Elftes Kapitel
Die Geldmittel waren knapp. Antonie arbeitete wenig mehr. Was sie verdiente, erhielt sie ohnehin nicht vor dem ersten März. Franz hatte soeben eine neue, große Abschrift begonnen und mußte ebenfalls mit der Bezahlung warten, bis er sie ablieferte. Arzt, Arznei, Verpflegung des Kleinen verschlangen viel. Trotzdem beschleunigte Franz seine Arbeit nicht, im Gegenteil, etwas Kaltes klammerte sich um seine Hand und lähmte sie.
Um an der Heizung zu sparen, lebte die Familie — das heißt meistens war Franz allein — in der kleinen Stube, deren Fenster auf den eigenen Vorgarten wiesen.
Franz vermißte sein Arbeitszimmer. Frostblumen rankten sich dort an den Fenstern empor, nach zwei Tagen sahen die Scheiben grau beschimmelt aus, und das Licht selbst der Mittagsstunde war im ganzen Raume auch grau.
Franz kam manchmal herein, sah auf dem Schreibtisch ein Papier an und wiederholte sich in toter Dumpfheit immer den gleichen Gedanken: „Warum hab' ich nun mit einmal gar nichts mehr?“
Hinter der Tür, die ins Schlafzimmer führte, hörte er dann Antoniens Stimme zu David raunen. Sie saß viel an seinem Bette, gab dem Kleinen, was er zu bekommen hatte, und mußte ihm trotz der Verbote des Arztes erzählen.
Ausgesprochen hatte sie es nicht, aber ob sie nicht dachte: „Du hast mir den Knaben krank geschlagen?“
Er ging zurück. Was saß er noch und schrieb? Wie kam er aus der Welt?
Er hielt inne und sah hinaus.
In der Teufelszwirnhecke klebte der Schnee, die Kastanie regte sich steif, es war ein stürmischer Tag. Etwas Unheimliches blies den Rauch der Essen in die Gassen. Von der Mühle flog er, als die Sirene pfiff, auf die Kastanie herüber, und da waren keine segnenden Hände mehr wie im Juli, sondern lange Krallen strählten die Rauchmähne, und sie drückte sich geisterhaft ans Fenster. Das war wohl die Leibesgestalt des qualvollen Lautes, und sie schmiegte sich bis dicht neben Franz.
Er sah sich um. Die Stube war so kahl und eng und still, daß er einen weiten Himmel über sich und eine lautere Welt um sich haben wollte.
Er machte sich auf und ging langsam die Straße zur Stadt hinein. Die vorbeiströmenden Arbeiter drückten sich an dem langsamen Wanderer bisweilen, stießen ihn und riefen unwillig ihm etwas zu. Kein Gegensatz dieser Welt zu der von ihm gesuchten dämmerte ihm mehr auf, alle Welten waren ihm fremd.
Er hörte mitunter den Wind grotesk in den Dachrinnen trompeten. Eiszapfen stickten schimmernde Spitzen um die Dächer. Die Knaben hatten dicke schwarze Mützen auf und die Katen dicke weiße.
Nichts heimelte an.
Er fieberte beim Anblick des hellblauen Himmels; der war siebenmal so hoch wie sonst.
Und er fieberte beim Anblick der rosigen Sonne auf dem Kirchturm. Schwarze Vögel flogen irgendwo auf und um die Kirche herum. Ein weißer Hund, dessen Schnauze in struppigen Haaren verlief, beschnüffelte ihn. Im Schnee am Sakristeifenster grinsten Krallenabdrücke jener Hungervögel: die Krallen ließen sie, den Fittich nahmen sie weit weg.
Franz kehrte heim zwischen den fahlen Häusern, die so öd an den Straßenborden standen. Hinter keinem der weißen Fensterkreuze mehr schallte ein Weihnachtslied.
Er machte öfter solche Gänge. Halfen sie auch nichts, so lösten sie die starren Schmerzen doch auf eine Stunde in rieselnde, klingende Weicheit.
David überstand die Krankheit gut. In wenigen Tagen verlor er das Fieber und lachte schon die Mutter an.
