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Oskar Loerke: Franz Pfinz


Achtes Kapitel

Einen Christbaum kauften sich Pfinzens nicht; der ziemte diesmal nicht und würde nur rührselig stimmen.

Aber Franz wollte seinem David etwas schenken, was David völlig ihm allein schuldig sein sollte. Er kramte im Keller Brettchen zusammen, schloß sich damit in seine Stube ein und bastelte dem Kleinen eine Windmühle. Er hämmerte und leimte und schnitzte und feilte; aber als er fertig war, knarrten die Flügel, waren steif, regten sich nicht einen Zoll weit, und doch glaubte er für ihre Beweglichkeit fleißig gesorgt zu haben. Bekümmert nahm er das Bretterhäuschen zwischen die Knie, drückte und drückte dagegen, an den Flügeln drehend, bis es zerbrach. Da Antonie hinter der Tür rief, er möge ihr doch Brennholz heraufholen, schob er den Riegel zurück und reichte ihr wortlos das geborstene Werkchen.

Sie warf es ins Feuer, sah Franz aber an mit Blicken, die zwar nicht tief drangen, doch weich betupften wie samtene Katzenpfötchen.

„Ich werde zum Ersatz David schnell etwas kaufen gehen,“ beruhigte sie. „Sag' mir, was.“

„Was? — — — In Davids Alter bekam ich einen Bethlehemsstall.“

„Paß auf, ob das Süppchen kocht,“ sagte sie noch und ging.

Er wartete traurig, wie die Flammen die Mühle blau umnebelten, schwarzleckten und verzehrten, und dachte daran, wie er in Davids Alter Modellierbogen ausgeschnitten, einen Bethlehemsstall davon gebaut und darüber einen Stern befestigt hatte, der aus Goldpapier gezackt und auf der Rückseite mit Tusche schmierig angeblaut ward, einen pappenen Joseph und eine pappene Maria neben die Krippe gesetzt hatte. Und der höchste Jubel war das lebendige Licht weit im Hintergrunde an der Schwanzquaste des letzten Ochsen gewesen.

David bekam einen solchen Stall gleich fertig und freute sich nun aus einer Ecke in die andre.

„Da, da, zwei Engel sitzen auf dem Dache!“ rief er.

Franz und Antonie sahen hin. Der Buchbinderlehrling hatte es einmal recht fromm machen wollen und diesen Engeln ein regelrechtes kleines Kirchengesangbuch mit einem Kreuz in die Hand gelegt. Was sie sangen, stand ganz hinten, also wohl im Abschnitt „bei Begräbnissen“. Die guten Engel schienen ganz zu vergessen, daß es beim ersten Weihnachtsfeste noch keine Kreuze gab.

Die Stunden bis zum Zubettegehen verstrichen ohne Bitternis. Das Gefühl, einmal reicher gewesen zu sein, kehrte ja jeden Weihnachtsabend ein, doch bezog es sich auf so zarte Zeiten, daß ein Vergleich mit späten Jahren niemand einfiel. Und Vater Anton war so krank, daß sein Tod nahe schien; der Arzt lief so oft an den Fenstern vorüber.

An den beiden Feiertagen waren die vergessenen Türen ins ferne blaue Kinderreich schon wiederzugetan.

Am darauf folgenden Nachmittage fiel Schnee, zum zweitenmal in diesem Jahre erst. Da achten die Menschen noch der plötzlichen milden Dämmerung: sie gilbt die Welt nur soweit, bis sie Märchen ist. — Es schneiten die übergroßen Seidenflocken und strichen und schwebten in ihrer blühenden Weiße an immer schattigeren Tiefen der weichen Luft vorbei und staunten an den Dächern und waren furchtsam an den Mauern, bis sie neben ihresgleichen an die Erde rührten. Und das war wie eine Musik von Geigen in der Luft, ein langsamer schimmernder Choral, und jeder der bebend leisen und doch rauschenden Akkorde ward eine Fermate.

David lief hinaus und wollte wissen, was seine Hühner mit dem Wunder machten. Es war ihre Fütterzeit. Oben begann auch schon das aufgeregte Gehen: Vater Anton hatte wohl nach der Blechbüchse gerufen. Nachdem David eine Weile im Türrahmen gestanden und gewartet hatte und auf die in einer Ecke zusammengedrückten Tiere gesehen, ging er, die kleinen Hände in den Höschentaschen, zur Mutter.

„Mutti, die Hühnchen warten und frieren.“

„Laß nur, Vater Anton wird ihnen schon etwas herunter streuen.“

„Nein, sie bekommen nichts.“

Still ging er nochmals vor die Tür und war nach kurzer Pause wieder da.

