nach_oben

Oskar Loerke: Franz Pfinz


Zwölftes Kapitel

Antonie hatte während der ganzen Nacht kein Auge zugetan. Sie begriff nicht, wie Franz dem kranken Kleinen die gruselige Geschichte hatte erzählen können. Nur mit großer Mühe war er zu beruhigen gewesen. Immer wieder stellte er Fragen oder sagte etwas, das auf fortdauernde grause Vorstellungen deutete. — Sie bedachte in der Dunkelheit, was später aus David werden sollte und was aus ihr. Als es gegen den Morgen ging, wogte ihr allerlei aus den letzten Monaten wirr durcheinander; und wenn es auch schon von ermüdetem Fühlen begleitet war, so peinigte die phantastische, grelle Buntheit der Vorstellungen noch genug.

Endlich wurde es hell im Zimmer. Sie dachte nicht daran aufzustehen. David nahm sie in ihr Bett herüber und wollte ihn mit ihrer Wärme schützen. Es war ja nichts mehr zum Heizen da und der Tag gewiß bitter kalt, denn die Fenster auch des Schlafzimmers hatten sich so mit Eisblumen überzogen, daß sie nicht hinaus sehen konnte. Palmen und schilfige Gewächse standen in mattsilberner, morgenländischer Pracht auf den Rauten. Noch stieg die Sonne auf des Hauses andrer Seite. Antonie wollte, solange es hier dämmerig blieb, nach ein wenig Schlummer trachten, denn als sie David die Milch zu kochen sich einen Augenblick erhob, scheuerten sich ihre Glieder wie auf Sandkörnern.

Franz wartete inzwischen, ob sie nicht aufstehen würde. Er verzog selbst im Bette. Zu welchem Zweck sich in die Kleider werfen? Er sah die mattglimmenden Eisblumen bis ins kleinste an, vergegenwärtigte sich, wo die Stühle standen und was auf ihnen lag, und zog zuletzt, weil er fror und die Stille scheute, das Deckbett dichter an das Kinn.

Stand Antonie überhaupt nicht auf? Wie spät war es? — Die Uhr war stehen geblieben. Das Warten auf ein Nichts, wo er doch nicht einmal körperlich krank war, ließ ihm alles, was jenseits der verhüllten Scheiben lag, als reizend erscheinen. Könnte er es doch noch einmal voll besitzen!

Und die leise Sehnsucht nach dem Leben ließ ihm die Versöhnung mit Antonien unentrinnbar verlockend erscheinen. Warum sollte es unmöglich sein, wieder in glückliche Gemeinschaft zu kommen? Vielleicht öffnete sich ihm dann auch ein Weg in die jetzt verhangene Zukunft. Der Tod sah ihm plötzlich nicht so gerade ins Angesicht wie in der ganzen vergangenen Woche. Es ward ihm eine bittere und doch holde Sicherheit, drei Schritte von Antonien entfernt liegen zu dürfen, statt in der andern Stube am Tische zu sitzen; sie saß auch nicht. Wenn er nicht wich und nachher um ihre Augen bat, vielleicht wurde seine Seele noch einmal ganz. Er wußte nur nichts zu sprechen und zu bitten; denn Antonie flüsterte, ihm mit allem abgewandt, zu David.

Die Stunden rannen. Von der Straße waren mitunter Schritte Eilender zu hören. Der pochende Takt rief neue Lebenskräfte. Auch von Ullerichs oben war bisweilen das Auftreten von Füßen, Stuhlrücken, ja Geschirrklirren und Stimmenklang vernehmbar. Dann wurde Franz das untätige Liegen etwas Ungewöhnliches, Beschämendes und sein Verlangen zu leben heftiger. Nur, wie kroch der angezündete Funke durch den grauen Trümmerhaufen in seinem Inneren?

Eine endlos lange Zeit blieb es ganz still. Schließlich fragte David ziemlich laut:

„Mutti, gibt es Schutzengel?“

„Ja.“

„Haben wir auch welche?“

„Ja.“

„Was machen die jetzt?“

„Wer weiß. Vielleicht stehen sie im Flur und besprechen sich leise.“

Dann war es wieder ganz still. Franz war über das kurze Gespräch zusammengeschrocken und sann lange dem Sinne nach.

Plötzlich krähte draußen der Hahn, als habe er den Winter die Finger belecken sehen.

