1
Das Jahr 1916 hat begonnen. Nun ist auch die Knabenzeitschrift, die ich bisher redigierte, dem Kriege zum Opfer gefallen. Ob ich bald einen neuen Broterwerb finden werde? Vorläufig habe ich Muße. Um die Wehmut zu unterdrücken, die uns befällt, wenn ein lange betreutes Werk beendet ist, mag es noch so unscheinbar sein und den Geist oft nur lau angewärmt haben, – um den Stimmen Gehör zu geben, die aus der Vergangenheit noch fortreden, will ich mir auf diesen Blättern die Menschen aus meinem Arbeitskreise vergegenwärtigen, deren Wesen und Schicksal mich bewegte, als ich es nahe kennen lernte. Und es sind ja erst Wochen vergangen, seit mir diese Kenntnis wurde. Solange ich in der Schreibstube arbeitete, habe ich nichts Erregendes erfahren, erst der Werksaal der Druckerei öffnete mir ein sonderbares Stück Welt. Wenn ich jetzt in meinem Zimmer auf- und abgehe und mir dabei meine Krüppelhaftigkeit aus dem Spiegel entgegenkommt, glaube ich recht dorthin zu gehören, wo soviel Krüppelhaftigkeit beisammen hauste.
Im vergangenen Spätherbst waren unserer Druckerei die geübtesten Setzer und Maschinenmeister durch die Militärbehörde genommen. Ich mußte oft hinüberfahren, um bei der Herstellung der Zeitschrift nach dem Rechten zu sehen. Hatte ich früher dort nur am Sonnabend, dem Tage, an dem das Blatt erschien, die letzten Fehler beseitigt, so rodeten wir nun tagelang mit Feder und Ahle an den zahllosen Versehen, deren Bezeichnung den Rand der Fahnen wie eine phantasielose Keilschrift bedeckte. Dann lenkte ich die Erfahrung, die ich dem alten Metteur durch aufmerksames Zuschauen abgewonnen hatte, in die langsamen großen Hände seines Nachfolgers, des Setzers Hey, und durfte bittende, aufmunternde, geduldige Worte nicht sparen. Es war ferner nötig, hinter den Kasten hin- und wiederzugehen und die neu angenommenen, oft wechselnden Arbeiter zu unterrichten, welchen Durchschuß, welche Schrift sie zu nehmen hätten, ihnen anzugeben, was wir wegzulassen pflegten, wenn der Stoff zu reichlich wurde, oder wie wir uns über Stoffknappheit fortzuhelfen wußten. Ich maß den Satz aus, sorgte für eine erfreuliche Anordnung der Anzeigen und dergleichen mehr.
War das verdrießlich und zeitraubend, so kam ich dabei mit den Druckern öfter und vertraulicher in ein Gespräch als bisher, und jedesmal, wenn ein neues Heft in seinem orangenen Umschlag dalag, hätte ich ein Heft von gleichem Umfang mit Anekdoten von kleinen menschlichen Torheiten und Weisheiten anfüllen können. Die weite Rückfahrt aus dem Osten Berlins nach dem Westen ist mitunter besinnlich gewesen.
Manche Setzer stellten Fragen, um den technischen und naturwissenschaftlichen Inhalt, den sie unseren Halbwüchsigen übermitteln halfen, sich anzueignen und zu erweitern. Gleich der – übrigens herzlich schlechte – Holzschnitt des Kopftitels fiel ihnen auf. Er stellte zwei Dampfregulatoren dar, deren kreisende Kugeln gehäufte Wetterwolken auseinanderwirbelten und in den aufgerissenen Lichtungen die Globen der Sonne und ihrer meisterforschten Planeten sehen ließen. Und so weckte der gesamte Text bis zur letzten Rubrik „Briefkasten“, in welcher auf meist nur vorgegebene Fragen nach dem Jüngsterforschten und noch Strittigen knapp einführende Antworten erteilt wurden, ihre Aufmerksamkeit. Ich dagegen erkundigte mich, an die tägliche Arbeit anknüpfend, bei meinen Haupthelfern nach Lehr- und Wanderjahren und brauchte bald nicht erst zu fragen, weil die schweigsamen Menschen gern für ein paar Minuten aus dem Banne des dumpf dröhnenden und polternden Hauses, das immer leise zitterte, erlöst sein mochten.
Die Druckerei lag im vierten Stockwerk eines überaus schmutzigen, finster roten Fabrikgebäudes, dem auf beiden Seiten schmale Höfe und vor diesen alte häßliche Wohnkasernen vorgelagert waren – Wälle gegen die Sonne und was sich in ihrem Lichte regt. Sooft ich von der Straße durch das Tor trat, faßte mich die Empfindung einer stumpfen Finsternis und geheimnisvollen Abgeschlossenheit. Das Vorderhaus kam mir in der Erinnerung jedesmal unbewohnt vor. In dem Geschoß unter unserer Druckerei befand sich noch eine. Eisentreppen führten hinauf, die Füße rührten gleichsam ein grausam hallendes Glockenspiel auf schwarzen Platten mit Rostflecken. In dem unsauberen Putz mit schwarzgrünem Ölanstrich, der sie begleitete, waren zahllose Scharten abgeblättert, so daß man bald eine Kraterlandschaft des Mondes, bald ein Bild des sternbesäten Nachthimmels vor sich zu haben glaubte. War man vier halbe Treppen gestiegen, so hörte die Wandverkleidung auf, und der nackte rohe Backstein schien hervor. Eiserne Türen verschlossen die Arbeitsräume der Metallwaren-, Lampen-, Spielsachenfabrik und der beiden Druckereien, aber Zischen und Kreischen stieß manchmal durch sie auf die Vorübergehenden zu wie scharfe unsichtbare Stichflammen.
Klinkte man endlich oben die Kerkertür auf, so trat man in einen weiten Raum von ovaler Rundung, der jedoch viele Winkel abstieß und etwa den Grundriß einer riesigen Mürbekuchenform hatte. Handpressen, Falzmaschinen, die Schneidemaschine, Gerätekasten und Garderoben waren in den Winkeln untergebracht; einer war von einer grünen, einer von einer schwarzen, mit roten Kreisen gemusterten Gardine abgeschlossen. In beiden Langseiten befanden sich breite Fenster, vielrautig gewürfelt, teils mit milchig geblendetem, teils mit blasig durchsichtigem Glase gefüllt. Wo eine Scheibe zerbrochen war, hatte man sie in einer dieser beiden Glasarten willkürlich ersetzt. Dämmerlicht schien immer die Gesichter der Arbeiter zu beschmutzen. Schwungräder oder meist nur brausende Kreisräume an ihrer Stelle funkelten wie Unterweltsonnen und schienen ein dunkles Licht durch den Raum zu senden. Geliebtes Licht einer Heimstatt für viele Männer und Frauen! Schornsteine, Eisenträger und Fahrstuhlschachte reckten sich durch die Länge und Breite des Raumes auf, dazwischen meist Papiersäulen bis an die Decke. Sie glichen plumpen Kathedralenpfeilern und schienen mir einer eben sichtbar werdenden Kirche innerhalb der Fabrikstatt anzugehören. Griffen sie nicht durch die gemauerten Wölbungswolken oben? Nicht auch die schwankenden Riemen, obschon diese sichtbar an der Transmissionswelle umkehrten?
Doch während ich dies aufschreibe, habe ich mir wohl schon die Augen Leopold Heys geliehen. In meinem Notizbuche stehen einige Bemerkungen über ihn, die ich mir während des Wartens auf einen Korrekturabzug oder eine neue Manuskriptsendung gemacht habe. Eine lautet: „Er scheint immer dabei, seine Traumgesichte in das Licht des Tages zu setzen, – in eine Zeit, in der auch die Körper wachen; seine Phantasie nimmt zu früh die späten Folgen einer Tat wahr, und das bringt ihn um die Tat oder veranlaßt eine falsche.“ Wenn ich mir die Menschen vorstelle, die in der Druckerei um mich waren, kann ich sie vollends nur in dem Bilde sehen, das Hey mir gegeben hat. Wahrscheinlich besaßen sie noch mehr Wirklichkeiten außer dieser einen.
2
Zum ersten Male fand ich Vertrauen bei Leopold Hey, als er mich durch sein jähes Auftauchen zwischen den Setzkästen ein wenig erschreckt hatte und mit seiner Freundlichkeit trösten wollte.
Aus herbstlichem Regenwetter war ich hereingekommen und machte fröstelnd einen Gang durch den Saal, ohne den Metteur schon zu suchen, weil ich ein Unbehagen, das ich von dem Anblick der nüchternen Stadtgegend mitbrachte, durch andere Eindrücke auflösen wollte. Auf einem Roste über unterirdischem Straßenkanal hatte ich eine kleine tote Katze gesehen, und das heran- und hinabschießende schmutzige Regenwasser hatte ihr die Leichenmusik gemacht. Ich war in phantastisch endloser Wiederholung scheinbar immer an demselben kleinen Schaufenster mit den Reihen braungrüner Seifenstücke vorübergekommen und immer an derselben frierenden alten Frau hinter dem Ladentische. Es schien mir nun in meiner gereizten Stimmung, als gäbe es in der großen Stadt nichts anderes als schlüpfrige Pflaster, tote Katzen, unter denen der Regen in die Finsternis hinabrauschte, und kleinbürgerliche Seifenlädchen mit blutarmen Wesen darin, die sie bewachten.
Hier oben nun schien sich die Lähmung fortzusetzen: auf der einen Längsseite des ovalen Saales die Pulte mit den Setzkästen und stumme Menschen davor, die nicht aufsahen, auf der anderen hinter den Pressen Frauen, die mit müden Fingern zurechtrückten, was der Ablegerechen ihnen geschäftig hinwarf. Die großen Bogen schlugen ihnen den Wind in die Augen, und ihre Haare flatterten bei jedem neuen Sinken des Auslegers auf. Sie mußten Schmerzen haben von der ewigen Zugluft, der ihr Gesicht von morgens bis abends, durch Wochen, Monate, vielleicht Jahre ausgesetzt war, aber ihre Züge waren stumpf und geduldig. Nur eine kleine, noch junge Frau hatte eine zerlittene Stirn und einen schmerzhaften Mund. Ihre großen dunklen Augen waren nicht auf die mechanische Arbeit gerichtet, sondern brannten sich in das Gewirr der Stäbe und Walzen der Maschine, hinter der sie saß, brannten sich hindurch in eine raumlose Ferne.
Ich hatte die Empfindung, die beiden Arbeiterreihen wären mit aufgezogenen Wachspuppen besetzt. Aber die Pressen zwischen ihnen lebten doppelt und vollführten ein polterndes Getöse. Die Wagen liefen hin und her, kreischten, röchelten und quietschten, als entgleisten sie fortwährend bei ihrem hastigen Daherfahren. Die eisernen Polterer waren die Gebieter über alle, die ich hier sah.
Traurig darüber und im ersten, langsamen Begreifen, was schwere Arbeit sei, schwer durch den einförmigen Zwang zur Fron, schritt ich weiter, als mir so plötzlich ein Gnom zu Füßen stürzte, daß ich nervös zurücktaumelte und mich auf einen Ausguß der Wasserleitung setzte.
Der dort vor mir am Boden hockte, war Hey. Er war nicht gefallen, sondern hatte sich in seiner behenden Art nur gebückt, um an seinem braunen Halbschuh die breite Schleife auseinanderzuplustern. Und schon stand er wieder aufrecht. Aufrecht? Er war verwachsen und viel kleiner als die Pulte, die rechts und links von seinem Metteurtisch aufgeschlagen waren.
„Seien Sie mir nicht böse, bitte,“ sagte er mit treuherzigem Ton und legte seine klobigen Hände kreuzweis übereinander. „Ich habe Sie erschreckt.“ Dann ließ er sich noch einmal so ruckweis auf das linke Knie nieder und steckte die stolze Schleife in den Schuh. Ohne mich zu beachten, spuckte er nun in die Hände, holte mit den Armen gewaltig weit aus, griff einen Hader aus einem vollen Wassereimer und reckte sich geschwinde scheuernd über den blechbeschlagenen Tisch. Der war in wenigen Sekunden gesäubert. Der Lappen blieb liegen, und Hey seufzte. Mit großen leisen Schritten ging er auf das nächste Doppelpult zu, auf dessen Rist sein Emaillekännchen mit dem Mittagessen stand wie ein Schornstein. Er ergriff den danebenliegenden Löffel und klopfte ein paarmal dagegen. Dann hatte er beides, Kanne und Löffel, in Händen, schlug die grüne Gardine mit dem Kopfe zurück und verschwand hinter ihr. Die Hälfte seiner Bewegungen war überflüssig und putzig übertrieben, und der ganze kleine Mann schien nun in dem Kasten eines Puppenspielers verschwunden zum Schlafe mit drahtgezogenen Figuren seinesgleichen.
Doch gleich tauchte er wieder hervor und richtete mir ein ernstes Gesicht ganz still entgegen. Sein schwerer Kopf wuchs nicht aus der Mitte des Körpers auf, sondern schien nach rechts verrückt, und seine rechte kurze Schulter sah aus wie der Stumpf eines zweiten kleineren Kopfes. Doch verbarg der weitbauschige Setzerkittel in seinen grauen Falten was darunter uneben sein mochte. Das bleiche Antlitz war leicht verzerrt, so als zögen sich darin Gummibänder auseinander und könnten nicht wieder zurückschnellen: eine krankhafte Härte versuchte Zartgefühl und Verlegenheit, sie zu offenbarer Schau festhaltend, zu bemeistern. Nachdem er mich eine Weile angesehen hatte, sagte er:
„Sie haben Ihren linken Arm nicht.“ Dabei nahm er meinen leeren Ärmel zwischen die Hände und klopfte ihn zärtlich.
„Ich war vierzehn Jahre alt, als er mir amputiert wurde. Immer hatte ich eine Neigung zu technischen Dingen, weil ich mir aus den Naturkräften Phantasieländer aufbaute und sie mit Maschinen und Apparaten an Stelle der Tiere und Menschen bevölkerte. Einmal konstruierte ich aus einer Blechdose eine Azetylenlampe. Die Flamme hatte schon einige Minuten auf meiner Konstruktion geschwebt, als es einen Knall gab und das ganze Ding an die Decke flog. Ich war am Arme leicht verletzt, sagte aber den Eltern nichts, weil sie meine meist unnützen und zeitraubenden Versuche nicht gern sahen. Die Wunde entzündete sich aber, und eine Blutvergiftung machte die Amputation notwendig. Ich bin seither wohl geblieben, wie ich damals war; – daß ich jetzt eine Kinderzeitschrift mache, mag ein Zeichen dafür sein, nicht wahr? Und so wollen wir den Verlust als ein Ehrenzeichen des Quacksalberberufes gelten lassen, was?“
Er nickte groß herunter, und dann arbeiteten wir schweigend. Währenddessen mühte sich in ihm das Bedürfnis heran, mit mir weiterzusprechen, und unversehens hob er mit einer Gebärde, als habe er Gericht zu halten, den Schwamm, mit dem er eine Spalte Satz angefeuchtet hatte, empor und deutete nach beiden Seiten. „Rechts die Bösen, links die Guten.“
Er machte wiederum eine Pause, sah mich wieder treuherzig an und – arbeitete weiter, obgleich ich mit den Augen fragte. Mir etwas Persönliches mitzuteilen, gewann er noch nicht über sich, und so ordnete er sich in dem, was er mir erzählte, unter seinen Kameraden ein.
„Bitte, ich wollte nicht roh sein vorhin mit der Bemerkung vom Rechts und Links. Wir sind hier alle Krüppel, wir Männer. Sie wissen ja, wer einigermaßen gesund ist und nicht zu alt, der ist jetzt irgendwo außer Landes. Aber auch hier gibt es große Unterschiede in der Tauglichkeit. Rechts von diesem Metteurtische stehen die Akkordarbeiter. Die haben zwar ihre Fehler, Magenkrämpfe, Krampfadern und Plattfüße oder sonst irgend etwas, aber sie sind scharf im Geist und flink mit den Gedanken. Das macht auch die Hände geschickt. Sehen Sie hin, – sehen Sie? Keiner hebt den Blick auf. Ihre Körper wiegen ganz leicht hin und her – sehen Sie? – wie die Uhrpendel, nicht wahr? Sie bringen es in der Woche auf zweiundvierzig, fünfundvierzig, auch fünfzig Mark. Aber sie haben, soviel mir bekannt ist, ein einförmiges Leben. Sie verwandeln Stück um Stück ihr Dasein in Geld, dann schlafen sie sich aus, dann weiter, Stück um Stück. Meistens sind sie nicht lange bei uns: sie finden schnell bessere Stellen in großen Druckereien.