„Mutti, die Hühnchen frieren so sehr und zittern.“

„Hat Vater Anton denn vergessen?“

„Mutti, er ist tot.“

„Ach, rede doch nicht gleich so.“

Der Knabe entfernte sich noch einmal, war aber kaum vor der Tür gewesen, als er in großen Schritten zurück an den Stuhl der Mutter trat.

„Mutti, Vater Anton ist tot.“

„Kind, du mußt nicht so reden.“

„Ich seh' es den Hühnchen an.“

Franz kam aus der Nebenstube herein, und Antonie, von einem Schauer angeweht, sagte, nur um zu reden: „Unser David hat seinen Gram, weil er den Hühnchen keine gesegnete Mahlzeit wünschen kann.“

Franz hörte kaum darauf, wies zum Fenster und sagte: „Sieh doch, wie es schneit.“

David war nicht zu beruhigen. Er war schon wieder weg.

Antonie räumte den Bethlehemsstall vom Tisch, um das Vesperbrot zu richten.

Der Junge kam zurück und blieb hinter ihr stehen.

„Mutti, Vater Anton ist wirklich tot.“

„Junge, du sollst —“

„Mutti, wirklich.“

„Wer hat es dir denn gesagt?“

„Ich war nach oben gegangen und hab' gefragt. Hinter der Tür. ‚Frau Ullerich, ist Vater Anton tot?’ Da kam sie, machte mit einem traurigen Gesicht die Tür auf und sagte: ‚Wer hat dich geschickt?’ Ich wußte nicht, was ich sagen sollte und hatte Angst vor ihr und sagte: ‚Die Hühnchen haben mich geschickt.' Und sie sagte: ‚Ja, ja.' Und: ‚Ja, Vater Anton ist tot.' Sie gab mir dieses Näpfchen und sagte: ‚Dann fütterst du die Hühner, kleiner David?’

Er ging still hinaus, nur seine kleinen Schuhe klappten, und streute den zitternden Tieren das Futter. Die hatten nun ausgetrauert und genug in die Ecke gepfercht gestanden und den Kopf in den Pelz gedrückt. Sie stürzten sich hadernd auf die Körner, voran das Graugeperlte. Ein Braunrotes lahmte den übrigen nach.

Der Kleine erzählte ihnen vom Tod ihres Herrn: „Ja, Ziepziep, jetzt gibt er euch nichts mehr. Ja, ja, Ziepziep.“ Er klatschte vor Trauer lebhaft in die Hände, nickte sehr gewichtig mit dem Kopf und sah mit den großen Augen über die wimmelnden Federpelze weg. Zuletzt weinte er ein paar Tränen in den weichen Schnee und beteuerte unaufhörlich: „Ja, ja, Ziepziep.“

Das war die beste, aufrichtigste und lauteste Trauerfeier für den alten Vater Anton.

Die andern waren sill. Ullerichs waren von etwas Liebem, aber auch von einer Last los geworden.

Franz und Antonie gingen wortlos die Treppe hinauf und drückten den Hinterbliebenen die Hände. Franz wollte etwas wie Versöhnung in den Druck legen, aber er war darüber ratlos, wie dann weiter, und so unterließ er ein wärmeres Zufassen, behielt nur Frau Bettys Hand länger in der seinen, als bei formellen Handlungen üblich ist.

Am Begräbnis nahmen Pfinzens auch teil. Franz drängte sich ganz nach vorn. Er suchte aufdringlichen Todesgedanken zu entfliehen und spielte damit, legte sich in Gedanken in den Sarg, saß dann gleich wieder auf dem Deckel rittlings und schaute sich sein Gefolge an. Dies war ihm genau so wirklich wie das Knarren und Gehumpel der schiefstehenden Räder am Leichenwagen, die glatt polierte Spuren in den Schnee schälten. Er konnte ein Gähnen nicht verhalten: es drohte den Mund aufzusperren und rollte und knurrte am Trommelfell. Ein paar Sekunden lang war dadurch die Trauermusik gedämpft. Fünf Mietsmusikanten schritten vor dem Sarge. Die klaren Trompeten vermischten sich mit den weicheren und tieferen Trauerglocken. Es entstand eine schrille Fehde: die Trompeten wurden von den Glocken nüchtern und steif geschlagen, die Glocken von den Trompeten verdunkelt und leirig gemacht. Franz suchte dieses entsetzliche Musizieren, dem die Pferdeköpfe den wüsten Takt zu nicken schienen, als eine Einheit zu nehmen, um nicht immer zu denken: Wie wäre schön, wenn du tot wärest! — Er hatte Angst vor diesem Gedanken, weil er trotz der Aufdringlichkeit desselben das Leben unendlich liebte.