Eine liebliche Ahnung von Vorfrühling streifte durch Franz hin. Er sah Wege, die verwundet schienen und aus denen Blut quoll überall, wo der Schnee wich, und sah an ihren Rändern hellgrüne Saaten und mitteninne auf jeder Senkung eine Lache, freundlich von Himmelsblau, und die Lachen fingen das Blau und die schönen Wolken mit ihren unzähligen Spiegeln, wußten voneinander nichts und tranken es beim Einsinken mit in die Erde, und drinnen wucherten an jeder einzelnen Stelle der ganze Himmel und alle Wolkenfarben in drängenden Träumen und stiegen als lustvolle Blüten und Balsam hervor. Wo der Bach die Hügel schied, standen blühende Weißdornbüsche mit ihren Füßen in unvermuteten Schneefetzen. Franz wünschte sich, mit den andern Menschen in den Vorfrühling hinauszuwandern, heimzukehren und wie sie auf einen Stuhl zu sinken mit dem Worte: „Ich bin müde,“ und das klang hold und selig.

Es kam ihm ein, daß es wohl Mittag sein möchte, — und er lag elend und hilflos im Bette, besann sich wieder, daß es zum Frohsein zu spät geworden sei, und die alte zottige Trübe schlich empor.

Da riefen ferne Glocken. Sie klangen hart und hell, ließen schon Weihnachtsglanz und schummerige Melancholie und waren wieder Metall.

Als sie schwiegen, meinte Franz bangend und bebend, er müsse zu Antonien ein Wort sagen, die Glocken hätten dieses Wort eingeläutet; doch war er abermals um das ‚Wie‘ verlegen. Alles Einfache war ihm so weit abhanden kommen. Er wollte noch abwarten, bis der Schrei in der Mühle den Mittag ansagte.

Es blieb still. Schließlich fiel ihm ein, daß ja Sonntag sei.

Er sah nach den Fenstern. Das Eis schimmerte nun wie Seide. In den Wipfeln der Palmen und auf ihren Rinden und in den Sichten dazwischen saßen unzählige winzige Diamantsterne. — Die Sonne war schon über das Haus gestiegen.

Er suchte die Gedanken nachzudenken, die in Antonien während der letzten langen Nacht und bis jetzt gehaust haben mochten.

Bald war es, als schwebten bläuliche Schatten draußen körperhaft vorbei. Die Sterne erloschen, das Glasten schwand, immer größere Dunkelheit sank ein. Franz mochte nicht an den Abend glauben, obwohl die Zeit sich ungeheuer dehnte. Er wollte sich trotzdem täuschen und suchte zu schlafen, aber er quälte sich nur und kam in kalten Schweiß. Es schneite draußen wohl nur in übergroßen Flocken wie damals, als Vater Anton starb...

Zuletzt wich die äußerste Dunkelheit und das Eis lief schwach rötlich an. Als es dann wieder Nacht wurde, hörte Franz Antonien weinen, still vor sich hin. Eine Nacht und ein Tag brütende Not, das mochte wohl solch heimliches Weinen lösen.

Diese stillen Töne, die zitternd in die Dunkelheit stießen, und die Finsternis selbst konnte er nicht mehr ertragen. Er wälzte und walzte allerhand Worte im Gehirn, aber keins wollte der Zunge gerecht werden.

Mit einmal klagte er aus Herzensgrund auf: „Dies Unglück!“

Antonie rührte sich nicht, — und er wollte doch mit ihr anknüpfen, sie um Verzeihung und Rat bitten. Er wollte alles tun, was sie ihm sagte. Freunde sollten wieder Gäste im Hause sein. Auch diese wollte er um ihren Rat bitten, was er beginnen müsse, um den Seinen und sich das alte Dasein zu schaffen.

„Sag' mir doch, wie das Unglück gekommen ist,“ sprach er mit Zittern nach einer Weile hinüber.

Sie hörte die einsamen Worte nicht als eine Frage, sondern als eine Selbstrechtfertigung. Was half mit ihm zu reden! Sie hatte zuviel in die Zukunft gesorgt und in die Vergangenheit gesonnen, heute mochte sie an keine Zukunft und Vergangenheit mehr denken. Es würde sich ja nichts daran ändern.

Franz aber erschrak, und alle milderen Ahnungen starben in ihm hin. Seine Annäherungsversuche glitten an ihr ab wie an einem Stein. Er dachte nach und fand, daß sie soeben unbarmherzig hart gegen ihn gewesen sei und vielleicht oft, wo er es schlecht verdient hatte: damals und damals und damals; ihm erschienen nur dunkel die als Beweise ausgelesenen Tage und seine Gedanken sprangen schon eilig weiter rückwärts. Dabei blitzte ihm ein Einfall auf, der nach Worten verlangte.