Die auf der linken Seite von unserem Stand aus, das sind die Ärmeren. Ich sage immer, die Seele kann durch die Löcher ihrer Kittel sehen oder sie hat die Flicken wie Scheuklappen vor. Sie arbeiten auf Tagelohn und haben immer das Gleiche, ob sie viel oder wenig schaffen. Sie sind langsam, oft schwerfällig, aber sauber. Oder sie sind hurtig und stellen dann massenhaft Buchstaben auf den Kopf. Manche machen das Einfachste verkehrt, weil sie es zuviel bedacht haben. Aber so mancher hat etwas erlebt zwischen Werkeltag und Werkeltag. Wenn nicht, dann haben sie Fußtritte bekommen von Fortuna. Schwein haben, sagt man ja: an denen hat sich das Schwein den dreckigen Rüssel abgewischt. Wir auf dieser Seite würden mit dem Zeitungsblatt nie fertig werden, das am Abend erscheinen muß. Mit unserem eigenen Text kommen wir weiter als die rechts.“
Er zeigte mir unter den Linksstehenden einen weißhaarigen Greis mit breitem sonnigen Gesicht, dessen Augen froh und feucht waren, in einer Weise, als zerdrücke er Freudentränen. „Der hat im Kriege bis jetzt drei Söhne verloren, der vierte lebt vielleicht noch, – er hat lange nicht geschrieben.“ Der Mann sah, daß von ihm gesprochen wurde, nickte lachend herüber, holte eine halbleere Flasche Bier hinter seinem Pult hervor und trank sie leer.
Hey war glücklich, daß ich verstand, wie er nur von sich selbst erzählte und mich in den Arbeitssaal mit seinen Kameraden gleichsam wie in sein Hirn einließ.
„Wer ist der Große dort?“ fragte ich und bedeutete, daß ich einen Gelähmten an hohen Krücken meinte.
„Das ist ein unglücklicher Mensch,“ sagte Hey und sprach wieder nicht weiter. Ich störte ihn nicht und wartete. Ich habe auch immer auf der linken Seite gestanden,“ war sein nächstes Wort. Dann sprang er auf den Großen zurück und sagte: „Er heißt Pelzer.“
Und nun entwarf er ein absonderliches Schicksalsbild ungefähr diesen Inhalts:
Pelzer war ein österreichischer Redakteur. Ihn hatte ein Schlagfluß gelähmt, den Körper wie den Geist. Er hatte früher einmal zu seinem Vergnügen beim Revidieren in den Druckereien das Setzen gelernt. Die Setzer hatten sich an seiner Aufmerksamkeit für ihr Gewerbe gefreut und es ihm beigebracht. Als sein Unglück geschah, konnte er sich nur toter oder selbst bedürftiger Verwandten erinnern, Freunde besaß er nicht, seine Zeitung sorgte nicht für ihn. Sein Geschick ging ihm sehr zu Herzen, und als er sich einigermaßen zu erholen begann, las er, daß er hätte tiefsinnig werden müssen, wäre er es nicht schon gewesen, – las er nichts als Angebote von Stellen. Es war ihm, als spräche er zu zehntausend Türen hinein, aber keine wäre für ihn offen. Er versuchte wieder Artikel zu schreiben; es ging nicht. Angst durchsickerte seine Langeweile und schwemmte sie zu einer zähen Last auf, die er schleppen mußte. Was sollte er tun? Er begann auf großen Bogen zu notieren, welche Stellen in der Welt offen waren, dann fing seine Wehmut an weitere Arbeitsgelegenheiten zu erfinden. Er zog lange Linien von oben nach unten über das Papier, die er mit wagerechten durchkreuzte, und füllte die Rechtecke unter kindisch-wichtigem Gebärdenspiel aus seinen Erinnerungen an die Zeitungsinserate, als betriebe er mit mathematischer Phantasie den Entwurf einer neuen, menschenwimmelnden industriellen Welt. Am Abend gingen ihm doch die Augen über, er las, um sich zu beruhigen, was er geschrieben hatte. Unten auf seinen gewürfelten Blättern kehrte immer der Satz wieder: gewandter Setzer gesucht. Auf verworrenen Wegen hatte er damit gefunden, was er wünschte. Er nahm nun nochmals die gedruckten Zeitungen zur Hand und meldete sich wiederholt bei Druckereien seiner Stadt, wurde jedoch abgewiesen. In Berlin erhielt er endlich auf sein schriftliches Gesuch die jetzige Stelle. Er reiste zu und wurde üblen Blicks empfangen, aber eingestellt. Nun saß er auf einem Drehstuhle, eine hohe gekrümmte Gestalt. Die Brille war immer auf die Stirn geschoben, und wenn er einmal aufsah, schien er vier blinde Augen zu haben. Seine Haare schienen wurzellos auf den Scheidel gehäuft und immer vom Schweiß an die Schläfen geklebt. Manchmal nahm er die Krücken unter die Achseln, stand auf, und so, halb schwebend, setzte er weiter. Er trug dauernd einen Sportanzug. Die kecke Jacke saß schlotternd, die Hosen waren peinlich gebügelt und hatten Aufschläge. Um zu leiden, war sein Geist zu beschwert von einer Bürde, die ihm das Gefühl eindrückte, sie sei zu leicht und er müsse irgendwie etwas dazulegen, und hierzu war der Rest seiner Erinnerung zu gering. Aber soviel wußte er, daß er gleichsam von einem hohen Hause heruntergesprungen war, aus einer Welt in eine Unterwelt. Dort mußte er bleiben. So arbeitete er denn, zwar ganz langsam, und der Kegel eines Buchstaben zitterte oft lange in seiner Hand, während er die Signatur suchte, aber er machte wenig Fehler.
Hey errötete plötzlich bei seinem Berichten und sagte:
„Sie fragen sich, woher ich das alles habe? Ihr Zuhören verführte mich, die Bruchstücke aus Pelzers Munde in meiner Auskunft zu verbinden, wie ich es im stillen für mich selbst getan habe. – Mit Worten zu reden ist ein anderes als ohne Wort zu reden. – Doch auch Sie, ein ganz klein wenig vielleicht – – bitte, seien Sie nicht böse. – – – Es kommt von der Einsamkeit.“
„Sind Sie so einsam?“
„Immer bin ich mit vielen Menschen zusammengewesen und habe auch gern mit ihnen geredet. Aber das zieht den Einsamen nicht aus seiner Einsamkeit. Die kann er nicht verlassen. Er stimmt zu und tut, was er versprochen hat, und knüpft das nächste Mal an, wo er diesmal abbrach. Darunter aber führt er mit den anderen Menschen ein zweites Leben, das für ihn wahrhafte.“
„Er fällt sie heimlich an?“
„Er fällt sie an, – – nein, das kann ich nicht sagen. Sie sind nicht wehrlos. Sie antworten, wenn er fragt, die Geister. Sie sind auch nicht Geister. Sie leben. Sie haben an unserem Blute die tägliche Nahrung. Die ich lieben muß, liebe ich reiner, betrachtender. Die ich hasse, – wenn sie sich verantworten, reiße ich sie freilich nur tiefer in meinen Haß.“
Als hätte er ganz allgemeine Gedanken geäußert, die mit persönlichen Qualen nichts zu schaffen hatten, verließ er sie unvermittelt, knautschte einen großen Bogen zusammen, ließ ihn an der Glut eines der eisernen Öfen Feuer fangen und zündete die Gaslampen an. „Vormittag noch, und dieser Himmel. Es wird gleich wieder gießen.“
„Dann will ich mich rasch in eine Bahn retten und laufen.“
Aber schon auf der Treppe hörte ich, wie der Regen strömte. Die tote Katze lag noch auf ihrem harten Lager, in den Seifengeschäften brannte nun auch Licht.
3
Hey war von immer gleicher Freundlichkeit und Sachlichkeit. Die Schilderung seiner Kameraden war das erste Persönliche, das er mir bewußt darbot. Sonst hatte ich bei Gelegenheit darauf schließen können, daß er eine für sein einfaches Amt ungewöhnliche allgemeine Vorbildung besaß. Der Ausdruck seines Gesichts hatte mir schon mehrfach einen Menschen gezeigt, der sich selbst in phantastische Erlebnisse vorauseilte, während er in einen völlig ereignislosen Alltag eingeschlossen blieb.
Eine Woche nach jenem Regentage sah ich ihn verwandelt.
Ihm war die Aufsicht über die Druckerei aufgetragen worden, da man zu seiner Entlastung einen neuen Metteur eingestellt hatte, und weil der Chef erkrankt zu Hause lag, war Hey eigentlich doppelt aufgerückt und führte zur Aufsicht auch die Oberaufsicht. Der Neuling, Wiens mit Namen, war ein breiter Riese mit schwammigem Rundgesicht. Ein goldener Zwicker quetschte über der Nasenwurzel, ein Kragen unter dem Kiefer das Fleisch herauf. Der Kragen wurde von den Setzern sofort als unpassend für jemand, der wirklich arbeiten wolle, und der Kneifer als protzenhaft bezeichnet. Niemand hätte wohl daran Anstoß genommen, wenn nicht der saure Mund in dem Vollmondgesicht, worin etwas wie Grünspan alle Vertiefungen, sogar die Augen zu überwuchern schien, ein höhnisches, anmaßliches Kujonieren angefangen und unausgesetzt beibehalten hätte. Er sprach einen überheblichen sächsischen Dialekt. Auf seinen Spott und seine Tadelsucht hatte er um so weniger Anrecht, als er, wie sich schon in den ersten Stunden herausstellte, selber nichts verstand. Er warf wiederholt eine Seite Satz mit dem Ärmel um, vergaß ein Stück, das er einheben wollte, zu benässen, so daß alles locker blieb, vergaß sogar das Metallplättchen anzulegen, das die Buchstabenreihen vor dem Umfallen schützte. Er gab schon abgesetzte Manuskriptblätter nochmals aus und stellte ihren Text doppelt ein und wußte für alles freche Erklärungen, wobei er seine Schuld auf andere schob. Dafür beschäftigte er sich mit Dingen, die ihn nichts angingen. Mir strich er unter unverschämten Vorhaltungen einige übersehene Druckfehler mit seinem Rotstift an, behauptete, ich habe sicherlich Dutzende von Versehen nicht bemerkt, wie gleich hier beispielsweise st in stehen aus zwei Typen bestände statt aus einer; ich solle ihm eine Zigarre geben, zwei würde er auch nicht verschmähen, und um fünf Mark für jedes Heft wolle er mir die ganzen Korrekturen so besorgen, daß mein Verlag große Augen mache. Es reizte auf, so als ein armer hilfloser Fibelschütze behandelt zu werden. Zwischen den Abschnitten dieser Abkanzelung schlug er den Lehrjungen ohne besonderen Grund die Hand hinter die Ohren und sprach beiläufig von seinen früheren glänzenden Stellungen in Dalmatien und Argentinien. Nur durch den Zufall des Krieges, der ihn im Heimatbesuch betroffen habe, wäre ihm hierzulande eine Beschäftigung aufgezwungen worden, weil sein ausländisches Vermögen ihm jetzt unzugänglich sei. Doch hätte er gewußt, daß er in der Druckerei für Hungerlohn bloß Verdruß bei so vieler Mühe und so schlechter Schulung aller Mitarbeiter antreffen würde, so wäre er lieber als zweiter Direktor in der Munitionsfabrik geblieben, wo er die Verladung auf die Eisenbahn geleitet habe. Bald erwies sich, daß er Ahlen und Pinzetten stahl, und Hey kündigte ihm zum nächsten Tage. Er wollte nach der Pause mit einem Schutzmann wiederkommen, unterließ es jedoch und benutzte den letzten Nachmittag zu einer polternden Gewaltherrschaft.
Hey wies ihn wiederholt zornzitternd zurecht.
Ein lahmer Hausierer humpelte durch den Raum, umweht von einer Mähne von Schnürsenkeln, Hosenträgern und Flederwischen. Wiens fuhr ihn an, er habe hier nichts zu suchen und nichts zu betteln. Hey nahm den Hausierer an der Hand wie einen guten Gast, führte ihn gegen den Wind der groben Worte, sagte: „Dem Mann ist gekündigt, er ist nur noch geduldet,“ und führte den Lahmen selbst von Stand zu Stand. Überall wurde ihm eine Winzigkeit abgekauft. Der Riese Wiens, ein Feigling, errötete, schlug eine laute Lache auf und zeigte hinter dem Krüppelpaare her mit den Worten: „'N scheens biblisches Boor.“
Aber schon hatte er jemand gefunden, an dem er seine Wut ohne Gefahr glaubte auslassen zu können. Es war ein hübscher kleiner Laufbursche mit blondem Haar und dunkelbraunen Augen. Der hantierte an der Schneidemaschine mit glücklichem Stolz, ein so scharfzähniges Ungetüm zu bemeistern. Er hatte einen Stapel verstockter, wahrscheinlich von einem Büchertrödelwagen gekaufter Groschenheftchen neben sich liegen, um ihn zurechtzustutzen. Die Hefte lagen schon sauber aufgeschichtet auf dem Stahltische, er senkte mit Hilfe des horizontalen Stellrades das meterlange und zentnerschwere Messer fest auf ihren Rand nieder, als der Riese ihn beiseite stieß und das Messer wieder in die Höhe schraubte. Er sah sich die Titelblätter an, auf denen Piratenschiffe und viele Feuersbrünste dargestellt waren, und schrie dabei auf den Knaben ein:
„Ich will dir helfen, du Lümmel! Ist die Maschine dazu da? Hab ich es erlaubt? Hast du sonst nichts zu tun? Hier befehle ich, verstanden?“
Der Knabe riß ihm seinen Besitz unerschrocken aus den Händen, legte ihn trotzig wieder auf die blanke Stahlplatte und erwiderte:
„Herr Hey selbst hat es mir erlaubt. Er hat mir die Bücher überhaupt geschenkt.“
Dabei sprang der Knirps auf den Tisch und drehte aus Leibeskräften am Stellrade. Der andere stieß ihn zum zweiten Male fort, hielt ihn mit der Rechten fest und schob mit der Linken die Hefte quer unter das Messer.
Hey war herbeigestürzt und packte ihn am Kragen, doch konnte er nicht verhindern, daß Wiens den Schalthebel an der Wand umlegte. Die Elektrizität summte in die Maschine, das Messer fiel nieder und zerlegte sämtliche Hefte mit einem Schnitt in der Diagonale.
„So, jetzt kannst du Geometrie daran studieren, du lumpiger Bengel, du,“ keuchte der Schwindler.
Hey schien wahnsinnig geworden: er rankte sich mit beiden Beinen um eins des Riesen, zerrte mit der äußersten Kraft der Wut an seinem linken Arm und biß ihm verzerrten Gesichtes in den rechten. „Das kostet deine Hand, du Hund! Mir ist alles egal,“ stieß er dabei hervor. Der Gebissene zuckte und wollte abwehren. Hey befahl wild: „Messer andrehen, Karl!“ so roh, daß der Knabe ihm gehorchte, und hatte, während die blanke Guillotine niederwuchtete, die Hand seines Opfers mit blitzschnellem Ruck daruntergerissen. Jedoch sie blieb nur einen Augenblick liegen und rettete sich. Das Messer kaute in schwerer Wucht auf dem Tische einmal hin und her, als hätte es nicht die leere Luft, sondern ein Metallstück zerbissen, und stand dann still.
Ein Schrei gellte dabei durch den Arbeitsraum. Hinter ihrer Presse her war jene kleine Frau, die ich neulich beobachtet hatte, aufgeflogen, ihre Haare waren vom Winde des Ablegers zerzaust, sie stand mit erhobenen Händen einen Augenblick im Gange und stürzte dann zusammen.
Der Knabe eilte zu ihr und rief: „Mutter, Mutter!“ Hey ließ Wiens aus seiner krampfhaften Umklammerung und lispelte: „Marta!“ Noch einmal wiederholte er machtlos: „Deine Hand, das kostet, das kostet – –“
Der Riese Wiens legte sie dem Zwerge Hey auf den Kopf. Dann lachte er laut und gezwungen. Weiter wagte er nichts, weil sich das ganze Personal um ihn drängte.
All das war im Laufe weniger Sekunden vor sich gegangen.
Hey ging, Karl an der Hand, die Frau aufrichten und führte sie heran. Pelzer sagte: „Das ist ja Frau Stallmann, – das ist ja Karl.“
Mir drängte sich die Gewißheit auf, in Hey und den beiden Stallmanns die Glieder einer geistigen Familie vor mir zu haben, aber auch eine Ahnung, daß jedes auf einem anderen Sterne siedeln und durch die Welt fahren mochte.
Ein enger Kreis hatte sich um sie geschlossen, den der bleiche, vollbärtige Pelzer auf seinen beiden Krücken umstelzte. Er sagte: „Er soll gehen, der Wie– der Wiens soll gehen. Ich sammle für ihn.“ Alle nahmen den sonderbaren Gedanken an und legten ein Geldstück in seine Hand, zuletzt auch Karl und Hey.
Der Große wartete es nicht mehr ab, wickelte seinen Kittel zusammen, zog den Rock an, setzte den Hut auf und ging.
