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Oskar Loerke: Franz Pfinz


Neuntes Kapitel

Frau Ladwig besuchte am Silvesternachmittag Frau Pfinz.

Es wunderte sie, Antonien bei fast all ihren Fragen erröten zu sehen. Sie erkannte bald, daß sie nur leiblich neben ihr säße, während die Gedanken aus einer trüben Ferne kamen und sich nur mühsam von etwas losrissen, das sie umkreisten.

Sie hatte das Gefühl, als verletze sie immerfort. Darum war es ihr willkommen, daß sie sich mit dem kleinen David beschäftigen konnte, der eben sein Weihnachtsgeschenk heranschleppte.

„Ei, ist das ein niedliches Haus!“ rief Frau Ladwig. „Und so viele Öchschen drin. Kann man die auch heraus nehmen?“

David schüttelte den Kopf. Er war stumm geworden, weil ihm die Frage der Frau Ladwig als etwas sehr Schönes einleuchtete.

„Du möchtest sie wohl gern heraus haben?“

„Ach ja!“ Er sprang ein Stückchen in die Höhe.

Frau Hedwig Ladwig fing sofort an, die Tiere abzureißen. David folgte ihren behenden Fingern mit munteren Augen, und wenn er seinen braunen Kopf gar zu weit in die vordere Öffnung des Stalles drängte, erhielt er einen Kuß.

„Nun stehen die Öchschen aber nicht. Was machen wir da?“

„Weiß nicht, Tante.“

„Ei, da werde ich dem kleinen David etwas aufgeben. Du willst mir doch helfen?“

„Ach ja!“ sagte David wiederum klar und sprang auch wieder.

„Sehen Sie, Frau Pfinz, was Sie für einen guten Jungen haben. Er hilft mir.“

David schienen diese Worte vergeudet, er hing schon an Frau Ladwigs Arm und fragte: „Was soll ich?“

„Krame mal der Mama alle Tüten durch, bis du etwas Mehl findest, und davon bringst du mir einen Löffel voll.“

David lief, kam jedoch schnell zurück, zog die Mutter, seine Händchen um zwei Finger ihrer linken Hand ballend, mit hinaus und brachte dann das Gewünschte.

„Wunderschön. Nun bringt mir der kleine David noch Wasser, nicht wahr? — Aber nicht viel.“

„Wieviel, Tante?“

„Hier. Wollen wir der Mama einmal den Fingerhut nehmen. Den braucht sie jetzt nicht. Diesen ganzen Fingerhut voll also.“

David schlich bald mit dem gefüllten nickelnen Schöpfgefäßchen zurück, setzte aus Vorsicht seine Füße ganz einwärts, ging auf Zehen und streckte die Zunge zum rechten Mundwinkel heraus. Ein Kistenbrettchen und Messer brachte er ebenso.

Bei dem allen schien er Antonien von einer dreifachen Hingebung gegen sonst...

Als Frau Ladwig kleine Leisten zuschnitt, stellte er sich wieder auf Zehenspizen und lehnte die Brust an ihren Ellenbogen. Jedes Schnitzelchen fing er auf, und fiel ja eins herunter, mußten die Frauen aufstehen, damit er es suchen könne. Schließlich wanderten die Ochsen im Gänsemarsch auf dem Tische dem Stalle zu, nur einer hatte den Kleister noch nicht ordentlich angenommen und legte sich auf die Seite. Frau Ladwig bestrich sein Brettchen noch einmal. David hüpfte heran, sie sagte: „Ei, noch nicht anfassen!“

„Nein, nicht anfassen, liebe Tante,“ versicherte er und kletterte ihr auf den Schoß.

Da Antonie sich gleich darauf erhob, rutschte er wieder hinab, schob sie bei der Hüfte zur Seite und sagte: „Ei, Mama, nicht doch anfassen. Erst müssen die Öchschen trocknen.“

Antonie fuhr ihm durch die Haare und ging dann in die Küche. Sie wollte dort nichts, nur war ihr Herz so schwer.