Antonien überkam eine silberne Stimmung, wenn sie zu ihm sprach. Sie erzählte mit gedämpfter Stimme und besserte dabei des Kleinen Kleider aus. Einen Stoß Wäsche hatte sie vor sich gelegt und sah sie nach. An einem Hemd fehlte ein Knopf. Als sie nicht gleich einen andern fand, schnitt sie an einem Hemde ihres Mannes einen ab und nähte ihn an. Ihr Zorn über ihr Schicksal war ein grobes Lasten geworden. Beschäftigte sie sich mit David, war ihr deshalb, als sähe sie aus Dunkelheit in eine goldhelle, duftvolle Kemenate. David tat ihr mit seinen Fragen ja so viele Lieblichkeiten auf. Nach dem Vater fragte er nur selten und beklommen, sonst nahm er schon an allem wieder teil, erkundigte sich nach seinen Öchschen und vor allem nach den Hühnern.
„Wo ist Vater Anton?“ fragte er Freitag, also sechs Tage nach Ausbruch seiner Krankheit.
„Bei den Engeln.“
„Was sind Engel, Mutti?“
Antonie mußte ihm viel von Engeln vorfabeln, er wurde nicht müde zu fragen. Als sie ihm alle ihr bekannten biblischen Geschichten berichtet hatte, in denen welche vorkamen, verlangte er eine genaue Beschreibung ihrer Gestalt. Antonie sagte ihm, daß an die Decke von Vaters Arbeitsstube ja Engelköpfe gemalt seien, und solche farbigen Gewänder trügen alle, und Instrumente aus Gold und Silber hielten sie mit ihren langen schmalen Fingern.
Er sann eine Weile mit erhobenen Augen und begann dann wieder leise und ängstlich:
„Mutti?“
„Ja? Was hat denn mein kleiner Guter?“
„Mach' doch die Tür zu, bitte, bitte.“
„Welche denn?“
„Ich habe Angst.“
Antonie sah ihn leidend an. Fürchtete er wieder den Vater? Die Tür war geschlossen.
„Die Tür ist zu. Vor wem denn hast du Angst?“
„Vor den Engeln da drinnen.“
„Die tun ja nichts. Die sind doch bloß angemalt. Die lebendigen und wirklichen sind auch viel schöner.“
„Tun sie auch Vater Anton nichts?“
„Nein, Davidchen. Sie streicheln ihn und reichen ihm blanke Blechbüchschen und treiben ihm liebe weiße und perlgraue und braunrote Hühnchen vor die Füße und singen mit schönen Klein-David-Stimmchen alle: Ziep ziep — ziep ziep.“
Der Kleine wurde immer ernster.
„Beißen sie ihn nicht? Sie haben solche breiten Zähne und einen großen Mund.“
„Ach, denk' doch nicht an die gemalten Puppen da hinter der Tür. Das sind gar keine richtigen Engel. Ich kann den Schrupper nehmen und sie abkratzen. Dann sind sie weg.“
Er schlief ein, seufzte viel, Schweißtropfen traten auf seine Stirn, und als er erwachte, hielt er jämmerlich der Mutter seine linke Hand hin und klagte:
„Mutti, sie haben mir vier Finger von der Hand gebissen.“
„Das hast du geträumt, Kleinchen. Guck, die Finger sind ja alle da.“
„Diese vier.“
„Sieh doch, ich kann in alle Spitzen kneifen. Dies ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen, der sammelt sie auf, der trägt sie hinein und der ißt sie auf.“
„Aber sie haben sie mir abgebissen. Sie waren so groß. — Mutti, so groß!“
Nachmittags schlief er ein. Antonie dachte, er werde sobald nicht erwachen, und sie ging daher nach der Apotheke die Medizin nachfüllen lassen.
Franz hörte sie gehen. Es war ihm unheimlich allein zu bleiben, wenn Antonie ihm auch nichts zuliebe tat. Die Stube war kalt, seine Hand wollte sich nicht regen. Die letzten Kohlen hatte er morgens im Schlafzimmer eingelegt.
Die Stille schien sich immer mehr zu vertiefen. Die Uhr von nebenan hörte er durch die Wand picken, und auch die Schwungräder in der Mühle glaubte er gehen zu hören...