Pelzer atmete schwer, redete sich zu: „Nicht aufregen, gar nicht aufregen, hübsch gesund bleiben,“ setzte sich auf eine Papierkiste, lehnte die Krücken daneben an die Wand und erbat von Karl die zerschnittenen Hefte, Seidenpapier und Leim. Er schnitt dünne Florstreifen, fügte Blatt um Blatt der Piratengeschichte und klebte bis Feierabend. Hey und Marta sahen ihm eine Weile stumm zu, dann ging jeder an seine Arbeit. Hey war verwirrt und mied meinen Blick, der ihn nach Erklärungen alles dessen fragte, was ich gesehen hatte.
Dann begann er selbst zu reden, während er die Hände unter einen Hahn der Wasserleitung hielt und, bevor er sie wusch, dem langsamen Fall der daran hängenden Tropfen zusah. „So ist es, einer – zwei – drei vier. Hat man es einmal verfehlt, sein Leben ins Sinnvolle zu öffnen, den leuchtenden chemischen Tropfen einzuträufeln, der das Trübe verklärt – und weiß es –, wie will man noch glücklich werden! – Ich höre immerfort Ihre Frage: was ist hier vorgegangen? Ich habe in jenem Menschen das Gespenst eines anderen fassen und besiegen wollen, der mein einziger Freund und mein einziger Feind im Leben gewesen ist und den ich nicht faßte und besiegte. Das Gespenst und sein Vorbild hatten äußerlich wenig gemeinsam außer der Körpergröße, nur eine gewisse Starre im blauen Weiß des Auges, von der ich nun schon jahrelang befreit bin, sah mich wieder an, und das gleiche Aufheben der Schultern ängstete mich, wie es mich nie geängstet hat.“
Er konnte seine Erklärung nicht fortsetzen, und wir taten weiter, was unseres Geschäftes war. Zwischenein ging ich einmal zusehen, wie der Gelähmte klebte. Auf dem Rückwege kam ich an einem Bretterverschlage inmitten des Raumes vorüber. An seiner Wand waren Zeitungsbilder berühmter Frauen und Männer der Sozialdemokratie befestigt, ferner eine verstellbare Himmelskarte und ein pappener Blumenkorb, unter dem sich früher der Block eines Abreißkalenders befunden hatte. Daneben hing ein mit schöner Schwabacher Fraktur bedrucktes Blatt. Das holte Hey, der leise hinter mich getreten war, herunter und reichte es mir mit den Worten: „Das hatte ich einmal für eine Zeitschrift zu setzen; ich habe es mir extra noch einmal gesetzt und abgezogen.“ Schon gab er Fragern an den Pulten Weisungen, wie: Ja, ausbinden – einhalb Cicero – zwölf Konkordanz“ – und beachtete mich nicht mehr.
Ich las eine indische Geschichte:
Der Prinz Mahasattvavan kam einst mit seinen Brüdern Mahadeva und Mahapranada in einen abgelegenen Wald. Dort fanden sie eine Tigerin mit Jungen, die eine Woche alt sein mochten. Die kleinen Tiere waren fröhlich und gut genährt, aber die alte Tigerin sah schmerzlich traurig aus und schien, seit sie die Kleinen geboren, nichts genossen zu haben. Da fragten Mahadeva und Mahapranada, wer sich für die arme hungrige Tigerin opfere. Mahasattvavan dachte bei sich, daß eine bessere Gelegenheit, seinen unreinen Körper zum Wohle anderer darzubieten, in seinem Leben nicht kommen werde. Er warf sich vor das Tier, dieses jedoch, das einen Heiligen in ihm erkannte, berührte ihn nicht. Mahasattvavan dachte, die Tigerin sei zu schwach, ihn zu töten, und so schnitt er seine Kehle mit einem Bambusstücke auf und stürzte vor sie hin. Nun nahm sie sein Fleisch und Blut an. Die Brüder waren überrascht und bewunderten seinen Geist, und ihr Vater errichtete über den Knochen Mahasattvavans einen Tempel mit der Inschrift: Der Staub von den Füßen eines guten Menschen ist mehr wert als ein Gebirge von Gold.
Als ich ausgelesen hatte, hängte ich, da Hey sich nach wie vor um mich nicht mehr kümmerte, die Tafel an ihren Platz. Die verstaubten Fenster verdunkelten sich, man sah schief über ihre Rauten die Schatten von Schneeflocken streichen. Das Gas wurde angezündet. Über den Schirmen traten die niedrigen Tonnengewölbe mehr hervor, deren Rippen aus eisernen Trägern bestanden, während die Höhlung geweißte Ziegelsteine wie ein Zellengewebe zeigte. Rußkreise legten ihre Mondfinsternisse über die Lichträder, Spinnengewebe fingen hier und da an, in der Hitze zu zittern. Das stille Wesen löschte das wiehernde Poltern der Wagen, die wie immer in den Pressen hin- und herliefen, fast aus.
Heys Körper schien sich unter dem Kittel, diesem grauen Priesterkleid einer schmutzigen Unterwelt, zu verwandeln und anstelle der Muskelbündel Nervenhaufen einzutauschen, die, sollte das regierende Hirn sich einmal vergessen, erstarren würden, daß nichts sie mehr erwecken konnte, und die darum aus ahnender Furcht zuckten.
Plötzlich richtete er einen vollen Blick auf mich und ging mir voran. Ein unsichtbares unfaßliches Gewölk von Schmerz schwebte mit ihm. Deutlicher als je fühlte ich: die Schwungräder zischten als wahnsinnig rollende schwarze Unterweltsonnen, warfen Sicheln, spien schwärzliche, konzentrische Blitze, die in ihren leeren Scheiben den Lauf mittobten. Man war versucht, hineinzufassen.
Hey führte mich an der Maschine vorbei, hinter deren Rechen Marta Stallmann saß. Sie ließ die Augen einmal aufflackern, ganz kurz, und senkte sie dann wieder in den tiefenlosen Raum auf und unter ihrer Arbeit. Ich erstaunte, als Hey sie anredete:
„M’aimes-tu, ma chérie?“
„Non, pas du tout,“ entgegnete sie ganz mechanisch wie aus einer anderen Welt.
„Je le sais,“ sagte er in gleichem Tone.
Er ging unverweilt zurück.
Die beiden waren sich gegenübergewesen wie große Papageien, denen das Gefieder ausgefallen ist. Sie trugen Menschengestalt gleich einem Kleide.
„Das ist so ein altes Spiel, eine Erinnerung,“ wandte sich Hey nach einer der Pausen, die er häufig machte, an mich oder vielleicht nicht einmal an mich. „Natürlich, wir sind glücklich erzogene Menschen, und am Ende ist das auch eins von den Unglücken in unserem Unglück. Am Ende? – Am Ende sind wir gar nicht unglücklich. Wir bilden es uns schon lange nicht ein.“
Nun durfte ich sein Bedürfnis zu reden wohl ermuntern. „Lieber Herr Hey,“ sagte ich, „wir sind einander nicht fremd. Wollen Sie mir nicht einmal von dem Gespenst, das jetzt verschwunden ist, etwas erzählen?“ „Bitte, seien Sie nicht böse,“ erwiderte er wie oft, „es war nicht recht von mir vorhin. – Morgen werden wir spät Feierabend machen, vielleicht erst um zehn. Zwanzigtausend Bogen sollen durch die Pressen laufen.“
4
Am nächsten Morgen war ich zeitig in der Druckerei, obgleich ich dort wenig zu besorgen hatte. Hey schien den vorigen Tag vergessen zu haben, wie er in dem großen lärmenden Uhrwerk steckte, das seine gewohnten Alltagsstunden vollbrachte. Er sah übernächtig aus, arbeitete aber doppelt geschäftig, fast hastig an seinem Metteurtisch und tat, als wäre ich ihm nicht willkommen. Auch als die Mittagspause erreicht war und alle Maschinen mit einmal still wurden, ruhte er sich nicht aus, und erst, als die Stunde der beginnenden Nachmittagsarbeit nahe war, wusch er den Tisch sauber, trocknete die Hände und sagte lächelnd:
„Ich habe nicht vergessen." Er rückte mir einen Klappstuhl zurecht. Bis zum Abend hatte er nun Muße und brauchte nur das Maschinenpersonal zu beaufsichtigen. Er wußte nicht recht, wie beginnen, und sprach zunächst stockend und leise, um niemand zu stören. Alle Arbeiter hatten ihre mitgebrachte Mahlzeit ausgelöffelt und schliefen. Es war ein ergreifender Anblick. Sie saßen klein und demütig hinter den Setzkasten, hielten den Kopf geneigt und die Augen wie im Zwang zugekniffen, oder sie hatten die Arme auf die Pulte hinaufgekrümmt und die Oberkörper darangelegt wie Betende. Die Mühsal war nicht aus ihnen gewichen, die Zeit war dafür zu kurz, – dennoch löste der zum Frondienst befohlene Schlaf hie und da ein Glied, einen Bruchteil der Menschenleiber. Er war sehr leise, und da er nicht ganz in die Seelen eindurfte, glich er dem zerstörenden Bruder und ließ sich auf die Dinge im Umkreise der Schläfer nieder. Das zerknitterte Papier neben ihnen, in dem Brot gewesen war, war von ihm besessen, die leergetrunkenen Milchflaschen und Kaffeekannen, die kaum gestützt auf der Schrägung der Kasten lagen, aufrecht oder horizontal, schienen wie auf einer Flucht ereilt und gebannt. Nur Marta, die lautlos hinausgeschlichen war und wiederkam, lange bevor es Zeit wurde, schlief nicht. Sie hatte sich auf ihren Platz gesetzt und sah auf ihre Hände. Und ihretwegen wohl am meisten redete Hey fast furchtsam leise, denn sie war von Anbeginn in seiner Geschichte.
Gern ließe ich seine Worte ganz unverändert. Doch fügte ihnen der Klang seiner Stimme vieles hinzu, was die Worte erhellte oder verschleierte; seine Füße erzählten mit, wenn er in einer Pause zwischen den Kasten auf- und abging, und sein Atem trug oft den verschwiegenen Rest aus der Tiefe herauf und wehte den Sinn in das nackte Licht des Tages, den uns der gütige Herr des Lebens nicht haschen läßt, damit uns Lust und Drang der Bewegung nicht gehemmt werde. Dies muß ich hinzutun. Die Scham des Sprechers und die Neugier des Hörers entdeckten und entschlüpften einander, und sie führten die Erzählung manchmal auf abgekürzten Wegen, die nur ein einzigesmal aufgefunden werden können.
Und der Aufenthalt in dem gewitternden Fabrikhause ließ mich zuweilen vergessen, daß ein Mensch redete: das Eisen selbst schien zu lallen, zu schnalzen, zu flennen, zu lachen, zu knurren. Mörtel und Mauern gaben ein Echo, Dunst und Staub der Straßen und der Rauch der Häuser bildeten etwas wie ein spukhaftes Raubtier über dem Phantom der Stadt, – die Fabriken und Kontore der Hinterhäuser tönten mit ihren Geräten und Maschinen ihre Arbeit wie eine grausame Ballade, heraus.
Schreibend möchte ich von alledem wieder etwas vernehmen.
Drei Kinder seines Dorfes saßen immer zusammen, soweit Hey zurückdenken konnte: Marta, die Tochter des Gastwirts – es war die Frau hinter der Presse, die an der Schneidemaschine zusammenbrach –, Ferdinand, der Zieglersohn, der ihr Schicksal wurde, und Hey, der Sohn des Kaufmanns. Das Bauerndorf ging in ein Gutsdorf über. Das Gut gehörte einem Herrn Drechsler. Der hatte einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn ist jetzt Pfarrer in Danzig, die Tochter ist an einen Gutsbesitzer jener ostdeutschen Gegend verheiratet. Die beiden Kinder wurden von einem Hauslehrer unterrichtet, und Frau Drechsler half ihm mit Unterweisung in Musik und Sprachen. Sie starb, als die Kinder eben das erste Schuljahr hinter sich hatten. Ihr Tod war für Herrn Drechsler der Schlag, der ihn mitzerschmettert haben würde, wenn er versucht hätte, seinem Schmerz auszuweichen. Um nicht unterzugehen, ließ er das Leben, das er begraben mußte, nicht einschlafen, sondern versuchte, es aus anderen Menschen zusammenzuraffen. Er verschenkte viel, weil dankbare Menschen gut sind und weil aus vielen Augen sich ein Teil des Lichtes auf ihm versammelte, das in zweien versiegt war. Das war ihm jedoch nicht genug.
Eines Tages trat er in die Volksschule und sagte – seine Trauer war immer fröhlich:
„Herr Lehrer, ich will Ihnen von Ihrer kleinen Gesellschaft da ein paar Nichtsnutze gewaltsam entführen. Weil es nun so hat sein sollen und meine Frau mir zwei oder drei solche Heilande schuldig geblieben ist, – also wen empfehlen Sie mir? Ich habe mir nämlich überlegt: wozu hat man einen Hauslehrer? Man kann ihn doch nicht fast umsonst durchfüttern, und ich glaube außerdem, er kündigt mir, wenn ich ihm keine rechtschaffene Arbeit gebe. – Ergo, kurz und gut –“
Der Lehrer war etwas verwirrt, dienerte und sprach feierlich von edelmütigem Entschluß, sah nach der Uhr, gab den Kindern eine Pause und ging mit Herrn Drechsler aus dem Hause. Die Schüler sahen sie zwischen den Bienenstöcken des Gartens hin- und herspazieren, es schien auch zwischenein die Flugbahn eines Volkes erörtert zu werden. Am selben Nachmittag wurden Martas und Heys Eltern von den beiden Herren besucht.
Bei Ferdinand stand die Sache schon im reinen, weil sein Vater der Gutsziegler und halb und halb der Vertraute seines Brotgebers war. Heys Mutter holte ein frisches Brot und den Schinken aus der Kammer. Ihren Knaben hieß sie Kaffee mahlen. Sie strich ihm mehrmals über den Kopf und war stolz verlegen wie vormittags der Lehrer.
Ein paar Tage später saß Hey im Gutshause und lernte, was man auf dem Gymnasium lernt. Der jetzige Pfarrer, Ferdinand und er saßen am selben Tische, Drechslers Tochter und Marta an einem zweiten. Wenn die Jungen etwas schriftlich zu machen hatten oder auswendig lernten, wurde den Mädchen vorgetragen; und umgekehrt. Ihre Tagelöhnerschüchternheit legten die armen Dorfkinder schnell ab, und der neue Unterricht war ihnen selbstverständlich. Sie suchten gemeinsam mit den jungen Drechslers Leberblümchen und Sumpfdotterblumen, wenn der Schnee zerschmolz, sie beobachteten Buttervögel, Störche und Hasen, und die drei Jungen lernten auch geigen. Hey zeigte sich dabei wegen seines Buckels unbeholfen und unbehilflich und durfte am Harmonium üben. Weil das voller klang, schien er die anderen zu überholen, er kam sich jedenfalls so vor, als wäre er ihnen überlegen. Da war er tannengerade gewachsen.
Daß Herr Drechsler sich damals der Niedriggeborenen annahm, war gut gemeint, doch schlecht getan. Ihre Eltern dachten nicht daran, sie etwas anderes werden zu lassen als sie selbst waren, und wurden dennoch von den Eltern der ehemaligen Schulkameraden hart mitgenommen, weil sie ihre Kinder „studieren“ ließen, und diese, die sich unter jenen ehemaligen Kameraden am wohlsten und freiesten fühlten und nach wie vor neben ihnen Kartoffeln steckten und gruben, wurden doppelt gewalkt, wenn es eine Prügelei gab. So waren sie auf eine Insel gesetzt und sich gegenseitig zwar nähergebracht, doch nur mit dem Leib ihres Geistes gleichsam, während innerlich jeder abgeschlossen blieb und nur alle drei das uneingestandene Gefühl teilten, dasselbe erleiden zu müssen.
Ein paar Jahre lang lernten sie so mitsammen, und als sie abbrachen, waren sie weiter von einem Ziel als die gleichaltrigen Volksschüler. Marta half in der Kneipe ihrer Eltern, Ferdinand in der Ziegelei, Hey kam in die benachbarte Stadt, um in der Druckerei des Kreisblatts das Setzen zu lernen. Als er sein Räntzel geschnürt hatte, nahm er von Marta einen wehmütigen Abschied und übte – zum letzten Male, wie er dachte – eine nutzlose Phrase in fremder Sprache: „M'aimes-tu, ma chérie?“ – Und sie antwortete: „Pas du tout.“
Sie blieben nun an die zehn Jahre getrennt, aber gehörten fraglos zueinander, sobald sie sich wiedersahen. Wenn jene Abschiedsphrase ihm einfiel, so scheuchte sie ihn von dem Wunsche zurück, Marta dennoch einmal in sein Haus zu führen. Sobald er dann mit ihr gesprochen hatte, dünkte sie ihn vollends ganz fern.
Als er Aussicht hatte, eine erträglich entlohnte Korrektorstelle zu bekommen, faßte er sich ein Herz und wollte mit Marta ernstlich sprechen. Er fand das Dorf voll von dem Gerüche, sie würde Ferdinand heiraten, sie trüge ein Kind von ihm.