„Du weißt ganz gut, wodurch das ganze Unglück gekommen ist.“

„Nein!“ sagte sie, denn seine Bemerkung klang diesmal noch deutlicher wie eine Anklage.

„Wer schuld ist —“ fuhr er fort, fast nur für sich.

„Du! — sei bloß still!“ unterbrach sie.

„Das ist die Geschichte mit der umgeworfenen Lampe, wo ich hinaus will. — Und du bist schuld.“ Das durchfuhr ihn plötzlich so, er wollte durchaus der heutigen Hartherzigkeit letzte Wurzeln finden.

Sie drehte sich herum und sprach nicht mehr. Warum sollte sie sich um solchen Schwachsinn erregen! Sie hatte es bisher nur zu oft getan.

„Ja, und warum?“ sprach er weiter, schon ganz zu sich. Aber er erschrak, er wollte doch nicht anklagen, sondern sich annähern und fragte:

„Antonie, glaubst du, daß ich damals geschlafen habe?“

„Gewiß hast du damals geschlafen,“ erwiderte sie kurz.

„Gut. — Ich weiß es nämlich nicht mehr genau.“

Seine Worte klangen geisterhaft in der kalten, stillen, dunklen Stube.

„Ich habe dich aber sehr lieb gehabt damals.“

Sie lag still.

Wie begann er es nur? Die Zurückhaltung kränkte ihn so tief, daß er wieder klagen mußte:

„Du verstehst dich aufs Kränken. — Hättest du damals — ich meine noch immer die Geschichte mit der umgeworfenen Lampe — nicht so — so — alles wäre anders gekommen. Ich hätte keinem Menschen ein Ohrläppchen eingerissen.“

Sie haßte jeden seiner Sätze mehr. Oh, diese selbstgerechte, beschauliche Weichlichkeit!

Er hatte aber alles nicht sehr ernst gemeint, die Beschuldigungen waren mehr naive Versuche, den Gründen des Niederganges auf die Spur zu kommen. Und während er langsam vor sich hin sprach, trat jener Abend mit dem Gardinenbrande deutlich in seine Erinnerung. Er sah alles noch einmal geschehen.

„Ich hätte eine Ampel haben müssen statt der Lampe.“

„Ach Himmel, ach Himmel!“ stöhnte Antonie unwillig. „Bist du feig, dich mit den Tatsachen abzufinden! Ich hätte eine Ampel haben müssen! — Du hättest noch manches andre haben müssen!“

Er blieb ruhig. Nur näher — nur näher! Nur lieb — nur lieb! Sanft sagte er:

„Zu meinem Geburtstage habe ich mir eine von dir gewünscht.“

„Noch einmal die Ampel! Du wirst mich damit noch verrückt machen. — Der Taktstock war ja auch zu manchem gut.“

„Antonie, wenn ich mir zum nächsten Geburtstage noch einmal eine Ampel von dir wünschen würde?“

„Diese Wichtigkeit!“

„Na! — Gut. — — — Wenn ich nur nicht gezwungen sein werde, mir solche Wünsche selbst zu erfüllen.“

„Oh! — Die Wichtigkeit.“

„Du wirst sehen, die Wichtigkeit.“

„Immer zu.“

Nichts gelang ihm. Er schwieg.

Antonie aber erzitterte. Er hatte so schwerzüngig gesprochen. Ihre Pulse klopften laut, sie schmiegte sich dicht an David, der ihr leise ins Ohr sagte: „Mutti.“ Er hatte etwas geschlafen und konnte vor müdem Staunen über diesen wunderlichen Tag nicht in rechter Weise munter werden. Er streichelte Antonien. Das besänftigte sie. Sie legte einen Arm um seinen weichen Rücken, spürte ein schmerzliches Glück dabei und schlief endlich ein. Die Müdigkeit aus zwei Tagen und einer Nacht hatte doch größere Gewalt als der Kummer.

Franz harrte inzwischen voll stürmendem Entsetzen, ob ihr nichts leid werden wollte. Nun vermochte er nichts mehr. Gestern hatte ihn sein Knabe zurückgestoßen, heute — so brutal! — die Frau, obgleich er mit seinem Tode gedroht hatte. Sie traute ihm die Tat im Ernste wohl nicht zu? Sagte sie nichts? Gar nichts?

