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Oskar Loerke: Franz Pfinz


Siebentes Kapitel

Das Zusammenleben mit Antonien ward Franz immer schmerzhafter. Die frohen Gesichter seiner Bekannten lockten, das bunte liebe Leben zu genießen, allein er zog sich wehmütig zurück, Er hatte infolge Antoniens Haß plötzlich keinen Freund mehr. Wie ihm Hand in Hand mit ihr alle Dinge seelenvoll gewesen waren, so hatte Antonie jetzt gar allen Menschen die Seele genommen. Es ist ein bitteres, grausames Gefühl, von dem geliebtesten Wesen als nichtig und unwürdig beiseite geschoben zu werden, wenn man es durch Jahre besaß und nicht aufhören kann zu lieben. Aber Franz verzweifelte nicht. Er begegnete ihr immer liebevoll, selbst wenn sie hart blieb, nur warf er sich nicht weg. Er fühlte sich nicht wertloser als bisher. Er schrieb an mehrere Privatschulen, ob er nicht vielleicht wieder eine Lehrerstelle bekommen könnte; vielleicht bedeutete die äußerliche Rückkehr für Antoniens Seele eine Rückwandelung. Franz fand keine Anstellung, sei es, daß augenblicklich kein Bedarf an Lehrkräften vorhanden war, sei es, daß sein früherer Rektor ungünstig über ihn berichtet hatte. Schade! Er hätte ja auch als Lehrer dirigieren können. Um nicht ganz wurzellos zu werden und sich selbst nicht so hassenswert zu erscheinen wie Antonien, wandte er immer heißere Mühe an die Einstudierung von Beethovens Symphonie. Die sollte seinen Wert offenbaren und bewähren. Der Schmerz hatte seinen anfangs etwas äußerlichen Ernst tief verinnerlicht. Ihm wurde die ganze Schwere und Herrlichkeit der Symphonie klar, allerdings sehr langsam. Und ein andres war noch, seine Erkenntnisse mit Hilfe des Orchesters zu gestalten, zumal er leicht zu lyrisch-weich spielen ließ. Doch er arbeitete bis zur Erschöpfung, und diese Arbeit brachte ihm genug Genuß als Ersatz für seine Entbehrungen.

Seine Musiker waren ihm mit gutem Willen gefolgt und hatten alles getan, was er verlangte. Allgemach verdroß sie die ununterbrochene Beschäftigung mit einem einzigen Werke. Man begann Franz zuliebe zu spielen, nicht mehr sich selbst zur Freude. Es fand sich in diesem und jenem Herrn ein Mitleid mit Franzens begeistertem Schneckengang, ein aus dem Schnurrbartzipfel gezwirbeltes Mitleid, ein Hausflurwinkelchenmitleid, ein Linsensüppchenmitleid.

Herr Fröschke fragte eines Abends nach der Probe unter den Vereinsmitgliedern herum, wer mit ihm zum Glase Bier im Neptun noch zusammenbleiben möchte. Es fand sich eine ganze Schar. Von da an wurden die Bierabende recht häufig. Fröschke sorgte mit galant vorgetragenen obszönen Späßen, mit wonnigem Schmunzeln während der ganzen Dauer seiner häufigen, bedächtigen Reden auf das beste für die Geselligkeit. Auch war nun Raum für musikalische Talente, die sich beim Beethovenspiel nicht gleichermaßen entfalten konnten. War da ein Rentier Flechtensitz; der heimste einen Erfolg nach dem andern mit einem Walzerliede auf des Lebens Poesie ein. Bei der Silbe Po platzten seine Lippen stets sehr zierlich auseinander und verzerrten sich zu einem unendlich gutmütigen Lächeln, während sich die Stirn in halb überlegene, halb bedenkliche Falten teilte. Genug, man mühte sich, hauptsächlich den ersten Teil des Programms, das gemäß Aberwitzens Antrittsrede in dem Vereinsnamen „Symphonie“ liegen sollte, nämlich die Brüderlichkeit der Mitglieder, zu verwirklichen. Den Vorsizenden Herrn Fröschke nannte man gar Onkelchen. Verstohlene Witzeleien über Franzens köstliches Achselzucken, wobei der bläuliche Zahn aus dem Munde glänze, über seine ungeschickten Armbewegungen beim Dirigieren, über seine komisch wippenden X-Beinchen wurden üblich. Herr Meuslin verstand es vortrefflich, mitten im Wortgefecht seinen Gegner mit dem verzücktesten Blicke der grellen Augen Pfinzens anzusehen, worüber natürlich jedermann herzlich lachen mußte. Franzens guter Freund Fröschke selber entdeckte, daß es entschieden drollig und etwas peinlich ist, wenn jemand, der nicht glatt und laut reden und den Worten seine Gefühle mitteilen kann, sich begeisterte Sätze aus dem Leibe reißt. Und dieser gute Freund wollte dem Verein gar untreu werden.