Die wenigen Schritte zu Ferdinand Stallmann schienen ihm meilenweit durch einen erschlaffenden Dampf zu führen. Ferdinand arbeitete mit seinem Vater im Ziegelofen. Beide waren sehr vergnügt. Als sich Ferdinand über Heys bleiches Aussehen lustig machte, fragte der töricht aus seiner Angst heraus:
„Du willst also heiraten?“
„Heiraten? Ich? Wen?“ erwiderte Ferdinand mit Schärfe. Sein Vater brach, ihn mitreißend, in ein Gelächter aus, nahm aus einem Kasten, der unter dem Formertische stand, zwei Bierflaschen am Halse und hieb sie Hey wie Keulen auf die Schultern.
„Erst mal einen Begrüßungstrunk, Junge,“ sagte er, und Ferdinand spottete weiter: „Heiraten! Welche Neuigkeiten du mir mitbringst!“
Und der Alte löste ihn wieder ab:
„Na, gerade stolz brauchst du auf die Dummheit noch immer nicht zu tun, Ferdinand. Aber die kleine Schankmamsell zu uns ins Haus? – Der Bengel nimmt eine Dampfziegeleibesitzerstochter, daß er seine Bildung verwerten kann! Herr Drechsler schießt was vor, dann treten wir auf. Erst aber mal trocken werden hinter den Ohren.“
„Da, nimm, Hey,“ fing nun wieder Ferdinand an, der merkte, wie sein Freund zitterte, öffnete eine der Flaschen, die er dem Vater abgenommen hatte, und setzte sie ihm an den Mund. „Sei gegrüßt, alter Volksgenosse, und sauf zu, Kamerad.“
Hey ließ den Kopf hintübersinken und sog wie ein getränktes Tier. Das Bier überspülte sein Gesicht und troff an den Kleidern hinab. „Sonst geht's gut?“ fragte er aus seiner Pein. Dann machte er sich davon.
An den Birken des Froschteichs wandte er sich um. Er sah durch die Mauern des Ziegelofens sich selbst, wie er Ferdinand Stallmann an die Kehle gesprungen war und ihn würgte, bis er umsank.
Dann setzte er sich in den Chausseegraben und schaute den Ameisen zu. Manche schleppten weiße Klümpchen. Als sich seine Augen mit opalenem feuchtem Lichte verfinsterten, sahen die Klümpchen aus wie Briefe, und als diese in einer lauten, wimmelnden Stadt, die sehr fern von dem traurigstillen Grabenrande lag, geöffnet wurden, stand in dem ersten zu lesen: „Ferdinand ist mein Freund,“ und in dem zweiten ebenso, in dem dritten auch. In dem folgenden tauchte das Wort Marta auf. Sie waren nicht von ihm geschrieben, sondern irgendwer berichtete, der Schüler Hey sei dieser Marta nachgestorben, als sie vierzehnjährig einer Diphtheritis erlag: er habe sie so geliebt. – Er war erstaunt, daß er diese Botschaft erst jetzt empfing.
Dann bewuchs die Böschung wieder mit Gras, und er erhob sich.
Voll Freude, als habe er im geheimen eine gute Tat getan, die ihn stärkte, ging er sie aufsuchen.
Er grüßte sie im Garten hinter ihrem elterlichen Gasthause. Rot überströmten Gesichtes kam sie sofort heraus und ging mit ihm schweigend die Dorfstraße hinab.
„Ich weiß, Marta, was mit dir ist.“
„Ja, und ich weiß, daß ich noch lange zu warten habe.“
„Du wartest auf ihn?“
Sie nickte schnell und fanatisch.
„Hast du mit ihm gesprochen?“ fragte Hey unter Herzklopfen.
„Hast du mit ihm gesprochen?“ fragte sie zornig dagegen.
„Also weißt du ja,“ sagte er schmerzlich.
Sie nickte wieder wie vorhin.
Sie war Stallmann verfallen, wie Hey ihr verfallen war. Ein reißender Strom rauschte dem Buckligen vor den Ohren. Er folgte nur langsam, während sie hastig ausschritt, und er stammelte: „Ich bin dein alter Bekannter.““
Vor ihnen am Rande eines Stoppelfeldes spielten Kinder, zwei Knaben und ein ganz kleines Mädchen. Die Knaben hatten Pantinen und Strümpfe beiseite gelegt und rühmten sich, daß sie es ertrügen, mit bloßen Füßen über die Stoppeln zu gehen, und taten ein paar vorsichtige Schritte in den Acker hinein. Das Mädchen wollte nicht zurückstehen, hockte nieder und zog seine Strümpfe ebenfalls aus. Inzwischen schlüpften die Gefährten in ihre Pantinen und verständigten sich schadenfroh hinter dem Rücken der Kleinen. Sie nahmen sie zwischen sich, reichten ihr die Hände und führten sie behutsam auf die Stoppeln. Plötzlich packten sie fest zu und liefen, daß das Mädchen aufschrie und wimmerte und seine zarten Füße bluteten. Als Hey den Wüterichen nacheilen wollte, fühlte er seine Hand von der Martas gebieterisch zurückgehalten. Mit Verwunderung sah er, wie ihr Gesicht erstaunt, fast verklärt an den Kindern hing. Sie hatte Tränen in den Augen. Da ließen die Knaben von ihrem Opfer ab. Marta nahm das Mädchen auf die Arme, küßte es auf Stirn und Füße, trocknete ihm die Tränen und das Blut und trug es lange auf der Chaussee hin und her.
Verfallen! Wollend und willenlos verfallen! Hey wollte in der Gastwirtschaft ihrer Eltern einen Schnaps trinken, schlich aber ums Haus in den Gaststall, fiel einem alten Schimmel um den Hals und weinte sich aus.
„Wie kam Marta, die ein scheues, bescheidenes Mädchen war, in Ferdinand Stallmanns Gewalt?“ Hey konnte sich nur auf spätere Andeutungen stützen und hatte ihnen selbst in Gedanken nie folgen mögen. Sie war an einem Sonntag Blaubeeren suchen gegangen. Stallmann wußte es nicht, aber da am Sonntagnachmittag die jungen Leute auf dem Lande ja alle unterwegs sind, so ging er aufs Geratewohl einer Harmonika und den ihr Spiel begleitenden männlichen Stimmen nach, auch in den Wald. Mit einmal verstummte die Musik. Stallmann ging still weiter, bis er ganz in der Nähe einen Wortwechsel und ein Aufschreien Martas vernahm. Er sprang durchs Unterholz. Marta lag am Boden und wehrte sich mit ihrer letzten Kraft. Die vier jungen Lümmel wollten ihr Gewalt antun. Er verprügelte sie alle und verjagte sie. Wenn er das später erzählte, schwollen ihm die Zornadern. – Und dann verstummte sein harter Mund, und er richtete einen abweisenden Blick in eine schwermütige Weite, – und dann war er wohl von dem vierfachen Gelüst überwältigt worden, das er überwältigt hatte. Und Marta mochte, was sonst in Wochen und Monaten sehnsüchtig aufwächst, entschlossen in Augenblicken erlebt haben, mochte mit zähem Willen dem reißenden Blitz ihres Schicksals entgegengegangen sein, das Schicksal unendlich süß erduldet haben und mochte so gesegnet gewesen sein, daß sie Stallmann mit ihrem Wunsch und ihrer Dankbarkeit auf immer verschmiedet blieb. –
Hey war zusammengefahren, weil eine Glocke durch die Druckerei schrillte. Die Mittagszeit war zu Ende. Zwischen den Ständen erhoben sich langsam die Schläfer. Sie tauchten wie aus dem Boden auf und faßten, noch benommen, mit schweren Händen nach ihren Geräten, und die Schlafstunde schien durch diesen Griff ausgelöscht. Die Räder setzten sich in Bewegung, der Boden hob an zu beben und trug uns wieder wie eine grollende Wolke.
Noch mehr als bisher quälte mich jetzt das Oftgesehene: wie die Frau mit ihrem müden Felsengesicht auf dem Schemel saß und der Rechen ihr gleichgültig hundertmal den Wind in dieses Gesicht schlug und alles hinausschlug, was rätselvoll zur Stille zwang.
5
Marta gebar einen Knaben und hieß ihn Karl. Das erlebte Hey nicht mehr im Dorfe. Auch in der Kreisstadt konnte er nicht bleiben. Er ertrug die kalte Nähe der ihm vertrautesten Menschen nicht und floh nach Berlin. Die Ahnung seines Schicksals: daß er Jahre voll Elend und Einsamkeit auf sich häufen müßte aus unbezwungener Liebe, trieb ihn. Stallmann hatte sich roh gezeigt, aber nicht untreu gegen ihn, denn er kannte an ihm nur die heitere Oberfläche. Er hatte nichts mitzunehmen als den Gruß einer Kätnerin im Dorfabbau an ihre Schwester.
Er kannte in Berlin niemand, fand keinen Kameraden, keinen Freund. Bald hatte er es aus freien Stücken aufgegeben, Anschluß zu suchen und wurde außerhalb der Arbeitsstätten ganz einsam.
In den ersten Wochen nur ging er bisweilen zu Frau Weise, der Schwester jener Kätnerin, die mit ihren beiden Töchtern hoch im Norden der Stadt wohnte, in einem schwarzen Hofe, knapp unter den Dachsparren. Die Treppe roch nach Staub, gekochter Wäsche und Karbol, dazu hörte man abends über der Wohnung der Weises die Mäuse nagen, pfeifen und im Sprunge dumpf aufklopfen. Und hier wohnten die herrlichsten Menschen, Menschen von einer solchen inneren Sauberkeit und Helle, daß man die ihnen angrenzende Umgebung nicht verstand und immer in einer Täuschung befangen schien. Die Mädchen, Anna, die ältere, und Luise, die jüngere, einander erstaunlich ähnelnd wie Zwillinge, waren so schön, daß Hey sich schon gedemütigt fühlte, wenn sie nur zu ihm sprachen, obschon das mit der offensten und einfachsten Freundlichkeit geschah. Er war nicht etwa in einem hoffnungslosen Liebesbedürfnis verwirrt, – zu ihnen hätte er niemals den Blick fordernd zu erheben gewagt. Das erstemal kam er im Zylinder, den er sich in der lümmelhaften Anwandlung eines armen trüben Schwartenhalses gekauft hatte. Wenn er sich später vor sich selbst recht schämen wollte, dann holte er ihn hervor und fuhr mit dem Ärmel darüber, bis er ganz blank war.
Bei jenem ersten Besuche strömte sich alles aus, was Hey das Herz bewegte. Hier oben war eine schwebende Insel des Lebenslandes, in dem er sich zur Freiheit der Güte entfaltete, wo sein eingetrockneter Körper zu wachsen und sich zu recken schien, daß er in seinem eigenen neuen, seelenhaft gewaltigen Umriß die alte Kleinheit zurückließ wie einen Kern, der seine Säfte und göttlichen Formgedanken an die umhüllende Frucht weitergegeben hat.
Anna, die ältere Schwester, fragte ihn: „Sie haben niemanden, der Ihnen nahe steht?“
„O doch, einen vortrefflichen Menschen, meinen Freund.“
„Aber nicht hier in der Stadt?“
„Nein. Es ist mein Freund Stallmann zu Hause.“
„Hören Sie nichts von ihm?“
„Er geht seine eigenen Wege. – – Ich kann ihm keine Vorwürfe machen.“
Da er auf die sonderbaren Worte hin nicht weiter gefragt wurde, schwieg er eine Weile und knüpfte errötend das Gespräch dann wieder an.
„Vielleicht hat er mich manchmal verletzt, aber er wollte es nicht. Er war immer viel offener zu mir als ich zu ihm.“
„Ja, Offenheit gehört zur Treue,“ warf Anna ein.
„Glauben Sie, daß nicht auch in der Verschwiegenheit Treue liegen kann?“ fragte Hey schnell und bestimmt, aber dennoch verlegen, „– wenn die Verschwiegenheit nicht heimtückisch ist? Wenn man dem Freunde von sich nichts erzählt, aber ihm zuhört, wie sonst niemand, – wenn man über ein drolliges Wort von ihm so lachen kann, wie kein anderer, – wenn – –“
Hier sprang er auf, die Augen wurden ihm hell, so daß selbst die Haut ihrer Höhlen und die bleiche zuckende Stirne von einem jenseitigen milden Lichte glühten, seine Finger liefen am Hutrande hin und her und rauhten mit ihrem ziellosen Spiele den Seidenstoff auf.
„So soll es sein in der Welt!“ rief er aus, „jeder muß die Freiheit haben, ganz und gar zu tun, was er muß. Wenn eine Tat einem andern wehtut und wenn der andere zum Leiden angelegt ist nach einem weisen Plane, dann soll er ganz und gar leiden. Er soll nicht klagen, er soll nicht weinen. Wenn der Freund des Schwachen so stark war, daß der Schwache nicht einmal einen Gedanken ohne ihn zu haben gewagt hat aus hinnehmender Freundschaft, dann soll er auch nie einen Gedanken gegen ihn haben aus Feindschaft. Wenn er schwach ist an Leib und Leben, dann soll er ganz schwach sein, alles hinnehmen, rein und tragend wie Wasser hinnehmen, – so wird er auch stark, engelhaft stark. Das muß er lernen. Auch ihn braucht die Welt, er ist ihr Blut und ihr Geist, sie kann ohne ihn nicht bestehen. Er wird groß wie ein Berg werden und frei wie die Luft sein. Niemand darf ihn verachten.“
Die zwillingshaft ähnlichen Schwestern hefteten große Blicke auf ihn und schienen zu erforschen, ob er sich gegen insgeheim gefühlte Vorwürfe seines Freundes verteidige oder ob er sich ihm opfere.
Noch einige Male kam er und redete in ähnlicher Weise, prophetenhaft feierlich, wie er es vor anderen Menschen nicht gekonnt hätte, aber da er sich, wie gesagt, seiner Unzulänglichkeit außerhalb der kurzen Erhebung schwer verhaftet, durch die bloße Gegenwart der Mädchen gedemütigt fühlte, blieb er bald weg. Und sie waren doch nur Näherinnen für ein Konfektionshaus, gesellschaftlich nicht besser gestellt als er.
Inzwischen begann für ihn ein häßliches Scharwerken. Er hatte beim Kreisblatt nicht bloß das Setzen gelernt, er verstand auch den Satz so zu ordnen, daß er sich auf den Zeitungsblättern hübsch ausnahm, und beherrschte die Mittel und Kniffe, ihn mit dem Ende der letzten Seite aufgehen zu lassen, wußte auszusparen und kompreß zu machen. Er hatte auch mit den Anzeigen zu tun gehabt, hatte die Kundschaft besuchen müssen, um sie einzuladen, etwas einzurücken, und verstand sich auf Vorschläge, wie man bei geringen Kosten eine große Wirkung ausüben könnte. Somit war er bei seiner Ankunft in Berlin einigermaßen gerüstet. Er nahm sich vor, im Übermaß der Arbeit zu vergessen und es weit zu bringen, zuerst zum Faktor in einer großen Offizin. Aber schnell erkannte er – und diese Erkenntnis war so schmerzlich, daß er nach Feierabend und nachts mit seinem Spiegelbild an der Spree spazieren ging und zu diesem besten Gesellen hinabwollte, da er nicht heraufkam – er sah also ein: saubere Arbeit kannst du machen, aber dir fehlt die schnelle Umsicht, du hast nicht das Glückliche. In solch einer Spalte Satz, die er fest mit dem Bindfaden umschlang und ausband, steckte wohl irgendwie eine Menge Grübelei und klagendes Licht aus ihm, aber wer konnte danach fragen, wem waren sie etwas? Hatte die Handwalze den Korrekturabzug abgenommen, so kam nur fremder Geist zum Vorschein, und was vom eigenen bemerkt wurde, waren die falschen Buchstaben, die er herausstechen mußte. Sein Wochenlohn blieb klein. Er würde sich bescheiden müssen und sah öde Jahre vor sich und ein viele Kilometer langes Band Satz, in dem Buchstab an Buchstaben seine Hände gefügt hatten. Das wollte er nicht. Nicht wieder würde er das Fremde als das Stärkere anerkennen wie damals beim Verlust Martas. Also kündigte er, druckte sich Karten mit der Aufschrift: „L. Hey, Annoncenakquisiteur“ und versuchte es mit der Jägerei auf Anzeigen. Da konnte grenzenloser Fleiß allein viel ausrichten.