Er lauschte lang.
Da glaubte er David rufen zu hören.
Er trat in die Arbeitsstube. Der Frostpelz an den Fenstern war noch dicker geworden. Er fuhr mit der Hand herüber.
Beim Knarren der Tür war David wirklich erwacht und rief leise: „Mutti.“
Er hörte es, ohne sich zu regen.
„Mutti,“ rief es noch einmal klagend hinter der Tür.
Es klang Franz süß wie das Rufen einer feinen, vergessenen Stimme tief in sich selbst.
Und dann stöhnte der Knabe, aber, wie Franz hörte, nicht aus Schmerz, sondern David sang sein „ah“ träumerisch in langen Zwischenräumen.
Im trüben Dunkel fühlte sich Franz noch unheimlicheren Gewalten preisgegeben. Nein, der Tod war zu schaurig. — Und drüben sang sein Knabe.
Wenn er den Versuch machte, sich das Kind wieder zu erringen und von da aus Antonien und dann weiter das ganze Leben! Wie begann er es nur? David wurde ihm ein kleiner, hoher König, dem er nicht unvorbereitet nahen durfte. — Gunst ließ sich nur durch Zartheit erringen, und er kannte schon lange nichts als Härte.
Er horchte hinüber. Das Kind war still. Ihm war fast, als wäre David fort.
Er wollte ihm etwas schenken, er wollte ihm erzählen wie die Mutter. Aber was schenken, was erzählen? Er sah im Zimmer umher. Endlich zog er aus der Bücherschwebe einen Pappband herunter. Es war ein Lesebuch für Kinder, ein sogenannter Kinderfreund, und stammte aus seiner Lehrerzeit. Da fand er allerhand Märchen, Sagen und Geschichten. Er suchte, las das Halbvergessene über, und wenn er an ein Bild kam, riß er es heraus und steckte es in die Brusttasche, eine Gans, die Schlacht bei Fehrbellin, Martin Luther, ein Luftschiff. Dabei horchte er zugleich nach David hinüber und nach der Haustür, ob Antonie nicht käme und seinen Plan vereitelte. In ihrer Gegenwart hätte er ihn nicht auszuführen vermocht.
„Mutti,“ rief es wieder leise.
Da trat er hinein. Der Knabe hob den Kopf, senkte ihn sofort wieder ins Kissen zurück und sah furchtsam an die Decke. Franz trat zum Fenster und zupfte an den Gardinen. Wie sollte er das Werben beginnen?
„Kleiner Mann!“ bat er inbrünstig.
„Ja,“ sagte David mit leiser, zitternder Stimme.
„Sag' einmal: Papa, das geschieht dir recht.“
„Papa, das geschieht dir recht,“ sprach David sehr schüchtern nach.
„Hier hast du auch ein Bild.“
David nahm das Blatt und wiederholte dabei: „Das geschieht dir recht.“
Franz zog schnell noch zwei Bilder hervor und gab sie ihm.
David fürchtete sich, als er sie ihm so dringlich hinhielt, daß er mit dem bösen, immer so unheimlich stillen Vater zusammen sein und sprechen sollte, nahm die Bilder nicht und reichte auch das erste zurück.
„David will keine Bilder,“ flüsterte er.
Franz bohrte schmerzlich seinen Blick in den des Kindes, beugte sich über das Bett, rollte seine Wangen an denen Davids, umfaßte des Kleinen Handgelenk, das zwischen zweien seiner Finger noch schlotterte, und wollte die dünnen Arme auf seinem Nacken zusammenlegen, aber David rief ziemlich laut und sehr ängstlich: „Mutti — Mutti — Mutti!“
Da ließ er ab, richtete sich empor und horchte, ob Antonie nicht wirklich käme.
Helle Glöcklein ließen sich von ferne hören, dann zog das Tönen immer näher heran und klang lange durcheinander.
David weinte.
„Das sind nur Schlitten,“ beruhigte ihn Franz.
Nun horchte er gelassener zu.
Wahrscheinlich irgend eine Vereinigung machte eine Partie nach Geisenzell und war schellenschüttelnd vorüber geflogen.
