nach_oben

Oskar Loerke: Franz Pfinz


Zehntes Kapitel

Meine Herren, ich glaube, wir sind vollzählig. — Sie alle wissen, warum ich Sie gebeten habe, heute schon um 7 statt um 8 Uhr im ‚Neptun‘ zu erscheinen. — Soviel ich aus den Vorbesprechungen entnehme, nicht wahr, sind sämtliche Herren mit der Entlassung unseres gutmeinenden, treuen Dirigenten Pfinz einverstanden.“

„Bravo! Bravo!“

„Meine Herren, unser aller Wohlwollen hat ihn bis zu dieser Stunde begleitet, aber das kann mich nicht hindern zu sagen, daß er unsere Geduld auf eine recht harte Probe gestellt hat. Rechnen Sie nach, wie viele Monate wir an dem einen einzigen Werke arbeiten! Niemand kann uns übelnehmen, wenn wir mit der Zeit nur widerwillig der von uns allen hochverehrten Beethovenkunst unsere Dienste widmen. Und dieser Widerwille hat uns allmählich auch die Beschäftigung mit Thalias leichteren, schönen Walzerweisen vergrätet. Wir sind sozusagen musikmüde. Dazu beigetragen mag noch etwas haben. Wenigstens glaube ich doch mit meiner — ja, ich muß sagen Empörung nicht allein zu stehen. Dazu beigetragen haben mag die Art und Weise, wie wir behandelt worden sind.“

„Bravo!“

„Zuerst konnte man mit stiller Belustigung darüber hinweg gehen, aber, daß zum Beispiel ich an der Fugatostelle die Fagottpartie wiederholt solo vorblasen mußte und immer mit: „Noch schwungvoller! Noch schwungvoller!“ traktiert wurde, ist mir eine Unze zuviel verlangt gewesen. Ja, wenn man eine Persönlichkeit hinter der Forderung gespürt hätte! Ich glaubte aber — verzeihen Sie — einen Kasper vor mir zu haben.“

Hier wurde Herr Fröschke von einem hastigen Beifall aller unterbrochen, die bei der angeführten Beethovenstelle mitzuwirken hatten.

Herr Krunkekrumm seufzte: „Wie oft hat erst mein Baß die Passage solo vorknurren müssen! Sie wissen ja noch, verehrte Herren, wie Sie sich dabei amüsiert haben.“

Herr Poppelhauer, Krunkekrumms williger Genosse, hatte sich sogar bloßgestellt gefühlt.

Wenn die Instrumente an jener Stelle bloß eine Nachahmung auszuführen hatten, ihre Spieler schränkten aus Mißbilligungen des Verhaltens ihres Dirigenten an dieser Stelle eine regelrechte Fuge: Bässe, Bratschen, Fagotte, zweite und erste Violinen rannten und schimpften durcheinander, und eine ganze Weile verging, bevor der Sturm vorüber war.

Endlich fuhr Herr Fröschke in seiner Rede fort: „Also, ich höre mit unverkennbarer Deutlichkeit, daß Sie alle mit Herrn Pfinz unzufrieden sind. Etwas erleichtert wird uns die Peinlichkeit seiner Entlassung ja dadurch, daß wir an seine Stelle keinen neuen Dirigenten setzen, sondern den Verein auflösen wollen. Oder ist jemand dafür,“ fragte Herr Fröschke mit erhobener Stimme und Brust und Bauch herausgedrückt — „ist jemand dafür, daß der Verein noch weiter bestehen bleibt?“

Niemand meldete sich.

Herr Krunkekrumm nur kratzte sich hinter den Ohren und rief endlich: „Ja, aber wir wollten doch als Kegelklub oder sonst was zusammen bleiben.“

Während er dies verdrießlich verlautbarte, winkte Meuslin pfiffig wenigstens sechsmal ab.