Zu den gewaltigen Annoncenexpeditionen, die die Namen der großen Zeitungsverleger tragen und die fast alle anderen vom Markte drücken, fand er keinen Weg. Er mußte mit einer kleinen vorlieb nehmen, die für unbedeutende Blättchen sammelte. Adolf Vieweg & Co. hausten im vierten Hof eines riesigen Gebäudekomplexes. Die Portale an der Straße und in den Quergebäuden waren von oben bis unten mit Firmenschildern bedeckt: Pianos, Pleureusen, Spedition, Steindruck, Lodenzeug, Spielwaren, zwei Rechtsanwaltpaare. – Ganz unten in weißer Schrift auf blauem Schilde war die Expedition angezeigt. Eine Hand mit gerecktem Finger wies aus dem Vorderhause, das mit viel Glas und Eisen Pfeiler aus neuen gelben Ziegeln verband, in ein graues Hinterhaus mit bröckelndem Putz und kleinen Fenstern, und hier wiederholte sich in der Torfahrt das Schild und jene Hand, welche nun in einen Seitenhof zeigte, der nochmals einen Hof oder vielmehr einen Lichtschacht hinter sich hatte. Weil hier uralte Wohnhäuser Stück um Stück zu Geschäftszwecken umgebaut wurden, erinnerte sich Hey den Schacht kaum je ohne Baugerüst gesehen zu haben, und die Sechserrentiers, Modistinnen und Dirnen rutschten mit ihren Wanzen immer höher aus der Sintflut in den Himmel hinauf. Ad. Vieweg & Co. hatten im Hochparterre zwei Stuben inne. Geräumig waren beide, doch dunkel, die eine ein Berliner Zimmer. Das Gas mußte fast das ganze Jahr hindurch auch über Tag brennen. Von vorn knatterte der Lärm herein in das Zwielicht, Rollwagen donnerten, Kisten wurden gekantet, eine krähende Stimme schrie Zahlen, als müßten die wie Soldaten nach ihrem Befehl exerzieren, Arbeitsmädchen plapperten und juchzten, von fern rauschte die Straße in die backsteinerne Muschel. Oder rauschte das heimatliche Dorf, so die horchende Seele mit weichen Tönen überspülend und mit scharfen wundreibend?
Außer einer roten, unbedeckten Chaiselongue und wenigen Stühlen standen in beiden Zimmern nur je zwei gewaltige Schreibpulte mit den Rücken gegeneinander und vor ihnen hohe Drehschemel, gelb wie sie. Auf ihnen saßen fleißige Männer, in ihre Schweigsamkeit hineingetrocknet, gutmütige Ruchlosigkeit in den Augen. Zwei trugen ihre Glatzen wie übergezogene Lederkappen irgendeines teuflischen Mönchsordens, einer rührte seine schon ohnehin unordentlichen schinnigen Grauhaare immer wilder durcheinander, der vierte war Hey. Abwechselnd kletterten sie von ihren Schemeln, schöpften eine Mappe voll Druckpapier und verschwanden in der Stadt. Auf den Pulten nämlich lagen Zeitungen und Zeitschriften in wüsten Haufen, auf dem Fußboden der Berliner Stube in kleinen Bergen, ja sogar hinter der losgerissenen Tapete neben einem Schreibtische wurden Listen aufbewahrt, und auch in den Papiertaschen der vielen Reklamewandkalender steckte Papier und Papier. Es waren Provinzzeitungen, Unterhaltungsbeilagen für den Sonntag, Fachzeitschriften von Eisenbahnervereinen, von niederen Magistratsbeamten, Imkern, Technikern, Konfektionären, Hundezüchtern, Artisten. Die langen grauen Papierscheren fraßen rastlos in den Inseratenseiten herum. Die vier Geschäftsmänner hockten wie verzauberte greisenhafte Störche auf je drei Holzbeinen und jappten und klapperten mit den stählernen Schnäbeln, sie mußten still sitzen, während die zerrissene weiß-schwarze Landschaft unter ihnen langsam fortwanderte, mit muffigem Dufte, verdorben, sich bauschend, stauend und lösend, mit Schattenbildern von Schafen und Pferden, Fischen und Vögeln, mit ausgestreutem Hausrat und Werkzeug. Es gab bei dem Fortrücken Katastrophen, stille Erdbeben, Spalten und Risse, und die vier Demiurgen fuhren dann auch mit dem Pinsel in den Kleistertopf und flickten und leimten.
Das stille Grauen vor seiner Tätigkeit hatte es Hey eingegeben, sie nach der Weise eines hypochondrischen Sonderlings zu betrachten, wenn er ihren Sinn vergessen hatte in der haspelnden Geschäftigkeit. Der Sinn aber war der: zu kontrollieren, ob die Inserate erschienen waren, ob sie bezahlt waren, zu zählen, wie oft sie erschienen waren, zu überlegen, ob neue Blätter anzubieten wären, – Adressen aus Journalen auszuschneiden, die der Firma nicht unterstanden, Anzeigen in redaktionelle Notizen umzuwandeln, Verleger mit der Kundschaft zu bedrohen und aufzuschüren, Kundschaft zu werben, zu verleiten, – unsichere Geschäftsgründungen aufzubauen, Türme aus Worten, Grundbalken aus fettem Druck zu fügen, Farben aus übertreibenden Beiworten aufzupinseln, Erfolge vorzutäuschen, aus nichts etwas zu machen und aus dem Rollen des Geldes hin und her ein paar Münzen für den eigenen privaten Bedarf herauszuhaschen.
Wenn die Akquisiteure mit ihren vollgerafften Mappen hinausstürzten, lagen meist lange Wege vor ihnen, vier Treppen und wieder vier und wieder, hinauf und herab, viele Kilometer in der elektrischen Bahn, im Omnibus, zu Fuße. Sie durchreisten während einer Woche Provinzen in Berlin, während eines Jahres wohl große Reiche. Aus einer Waschküche, die zu einem Atelier werden sollte, stürzten sie zu einer Hebamme, um sie zu betören, eine Pension für schwangere Mädchen zu öffnen, von da in eine Tischlerei, zu einem Quacksalber, zu einem Melonenzüchter in einer Laubenkolonie am Rande der Stadt, sie setzten Geduld gegen zugeworfene Türen, ein Scherzwort gegen eine Grobheit, drängende Überredung gegen Bedenklichkeit. Spät abends kamen sie oft in ihr Büro zurück, und hatten sie einen Klienten nicht angetroffen, so fuhren sie hurtig wohl nochmals aus, um hart vor dem Schließen der Haustür noch rasch wo einzuschlüpfen. Selbst nachts hatten sie zuweilen an ihrer Arbeitsstätte zu tun, mußten dem schlüsselrasselnden Wächter im Düster der Durchfahrten ihres Mauerirrgartens stehen und sich mit der Taschenlaterne beleuchten lassen, um dann, den Überzieher auf dem Körper, unter dem brodelnden Gase noch einmal in dem verfluchten Papiere zu rascheln. Es war ein Rattendasein.
Der Schlaf damals war für Hey keine Ruhe, sondern bloß ein schwarzer Starrkrampf des Gehirns und ein Fortschleudern der schmerzenden Glieder aus einer Hölle in ein Nichts. Abends oder nachts in einem der Höfe zu stehen und unter dem rötlichen Blaken und Zucken der unreinen Himmelsschicht droben zu seufzen, das war das Ausruhen. Er stellte sich vor, daß das Weltmeer so brausen mochte, wie das einsame Papier in den Ohren des Einsamen brauste.
Er hielt aus und war fleißig und verdiente. Hier war der Fleiß, anders als anderswo, nichts als eine immer nachdrückende Energie. Die gewann er aus seiner Sucht, zu vergessen. Dulden konnte hier Eile sein, sich nicht wehren Gewalt, denn die Bahnen gingen für jeden gleich schnell, die Menschen, die zu betören waren, blieben dieselben vor noch so wechselnden Formeln, Anpreisungen, Kalkulationen, Mustern. Ja, oft errang Hey dadurch einen Sieg, daß er den Menschen leid tat. Der Unglückliche reiste auf Mitleid. Er log traurige Gesichter, machte staubige und verschlissene Stiefel zu Gehilfen, die mit ihrer Stummheit für ihn redeten und ihm eine Mühsal abnahmen. Das war seine Hölle, das war die Strafe für seine Untreue gegen Stallmann, denn er fühlte Untreue trotz allem.
Wenn er auf den obersten Treppenabsätzen sich vor Atemlosigkeit an die Brust griff, verriet er ihn und hielt mancher blumenstreuenden Flora im Milchglas eine geballte Faust entgegen, und war er auf den untersten, so hatte er ihm vergeben und drückte seine vor Scham und Rührung heißen Augen zu.
Krankheiten zehrten öfters das Ersparte rasch auf, es wuchs auch so nicht schnell genug an. Von langunterdrücktem Widerwillen geschüttelt, sattelte er wieder zur Druckerei um und ging dann wieder zurück zu Vieweg & Co. und nochmals lockten ihn hier in diesem Gewölbe – Hey ergriff mich bei der Hand und zog mich fort: „kommen Sie, sehen Sie“ – hier diese drei schmutzigen Wasserhähne und diese drei klebrigen schwarzen Ausgußbecken darunter: da konnte man vor der Mittagspause und vor Feierabend die Hände in einen strullenden Wasserstrahl halten, sie im Sauberen, Kühlen reinigen, sie an einem Handtuch trocknen und hatte Ruhe. – So war er dreimal hier in der Druckerei in Stellung, vom Chef mit Nachsicht, Geduld und speilzähnigem, eisigem Mitleid immer angenommen. Er sehnte sich vielleicht sogar nach dem Hohne dieses Mitleids und fühlte, was er sich heuchlerisch verbarg: soweit kann es mit einem Unglücklichen kommen. Das letztemal ließ ihn der Chef gar nicht mehr ins Kontor, wies, ohne sich zu erkundigen, mit dem Federhalter in den Arbeitsraum und sagte: „Na, gehen Sie nur hinein. Ihr Kittel wird vom vorigenmal wohl noch im Schrank liegen.“ Die Kollegen beachteten ihn nicht weiter, nachdem sie ihn mit höhnischen Mienen zwischen sich eingelassen hatten. Sie knüpften erst spät ein Gespräch an, wo es vor langem abgebrochen war, erinnerten sich beiläufig und nebensächlich an ein Versehen, das ihm zulasten lag, – er war wie ein Quartalsbettler wieder da. Die Schwungräder drehten ihre schwarzen Zirkel in einer Sphäre von Fettdunst wie vor Hunderten von Tagen und glichen dem angeknüpften Gespräch, die Wagen der Pressen fuhren noch immer und waren nicht vom Flecke gekommen, die Treibriemen schwankten von der Transmissionswelle herab wie immer. Kam er wohl wegen der Demütigung? Und um sich dann für die Demütigungen zu rächen?
Er schleppte Stallmann in Gedanken dort an die Schneidemaschine, duckte ihn unter das Messer, legte den Hebel herum, die Elektrizität surrte hinein – –
Ein Rollkutscher mit steifem Lederschurz trat herein, zeigte ein Formular zur Unterschrift vor und wurde an Hey gewiesen. Der unterzeichnete. Er führte mich ans Fenster und zeigte mir auf dem Hofe die vielen, wohl zwei Meter langen und einen Meter breiten und hohen Packen, die eben von einem Lastwagen geladen wurden. Dünne weiße Bretter klemmten das Papier zusammen. Stricke waren herumgewunden.
„Das sind dreihunderttausend Bogen,“ sagte Hey. „Die müssen in dieser Woche über die Walze laufen. Um Sie zu ängstigen: währenddessen kann man viel erzählen. Wir werden öfter bis Mitternacht durcharbeiten müssen, das heißt, nur die Pressen und ihre Bedienung und ich als Polizist. – Karl!“
Der Knabe kam heran. Hey legte ihm die Hand auf den Kopf.
„Hör, mein Junge, heute ist Pelzer nicht da. Ich sorge mich, daß er vielleicht krank ist. Wenn er nun einen neuen Schlaganfall bekommt, wegen der gestrigen Aufregung, sind du und ich schuld. Nein, du nicht, mein Junge.“ Dabei nahm er seine Wangen zwischen die Hände und klopfte sie. „Na geh.“
Ich spürte eine leise Bängnis in seinen Worten zittern, die aber aus der Erinnerung herauf witterte und sich in der vorgegebenen Sorge zu verhüllen trachtete. Ich verabschiedete mich, um meine Mahlzeit zu nehmen, und als ich gegen Abend wiederkehrte, waren alle Pulte leer und die Gasflammen über ihnen gelöscht. Nur die Maschinen gingen und glichen unbeholfenen Meertieren, welche pfauchend auf die Dunkelheit zuschwammen. Da die Stockwerke unter uns jetzt alle von den Arbeitern verlassen waren und mit Stille und Leere innerhalb der Schallböden der Zwischendecken eine ansaugende Kraft auszuüben schienen, scholl das Getöse ängstlich und verstärkt, bebte das Haus tiefer und einsamer hinab. Ich sah die Schornsteine in der Phantasíe bis unten als Türme und die Wände als hohe Umfassungsmauern hinabverlängert. Wir befanden uns, gleichsam durch keinen Fußboden getragen, fast wie schwebend ganz in der Höhe, über geheimnisvollem Finster, mit unserem zwielichten Schachtelwerk von Setzkasten und mit den schwarzen Polypen der eisernen Öfen.
Hey saß regungslos in seiner Ecke, beinahe unter den Tisch geduckt, und hatte offenbar schon auf mich gewartet. Marta, die doch nur wenige Schritte von ihm entfernt saß, schien durch Meilen von ihm getrennt. Mein Blick zwischen ihr und ihm hin und her wurde von ihm in fieberhafter Wachheit richtig gedeutet. Er knüpfte an: „Ja, sie sitzt mit mir unter einem Dache und lebt doch mir unerreichbar wie damals in dem fernen östlichen Dorfe.“
Wenn er sich nicht schämte, ein letztesmal in sein Annoncenwesen zurückzuwechseln, so geschah auch dies nur darum, weil er heimlich die ganze Zeit über von dem Plane besessen war, Ferdinand Stallmann mit hineinzulocken. Abgetrieben und müde wünschte er unter Schmerzen oft, jener möchte auch einmal erproben sollen, wie traurig und schwer es ein Mensch haben könne. Dann rettete er sich rasch die Bestätigung seiner Anständigkeit mit der Beruhigung: du spielst! Stallmann ist ja räumlich zu weit vom Rande des Strudels, des schmutzigen, um hereingerissen zu werden. – Aber aus dem unterirdischen Gewühle filterte sich ein süßes Gift und stieg in seine Seele.
Das alles war so gekommen:
Stallmann hatte sich wiederholt in Briefen an ihn über die Eintönigkeit seines Lebens auf dem Lande beklagt. Marta erwähnte er nie, und auch von einer bevorstehenden reichen Heirat war nicht die Rede. Wenn Hey einen solchen Brief gelesen hatte, rieselte Beruhigung wie ein sanftes Kitzeln, wie das Ziehen bunter Schlafnebel durch alle seine Glieder. Eine Hoffnung regte sich in ihm, daß sich Marta einmal vielleicht doch zu ihm wenden werde, Marta, der er keine Zeile sandte, um von ihr nicht die Qual ihrer Enttäuschung durch Stallmann zu hören. Und befriedigt durch die Briefe des ehemaligen Freundes, antwortete er immer sogleich und immer nahezu dasselbe, von seiner Gewissenslast für eine Stunde befreit: ich habe viel zu arbeiten, aber es ist mein Wille; ich sehne mich nach euch, ich möchte dir wieder gerne zuhören, so, wie dir sonst ja doch niemand zuhört, ich möchte wieder über einen Scherz von dir lachen, wie sonst ja doch niemand darüber lachen kann.
Das war so ehrlich gesagt wie empfunden. Er trug oft ein wochenlanges Begehr nach dieser inbrünstig wiederholten Reinigung und Feiertagsbeichte und beschenkte an solchen Tagen der Fröhlichkeit die Arbeitskameraden, die blinden Straßenverkäufer und die Sperlinge auf dem Damm.
Eines Tages schrieb ihm Stallmann, ihm behage die Zieglerei nicht mehr. Auch er würde gern wieder in Heys Nähe sein. Ob er nicht in Berlin eine Tätigkeit für ihn wüßte, die ihn wirtschaftlich rasch weiterbringen und aus dem Bäurischen ins Weltmännische befreien würde? Denn das, was er in Drechslers Hause einst zu schmecken bekommen hätte, kreise in seinem Blute weiter.
Hey wurde durch die Anfrage peinvoll erregt. Wie sollte er einem anderen raten, er, der sich selbst nicht zu raten wußte? Er fürchtete sich, Stallmann gegenüberzutreten und seine Stimme zu hören, aber er sehnte sich auch, das in seinem Heiligsten erstrebte Ideal seines Menschentums gegen harte Versuchungen zu bewähren.
