Fünftes Kapitel
Während Franz sich um sie nicht bemühte und getreulich Beethoven folgte, entschwebte sie ihm langsam, — langsam — unbewußt zuerst, die Entfremdung vielfach maskierend. Sie begann auf eine eigentümlich leise und grüblerische Art zu leiden. Oder hatte sie schon früher eine Veränderung ihres Lebens zum Kälteren und über manchen ihrer Stunden gar einen Rauhreif gespürt? Jedenfalls mußte sie es sich jetzt gestehen, und in ihrer vielen freien Zeit bildete sich eine Neigung zu allerhand Grübeln aus. Sie hatte häufig eine Empfindung ihrer Brautzeit, daß etwas zu Ende ginge, aber damals war das eine süße Empfindung gewesen, ein Drängen nach Myrte und weißem Traukleid. Nun fühlte sie sich wieder Braut. Anders. Die Wohnung schien ihr stiller, die Winkel düsterer und wie von einem feinen Staub durchwebt, die Helle frostiger. War es Täuschung, daß selbst die Schritte etwas leiser und schwebender über die Dielen glitten, daß sie mehr lauschte und öfter erschrak? Sie stutzte über viel in den Gesprächen der Nachbaren und fand die Laute auf ihren Zungen härter, spröder, fremder.
Bis zu seinem Musikantentum hatte sie mit ihrem Manne schlecht und recht gelebt, sich an seinen Freuden mitgefreut wie er an den ihren und eine Spanne Trübe an seiner Seite äußerlich ernst, innerlich sogar in einer gewissen Lustigkeit, wenigstens Frische und Gesundheit durchlebt. Jetzt war selbst an Franzens Freundlichkeit etwas nicht recht. Man weiß, wann die Nelken schon eine Nacht auf dem Ladentisch des Gärtners in der Schüssel gelegen haben: sie duften, heben den Kopf und sind zart, und dennoch ist etwas Gezwungenes an ihnen. Antonie dachte manchmal buchstäblich, wo Franz ihr ein liebes Gefühl vermitteln wollte, es habe schon eine Nacht im Bette gelegen, muffige Wärme und schlüpfrige Federn klebten daran.
Anfangs ließ sie das gut sein, seufzte nur und meinte, die Anforderungen an seine Kraft seien gesteigert, er arbeite rüstig und ununterbrochen vor sich hin, sein Glück werde wohl innerlicher geworden sein; sie könne nicht gut daran teilnehmen, denn was verstehe sie im Grunde von der Musik. Wenn er nur vorwärts kam!
Sie begann, also resignierend, über den Sinn alles Mühens überhaupt nachzudenken. Bisher war ihr das nie eingefallen, sie hatte am runden, heilen Menschen Genüge gehabt. Und auch ihre Gedanken von andern Menschen waren größtenteils anschmiegende, mitfühlende Erinnerungen oder Wünsche gewesen; jetzt wurden sie blutleerer und bekamen gleichsam Falten.
Hätte sie mehr Verkehr in diesem dürren Leben, dachte sie, und überlegte sich die Vorteile, die eine Ablenkung durch mancherlei Umgang bringen könnte. Ullerichs, zu denen sie am öftesten hinauf stieg, waren eigentlich beide krank. Und gar Bettys Vater Anton, der aus seinem Fenster dämmerte und den Hühnern nur ab und zu das Futter streute! Der Anblick dieses Alten hatte etwas Beängstigendes. Die Jahre zerrten an seinen verschrumpften Gliedern und machten sie zittern. Er litt an Arterienverkalkung. Die Stirn hatte er immer in schwere Falten gelegt, doch aus dem animalisch frohen übrigen Gesicht erkannte man, daß er sehr bequem hindämmerte und kaum ein Gedanke, wohl kaum eine deutliche Erinnerung seinen Kopf durchzog. Er tat nichts, nur reichte Frau Betty Ullerich ihm zu seiner Zeit eine hohe Blechbüchse, und daraus warf er Körner auf den Hof und rief mit quäkender Stimme: „Ziepziep — ziepziep.“ Antoniens kleiner David hatte dann zwar Freude an den Hühnern, sie selbst aber dachte bei dem Schreien nur an die Krankheit des Alten. — So etwas steckte an, man stöhnte beim Reden und Erzählen, einem schlich etwas sich in die Seele, unbemerkt wie die braunen Flecken in ein Buch, das noch so geschützt im Spinde steht. Das Altwerden überholte wahrhaftig das Alter.
Auch Frau Ladwig, um mehr als ihre Lebenslänge an Jahren ihr überlegen, war eigentlich kein passender Verkehr, entdeckte sie seltsamerweise jetzt. Das ließ sich merken, nun sie nicht so oft kam wie früher als Nachbarin in der Stadt, nun ein Abstand zu ihr entstand. Immerhin war sie straff und wohlgemut, rasch in Worten, Blicken und Regungen, vielleicht ein wenig zu rasch für eine Sechzigjährige...