Aus Langeweile bei den Übungen fühlte er sich kurz entschlossen plötzlich krank und blieb zweimal aus. Dachte er während dieser schönen zwei Wochen daran, daß er nacher wieder sein Fagott vornehmen müsse, so verschwand das joviale Lächeln an seinem Mundwinkelwärzchen, und das ewige Lämpchen war ohne Schein. Er war ja doch schon zu steif für Beethoven. Er träumte sogar in einer Nacht voll Schwüle und Wetterleuchten, er solle fliegen, und da mußte ihm Herr Meuslin ein Paar kirschrote Fittiche mit Bindfaden anschnüren, und sie klappten recht kläglich hin und her, gehorchten nicht und brachten ihm eine Atemnot ein. Am nächsten Morgen faßte er in seinem Garten — die Gänge waren zahlreicher Regenwürmer wegen schwer zu passieren — den festen Entschluß auszutreten, trotz aller lustbaren Kumpanei, die er mitaufgab. Während sein Körper über die Regenwürmer hinbalanzierte, sprach memorierend sein Geist: „Meine kaufmännischen Obliegenheiten häufen sich mehr und mehr. Die Musikbeflissenheit hierorts ist mir von Anfang an zwar nicht lästig, doch schwierig gewesen. Wohl ist sie mir durch die hervorragende Aufgabe des Vereins, meine ausgezeichnete Stellung darin, die treffliche Kameradschaft mehr als reichlich entlohnt worden. Der Mangel meiner geringen Person wird jetzt, da die „Symphonie“ so schön in Flor ist, nichts mehr zu bedeuten haben. Mich wird vielleicht niemand unter den Anwesenden lange vermissen, ich sage das nicht ohne Bewegtheit, (hier entzündete sich das ewige Lämpchen wieder) aber mir wird meine wenige Mittätigkeit unvergeßlich und eine der hübschesten Erinnerungen sein.“

Sein Kompagnon Meuslin wollte sich oft und beteuernd verbeugen, sobald er davon zu sprechen anhübe, daß die kaufmännischen Mühen sich mehr und mehr häuften, daß die Musikbeflissenheit hierorts ihm zwar nicht lästig, doch schwierig gewesen sei, daß der Mangel seiner geringen Person jetzt, da die „Symphonie“ so schön in Flor sei, nichts mehr zu bedeuten habe und daß zu seinen hübschesten Erinnerungen stets die an seine Mitgliedschaft zählen würde. Meuslins Verbeugungen sollten sagen: „Sehr wohl, ich auch.“

Ihr Plan wurde durch Hohenkrähn zerstört. Er ertrug es nicht, die Späße über seinen guten Franz anzuören. Sein Cello bearbeitete er voll rührender Hingebung an die gute Sache. Was etwa an Ausdruck sein Spiel entbehrte, ersetzte seine Gestalt. Sie wand sich in allen ihren Teilen: die Knie drängten, eng zusammengepreßt, nach vorn, der Steiß war nach hinten ausgespeilt, die Brust wieder nach vorn und der Kopf nach hinten. Das steife Vorhemd wölbte sich zum Zerknicken, und das tombakne Knöpfchen blinzte in dem weißen Ozean wie ein Leuchttürmchen. (Tombakne? — Hohenkrähn? — Tombak ist Tombak.) Da half alles nicht, er mußte aus dieser Gesellschaft heraus. Franz anzutragen, er möge seinen Dirigentenposten aufgeben, wagte er nicht. So ging er hin zu ihm, sagte, er habe mit einem andern Mitgliede einen Streit gehabt, und Franz möge es nicht übel nehmen, wenn er sein Austrittsgesuch einreiche. Er hatte aber ein böses Gewissen, besuchte Franz nicht mehr und ließ auch seinen Sohn Maximilian nicht mehr zu David.