Der Knabe war dadurch ruhig geworden. Franz mußte anders versuchen, die kostbare Zeit auszukaufen. Er konnte kein allmählich errungenes Vertrauen brauchen, sondern bedurfte plötzlicher Hilfe.
„Kleiner Mann, — soll ich dir etwas erzählen?“ fragte er, und seine eigene Stimme keuchte in Furcht wie die Davids.
David scheute sich abzulehnen und sagte: „Ja.“
„Was erzählt dir deine Mutter immer?“
„Alles.“
„Was magst du denn am liebsten hören?“
„Von dem Schrecklichen mit den breiten Zähnen. Beißt.“
„Wirst du mich dafür auch lieb haben?“
„Ja,“ sagte der Knabe unendlich schüchtern und sah dabei nach der Türe. „Lieber Schutzengel,“ setzte er gedankenverloren hinzu.
Franz traf der Ton des Ja wie ein Schlagfluß. Er verlor schon sein Ziel aus den Augen, wollte aber erzählen, wie man eine unliebsame Pflicht erfüllt. Ihn überfiel dazu Qual und Scham, wie er sich vor einem Kinde gebärdete.
Antonie hatte die Nähmaschine hier herein getragen und offen verlassen. Er sank auf den Stuhl dahinter, bewegte das Trittbrett auf und nieder und zog den schwarzen Faden weit aus, während er unter seinen Geschichten die schrecklichste auszuwählen versuchte. Sein Gedächtnis hackte und klebte, — und die Zeit rann. So erzählte er denn wahllos den ersten besten Einfall: von Geistern, die das Blut aussaugend töten. Er malte die langsame Qual aus, sah einen von diesem teuflischen Unglück betroffenen Menschen vor sich, beschrieb sein groteskes Zappeln, bis er vor Grausen nicht weiter konnte. Er hatte seine Kehle schon lange nicht so viel sagen hören, hielt den immer krankhafteren Blick des Kindes nicht aus, fühlte, wie er Entsetzen statt Liebe säte, hörte immerfort Antonien eintreten und begriff sich schließlich selbst nicht mehr. — Ihm schwebte solch Vampyr mit Fledermausflügeln über dem Kopf! — Wenn er sich erhübe —!
Das Kind weinte, als er schwieg.
Da hörte er einem Eimer in der Küche den Henkel klirren.
Er fühlte, wie schrecklich sich der Knabe nun ängsten würde, allein zu bleiben, aber er machte trotzdem die Tür hinter sich zu und stand wieder in der grauen Arbeitsstube. Es wurde schon Abend.
Er hörte David aus dem Bette steigen, die nackten Füße auf dem Boden trippeln, an der Küchentür „Mutti!“ rufen.
Dann hörte er Antonien herein kommen, den Kleinen zu Bette bringen und an der Maschine klappern. Der Knabe erzählte mit leiser, wimmernder Stimme, was ihm geschehen war. — Als wäre er grausam gewesen!
Ach, das war zu traurig! Ihm waren alle Wege zurück ins Leben verweht.
Er ging wieder in die andre Stube und wollte arbeiten.
Kaltes Dämmerfahl lagerte um ihn. Der bucklige Müllerbursch kehrte eben pfeifend auf leerem Wagen heim.
Er wollte die Lampe anzünden. Ja, so, sie war ja gestern schon ausgebrannt gewesen. Er pustete die Flamme wieder weg.
Dann setzte er sich aufs Sofa und starrte aus dem Fenster. Nach einer Weile schien ihm ein Geräusch zu fehlen. Hatte Antonie nicht eben drüben David ein Lied vorgesungen? Er hätte das gern erfahren, aus welchem Grunde, wußte er selbst nicht. Er lauschte aufmerksam hinüber. Es blieb still. — Nun ging noch einmal die ganze Szene an ihm vorüber, wie David gerufen hatte „Mutti“ und „ah“ gesungen, wie er sich erniedrigt, — und als er ans Ende kam, da ertrug er sich wiederum nicht im geschlossenen Gemach aus Stein, nahm den Hut vom Nagel und schritt dem Walde zu.