Und er schrieb: „Komm! Werde zunächst ein Anzeigensammler wie ich. Ich zeige dir alles. Du bist gesund und ausdauernd. Bald haben wir unsere eigene Expedition. Wenn wir fleißig sind, werden wir schnell viel Geld und Einfluß erwerben. Du wirst über diesen Vorschlag staunen, du wirst zögern und dich sträuben, aber mancher Lebensweg ist um eine so scharfe Kurve auf die glatte breite Bahn gemündet. Sei entschlossen. Komm!“
Bevor er den Umschlag gefeuchtet hatte, traten die Schwestern Weise ganz unerwartet in seine Stube. Sie hatten aus dem Adreßbuch seine Wohnung erfahren und kamen fragen, ob er durch Anna, die zu ihrer kränklichen Tante in sein Heimatdorf fuhr, um ihr die Wirtschaft zu führen und sich zu erfrischen, Grüße zu bestellen habe, so wie er ihnen einst Grüße gebracht habe. – „Ja, viele Grüße,“ erwiderte er fieberhaft unruhig und unter wiederholtem Danke für die Ehre des Besuches. Anna möge den Brief an seinen Freund Ferdinand Stallmann mitnehmen, – welch ein schöner und außerordentlicher Zufall! – und sie möge ihm ja mit allem Nachdruck zureden, nach Berlin überzusiedeln. Er vergaß, die Mädchen zum Sitzen einzuladen. Nachdem er ihnen Stühle zurechtgerückt hatte, trug er diese zerstreut wieder an ihre Plätze, begleitete den Besuch barhäuptig fast bis nach Hause, rühmte übertreibend den verheißungsvollen Zukunftsplan und ließ sein Herz in der Darstellung gebender und duldender Freundschaft wieder überfließen.
Monatelang vernahm er aus der Heimat nichts, Stallmann schien durch den phantastischen Antrag verstimmt. Dann aber teilte er ganz plötzlich kurz mit, er wage die Übersiedlung auf Heys Verantwortung, und er werde Marta als seine Frau mitbringen. Er bat Hey, zur Hochzeit zu kommen und ihnen behilflich zu sein.
Hey begriff nichts.
Vor seiner Flucht nach Berlin hatte er nur das eine bestimmt gewußt: nie nahm Stallmann Marta zur Frau. Hätte er nicht für sie diesen unabwendbaren hündischen Schmerz voraus gelitten, er wäre im Dorfe geblieben.
Eine unerklärliche gespenstische Angst befiel und lähmte ihn. Im Büro brüllte ihn der Glatzkopf an: „Hey!“ –
„Ja.“
„Ist das ein Tintenfaß?“
„Ja.“ –
„Ist dieser Federhalter ein Eiszapfen?“ – „–“
Er kam an einer Schmiede vorüber, und ihm war, als sähe er auf dem Amboß menschliche Glieder glühen, die in eine andere Form umgeschmiedet wurden.
6
Verschmäht von Ferdinand Stallmann, hatte Marta es schwer und wartete auf ihn. Hey wußte, wie sie gewartet hatte, jahrelang. Sie hat später erzählt, wie es gewesen ist, mit kurzem Wort und langem Schweigen. Die langsame Folter leuchtete von irgendwoher auf dem Grunde ihrer Augen wider.
Ihre Eltern, die ehrbaren Gastwirtsleute, hausten in der Stube hinter der gelben Tombank und wiesen sie mit ihrer nüchternen Geduld ab. Herr Drechsler empfand, daß seine Güte drei Menschen abseits geführt hatte. Hey war verschollen und wohl zerschellt, Stallmann mürrisch in sich gekehrt und Marta mickerte unjugendlich wie in einem luftleeren Raume.
Die Wand eines Schrankes mit buntfarbigen Schnapsflaschen begrenzte die Welt hinter ihrem Rücken. Und vor der Tombank war diese Welt auch zu Ende. Keine Unfreundlichkeiten zumeist kamen aus dem Munde der Gäste, aber manchmal eine Zudringlichkeit und allerlei naseweise Wissenschaft. Sie hatte in dem Gang hinter ihrer Tombank, dieser Schranke vor dem Leben der anderen, gern ihr Kind bei sich, hatte hier am liebsten eine Näharbeit für den Kleinen auf dem Schoße. Noch nachts, wenn keiner mehr kam, hatte sie am liebsten dort ihren Aufenthalt, stellte eine Lampe vor sich, arbeitete, sah in die reifenden Ebereschensträuße und die unter dem Monde reisenden Schatten draußen oder legte den Kopf auf den Ladentisch.
Hey war in diese Zeit ihres Lebens nachträglich oft eingekehrt und meinte bei ihr gewesen zu sein. Sie war sehr tief verwundet, es quoll ein Tränenschein aus ihr wie ein Mondhof. Sie sagte, manchmal, wenn die Leute aus Nachbardörfern gefahren gekommen wären und ihre Pferde draußen vor die Krippe am Schlagbaum gebunden hätten, da wäre es ihr gewesen, als hätten die Pferde nicht an Häcksel und Hafer, sondern an ihrer Seele gefressen, die sich fort und fort sehnte. Ganz deutlich hätten sie in ihr gestanden.
Niemand erfuhr je von diesem Irresein, Ferdinand nie, niemand außer Hey, – er zu einer Zeit, als sie noch viel tiefer geschlagen war.
Das geschah, nachdem sie wohl schon aufgehört hatte, auf Stallmann zu hoffen.
Diesen faßte eine neue Leidenschaft, nein, diesmal eine Liebe.
Das war damals, als Anna Weise aus Berlin ins Gutsdorf kam. Er empfing von ihr Heys Brief, las ihn, hörte Annas mündliche Ausrichtung an, drückte ihre Hand, forschte in ihrem Gesicht, sagte: „Das ist ja alles Wind“ – und blieb bei seiner alten Arbeit im Dorfe.
Man sah Anna und Ferdinand Stallmann gar nicht viel zusammen, aber wenn er Marta traf, pfiff er vor Verlegenheit und Frechheit. Er wollte Anna zur Frau, so kam es Marta zu Ohren, und damals schrieb sie an Hey doch, den einzigen Brief in all der Zeit, der gar keinen Sinn hatte als den einen, ihm ihre Verzweiflung darüber mitzuteilen. Aber sie behielt ihn in ihrer Tasche und zerknitterte ihn; es tröstete sie, ihn noch zu fühlen: noch war ihre Hoffnungslosigkeit nicht eingestanden und nicht endgültig.
Und an einem furchtbaren Morgen war ihr Schicksal zwar nicht gewendet, doch in die frühere düstere Reglosigkeit zurückgesunken: Anna war tot. Sie war, so berichtete das Dorf, mit dem mürben Bretterbalkon, der sich vor dem Taubenschlage am Giebel ihres Hauses befunden hatte, heruntergestürzt, hatte das Genick gebrochen und den Schädel gespalten.
Sie wurde begraben. Die Sonne zählte die Sandkörner des Hügels alle Tage, und sie hielten reglos still. Hatte sich Marta darin getäuscht, daß Anna mit Ferdinand so schicksaltief verbunden gewesen war? Ja, er war wohl erschüttert und so schweigsam, daß die Tasse und das Brot vor ihm auf dem Tische dagegen schwatzhaft heißen konnten, aber unbegreiflich, er war vor dem Begräbnis schon zu ihr gekommen und hatte sie gefragt, ob sie sein Weib werden wolle.
Marta war gebannt und mußte sein Kommen, seine Worte voll Trotz und Zwang als eine unheimliche Huldigung verstehen, als eine Abbitte, die wider Willen zerknirscht und hoffärtig zugleich war. Da öffnete sie die Lungen in weitem Zuge, und ein himmlischer Wind, beladen mit Botschaften des abgewehrten Glanzes draußen, blies herein und rührte in ihr die verdorrten Abbilder dieser Glanzwelt an, daß sie auferstanden, bis das Weib ganz und gar nur Anschaun ohne Besinnung und Gedanken war. Gegen alle Menschen besaß sie immer einen selbstsicheren Stolz, nur gegen Stallmann nicht, sie hatte ja gewartet, durch Jahre bereit, ihm zu folgen, wie einer, der seinen Fuß erhöbe und gebeugten Knies, bevor er die Sohle auf den Grund setzte, tausendmal die Sonne untergehen und die Wolken oben und die Felder unten gären ließe, bis der verschwundene Grund den Augen wiedererschien. Denn nur die Fortsetzung ihres Weges der Besessenheit war ihr wirklich, und was sich nebenan regen mochte, war nicht ihr Gesetz.
So näherte sich der schreckliche Hochzeitstag, und Hey kam.
Nicht im Hause der Braut sollte die Feier stattfinden, sondern beim Ziegler. Als Hey sich bei Ferdinand nach dem Grunde erkundigte, erfuhr er, es müsse noch ein Brand Ziegeln fertig werden vor der Abreise aus dem Dorfe. Im Ofen rauschte und krachte schon seit Tagen die Glut, und der Ziegler mußte in der Nähe sein, um sie zu regeln.
Wozu aber der überhastete Aufbruch? Kisten und Kasten standen gepackt. Marta hatte rote Wangen vor eiligster Arbeit. Sie tat willenlos, was Stallmann forderte. Hey fragte sich immer wieder: Weshalb diese Hast, die einer Flucht glich? Weshalb noch der Brand? Weshalb dieses Meiden des Brauthauses? Stallmann wußte Antworten, aber Hey fühlte tief beklommen: er log. Finstere Brände gehetzter Unruhe gerannen in seinen Blicken immer wieder im Nu zu Blei. Hey hatte den Eindruck, als wollte er etwas aus seinem Hause nicht in ein anderes tragen und als wollte er möglichst bald auch aus dem seinen heraus. Und schon in den ersten Stunden seiner Anwesenheit hatte er erfahren, daß Stallmann in Berlin noch keine Unterkunft besaß.
Hey jagte daraufhin zurück nach Berlin, auf zwei Tage, um Stallmanns eine Wohnung zu nehmen. Aus seinem früheren Verkehr bei Weises wußte er, daß er am besten dort zuerst früge, wenn gleich es ihn bedrückte, daß Anna inzwischen in ihren Tod gefahren war und ihre Mutter zu ihrem Begräbnis, ohne daß er etwas davon geahnt hatte.
Häufig ist ja hier in Berlin eine größere Wohnung an zwei Parteien vermietet. So war es bei Weises. Der lange Korridor war durch eine nachträglich eingebaute Mitteltür geteilt. Weises bewohnten die hinteren Räume, die Türen zu den beiden leeren Vorderstuben und der diesen gegenüberliegenden Küche hatte er offen gefunden, solange er das Haus kannte. Ob in ihnen noch der Geist Annas emsig war, die er dort öfter, wie sie den Fußboden wischte und die Fensterscheiben putzte, angetroffen hatte? Ob sie Stallmann und ihrer Nebenbuhlerin eine Heimstatt zubereitete? Ob die Stuben ihm wieder den Eindruck der Verwahrlosung machen würden wie früher, trotz ihrer Sauberkeit? Die Decken waren nach dem Abzuge der letzten Bewohner neu geweißt und die mißfarbenen Tapeten dabei bespritzt worden. Eine Trittleiter in der einen, ein paar Bretter in der anderen schienen Hey, der von einem düsteren Vorgefühl gequält wurde, zusammenzugehören und konnten irgendwie zu einem Windmühlengespenst zusammenwachsen, das man zerrissen hatte. Die Leierkastenmusik von draußen und die Streifen des Sonnenscheins hatten etwas Menschenfeindliches. Er verweilte mit den in Trauer gekleideten Weises in den Stuben. Ihm war, als gälten die schwarzen Gewänder Marta, die gestorben und begraben wäre. Sie freuten sich zuerst, daß der Mann, der ihrer Anna nahe gestanden hatte, zu ihnen zöge, dann wunderten sie sich, daß die Hochzeit so bald stattfinden sollte, dann erwogen sie, daß ihnen schließlich nur Gerüchte von einer Freundschaft zwischen Ferdinand und Anna zu Ohren gekommen waren.
Der Hauswirt war froh, endlich Mieter gefunden zu haben. Hey stellte mehrere Koffer und Pappschachteln mit Hausrat, die er gleich mitgebracht hatte, mitten in das größere Zimmer und fuhr zurück in die Heimat.
7
Die Hochzeitsstube im Zieglerhause war der Braut und Hey unheimlich, als arbeitete in den Wänden und Möbeln eine unsichtbare Feuersbrunst, die nicht ersticken und nicht herausbrechen konnte. Die Gäste, die ehemals die Schulkameraden der Brautleute hätten sein sollen und es nicht gewesen waren, saßen am gedeckten Tisch fest beim Biere, nur der Platz des Bräutigams war fast immer leer. Er mußte oft nach dem Feuer sehen, das wußte jeder, und besonders feierlich nahm man die Hochzeit ohnehin nicht, doch Hey hatte keinen Zweifel, daß Ferdinand es darauf anlegte, sich seiner Gesellschaft zu entziehen. Eine laute, gereizte Unbehaglichkeit breitete sich rasch aus. Herr Drechsler unterhielt sich mit der jungen Ehefrau, Stallmanns Vater, über die Schwiegertochter enttäuscht, saß mürrisch hinter seiner großen Nase, Martas Eltern hatten sich mit sanften leidseligen Entschuldigungen früh aufgemacht. Die jungen Burschen hielten die Weiber umfaßt, wiegten sie und lallten nach den weinerlichen Weisen einer Harmonika. Als der Spieler zwischen Polka und Krakowiak ein sentimentales Lied zu dudeln anfing und ein Gegröle anbrach, hieb der Vater mit der Faust auf den Windbalg, daß alle ihn von der Seite ansahen. Da trug Hey mit Marta die Wiege Karls hinaus in den warmen Ziegelofen, damit der Knabe Ruhe und Schlaf fände. Die Tür zur Schlafstube blieb offen. Man sah das Bett und daneben mehrere gepackte Kisten. In der blaugestrichenen Wohnstube waren schon die Bilder abgenommen, und wo sie gehangen hatten, leuchteten jetzt scharfe, reinfarbige Flecke. Bloß ein Öldruck, die Darstellung einer Überschwemmung mit Weidenstümpfen, die aus dem Wasser ragten und in deren einem ein Hase saß, ferner eine Kuckucksuhr mit sehr geschäftigem Pendel hing an der Wand. Das waren die Stücke, die in der Wirtschaft des Alten zurückblieben.
Hey ging mehrmals hinaus, um den Hochzeiter hereinzuholen. Das geschah, wenn Herr Drechsler aus immer neuer Unruhe ihn fragte, warum Stallmann jede Hilfe und Vertretung für heute abgelehnt habe.
Stallmann trieb im Ofen ein befremdliches Wesen. Bald stand er tiefsinnig da, bald rannte er hin und her wie ein Insekt, das wir nicht verstehen.
Trat man in den Schuppen, so starrten einem aus dem Hintergrunde vier große Feuerlöcher entgegen, die mit lautbrausender Glut angefüllt waren. Unsichtbare Säcke voll Hitze gleichsam bauschten sich hervor. Rechts lag ein Haufe knorrigen Klobenholzes. Links befand sich eine Bank aus einem schwanken unbehobelten Brett auf Pfählen, die in den harten Lehmboden hineingerammt waren. Davor stand die Kinderwiege. Karl schlief. Die Hitze am Fußende reichte nicht bis zu ihm, und der sommerliche Vollmondabend am Kopfende konnte ihm auch nicht schaden. Stallmann hatte ihn während der jüngsten Wochen schon oft an seiner Arbeitsstätte gehabt, ihn auch abends auf einem Heulager gebettet, mit einem Mantel bedeckt und im Schlafe viel betrachtet, zur stillen Freude der Mutter. Gleichwohl, heute litt sie daran, daß Karl wie eine Waise nirgend die rechte Stelle hatte, weder in ihrem Hause noch in dem des Zieglers. Doch sie schien willig einer schwülen Betäubung stillzuhalten und nicht fragen zu wollen. Sie saß bescheiden da, ging auch nicht zu ihrem Manne hinaus und schien an der Uhr doch immer die Zeit ablesen zu wollen, wann dieser Gang dennoch schicklich sein möchte.
Vielmehr Hey ging zu einem ersten Male, und in dem ungewissen Gefühle, als müßte er unheimliche Spannungen vor ihrer Entladung behüten, trug er eine künstliche Eulenspiegellaune vom Hause in den Ofen. Er blieb in der Tür stehen, pfiff den Ziegler zimperlich an und winkte ihm mit dem Finger. Stallmann sah und hörte nicht. Im festlichen Gehrockanzuge, groß, dunkel im ganzen Gesicht durch seinen Voll- und Rahmenbart, zog er eine Klobe mitten aus dem Stapel und warf sie wie in Wut ein, trat eilig wieder auf den Holzhaufen zu, nahm eine andere, horchte, stutzte, warf sie zurück. Er ging auf die Wiege zu, stieß sie leise an und sah dann vor sich hin. Hey trat nun aus dem Schatten, scharrte mit dem Fuße auf der Erde, an der Stelle, an der Stallmanns Augen hafteten, und sagte: „Da muß doch ein Schatz begraben sein.“ Stallmann sah den Freund zuerst zerstreut an, dann lächelte er. Hey schob ihn hinaus mit allerlei Geplapper und bestimmte: „Nun heize ich eine Weile.“ Der andere war wortlos einverstanden.