Es ging ihm gut, — und das besänftigte sein Gewissen bald. Er hatte sich kürzlich einen Bernhardinerhund gekauft, der ihn immer stolz begleitete, sowie Pferde und einen eleganten Wagen zum spazierenfahren. In vornehmem Anzuge jagte er Sonntags mit Frau und Kind an Pfinzens Wohnung vorüber in den Wald. Die Arbeit an seinen Neubauten schritt schnell vorwärts. Noch allerdings hatte dieser und jener Handwerksmeister ihn zu befragen, kraute sich gewichtig hinterm Ohr und hielt den Daumen bedeutsam auf eine Zahl des gelben Zentimetermaßes. Ein andrer holte ein zerknittertes Papier aus der Tasche, und da entschuldigte sich Hohenkrähn und ging eiligst davon. — Franz dachte beim Vorübergehen am Bau: Wie lange wird es dauern, so kommen die Maler ins Haus und malen den Lotosweiher, die beschneiten Kiefern und den Weihnachtsbaum hinterm Fenster, wovon Hohenkrähn kurz vor Gründung der „Symphonie“ so geschwärmt hat, in den Flur! — —

Also Hohenkrähn war mit seinem Austrittsgesuch Fröschke und Meuslin zuvor gekommen. Und da hatte der eine von ihnen dagestanden, starr wie eine Wand und der andre bleich wie der Kalk an der Wand. Sie mußten bleiben. Drei zugleich austreten — das konnten sie ihrem Freunde Franz nicht antun.

Aber Fröschke sorgte für weitere ausgiebige Erheiterung. Franz mußte zur Abwechslung ein Walzerchen und andre, leicht bekömmliche Stücklein einüben, obwohl dies keineswegs nach seinem Sinne war; er konnte indessen die Wünsche seiner Musiker nicht abschlagen. Beethovens Symphonie blieb trotzdem die Hauptsache. Sie wuchs infolge des seelischen Widerstandes im Verein zum Schauspiel wütenden und doch blöden Krampfzuckens aus.

Franz erquickte sich dennoch je mehr daran, als die Schwüle in seinem Hause muffte und brodelte.

Außerdem verlor er mehrere Stundenschüler und fand nicht ebensoviele wieder. Es hatte sich wohl Nachteiliges über ihn verbreitet. Das Geld zum Lebensunterhalte wurde karg. Da er sonst keine geeignete Arbeit fand, mußte er schließlich Noten abschreiben. Antonie unterstützte ihn, indem sie für ein auswärtiges Geschäft Unterkleider strickte.

Die Arbeit war ihm gleichgültig, nur die plötzliche furchtbare Vereinsamung tat ihm weh und begann an seinen Kräften zu fressen. Sie war ihm widernatürlich, so sehr, daß er sich vor den Menschen schämte und die letzten Bekannten unablässig floh — um Antoniens willen.

Als Ullerich einmal seinem Kummer nachforschte, stieg eine solche Verzweiflung in ihm auf, daß er aus dem Garten hinauslief und die Haustür hinter sich zuschleuderte. Dies hatte einen völligen Bruch mit den alten Ullerichs zur Folge.

Daß nun mit gar keinem Menschen mehr ein vertrautes Gespräch möglich war, drückte Franz so sehr, wie es Antonien gegen ihn verhärtete. Sie konnte die faulen Lebensumstände nur als seine Schuld begreifen. Sie selbst hätte es ja nicht dazu kommen lassen. Die niedrige, freudlose Arbeit für fremde Leute quälte sie viel tiefer als Franz, und um so mehr, weil sie merkte, wie er sie gefaßt ertrug. Wollte er sie denn nicht abschütteln?

Sehr einsame Stunden schlugen. Marienfäden der Trauer, ganz dünn und fein, ihr selber unsichtbar, zogen dann unaufhaltsam über sie hin. Diese Gespinste zerreißt man nicht. Nahm Antonie etwas Schönes aus dem Herzen und betrachtete es, spulten sie es stracks ein, geschickt und geschäftig. Auch das Größte und Lebendigste lag in festen Hüllen wie die weiland Könige in ihren Mumien. Klagesätze aus solch geheimem Weben formen: Ich ersticke! Es bringt mich um! — Nein! Sie lügen und sind so weichlich, man schämt sich ihrer.