Zuerst hatte er eine Empfindung: Das Leise!
Dann fühlte er einen bitteren Wind ans Kinn schlagen.
Die entlaubten Birken sahen in dieser Jahreszeit nicht schön aus. Sie hielten rutendünne Äste in steifen Büscheln schief empor.
Am Beginn des Waldes war der Wind nur ein zahnloses Gelall, erst als die Tannen und Kiefern kamen, sang er. Der weite, leuchtende Schnee zog die Chaussee in eine sehr weite Ferne hinaus.
Im schweigenden Walde scholl ein Knacken. Er kümmerte sich anfangs nicht darum. Nachher sah er zwischen den Stämmen häßliche Weiber, die Reisig brachen und in schmutzige, weite Säcke schoben. Der Schnee stob und rieselte manchmal wie ein Sprühfeuerwerk über ihre Köpfe, wenn ein Zweig ihren Händen fortschnellte.
Er sah es an wie etwas Seltsames, langsam die Chaussee entlang wandernd. Ein Schellengeläute nahte, bimmelte vorüber und verklang in der Ferne. Er gab acht, sah sich nachher wieder nach jenen häßlichen Frauen um, — sie waren verschwunden.
Der Forst lag schon stumm und dämmerig. Nur einige müde Krähen konnte er auf den höchsten Spitzen noch bemerken, wie sie die Schnäbel ins Gefieder pickten.
Eine Scherbe unterm Wacholder lockte ihn über den Chausseegraben. Sein Fuß sank tief in den Schnee, der mit knirschendem Biß auch sein Bein verschluckte. Als durchsichtige Nachbilder erblickte er die Frauen, wie sie zwischen den Stämmen wankten, — doch kein Wort, kein Laut scholl. Er horchte, ob es nicht knackte. Nein.
Mechanisch langte er selbst nach einem Ast und brach ihn. Ihm fiel ein, daß er für Feuerung sorgen könne, und er errichtete im Schnee eine Bürde, die er im Umkreise des ersten, niedergelegten Zweiges pflückte und nachher unter dem Arme heimwärts tragen wollte. Er vergaß die Stadt und sein elendes Leben und ging in der Arbeit auf. Der trockene Geruch des Holzes, das Geräusch seiner Stiefel im Schnee, das lahme Gefühl des Frostes in seinen Händen tat ihm wohl. Und mit Wohlgefallen blieb er vor dem schwarzen Knüppelhäufchen, das sich aus dem matten Schneelicht hob, zu dem so viele Spuren seiner Füße führten, stehen und schlug die Arme um den Körper wie ein richtiger Waldarbeiter.
Zwei fette Stimmen näherten sich auf der Chaussee. Er horchte.
Mit einmal kam ein Hund durch die Stämme gesprungen, blieb vor ihm stehen und bellte ein paarmal auf. Er riß eilig einen Ast aus dem Haufen, hielt ihn steif dem Hund entgegen und flüsterte angstvoll: „Weg! Weg!“ Sein Herz klopfte. Der Hund lief von selbst waldeinwärts, bald rief ihn die eine der fetten Stimmen zurück, er sprang in großen Sätzen an Franz schräg vorüber der Chaussee zu.
Franz wartete, bis sich sein Herzklopfen legte. Es war ganz dunkel geworden, die Stille des Waldes wurde immer schwerer und aufdringlicher.
Franz ließ das Holz liegen. In der Dunkelheit nahm er die Strafbarkeit seines Strauchdiebstahls nicht mehr über sich.
Auf dem Wege atmete er tief, um mit immer müderem Herzen und immer fremderem Blute nach Hause zu gehen.
Er ging an seiner Wohnung vorüber. Die Reihe der Bogenlampen lockte ihn weiter. Die eingefrorenen Geleise waren wie mit Silber ausgelegt.
Plötzlich fiel ihm ein, daß ja Sonnabend und somit der Tag sei, auf den sich die „Symphonie“ in den Rathaussaal verabredet hatte. — Da stand schon eine Menschenansammlung auf der andern Straßenseite, gegenüber den protzig erleuchteten, breiten Fenstern. Drinnen machte keiner den Versuch, die Scheiben zu verhüllen. Frauen, die Hände unter weiß gestreiften Schürzen, Knaben, die sich ihre frierenden Ohren rieben, Pfeife rauchende Soldaten sperrten den Gehsteig.