„Antonie,“ rief er noch einmal mit versiegender Stimme.

David regte sich ein wenig.

Franz meinte, es sei Antonie gewesen.

So wollte er ihre Verzeihung erzwingen oder hingehen.

„Antonie, wenn ich mir zum nächsten Geburtstag wieder eine Ampel wünschen würde?“

Sie schwieg.

Nun war ihm, als verklärte sich alles, was ihn bedrückte. Es peinigte, aber das Weh hatte Leben und Süße.

Er stieg langsam aus dem Bett und kleidete sich an, vergaß auch den hohen Kragen nicht. Nur die Stiefel fand er nicht gleich und ließ sie stehen.

Als er langsam aus dem Zimmer gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, meinte er, Antonie müsse hinter ihm öffnen. Und während er geradeaus blickend nach der Bodenkammer kletterte, nur mit einem scheuen Schielen auf das Porzellanschild „Julius Fürchtegott Ullerich“, war ihm, als ginge Antonie hinter ihm her, und wenn er stille stand und sich wendete, würde sie ihn mit einem Katzenpfötchenblick betupfen, und dann würde ein heißer Streit angehen, aber der würde in einen guten und friedsamen Hafen münden. Er drehte sich in der Dachkammer um und schaute durch die gitterartig gefügte Lattentür zurück. Niemand stieg die Treppe hinan.

Hochatmend und von etwas Heißem geschüttelt, klappte er schnell das Taschenmesser auf und schnitt ein Stück von der Wäscheleine ab. Er knüpfte auch gleich die Schlinge.

Dann stierte er vor sich hin. In einem Winkel lag seine Tuba und unter ihr mußten auch die übrigen Instrumente sein. Sie lösten ihm keine Empfindung aus. Der Brief des Vormunds mit dem Lorbeerblattrahmen lehnte der Tuba zu Seiten. Ihn traf ein flüchtiger Blick, und Franz flüsterte: „Ach, du Klugscheißer!“

Dunkelblaues Licht flutete durch das Lukenfenster. Der Mond mußte scheinen, sonst wäre es nicht so hell gewesen. Franz begehrte noch einen Blick auf die Stadt zu werfen, die da unten mit ihren grünen Königsbärten aus Eis an allen Traufen und den weißen Schneekappen schlief, aber er war zu klein. Was seine Augen einzig fassen konnten, waren die Spitzen von drei Fabrikschornsteinen.

Seine Füße froren. Seine Seele fror.

Was brauchte er noch zu schließen? Die Gittertür konnte ruhig offen bleiben. In Gedankenverlorenheit zog er trotzdem den Schlüssel ab und steckte den Bund in die Tasche.

Eilig trat er in sein Arbeitszimmer.

Er rückte mit einem Stuhl. Antonie hörte ja vielleicht doch noch, dachte er mit grausamem Hohn.

Er konnte nichts sehen. Die grau befrorenen Fenster verschlangen sogar das dünne Licht der Nacht. Sollte er Licht machen? — Seine Glieder kamen aus jähem Zittern nicht mehr heraus. Nein, nur in der Dunkelheit vermochte er das Schreckliche. Es mußte auch in aller Stille geschehen.

Er band den Kragen ab und legte ihn auf den Schreibtisch.

Schnell standen zwei Stühle Rücken an Rücken unter dem Deckenmedaillon mit den Engeln.

Er kletterte an den Lehnen hinauf und befestigte die Schlinge am Haken, der seltsamerweise einen schwachen Schimmer trug; an der Decke, quer über das Gesicht des wulstlippigen himmlischen Hautboisten, lief überhaupt ein schmaler Lichtstreif bis zum Fenster. Franz konnte aber nicht hindurch sehen.

Er fürchtete sich mehr und mehr, aber seine Füße waren nicht willig, hinabzusteigen.

Endlich erhob er sich auf den Zehen und legte den Kopf rasch in die Schlinge. Er mußte sich sehr hoch recken, um sie über das Kinn streifen zu können. Sie schnitt. Er schloß die Augen und fühlte sich elend und doch verbrecherhaft ruhig.

Die Lider gingen noch einmal auf. Da blendete ihm ein heller Glanz das linke Auge. Das Fenster hatte oben eine klare Lücke im Eis. Dahinter gliß der Mond weiß und eisig. Dünne Wolken flogen und dampften über ihn weg. Der Himmel war unheimlich schwarz. Franz betrachtete das Auf- und Untertauchen des Mondes, bis ihm Tränen den Blick trübten. Hinten mochten die Pappeln im Winde wehen. Und der Hollunderbusch? — Sterb' ich oder sterb’ ich nicht?