Fröschke rieb die Hände, nickte ungemein freundlich und sagte: „Kommt noch, kommt noch! —— Nun. Um auf den verlassenen Punkt zurückzukehren, die Auflösung wäre einstimmig beschlossen. Ich werde Herrn Pfinz also mitteilen, so viele Herren hätten ein Austrittsgesuch eingereicht, daß unser Orchester fürs Weiterspielen zu gelichtet sei.“

„Die reine Glatze,“ sagte Aberwitz.

„Au, au, au!“ rief man von allen Seiten.

„Meine Herren,“ erhob Fröschke wieder seine Stimme, „unangenehm ist es mir doch, Herrn Pfinz die Kündigung ins Gesicht zu sagen. Lieber machte ich es schriftlich. Nun haben wir aber heute die Instrumente noch da; — eine Abteilung nach Hause zu schicken, wäre doch wohl ein bißchen unwürdig. Gern möchte ich, wenn ich aus offenem Herzen reden darf, nicht noch einmal spielen, zumal mir mein Solo höchstwahrscheinlich wieder bevorsteht. Tja — na! Wir sind so fröhlich beisammen und haben einander so lieb, und nun kommt, was Herrn Krunkekrumm am Herzen lag.“

Alle Gesichter glänzten. Es war nicht zu leugnen: Herr Fröschke war köstlich, nichts ging über Herrn Fröschke. Hohenkrähn war unbequem gewesen. Daß er austrat, hatten alle im stillen hochwillkommen geheißen, aber daß er einst Herrn Fröschke zum Vorsitzenden vorgeschlagen, das war eine gute Tat gewesen, die den Verein Woche um Woche mehr zu einem Bund von Brüdern umschuf. Jeder, und der Vorsitzende mit dem besten Recht, konnte sehr häufig sagen: „Wir alle!“

Als Herr Fröschke gerade Vorschläge einsammeln wollte, welchen neuen Namen der Verein von nun an führen und welche neuen Aufgaben er übernehmen sollte, trat ein etwa fünfzehnjähriger Bub herein, dem man am schneidig gekniffenen Filzhute den vornehmen Lehrling ansah, und überreichte einen Brief. Nachdem Fröschke gelesen, sagte er: „Das paßt herrlich! — Leider schickt mir Herr Friseur Seidenmantel, den wir heute seltsamerweise bis jetzt nicht vermißt haben, die äußerst betrübliche Nachricht, sein Sohn liege so schwer krank an der Diphtheritis, daß er vielleicht sterben werde, und daher käme Herr Seidenmantel nicht. Meine Herren, wir sind dem verehrten Mitgliede nur schuldig, glaube ich, während ein großes Familienunglück über ihm schwebt, nicht zu musizieren. — Übrigens soll die Diphtheritis ja ungewöhnlich stark in unserer Stadt herrschen.“

„Ja,“ sagte ein Herr, „der kleine Maximilian Hohenkrähn ist heute vormittag gestorben.“

„Ah —,“ rief Herr Meuslin bedauernd aus.

Nun unterhielt man sich ein Weilchen von der Krankheit und lenkte erst allmählich zu dem großen, vergnüglichen Umwandlungsplan über, denn die künftigen Tage des Vereins sollten sehr lustig werden. Obwohl ein hitziger Meinungsaustausch einsetzte, wurde vorläufig nichts Gründliches und Dauerndes beschlossen, nur ein glänzendes Maskenfest im Rathaussaal anberaumt. Recht hahnebüchen sollte es dort zugehen, rote, lächerliche, dumme Larven vorgebunden und große häßliche Nasen aufgesteckt werden.

„Also nächsten Sonnabend im Rathaussaal,“ rief Herr Fröschke, ohne zu merken, daß Franz Pfinz schon eingetreten sei, — zwanzig Minuten vor der angesetzten Übungsstunde.