Franz sah nur mit einem Blicke in den Saal. Alles war bunt vermummt, bis auf Flechtensitz; der hatte seine Larve abgelegt, stand vor einem Notenpult und schien etwas vorzutragen. Seine Lippen platzten zierlich auseinander, und die Stirn teilte sich in halb überlegene, halb stumpfsinnige Falten. Hatte man Franz recht berichtet, so sang er das Walzerlied von des „Lebens Po—esie“. — Außer ihm war niemand kenntlich gewesen. Fröschke und Meuslin mochten vielleicht die beiden Gelbgekleideten gewesen sein, die auf einer Erhöhung saßen, Kronen aus Hirschgehörnen aufhatten und ein wenig den chinesischen Götzen auf Hohenkrähns Ofen ähnelten.
Hohenkrähn! Der mochte heut' auch wohl in einer gelinderen Haut stecken als er. Der Erfolgreiche!
Da er einmal über das Rathaus hinausgekommen war, suchte er Hohenkrähns Neubauten auf. Sie schwammen groß und geheimnisvoll in einsamen Schatten. Der Mond spiegelte sich kokett in den Fenstern.
Ob die Flurgemälde wohl schon fertig waren? Franz war es, als könnte er eine entschwundene Welt noch am Zipfel haschen. Er sah sich um, ob niemand die Straße daher käme, trat in den Flur des ersten Hauses, seine Füße knirschten ein paar Sandkörner auf dem Fliesenfußboden entzwei und hallten im leeren Raume, er zündete ein Streichholz an. Größer und schöner, als er sie sich vorgestellt hatte, breiteten sich die Landschaften zwischen den Pilastern. Der Lotosweiher schwieg violett, die weißgewandete Schifferin fuhr aus tiefgrüner Schilflaube hervor. Dies war eine fremde Gegend, wie er sie nie betreten hatte, und ihre Herrlichkeit machte ihn erbärmlicher. Das Streichholz ging aus. Er strich noch eins an, um die andre Flurseite abzuleuchten. Da glimmte der verschneite Kiefernforst in einem so öligen Weiß und das Hüttendach auch, und der Weihnachtsbaum in einem so fettigen Gold, daß ihm alles geliebte Untergegangene in noch weitere Fernen rückte. Dazu beengte der schmale hohe Flur und das jähe Aufzischen und schnelle Verlöschen der Hölzchen.
Er ging nach Hause, aber nicht wieder am Rathause vorbei, sondern wählte einen Umweg, denn er gehörte nicht unter die Hirschgehörnten. Mochten sie ihre seichten Walzerlieder gröhlen: wer in Beethovens Symphonie „So pocht das Schicksal an die Pforte“ mit dem schönsten, dem zwecklosen Ernst eintrat, der kam in ein Labyrinth, voll von Nacht, sausenden Fäusten, Drachenflughäuten, Ungestaltetem, und er konnte darin nur zweierlei sein, Gebieter oder Pickelhäring.
Franz träumte unruhig von wilden Verfolgungen in Wäldern, von Kreuz- und Querlaufen, Häschern, die aus der Richtung, welcher er zuflüchten wollte, hinter den Bäumen hervortraten, Räubermären, wo häßliche Weiber im Walddickicht in blanken Messingkesseln aus schwarzen Beeren und glänzenden, zuckenden Molchen Tränke kochten über dünnen Blinkeflammen.
Lange lag er dann wach. Aus dem Ticktack der Uhr hörte er Stimmen, zu denen sich immer eine Schar von Bildern einfand. Er wälzte und wälzte sich.
David sprach etwas im Schlafe, das hart und röchelnd klang.
Er horchte auf. Mit einmal kam ihm zu Bewußtsein, daß seine Frau nicht schlafen konnte. Es war kein Atmen von ihrem Bette zu hören. Sie mußte wach liegen.
Von nun ab lag er still und wagte nicht, das Bett über eine frierende Stelle des Körpers zu ziehen.