Der Knabe, zu lang schon für die Wiege, während er so zwischen Mond und Ofen wie zwischen einem himmlischen und einem höllischen Feuer dalag, tat Hey leid. Plötzlich machte Karl die Augen schnell groß auf und schloß sie gleich wieder. Da er aber den Buckligen anstatt des Vaters erblickt hatte, setzte er sich auf. Er hatte vor Stallmann Scheu, ja Furcht, und als er vorhin einmal erwacht war, ließ ihn das Alleinsein mit ihm nicht mehr einschlafen. Er hatte sich nur schlafend gestellt. Hey befragte ihn nicht, sondern beruhigte ihn, und schließlich versprach er, ihm aus dem kleinen Stück Wurzelholz, das er eben in die Hand genommen hatte und, anstatt es ins Feuer zu werfen, gedankenlos mit dem Taschenmesser bearbeitete, etwas zu schnitzen. Der Hauptstamm war besenartig von fünf Wurzelausläufern umgeben. Gehörig gekürzt, wandelten sich die untersten in ein paar dürre Beine, die beiden höher ansetzenden in magere Arme und der oberste in eine lange platte Nase. Ein Paar weiße Augenlöcher waren rasch ausgepickt, ein Mund durch zwei Querstriche angedeutet und ein Hals durch eine tiefere Kerbe rund um den Ast dazugefügt. Der Wurzelgeist täuschte eine unheimliche Lebendigkeit vor; und um ihm eine passende Herkunft anzudichten, gehörte in dieser silbernen Stunde nicht viel Phantasie dazu, ihn als den Mann im Monde zu erklären. Der Knabe, obschon er nichts sagte, war dem Erzähler sehr dankbar, legte das Geschöpf zu sich aufs Kopfkissen und schlief unter Heys Geschwätz bald ein. Er hat auch nachher die Puppe lieb behalten und sie, wenn er in der folgenden ernsten Zeit recht einsam wurde, viel zu sich genommen. Für Hey war die Schnitzelei eine Art Befreiung aus peinvoller Gegenwart und der Ausdruck der Sehnsucht, in irgendeine leichtere, sonderbare Welt eintreten zu dürfen.
Kurze Zeit nach dem Einschlafen des Kindes sah er Stallmann draußen am Rande des Teiches hingehen, zwischen den Erlen und Birken. Die Frösche knarrten laut, fast schnatternd, als würde vielleicht eine Scheibe Glas immer tiefer und bedrohlicher auf sie hinabgedrückt. Doch achtete Hey darauf nur, weil er sich die Flucht Stallmanns von seinen Gästen weder erklären konnte noch wollte. Und schon kam der ruhelos Wandelnde zurück.
Er schlug seine beiden Hände dem Freunde schwer auf die Achseln und röchelte fast:
„Hol Marta!“
Hey starrte ihn an und brachte kein Wort heraus.
Stallmann ließ ihn nicht los, seine Hände krallten sich in seinen Rock. Er plapperte in sich hinein:
„– morgen früh? – erst morgen? – Warum erst morgen? Es ist Zeit!“„Was ist?“ stotterte Hey.
„Marta sollst du holen!“ befahl er hart und kalt. Dann, grausend: „Du! – Lauf nicht! – Hey, bleib doch noch! – Du, sieh mal! – – Hast du Angst? – Na ja, komm noch mal zurück. Sieh mal – –“
Hey hatte sich losgerissen, war vor der Tür, und als er sich umwandte, sah er den verstörten Stallmann beide Arme, an denen die Hände mit aufgeschwollenen Adern klumpig herunterhingen, steif ausstrecken. Mit angestrengt leiser, dennoch rauher Stimme, über die er offenbar keine Gewalt hatte, weil seine Gedanken, hingerissen, schwierige Bahnen gingen, fragte er: „Willst du Marta holen?“
Er fuhr sich mit der Linken über die scharfen Augen und kehrte sich zum Feuer. Die Pupillen saßen wie frierende Füchse in dem kleinen, doch schaurigen Schneefelde des bläulich Weißen.
Hey ging klopfenden Herzens zum Hause, trat behutsam in den Flur und überlegte, unter welchem Vorwande er Marta herausbekäme. Sein Eintreten wurde gar nicht bemerkt. Die Gesellschaft hatte dem Biere übermäßig zugesprochen und tanzte. Herr Drechsler saß rittlings auf einem Stuhle und hatte das Kinn an die Lehne gelegt. Er führte mit dem alten Stallmann ein oft unterbrochenes Gespräch.
Marta hatte viel tanzen müssen, war erhitzt, und niemand nahm es übel, wenn sie sich abkühlen ging. Sie schlüpfte hinaus, als sie gemerkt hatte, daß Hey ihr etwas vertrauen wollte. Hey faßte sie bei der Hand, und sie schritten durch die Mondhelle, schweigend, ohne einander anzusehen.
8
Sie fanden Stallmann jetzt in entschlossener Ruhe neben dem Holzstoße stehen. Marta setzte sich, wie wenn sie etwas Schweres ahnte, auf die Bank hinter der Wiege ihres Kleinen.
„Du mußt deiner Wege gehen,“ begann Ferdinand. „Ich habe ja heute doch nur die Hochzeit mit der Toten und das Begräbnis der Lebendigen gefeiert. – Schläft er? Was hat er da für eine Puppe?“
„Ich habe sie ihm geschnitten.“
„Wird niemand aus dem Hause zu uns kommen?“
Die beiden Befragten schwiegen. Marta starrte Stallmann an, während sein Blick sie vermied, Feuchte zerteilte sich in ihrem weitoffnen Auge.
„Nie habe ich jemand lieb gehabt außer Anna,“ fuhr er hart fort. „Ich habe ihren Tod verschuldet, ich habe Gräßliches mit der Toten getan, und um alles zu verdecken, habe ich dich gefreit, Marta; da sah ich Blut in deine Züge steigen, – das hatte ich vorher nicht bedacht. Aber die andere lebt, wenn sie auch schon verwest. Es führt kein Weg zu dir und auch keiner zu ihr.“
In sein Sprechen klang ein verzweifeltes Winseln Martas, zuerst leise, wie der Strich eines fernen Stromes in Schluchten, dann allmählich so laut und von solchen Schrecken des Schmerzes erfüllt, daß er seine Worte abbrach.
„Warum schlägst du mich so sehr?“ stöhnte sie, „warum tust du das an einem armen Menschen? Ich stehe ja bloß so klein da in der hohen Welt. Warum schlägst du mich so sehr?“
Sie ließ sich auf die Bank sinken, und neues Weinen schüttelte sie in immer heftigeren Schauern und Stößen.
Namenloses schnürte Hey die Kehle zu und ließ kein Blut in seine Hände. Er hätte Marta streicheln, küssen und forttragen sollen, aber solange das Gericht, das hier gehalten wurde, nicht zu Ende war, ließ es ihn nicht von der Stelle.
Jetzt erzählte Stallmann, in langen Stößen meist, zwischenein jäh abbrechend. Marta blieb liegen und schien gar nichts zu hören. Nur schüttelte sie manchmal den Kopf in den angekrampften Händen, und ihr qualvoll breitgezerrter Mund tauchte dann ein wenig herauf. Die Augen aber vermehrten die Flut, die auf der Erde bleibt, auch wenn eine Menschenquelle um die andere versiegt, weil neue Quellen aufspringen, – die Flut, die alles Trockene und Heitere glänzen macht, weil sie es umgibt. Der kleine Körper der Frau wurde für Hey von da ab etwas sichtbar Göttliches, und Ehrfurcht ließ ihn Abschied nehmen für immer. In seinem persönlichen Leben hatte sie keinen Raum mehr, – er lernte dann später, daß er ein einsamer Mensch sei, von Grund aus, nicht durch Erfahrungen. In seine schwebende Wehmut scholl die feindliche Stimme:
„Ihr wißt, wie Anna zu Tode gekommen ist, – als ein Opfer der Taubenliebhaberei. Was ihr glaubt, das ist nicht wahr.“
Bei den Tauben hatte er sie kennengelernt. Als er sie zum erstenmal sah, stand sie auf dem Hofe, hielt die Futterdose in der Hand, und aus dem Schlag im Giebel flatterte der Schwarm herunter, plump, drollig daherschwirrend wie aufgezogenes und weiß und grau lackiertes Spielwerk aus Kork. Die Tiere saßen ihr zu Füßen, nickten ihr auf Händen und Schultern. Sie spitzte den Mund und konnte vor Lachen nicht pfeifen. Als sie satt waren, flogen sie wieder in die Höhe und spazierten mit behaglichem Gurren auf jenem gitterlosen Bretterbalkon vor ihrem Schlage, der so morsch war, daß niemand es wagen durfte, aus der Taubenstube auf ihn hinauszutreten. Sie spazierten für Stallmanns Augen noch, wenn es den Balkon auch nicht mehr gab, sie spazierten unverscheuchbar in der Sonne, selbst bei Regen in der Sonne, selbst bei Nacht. – – Die Tiere trug der morsche Söller, und brachen die Stützbalken –: wer Flügel hat, kann auffliegen. Vielleicht wäre auch sie, die keine Flügel hatte, aufgeflogen, wenn die Bretter unter ihrem Fuße nachgegeben hätten, aber sie hatte die Bretter gar nicht betreten.
Als Stallmann Anna das zweitemal sah, führte sie ihn im Hause die Treppe hinauf und zeigte ihm die Taubenstube. Es roch dort scharf nach feuchten Federn und Stroh. Auf beiden Seiten waren Verschläge, wie offene Schränke. In vier oder fünf Nestern saßen die brütenden Mütter. Aufgeregtes Flügelklatschen traf die Eingedrungenen an Gesicht und Beinen, ängstliches Gurren umgab sie; es klang wie Winseln. Das Mädchen rollte die Laute aus ihrer Kehle mitleidlos und drollig nach, streute Körner hin und suchte die Tiere zu streicheln. Der Raum, der von ausgefallenen Federn und altem Kote weiß und grau war, würde für Stallmann ein lebenslängliches Gefängnis werden, wo er auch weilte, angewachsen wie eine zweite Haut.
Er hatte Anna lieb von Anfang an. Eine Zeit weiter trug sie ein Kind von ihm.
Sie erzählte es ihm erst, als es schon ziemlich weit damit war. Ihn ahnungslos und um nichts besorgt zu sehen, hatte ihrer wissenden Zärtlichkeit wohlgetan. Das Geständnis tat sie ihm wiederum bei den Tauben. Er freute sich nicht. Er brummte, warum sie nicht früher geredet hätte, damit man rechtzeitig hätte Hochzeit machen können. So gäbe es wieder ein Gespött über ihn als den Vater lediger Kinder. Sie erbleichte und gab ihm keine Antwort. Aber als nachher die Tante zu ihnen in die Stube trat, vertraute sie sich auch dieser an.
Die alte fahrige Frau verlor allen Halt. Sie rannte hin und her und rang die Hände, klagend, aber ohne böse Worte zu verlieren. Ihre Berliner Schwester, von der ihr das Mädchen zu ihrer Hilfe gesandt sei, dürfe es nie erfahren. Sie baue darauf, hier wäre Anna sicher aufgehoben. Sie tue sich ein Leid an. – Dabei war sie von zittriger Wehleidigkeit, und ihre Gebrechlichkeit nahm sie so mit, daß Anna glauben mußte, jetzt setze sie sich nieder und erlösche.
Dann, nach wohl einer Stunde müßigen Klagens, streichelte sie Anna mit ihren Spinnenhänden unter dem Kinne hin und sagte, dicke Tränen an den Wimpern: „Du tust mir so leid, mein armes Kind. Aber ich weiß ein Mittel, ein gutes Mittel.“
Anna floh an Stallmanns Brust; er hielt sie im Arm und suchte, beglückt von ihrer Wärme, ein Bild der Zukunft zu gewinnen. Das Gespräch war ihm ekelhaft, daher langte er für diesmal mit seiner Rechten nach der Mütze.
Da löste sich Anna von ihm, setzte sich nebenan in einen Stuhl, und er ging verwirrt hinaus.
Als er sie wiedersah, war sie tot. Das gute Mittel hatte sie umgebracht. Sie hatte sich von ihm gewandt, er wußte es. Warum hatte er mit dem Widerruf gezögert? Das hatte ihr zu weh getan. Nicht die Alte, sondern er hatte sie ermordet. Nur weil sie wußte, daß er es tat, hatte sie die Alte sich an ihr vergreifen lassen. Von ihrer verdüsterten Eilfertigkeit, von ihrer vorschnellen Rachelust wußte er nichts, aber daß die Unschuldige ihm einen verzweifelten Schmerz aus ihrem Tode heraufsenden wollte, das vernahm er aus dem Nachklang allen Glückes, das er mit ihr genossen hatte. Er hatte ihre seraphklare Seele mit einer Sekunde trüber Abwesenheit so gekränkt, daß sie verging.
Anna lag mit noch offenen, gebrochenen Augen so furchtbar reglos in ihrem Bette, als die Alte sich an Stallmann geschlichen und ihn in die Stube gezogen hatte. Der Fußboden war schmutzig, Eimer standen am Lager umher. Nun schrie die Alte, riß sich an den Haaren, stürzte über einen Eimer und schlug auf die Erde hin. Sie küßte der Toten Fuß und Hände, holte ein Küchenbeil und suchte es Stallmann aufzudrängen. „Schlagt mich tot, gleich, gleich aber.“ Dann liebkoste sie wieder die Tote; das Gesicht war unter den herabgezerrten Haaren verschwunden.
Stallmann drängte sie beiseite, hob Anna in seine Arme und setzte sie sich wie in einer Verrücktheit auf den Schoß.
Die Alte fürchtete, jemand möchte durch das Fenster sehen, und löschte die Lampe aus. Sie ertrug jedoch die Unheimlichkeit der Finsternis nicht und ging in die Küche, um eine Laterne zu holen.
Als sie damit zurückkehrte, hörte sie Stallmann die Bodentreppe hinaufpoltern, so langsam tappend und schwer, als trüge er eine Last. Sie schlich nach, der gelbe Laternenschein drehte sich an den Schattensprossen des Geländers in die Höhe und erschrak dann vor etwas Weißem: Annas Haupt hing über Stallmanns Schulter herab.
„Ferdinand, was tust du?“
„Ich muß sterben.“
„Er ist irre geworden, er ist irre geworden,“ flüsterte sie auf der letzten, steilsten Bergesspitze des Entsetzens zu sich selber.
„Bei den Tauben hat es angefangen. Bei den Tauben nimmt es ein Ende.“
Er wollte sich vom Balkon schmettern und Anna sollte vielleicht zusehen, von ihren Tieren wie von Dämonen umschwärmt.
Stallmann erklärte seinen beiden Zuhörern von seinen Entschlüssen und dem Tosen der Höllengewalten in ihm nichts, nichts von dem blitzhaften Wechsel des schmerzlichen und wollüstig Verbrecherischen, er reihte nur die Tatsachen aneinander.
Schon war der Geruch nach faulen Federn und feuchtem Stroh um ihn. Schon flatterten die verängsteten Tauben auf und klatschten mit den Flügeln gegen Decke und Wände, so daß die Frau hinter ihm auflallte vor Furcht. Er stand in der Luke, der schwere Körper Annas fiel aus seinen Händen, die beiden schwachen, zerfressenen Holzbalken unter dem Balkon ächzten auf, und auf den Steinen unten tat es einen Fall. „Es hat geschrien: Gnade, Gnade!“ wimmerte die Alte und sank in eine Ohnmacht.
Das hatte Stallmann dem Liebsten getan, das es für ihn über der Erde gegeben hatte.
Und er sprang nicht hinab. Jetzt nicht, aber ihr Geist gab ihm nicht Ruhe, und er mußte einen jahrlangen Sprung hinabtun.
Er hatte sich eine Schmach angetan, die seine Seele betäubte wie giftiger Äther. Schmerz empfand er nur noch am gestochenen Finger und Freude nur noch an der gekitzelten Sohle.
Er log. Grausam wuchsen die Lügen, wie Geschwüre seine ganze innere Gestalt übersäend, häßlich, mit ziehendem, höhnischem Klopfen, aber nicht eigentlich schmerzend. Den Birken stand er Rede, als hätten sie ihn gefragt, mit der Kuckucksuhr disputierte er.
Herr Drechsler mußte ihm in jener Nacht ein Pferd geben. Er galoppierte zum Arzte. Der kam. War er leichtfertig oder fehlte er gegen sein Amt? Er kannte den Gutsbesitzer als Freund, kannte den Ziegler, vertraute allen Worten und argwöhnte nichts. Das Unglück der Taubenliebhaberin wurde protokolliert und geglaubt: Schädel gespalten, Genick gebrochen, innere Verletzungen. Die Leiche wurde freigegeben und begraben.
Stallmann stand vor seinem Vater, dann vor der Mutter der Toten und kroch frech in den Blick ihrer Augen.
Ihm geschah nichts von draußen.
„Frei dir die Marta!“ zischte ihm etwas in die Ohren, „dann merkt gewiß niemals einer was. Frei sie und mach dich aus dem Staube!“
Bis zur Hochzeit hatte er schweigen können, nun aber troff ihm das Verbrechen fast mechanisch wie der Inhalt seiner aufplatzenden Schwären aus seinem todesreifen Wesen.