Daß ihr Knabe froh und lebhaft sein konnte, hatte sie fast vergessen. Eine fremde Frau mußte sie das eigene Kind kennen lehren. Sie hatte mit ihm nicht zu spielen verstanden. Sie glaubte es nicht unbillig zurückgesetzt zu haben, — es war langsam verkümmert. Dies auch also hatte Franz ihr angetan! — Das Zünden des lebhaften Temperamentes rechnete sie nicht ein.

Als Frau Ladwig gegangen war, sagte David: „Tante soll bald wiederkommen.“

„Nein, sie soll nicht wiederkommen!“ entfuhr es Antonien bitter. Sie gönnte keinem mehr, ihr Kind zu beglücken und wollte es fürder selbst versuchen.

David sah sie traurig verwundert an.

„Doch, doch, sie soll ja wiederkommen,“ sagte sie da.

Nun wurde sie ihrer Arbeit gram, spielte in der freigehasteten Zeit mit David und verglich den Grad seiner Lebenslust dabei mit dem durch Frau Ladwig entfachten. Sie fand, David sei noch zu zurückhaltend, und begann mit ihm zu tollen wie eine Verzweifelte. Er staunte sie darob an. Sie selbst fühlte Gezwungenheit und Unnatur in ihrem Gebaren und sann darauf, sich geschickter zum Umgange mit dem Kinde zu machen: zuerst kam es ihr vor, als neigte sie sich in eine fremde Welt, und als hinderte ihre Unsicherheit darin, alles übrige zu vergessen. Ihre Leiden quälten sie dann um so mehr. Ganz allmählich lernte sie das Spielen.

Daß sie dabei ihren Mann verachten mußte? Er mußte doch begreifen, wie er sie zerbrochen hatte, so sehr, daß sie selbst dem Kinde entfremdet worden war. Das hatte sie nicht einmal ahnen mögen bis Silvester. — Er verlangte aber nicht einmal mehr, sie möchte ihm dulden helfen, sondern verkehrte schleppend und schüchtern mit ihr.

So besprach auch sie nur das Notwendigste mit ihm. Selbst bei den Mahlzeiten redete sie wenig, denn ihre Stimme sprang allzu leicht in einen spöttelnden Ton über. Bald ärgerte sie, daß er kaum aß, bald schien er ihr kindisch in der Suppe zu patschen. Der eigentliche Grund, warum ihr der stachlige Wortton so nahe lag, war, daß sie noch immer spöttisch abwartete, ob er nicht eine Änderung herbeiführen werde. Sie sah keinen Ausweg aus diesem klumpigen Leben. Bei jedem Erwachen, wenn der Morgen die Last neu vor sie hinsetzte und beleuchtete, stak ihr ein wilder Aufschrei im Halse.

Allein die Tage gingen hin und es änderte sich nichts. Wäre er in dieser harten Zeit wenigstens aufrecht gewesen! Es war ihr unerträglich, wenn er so gebückt ging und immer ein Gesicht machte, als könne er sein Unglück nicht aushalten. Daß sie aber aller Widerwärtigkeit stand hielt, schien er für selbstverständlich zu halten. Er sah sich nicht nach ihr um, nichts sah er.

Nicht einmal für gute Ordnung in seiner Kleidung sorgte er. Wie oft hatte er letztens die Arbeitsjacke angezogen, ohne sie auszubürsten! Er setzte sich mit ungeputzten Stiefeln an den Tisch.

Dies erfüllte sie einmal mit solcher Wut, daß sie abwartete, bis er das andre Paar hervorsuchte und ausging, und dann wichste sie die Alltagsstiefel blank und stellte sie gleich vorn in den Flur.

Als er wiederkam, fragte er erschrocken ohne Stimme: „Antonie, warum tust du das?“

Ihn ergriff ein Entsetzen über die Größe des sofort erkannten Hasses, der sie zu der Verzweiflungslust trieb, sich vor ihm selbst zu erniedrigen, um nachher desto besseren Grund zur Feindschaft zu haben.