Aber wie fehlten ihr die vielen früheren Hausnachbarinnen! Da spann sich leicht ein munteres Geplauder auf dem Treppenabsatz oder an einer Straßenkreuzung. Sie hatte gleichsam die Chronik all jener Familien mitgeführt, und das war etwas sehr Unterhaltendes und Buntes gewesen. Nun war es plötzlich zu Erinnerung gefroren, — aber neue Gegenwart lockte weit hinten in satten Farben und lichtumflutet.
Ja, wenn Antonie wollte, kam sie in der ersten Zeit ganz leicht zu der Überzeugung, ihre größere Einsamkeit steigere die Ansprüche, ihr Mann möge ihr Geselle sein.
Wollte sie nicht, wurde seine Unterlegenheit sofort klar. Ihr Auge blickte wohl schärfer in dieser inselartig abgeschlossenen Gegend. Es sah nicht viel, aber was, das sah es vielmal, und leider zumeist geringfügige Äußerlichkeiten. Jedenfalls entging ihr nicht, daß Franz den Hut bisweilen etwas tiefer ins Haar drückte als früher, daß er einen Schritt weniger gebrauchte, um aus der Stube zu kommen, daß an seiner Kaffeetasse zwei Tröpfchen herunter liefen statt des einen bisher, daß seine Blicke öfter nach der Wanduhr hinüber fuhren. Überall war das Unharmonische etwas auffälliger geworden. — Hinter Ullerichs Ziegenstall wuchsen Stechäpfel, und ein widerlicher Geruch machte die Luft schwanger alle Tage, ob Sonne oder Stern, Regen oder Blau am Himmel stand, — dies kam ihr oft so ein. Und alle Kleinigkeiten verdrossen sie so sehr. — Sie litt allenthalben.
Schon, daß sie nicht zu Spaziergängen aufgefordert wurde wie früher, brachte ihr einen Schmerz, dessen Brennen und Zwacken für diesen Anlaß doch fast unvernünftig war. Mehr schmerzte, daß Franz das Hausfrauliche an ihr nicht so schätzte wie in früheren Jahren. Damit traf er die Stütze ihres Stolzes. Süßeste Mühe hatte ihr gegolten, für Behaglichkeit und Schmuck in den Alltagsstuben und Alltagsstunden zu schaffen, daß alle heimlich waren, wie von Resedaduft erfüllt und von Spinnradsurren durchklungen. Franz achtete nicht mehr darauf. Dumpf zerstörte er einmal eine rund gebauschte Gardinenrosette, wie ein Säugling einem Schmetterlinge die Flügel auspflückt: — es stand ihr immer vor Augen. Er freute sich nicht mehr über seine Leibgerichte. Spielte sie leicht auf ihre Arbeit an, so erklärte er sie gedankenlos für gering. Das Sichere, Gründliche, Abgegrenzte an ihren Ehejahren schien ihr nachträglich entwertet und zerbrochen, und sie mußte sich zusammennehmen, das Gefühl zu verbannen, als würde sie täglich wie eine Dienstmagd entlassen; — und von wem!
Doch indem sie solche Beklommenheiten nicht für lange aufkommen ließ, verwandelte sich unversehens ihre innere Bewegtheit in allerhand Sehnen, wandelbar und unabsehlich wie Schollentreiben auf winterlichen Strömen, und es kam ein Wachsen und Quellen in sie, lang eingesargte Liebhabereien und Wünsche auferstanden.
Sie begehrte hinein in alle Versammlungen der Menschen, obwohl sie zugleich alle als schal im voraus verabscheute, und trachtete vielfach so das Unvereinbare zu einen. Sie hätte wohl gern ein neues Hinterindien entdeckt, wie das als Kind ihr Traum war. Sie nötigte einen Bettler auf die Treppenstufen, schenkte ihm reichliche Speise und freute sich an allen Wanderfüßen. Sie spazierte, David an der Hand, langsam einen Feldrain entlang, suchte nach Vierklee und fürchtete Kreuzottern im Walde. Sie entdeckte eines Morgens den Goldreif an ihrem Finger und sah ihn fremd staunend den ganzen Vormittag bei der Küchenarbeit blinken. Das Ahnungsvolle wurde ihr bedeutungsreicher, ein Ohrenklingen, die Stunde, wo auch den tiefsten, schwarzen Brunnenaugen der Star gestochen ist, ein gegen den Spiegel schwirrender Nachtkäfer oder ein Gewehe, wenn die Welt nach dem irren Takt des Sternblinkens zu atmen scheint, ein Schwalbenzwitschern beim Erwachen, ein ziehender blauer Rauch in kupfergleißendem Zwielichtschein, Leiermannmusik zu Levkoienduft und fernem Donner weit hinter der violetten Kiefernschanze. — Sie suchte seltene, zitternde Seeleneinklänge auf, Stimmungen, die irgendwie Aventiuren waren.
Bloß zur Ablenkung und Tröstung gab sie sich ihnen hin und mehrte sie. Sie sollten nur verbergen, was sie nicht sehen mochte.
Durch Ausziehen solch seidener Seelenfäden wurde sie heller und geistiger.