Antonie begriff sich nicht. Tränenselig war sie doch nicht. Daß sie hier in stiller Stube saß und draußen zwecklos der weite Sonnenschein kam und ging, viel Schwarz sich ins Grün des letzten Buchses mischte, die Blätter statt auf der Krone vier Klafter tiefer am Boden raschelten und aus Oktober November ward, daß einmal körniger Kalkstaub von der Zimmerdecke siebend hinter die lose Tapete rieselte, daß David einen toten Maulwurf mit wundervollem Pelzchen aus dem Garten brachte und tagelang seinem Leben und Siedeln im Dunkeln nachfragte, es rührte sie nicht. Im Gegenteil, das alles ging viel zu spurlos und still an ihr vorüber, so fern wie der Schein der Gestirne an ihrem Dach: fünfzig Nächte oder hundert, das Dach blieb dasselbe — eine Decke aus toten Ziegeln.

Der Tod vielleicht stand hinter ihr und hielt die Handgelenke fest? Schien ihr nicht alles Leben da, damit sie ihm in langem Umweg auswiche? Sie merkte, ihr wurde der Inhalt aller Absichten Franzens weiter und weiter fremd. Trotz allem, sie wollte nicht leiden, weil sie lebte, und sie wollte glücklich sein, falls sie einmal vom Tode auferstand, nur so viel Erde mitzunehmen, wie in die blauen Löwentatzen der Sargfüße geklemmt saß.

Wohin ihre Gedanken sprangen, Selbstbehauptung schien nur in strengem Umgrenzen und Absondern ihrer Natur möglich.

Legte Franz seine Dirigentenstelle hin, also seine Hoffnung, was blieb von ihm übrig? Ein erbärmlicher Niedergang wurde sichtbar! Daß er äußerlich das Leben karg und mager gemacht hatte, mochte noch übersehen werden, doch daß er die Seelen zerschunden! War die ihre nicht ruiniert? Krank? Erstarrt? Vergittert gleichsam? Früher waren ihre Hoffnungen frisch und aufrecht gewesen wie junge Tannen. Jetzt sanken die kleinsten Freuden des Alltags in ihre Seele nicht sanft und weich wie in ein Daunenbett, sondern hart und kurz wie auf ein dürres Strohlager, und selbst die Erinnerungen krochen wie aus pickender, raschelnder Strohpritsche. — Wie das gekommen war! — Es war nichts Plötzliches gewesen, sonst hätte sie sich gewehrt. Heimtückische, unbeachtete Kleinigkeiten waren der Same zum Siechtum gewesen, Kleinigkeiten, um so heimtückischer, als sie nicht von ihr selbst, sondern von Franz verstreut wurden. Dadurch gewannen sie den Anschein von Ungefährlichkeit, und ihr wahres Wesen war erst an der Wirkung kenntlich. Merkwürdig, Franz selbst schienen sie nicht soviel geschadet zu haben.

Aber David? Beim Gedanken an ihr Kind wurde Antonie unruhig, ungeduldig. — Zu ihr war der Kleine munter, gesprächig und lieb, zum Vater nicht in diesem Maße. Er ahnte wohl eine Gefahr und schützte sich durch Zurückhaltung. Schade, daß ihm der äußerst geweckte Spielgefährte Maximilian Hohenkrähn genommen war. Er kam zu wenig mit Menschen zusammen. Mit wem außer dem alten Vater Anton? Rief der Greis sein Ziepziep in den Hof, war David schneller da als die Hühner. Es verletzte Antonien, daß Franz dem Söhnchen nicht soviel zu sein schien wie ein gebrechlicher, fremder Greis. Darin stak wohl eine gute Rache. Sie freute sich beinahe, als Vater Anton Mitte November schwer erkrankte.

Franz hatte eine stille, wehmütige Freude an David. Er sah des Kindes Welt als eine Wunderwelt an und wollte sie nicht laut stören. Ein dumpfes Sehnen nach Liebe und Licht ergriff ihn, als er einmal Davids Spiele lang betrachtet hatte, und als der Knabe dann in die Novembernebel hinausgegangen war.

Er konnte nicht weiter abschreiben und saß dumpf am Fenster. Ein ziemliches Stück konnte man trotz der Nebel den Birkenweg übersehen, aber wo der Wald lag, braute es weiß und gelblich, und wer lange hinstaunte, dem zeigten sich bald leis fortschleifende, bald fiebrisch gewirbelte und tollende Gestalten. Franz sah einen Kinderreigen drehen und sofort verschwinden, darauf einen Centauren hinrasen und schließlich eine von Hunden gehetzte altertümliche Kutsche über den weglosen Plan jagen. Dann enthüllte sich nichts mehr. Die Stube war still, die Stunden mahlten langsam hin. Ullerich trottete in regelmäßigen Schritten über der Decke auf und ab.