Meuslin machte noch ein eiliges, leises: „Scht! Scht!“

Fröschke faßte sich sofort und sagte: „Also ziehen Sie sich nur an, meine Herren! — Guter Herr Pfinz, Sie sind nun wie wir vergeblich gekommen. Wir haben soeben erfahren, daß der kleine Valentin Seidenmantel im Sterben liegt, und da ist es selbstverständlich unmöglich, daß wir währenddessen musizieren. — Ja. — Übrigens ist auch Maximilian Hohenkrähn an Diphtheritis gestorben.“

Über Franz kam der Schlag fast wie etwas Selbstverständliches. Er wußte ganz bestimmt, daß er des Amtes entsetzt war. Er hatte die Bemerkung vom Rathaussaal gehört, die Eile der Herren beim Entfernen gesehen, bedachte den Ausfall der letzten Übungsstunden. Man wählte ihm gegenüber immer die Formen, die am tiefsten verletzen mußten. Und worauf gründete sich das?

Er hob die grellen Augen auf und sah umher, wie die Mitglieder ihre Instrumentenkasten ergriffen, sich verbeugten und hinausgingen. Bloß sein Gehirn wurde wie von kühlen, knöchernen Fingern angerührt und gerückt. Seine Unterlippe zuckte nach rechts, zuckte nach links. Er stand ein paar Sekunden still.

Dann ermannte er sich zu sagen: „Wer weiß, meine Herren, ob Sie in dieser Todesstunde eines fremden Menschen etwas Besseres tun werden als Ihre Gedanken der Fünften Symphonie zuwenden. Vor Beethoven brauchen Sie sich in der Todesstunde eines fremden Menschen nicht zu schämen.“

„Aber Herr Pfinz, Sie sind doch nicht Beethoven,“ rief Aberwitz dem steinstarren Franz zu, nickte hochmütig und lustig und war zur Tür hinaus.

Und Herr Fröschke, der letzte, wies mit wogender Hand auf den leeren Saal und sagte: „Ja, Sie sehen,“ verbeugte sich tiefer als gewöhnlich und murmelte: „Adieu, Herr Pfinz.“

Franz konnte nicht anders, als sich selbst schuld geben trotz allem und allem. Das Gefühl seiner Unzulänglichkeit trotz des äußeren Widerstandes war ihm zu klar geworden.

Demütigungen und Hoffnungen hatten ihn nun zerbrochen.

Als er nach Hause ging, war sein immerwiederkehrender Gedanke: „Nun habe ich die Symphonie doch nicht zu Ende gebracht, — nun habe ich die Symphonie doch nicht zu Ende gebracht.“ Und dieses Urteil war wie ein geller Donnerschall: die Ohren wurden für die Straßengeräusche betäubt und der Körper zag sich zu rühren. —— Also ging es hinab aus dem Leben. Es war soweit gekommen: vor Freunden, mehr noch vor seiner Frau und gar vor seinem Sohn, wenn der heranwuchs, ertrug er das Dasein ja nicht mehr. Wenn die nicht gewesen wären!

Der Wille zu leben gaukelte ihm zwischen den Gedanken zu sterben das Bild eines Dorfmusikanten vor. Ich bliese Trompete und zöge mit dem andern Lumpenpack von Haus zu Haus und ließe mir in den Schnee einen Teller dampfender Suppe herausreichen und würde mit fremden Liedern, die von meinem vertanen Leben zittern sollten, noch manches Herz weich machen.

Gleich darauf dachte er: „Hab' ich das nicht irgendwo gelesen?“ So konnte er die Tür zum Tode nicht zusperren, er hatte sie zu weit geöffnet, und seine Angst und seine Seufzer fuhren immer hindurch wie ein Zugwind und rissen sie weiter auf. Er war so bloß; was sollte er im Leben?

Als er zu Hause in die Stube trat, schlug die Uhr erst acht. Antonie hatte die Lampe auf die Nähmaschine gestellt und saß über eine Arbeit gebückt. Die Lampe blakte, im Zimmer schwebte ein stickiger Rauch. David lag bäuchlings am Boden und spielte mit seinen Ochsen. Der Mond hatte ein paar schwache Flecken an die Wand geworfen, er nahm sie gerade weg. Schwarze Wolken zogen.

„Nun habe ich die Symphonie —“ begann Franz in der Tür.