Plötzlich glaubte er jemand kommen zu hören. Es war, als träte er von der Straße ans Fenster und wollte hinein sehen.

Franz erschrak, wollte eilig hinab, die Schlinge ließ sich nicht gleich herunterstreifen. Er verließ mit dem einen Fuß einen Augenblick die Stuhllehne, um sich ein wenig seitwärts zu beugen, der andre Stuhl, auf dessen Lehne zuckende Zehenspizen standen, verlor das Gleichgewicht und stürzte vornüber, wobei er den ersten ein Stück weiterschob. Franz fühlte einen heftigen, zuschnürenden Ruck am Halse, das Genick war aber nicht gebrochen. Er stieß mit beiden Beinen wild in der Luft herum, einen Grund zu erreichen, traf jedoch nur einen der Stühle und stieß ihn polternd noch weiter. Mit furchtsteifen Händen fuhr er blitzschnell in die Hosentaschen, fand in der rechten den Schlüsselbund und schleuderte ihn mit der letzten Kraft von sich. Er hatte die Schlafzimmertür treffen wollen.

Dann war er bald tot...

David hatte sein Aufstehen gehört und, als er hinaus war, furchtsam geflüstert: „Mutti!“

Antonie war in einen schweren Schlaf gesunken und erwachte nicht.

Nachher hörte David wiederum eine Tür gehen und richtete sich auf. Als mit den Stühlen gepoltert wurde, weinte er und zerrte Antonien leicht am Arm. Da rumorte schon der umgeworfene Stuhl, und der Schlüsselbund fiel zu Boden.

Antonie erwachte, als David heftiger zerrte, und fragte sofort in höchster Bestürzung, was denn geschehe. David erzählte abgebrochen. Unterdessen warf sie die notdürftigsten Kleider über.

Sie zündete, da sie gedankenverloren ein Streichholz in die Hand genommen hatte, das Licht an.

Dann riß sie die Tür nach Franzens Arbeitszimmer auf und trat herein.

Der tote Körper pendelte nicht mehr. Sie stürzte auf ihn zu, griff zurücktaumelnd mit beiden Händen auf ihre Brust, umschlang blitzschnell beide Beine Franzens und riß daran, winselte halb wahnsinnig, versuchte auf den einen Stuhl zu steigen, sah das entstellte Gesicht des Toten im Kerzenlicht von nebenan, — stieß einen entsetzlichen, hellen und langen Schrei namenlosen Schmerzes aus und lief wie verstört durch die andre Tür ins Freie davon.

David war ihr im Hemde nachgeschlichen und hatte ihre Not mit angesehen. Er wollte zu ihr hinausspringen, hielt den linken Arm vor die Augen, während er am Vater vorüber kam, stolperte über einen der Stühle und stieß beim Wiederaufrichten mit dem Kopf an die Beine des Erhängten. Da schrie er wie ein Tier, stampfte dazu mit den Beinchen und biß die Zähne heftig auf die Fingernägel der linken Hand. Endlich sah er den Weg, den die Mutter genommen hatte, lief ihn und kletterte auf allen Vieren die Treppe zu Ullerichs hinauf.

Frierend und weinend klopfte er an.

„Mutti ist weg — Mutti ist weg — Papa ist tot,“ jammerte er einmal über das andre. Vor Furcht war seine Stimme ganz leise geworden.

Es dauerte lange, bis Frau Ullerich öffnete.

„Julius!“ schrie sie nach rückwärts mit halberstickter Stimme, ergriff den Haarbesen aus der nächsten Ecke, um sich schneller hinunter zu humpeln und setzte sich David auf den Arm. Der Kleine umschlang fest ihren Hals.

„Ach, mein Gott, ach, mein Gott!“ schrie sie unten in der Stube auf.

Ullerich sah ihr schon über die Schulter. Er schwieg.

„Hilf was, Julius, ja?“ sagte sie, streichelte das Kind und trocknete sich Tränen.

Sie brachte den Knaben in sein Bett und blieb bei ihm. Manchmal stand sie auf und horchte an der Tür, öffnete sie zuletzt auch.

