo es noch hell und nicht schwül ist. Meistens aber kommen sie von außen angeflogen, auch zu Elenden und Gebrechlichen, nur wollen sie richtig empfangen, nicht gezwickt und verjagt sein.

Franz hatte sie bald allesamt vertrieben, und Antonie ahnte mit Herzklopfen, daß sie die sieben Kreuze der Nimmerwiederkehr hinter ihm geschlagen haben mochten.