Er konnte nicht vollenden, seine Stimme erstickte: Antonie wollte nichts wissen und sah nicht einmal auf.

David hielt sich die Fingerspitzen vor den Mund und kicherte. Der Vater war ihm komisch, wie er mit hoher, zitternder Stimme ein paar Worte sagte und dann den Kopf schüttelte.

Franz wäre am liebsten weiter, in den Wald hinaus gegangen. Die fremde Kälte dieser beiden Menschen machte seinen Schmerz noch glühender.

Er blieb, schloß lautlos die Tür und ging in deren Nähe immer drei Schritte hin und zurück. „Weggejagt bin ich,“ sagte er.

Antonie zuckte rasch, er sah das nicht, horchte nur. Kümmerte sich wirklich keiner um ihn, fragte denn keiner?

Der Junge hatte sich aufgerichtet und sah mit lachendem Gesicht auf den Vater. Er kam ihm immer komischer vor, während er so verlegen auf und ab ging und mit dem Taktstock im Hute herum stocherte. Das konnte doch nicht heißen: zum Tode wund und weh?

Franz ärgerte sich über das törichte Lachen und daß er gar vor dem Kinde nur ein Spaßmacher war.

Leise sagte er: „Dein Spielgefährte Maximilian Hohenkrähn ist tot,“ der Gedanke an den eigenen Tod überrieselte ihn wie eine heiße Welle, seine Achsel zuckte, der Silbertressenschnurrbart hob sich hoch von den beiden Zahnlücken, er schielte ein wenig nach Antonien hinüber.

David überlegte nicht die gehörten Worte, sondern sah mit gereizter Lust nur des Vaters drollige Gestalt und sein Schielen an und brach in ein herzliches, lautes Lachen aus.

Franz ergriff die Angst der Verlassenheit furchtbar, sollte er nur verachtet sein und jedem lächerlich?

Gleichviel, was er tat: er riß den Taktstock aus dem Hut und schlug dem Kleinen kurz über den Nacken.

David zuckte zusammen, schloß den Mund, sah zuerst auf den Boden, seine Gestalt schien arm und klein zu werden, dann hob er die Händchen gekrümmt bis in Augenhöhe, hielt sie von sich und lief mit schlürfenden Füßen der Ausgangstür zu.

Antonie war sofort hinter der Nähmaschine hervorgesprungen. Ihr Mund öffnete sich, die Erregung hielt sie einen Augenblick auf ihrem Platze. Dann riß sie mit einer Hand Franz den nur noch lose gehaltenen Stock weg, mit der andern David an sich, und rief heiser: „Laß mein Kind! — Laß mein —!“

Franz tastete sich bis ans Sofa, setzte sich und blieb bis zum Schlafengehen schlaff und dumpf. Er sah zu, was Antonie mit dem Kleinen machte, wie sie ihn in die Schlafstube führte und zu ihm sprach. Nur wenn ein großer scheuer Blick Davids sich zu ihm verirrte, wußte er, daß er auch das Kind ganz verloren hatte.

Er dünkte sich nicht schuldig daran, aber er nahm es widerstandslos als ein notwendiges Schicksal hin.

Der Knabe sah leidend aus. Seine Wangen glühten, die Hände waren trocken. Er sprach viel zur Mutter und wollte vielerlei wissen.

Am nächsten Morgen holte Antonie einen Arzt, und der stellte fest, David sei an Diphtheritis krank.

Er hatte gestern wohl im Fieber gelacht und meinte nun selbst, über den Tod seines einstigen Spielgefährten Maximilian gelacht zu haben und erkundigte sich immerfort: „Was ist das, tot?“ und suchte zu ergründen, warum es so schlimm sei, darüber zu lachen. Sein kindliches Philosophieren hörte sich grausig an, um so mehr, als ihm bei des alten Anton Tode nichts dergleichen eingefallen war. Vor dem Vater hatte er eine stille Furcht, die noch dadurch bestärkt wurde, daß Antonie an Franz vorüberging, als wäre er nicht vorhanden.