„Ja,“ sagte sie zu sich und schraubte ingrimmig den Docht der angezündeten Lampe hoch aus, „hieß es nicht immer: sei nicht neugierig! — Hätte man nur etwas gewußt, helfen wäre wohl so leicht gewesen.“

Ullerich mußte das gehört haben, er ließ sich alles gefallen.

Er stand dicht bei Pfinz mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf im Zwielicht. Dann holte er sich die Kerze und stellte sie auf den Schreibtisch. Er erschrak: sie beschien die grellweiße Totenmaske Beethovens, die Franz steif ansah; er trug das Licht nach schauerndem Blick hinüber zum andern Tisch. Dann stieg er auf einen Stuhl, seine beiden Bartzipfel flogen zur Seite. Er schnitt Pfinz los. Wie er ihn dabei mit dem linken Arm umarmte und nachher mit beiden, der Riese den kleinen toten Mann, und fürsorglich mit ihm auf die ebene Erde trat, das sah wie eine Versöhnung aus. Als er ihn lang zu Boden gebettet hatte, ächzte er und holte das Taschentuch hervor. Seine Bartzipfel flogen wieder und in der rechten Wange war ein zitterndes Ballen.

Da trat Antonie, auf einen fremden Greis gestützt, herein. Sie sank neben Franz nieder. Der Greis nickte und ging. Antonie weinte still. Der Tote und die Witwe betteten ihre Körper auf dem Flicketeppich, den sie einst zusammen genäht und wo sie so glücklich gewesen.

Ullerich, überwältigt, stöhnte: „Ah!“ und ging in die andre Stube.

Frau Ullerich brachte David auf dem Arm herein; er machte sich von ihr los, trat bis zur Mutter, legte ihr eine Hand ins Haar und sagte: „Mutti.“ — Dann ging er schnell an Frau Ullerich vorbei zurück in sein Bett. Er wollte artig sein.

Antonie war in ratlosem Weh die Straße ein Stück hinaufgelaufen und hatte noch einmal so gräßlich aufschreien müssen, denn sie meinte, im stillen Franzens Tod gewünscht zu haben... Als sie sich umwandte und zurück wollte, liefen sechs Kinder hinter ihr her. „Zu Hohenkrähn!“ rief sie ihnen zu. „Sein Freund Pfinz hat sich erhängt.“ Während die Kinder sofort weitertrabten und das Gerücht durch die Stadt verbreiteten, hatte sich der fremde Greis der weinenden und taumelnden Frau angenommen.

Nach einer Stunde kam Hohenkrähn.

Sie zogen Franz das Oberkleid ab und halfen ihn aufbahren. Er hatte das Hemd an, dem neulich Antonie den Knopf abgetrennt hatte. Sie weinte auf, als sie es sah.

Das entstellte Gesicht des Toten wurde zugedeckt. Der bunte Flicketeppich reichte weit über den ganzen, kleinen Mann und schlug unten tiefe Falten.

Hohenkrähn sagte gar nichts, sondern saß mit zwischen die Beine geklemmten Armen krumm da.

In Antonien hatte sich alle Verachtung mit einem Ruck in Trauer verwandelt, und sie trug nun die schwerste Last.

Bloß Davids Gedanken rückten nicht in die Vergangenheit. Ihm, der erst so wenig gelebt, waren nur die letzten Monde, die Zeit der Symphonie, gegenwärtig. Er konnte nicht schlafen, kletterte aus dem Bett und ging im Hintergrund des Zimmers leise auf und ab. Sein weißes, kurzes Hemdchen schützte ihn nicht vor der Kälte, und so mußte er mit den Zähnen klappern. Frau Ullerich forderte darum Julius auf, von oben eine Last Holz zu holen, da sie in der Küche nichts gefunden hatte, und sagte zu ihm im Flur: „Ja, ja, da wäre so leicht zu helfen gewesen.“ — Als Frau Betty Feuer machte, streichelte David sie dafür und hockte vor dem Ofenloch. Er lächelte viel ins offene Feuer hinein und hörte auf das Rauschen. Alle bis auf Antonien, die es besser verstand, erschraken über die unbewußte Grausamkeit, die in seinen Worten lag: „Mutti, ist Vati auch bei den Engeln?“ — „Ja,“ sagte sie ruhig. Ullerich schluchzte auf. David wollten die Zähne zu klappen nicht aufhören; er ging schlafen.

Am nächsten Morgen erzählte er den Hühnern den Tod seines Vaters, aber er klatschte nicht in die Hände wie bei Vater Antons Scheiden und weinte auch keine Träne.

 

 

Ende