Am tiefsten litt er an der Scham vor sich selbst. In seiner Liebe gestand er Antonien ein Recht zu, ihn zu hassen. Er hatte ihr Not und Arbeit für Fremde zugemutet, sie hatte alles hingenommen. Weshalb hatte er das getan?

Er hatte nur verloren, nichts gewonnen. Die Fünfte Symphonie, die ihn hätte entschuldigen können, klang noch matt... Ja, ehrlich war er. Sein Sohn, seine Frau sollten nicht mit einem seelischen Bettler umgehen. Wenn er das wirklich war, dann —

Und darum stand er immer so schüchtern vor seiner Frau. Er ahnte nicht, wie er so sie nur mehr gegen sich aufbrachte.

Sie im Herzen aufgeben konnte er nicht. Wie sie leibhaft durch die Stuben ging, verstockt gegen ihn, war sie nicht sie selbst. Heimlich trat er einmal an den Eckschrank, wo im obersten Fache Familienphotographien standen, und suchte sich ihr Bild hervor. Er mußte es weit aus dem Hintergrunde langen, er erkannte es gleich an dem blechernen Vierkleeblatte, das an einem rankenden Stengel den Rahmen überragte. So mochte er ihre Züge, wie sie ihn hier anleuchteten, und er ertrug den Blick der Augen. — Beim Zurückstellen wurde er gewahr, daß auf dem Rahmen seines eigenen Bildes auch Kleeblätter waren, natürliche, — ganz verdorrt. — — Er entrollte sie, — es waren ebenfalls vierblättrige Stengel. Glücksstengel. Sie zerfielen schon. — Die mußte einst Antonie dort angebracht haben! Ihm war, als würde eine glänzende Kerze in ein leichenduftendes, dunkles Zimmer gebracht.

Er mußte! — Mußte ja doch wenigstens etwas wert sein, mußte der Symphonie endlich seine Seele einhauchen und dem erlahmenden Verein ernstes Streben wieder schenken! — Oh, er war wohl sehr Phantast? Mit solchen Musikern wollte er sein Leben aus der Verzweiflung retten? Sie wußten ja immer neues zu seiner Erniedrigung. Natürlich war ihnen die Weihnachtszeit nicht genehm zu einer Probe; Mitte Januar rechneten sie noch als Weihnachtszeit. — Ende Januar waren fünf Herren krank, nur eigentümlich, daß die Krankheit so tückisch ihre Opfer erlas: nicht eine Klarinette fehlte, sondern zwei, nicht ein Fagott, sondern beide, und ein Cellist war nach Hohenkrähns Austritt auch nicht mehr entbehrlich.

Franz mußte warten und warten. Wenn er saß, mochte er den Stuhl nicht rücken, wenn er ging, ging er wie mit aufgeschnittenen Pulsadern herum. Das glückliche Einst wurde ihm geisterhaft hell. Das kleinste gegenwärtige Erlebnis ward ein Scheinwerfer dahin. So hob eine Zeit an, wo die Hände mit den betasteten Gegenständen nur zufällig spielten, Gedanken führten sie selten; sie glitten zumeist mechanisch wie in schlafwandlerischem Bewußtsein von ihrer Bestimmung über das Papier. — Manchmal erschrak er, wenn die Augen plötzlich ein Ding erkannten: sie hatten schon Abschied davon genommen und wühlten zwischen den Flächen und Farben in etwas Unbestimmtem. Merkte er das einmal, wußte er nicht die Zeit, wann seine Augen — er seufzte — Abschied genommen hatten.

Dabei gehörte ihm auch seine Vergangenheit nicht mehr. Er hatte sie ohne Fug genossen, denn ihre Hoffnungen eben hatte er zu Unrecht gehegt. Auch dieses geisterhaft erhellte Reich ward ein Totenreich. Er sah hinein: das Aufheben eines Steines war eine Wehmut, der Blick eines teuren Auges ein Winter. Darum: forderte er nun eine Antwort von Antonien, so wurde ihre Rede nie eine Antwort, er konnte nichts vernehmen als den trostlosen Widerhall seiner eigenen Worte, und selbst der kam immer verirrter und vergehender.