Nach dem Eingeständnis verstummte er, setzte sich auf die Erde und schubberte mit dem Kopfe wie ein nickendes Pferd mehrere Male gegen den Holzstoß. Dann wollte er gehen und sich ein Leid antun.
Aber Marta war hellhörig und richtete sich mit tränenüberströmtem Gesichte auf: „Schone mein Blut!“ flehte sie, „es wird fließen, wenn deins fließt.“
Er hatte sich befreien wollen und hatte sich jetzt erst ganz gebunden. Auf Martas Gesicht glühte todestraurig ein triumphierendes Recht an ihn.
9
Leopold Hey schien nicht weiterberichten zu wollen. Seine wie von feuchtem Gold überzogenen Augen rührten die Gegenstände in der Druckerei an und fragten, ob sie in den Schatten noch vorhanden wären. Dann folgten sie dem Flattern des Papiers auf der anderen Seite des Raumes, wo von den dreihunderttausend Bogen schon viele, einer um den anderen, in die Pressen hinein gefressen waren und dann von den Ablegern wie beflügelte Wesen einen Augenblick lang durch die Luft geschwenkt wurden. Ich knüpfte aber den zerrissenen Redefaden wieder an:
„Und Sie haben es zugelassen, daß Marta Stallmanns Frau wurde? Das Wesen, das Ihr Leben durch Unglücksjahre gehetzt hat? Marta, die Sie so liebten, daß Sie Ihr eigenes Schicksal für nichts achteten?“
„Ja, ich habe alles zugelassen. Ich fühlte: taste nichts an! Das ist nun ein Verbrecher, fühlte ich, und er hat Haare wie du und Augen und wunderbare Organe und gute Hände. Der ganze Körper ist unschuldig wie im Leibe der Mutter. Wirf keinen Stein auf ihn! Geh heim und schluchze wie dieses Weib! Du hast nicht getan wie er, – aber sie liebt ihn, nicht dich. – Ja, ich habe alles zugelassen. Ich stand gelähmt, gegen die Lehmwand des Ziegelofens gestützt. Und mein Buckel da wollte ein Loch hineinscheuern. Wie ein Wiegengängel schaukelte er diese beengte Brust, in der die Luft leichter knapp wird als in einer anderen, hin und her. Stumpf plagte ich mich mit der Angst, ob das Kind auch schliefe, ob es nicht erwachen werde.“
Er schluckte und atmete, als atme er den Kindesatem, auf den er damals gehorcht, jetzt nach.
„Es war aber nicht Schwäche. Schwäche auch, aber deren schäme ich mich nicht. Selbst Ferdinand Stallmann, wenn er seine Tat von einem anderen gehört hätte, würde sie bleiern in seinen Knochen gespürt haben.“
„Warum sagen Sie, Hey, er sei Ihr Freund gewesen?“
„Weil er Vertrauen zu mir hatte. Ist das nicht etwas so Ungeheures, daß man sein Leben dazu verbrauchen sollte, um es zu rechtfertigen? Weil er Vertrauen zu mir hatte und – nicht wahr? weil ich ihn nie betrogen habe mit Worten und Taten, in den Momenten, wann sie gesprochen und getan wurden. Ohne Falsch war alles Offenbare und das Verborgene in der Freudigkeit des Offenbaren dann immer vergessen. Ich habe ihm geholfen, ich habe ihm wohlgetan: lassen Sie mich einmal reden wie ein Pharisäer. Ich rühme mich nicht, um mich freizusprechen, sondern um mich anzuklagen. Am Ende ja habe ich und am Ende hat sogar Marta ihn mit der schweigenden Feindschaft des unveränderten Seelengrundes, des nichts Bestimmenden, nichts Anrührenden, dahin gebracht, wohin er gekommen ist. Man erzählt von Karawanen in der Wüste, daß sie auf die Salzseen gerieten, eine Zeitlang von der dünnen Kristallkruste getragen wurden und dann in der Tiefe versanken. So ging es ihm.
Ich will niemand mehr verlocken, daher bin ich hier nur Setzer, nur noch Hand.
Damals im Ziegelofen standen Marta und Stallmann soweit weg von mir, als stände ich in dem blauen und roten Lichtrauch, der vom Monde und vom Brennofen um mich flirrte, in einer Himmelswolke, und sie verweilten auf der ganz schwarzen Erde, die mit einmal zu meinem Leide tief weggesunken und bloß aus der Wolke um mich manchmal angeleuchtet war.
Und ich ängstigte mich vor unserem Schicksal. Und die Feigheit heckt den Haß aus, der nur zerstört und allein nie, nie weiterhilft. Ich dachte: Jetzt hat Stallmann sich meine Vergeltung aufgeladen, jetzt ist er mit Martas Liebe gefesselt wie ich durch meine Liebe zu ihr. Ihr Wohltun wird ihn durch die Zukunft hinpeinigen. Sein Leben ist aus, wenn er auch noch weiter da ist. Was sie auf seinem Herde kocht, wird Gift sein. Er wird wünschen, daß jedes Kleid, das er ihr kauft, ihren Körper brennen soll. Ihre Augen und die seines leidenden Kindes werden ihm wie vier Messer wehetun. Und Marta, die mich verschmäht, sie wird, auch wenn sie ihre Rettung in mir sieht, nicht zu mir kommen können. Ihr Schmerz, der ihn heranziehen möchte, wird eine Kluft zwischen ihr und ihm und ihr und mir aufreißen. Wir alle drei werden dieses selbe Schicksal haben, und das wird so schwer und häßlich und menschenfern sein, daß sein Anlaß und Ausgangspunkt ganz gleichgültig ist.
Aber wir Menschen können ja nicht hassen. Und daß die beiden so fern unter mir standen wie die Erde unter einer Wolke, – – vielleicht war es ein göttlicher Engel, der mich so erhoben hatte. Schon sah ich alles anders. Von Stallmann dachte ich: Du warst ein Verbrecher bloß minutenlang, hier eine, dann nach einer Zeit wieder eine und wieder. Dazwischen lag Schmerz aus demselben Stoffe wie der Schmerz der aus dem Paradiese Gestoßenen, ja wie der Schmerz der Gebärerin, die das Leben auf Erden erhält. Aus jenen trüben Minuten aber ist das Böse gezuckt. Und das Böse wirkt und es wälzt die Welt um, am Ende das Böse allein. Ließ dich seine entrückende Faust zurückfallen zu uns, so warst du nicht anders als wir, – gut vielleicht. Das Gute heilt und schichtet und baut auf aus dem Schmerzensstoff, über den wir nicht Gewalt haben. Es vermehrt nicht den Bestand der Welt. Es ist ihr Bestand. Wir haben alle daran teil. Ihm sind wir unterworfen, weil es, ganz ohne Gleichnis, unser unschuldiger Leib selbst ist und unsre unschuldige Seele.
Glühend war mir all das im Herzen. Darum, so befahl mir ebenso wie Marta eine innere Stimme, darum soll Stallmanns Leben nicht vernichtet sein um jener Minuten willen. Ihretwegen schon sollte er leben, die jetzt neben ihm gefällt lag und zitterte und die viele Jahre um ihn gedient hatte in verzweifelter Treue. Und auch meinetwegen sollte er nicht zu Grabe. Ich hatte mit ihm gelebt. Ohne ihn wäre ich ärmer gewesen. Und nun sollte ich hinterhältig grinsen und zusehen, wenn er ein Ende machte?
Es war für uns alle drei zu spät, freiwillig zu sterben.
Lassen Sie mich in ein unscheinbares Erlebnis vorausschweifen: die Vergangenheit ist ein festes Haus mit vielen Zimmern nebeneinander, in denen man von Tür zu Tür wandern und zurückkehren kann. Man hängt ein Bild um, trägt eine Schachtel oder einen Blumentopf aus dem Erker in den Keller, aber der Bau der Mauern bleibt bestehen und hält uns gefangen.
Ich kam einmal auf meinen Geschäftsgängen an den Rasenböschungen entlang, die den Charlottenburger Bahnhof umfassen. Es war ein Sommerabend. Da sah ich, über die Fläche verteilt, Männer mit Laternen, die sich von Zeit zu Zeit hastig bückten und etwas auflasen. Ich fragte den nächsten, was er täte. Er war ein Angler und sammelte Regenwürmer. In der Konservenbüchse mit eingehängtem Drahtbügel, die ihm am Handgelenk hing, war der Boden schon bedeckt. Ich war ergriffen, während ich am Bahndamm weiterging und die Lichter immer wieder gegen den Boden schießen sah, weil ich mir vorstellte, daß da in der Erde zahllose Geschöpfe ihr Bergwerkswesen trieben, kleine Grubenlichter des Weltgeistes, erschüttert wandelnd unter dem lärmenden, eisernen Netze, das gleich einem Magnetensystem menschliche Schicksale rasch von- und zueinander und durcheinander zog, daß sie in eigene Schicksalskreise geschlossen blieben und über sie hinaus nichts wußten, die Himmelsdecke wie eine Kappe auf die Enden kurzer Sinnesorgane herabgezogen. Sie sahen nicht die Lokomotiven, die wie schwarze Götter alle Tage nah über ihnen hinschwebten. Die Blechdose aber war ihnen jetzt ein hoher Kerkerturm und ihre Wandung die Unerbittlichkeit selbst. Die winkenden und weinenden Menschen auf den Bahnsteigen mit ihren schweren Seelenampeln voll Süße oder Bitterkeit blieben ihnen so unsichtbar und ungefühlt wie sie selbst in ihren Erdlöchern jenen. Das Donnern und Kreischen hörten sie nicht, die abendlichen Lichterscharen sahen sie nicht, aber vielleicht hörten sie Donnern und Kreischen der Wolken, vielleicht sahen sie die Sonne und die Sterne. Sie hätten nicht die Fülle der Gebilde und die Menge der Vergänglichkeit, aber vielleicht Gott in ihren Herzen, dachte ich mir. Die Finger, von denen sie gefaßt und aus ihren Gängen gezerrt würden, wären für sie die Dämonen, die unsere Seele packen und rütteln, aber diese Dämonen wären größeren Herren untertan und diese wiederum größeren, in undeutbarer Ordnung des Zusammenhanges, und auf Namen, Gesicht und Stunde des Verhängnisses käme es nicht an.“
Bevor Hey rückwärts schauen und in seiner Erzählung fortfahren konnte, erhob sich Marta hinter ihrer Maschine, schwankte, bleich wie ein Licht, auf uns zu und blieb wortlos vor uns stehen.
Wir sahen sie an, schnellten von den Sitzen und konnten ebenfalls nicht sprechen. Der Bucklige wandte sich ab. Sie sagte endlich:
„Hey, was tust du?“
Wieder trat ein langes Schweigen ein.
Dann faßte ich mir ein Herz und sprach beruhigende Worte zu ihr. Hey habe Vertrauen zu mir gefunden, ihm sei sein Verhalten vor dem entlassenen Metteur peinlich gewesen und die erregte Szene gestern, als sich alle Arbeiter um ihn im Kreise gesammelt hätten, und er erkläre mir alles. Sie wisse, das sei eine lange Geschichte. Und sie wisse auch, Leopold Hey sei kein Schwätzer. Wenn sie jemand verzeihen müsse, so sei ich es, indessen Neugier liege auch mir fern.
Leopold kehrte sich wieder zu uns und sagte: „Ja, Marta, eben war deine Hochzeitsnacht im Ziegelofen um uns, und Ferdinand Stallmann hat erzählt. Zum zweitenmal – und zum letzten. Setz dich zu uns. Du tust mir eine Ehre.“
Wir beruhigten sie allmählich, sie setzte sich wirklich, und derweil wir noch von Schuld und Einsamkeit der Menschen weiterredeten, begann sie plötzlich die Beichte ihres Mannes zu wiederholen, mit so harter Sachlichkeit, als hätte Hey und sie niemals ihre feurige Rute über sich sausen hören. Erst nachher nahm ihre Darstellung eine mehr schmerzliche Lebendigkeit an, die mich merken ließ, daß ihr Anteil an dem Schicksal nicht erloschen war und gesondert von den Anteilen der beiden Männer fortgelebt hatte. Zwischen ihr und Hey spann sich ein Zwiegespräch an. Ich kann seinen Inhalt nur so aufschreiben, wie ich ihn, ohne mich mit Zwischenfragen einzumengen, ahnungsweise erhört habe.
Marta berichtete hart, daß der ersehnte Mann das Haupt seiner toten Geliebten zerschmettert hätte.
Erst zuletzt hatte sie den Schrei, der ihr Herz war, nach außen stöhnen können, leise wohl, – die beiden Männer haben ihn kaum gehört. Aber vorher hatte sie wohl lauter geschrien, ohne Mund und Stimme, daß ihr Kind es in seinem Schlafe hörte und mit den Fäustchen an den Schläfen hinzitterte und röchelte. Und das Feuer im Ofen platzte immer lärmiger vom Holze. Ihr wurde dabei so hilflos zu Sinne, als fielen fortwährend Schneebeeren, wie sie auf dem Kirchhofe wachsen, ihr unter die Füße und sie müßte sie zertreten, endlos, als etwas namenlos Gefährliches. Die Hunde heulten von weitem und zerrten an ihren Ketten.
Warum schlägst du mich? Warum schlägst du mich so? – So wollte sie ohne Unterlaß wiederholen, aber vor dem Munde waren die Worte immer ausgelöscht wie Flammen, die man vom Zündholz nicht auf den Docht pflanzen kann vor großem Sturme.
Als sie dann endlich weinen konnte, da hatte sie schon dies gedacht: Er hat mich geschlagen, er muß es mir abbitten: er muß ja. Wenn er jetzt geht und sich aufhängt, dann habe und behalte ich meine Schande. Und weiter dachte sie: er ertrinkt ja und ich kann ihn retten. Er ertrinkt meinetwegen, weil ich auf der Welt bin. Soll ich das ansehen, was auch immer er an mir getan hat? Ja, wäre er still geblieben und mit seiner Lüge fortgegangen! Aber sein Bekenntnis! Darin war er schon ein anderer. Er hatte bekannt, weil ich auf der Welt war!
„Ich bleibe bei dir, hab ich gesagt,“ so schloß Marta ihren Bericht.
„Du hast gekniet,“ warf Leopold Hey ein.
„Nein, das weiß ich nicht.“
„Aber von uns weg, zur Tür hin.“
„Das weiß ich nicht.“
„Dann bist du umgefallen, Marta, und ich habe dich aufgehoben. Dann hast du rasch deinen Jungen geweckt. Der war sehr schlaftrunken, und weil du ganz wortlos und erstarrt vor ihm standest, schlief er gleich wieder ein. Hast uns beiden drauf ganz ruhig die Hand gegeben und gesagt: ‚Heute kann ich nicht mehr denken. Gute Nacht.‘ Dann bist du weggegangen, ohne deinen kleinen Karl, ein Stückchen, und wie du dann unterwegs angefangen hast zu schluchzen, das vergesse ich nie.“
Bald war Marta umgekehrt, um das Kind mitzunehmen. Sie sehnte sich nach ihrer Kammer im Gasthause oder nach ihrem Sitz hinter der Tombank. Sie begegnete vor dem Zieglerhause den Hochzeitsgästen. Herr Drechsler hatte diese zurückgehalten, doch es hatte ihnen zu lange gedauert, bis die drei hereinkamen. Sie hatten das Bierfaß leergesoffen. Die Harmonika quiekte im Hausflur, dann stolperten sie heraus. Die Jungverheirateten mußten sich allerhand Spott über ihr Ausbleiben gefallen lassen. Ferdinand und Leopold waren langsam zu Marta getreten. Da stände ja das Kleeblatt. Vor der Tür zu lauern, das wäre ein Hinauswerfen auf neumodische Art.
Der alte Stallmann hatte sich am meisten geärgert. Als die Gäste schon auf der Chaussee waren, trat er näher auf Marta zu, richtete sich auf und sagte:
„Daß er mit dir das Kind gehabt hat, das hat mir nicht gefallen.“
„Der Karl – – der Karl,“ erwiderte sie mit schwermütig singendem Tone.
„Daß er dich nun geheiratet hat, – –“
„Was?“
„Meinen Segen habt ihr. Eine Frau, die sich das gefallen läßt: jahrelang geschuriegelt und dann hier gepfiffen, dort getanzt, – nimm mir nicht übel, Marta – –“
„Ich hab es mir gefallen lassen. Aber nun laß ich ihn nicht mehr los.“ In dieser Entgegnung lag eine solche Fremde und jähe Verklärung, daß selbst er, der dünkelhafte Alte, erschrak. Marta reichte ihm stumm beide Hände, dann Stallmann, dann Hey. Damit drehte sie sich ab, lief, raffte ihr Kind in die Arme und stürzte fort.
Herr Drechsler hatte den Abschied unter der Tür des Hauses abgewartet und nahm, nachdem er Stallmann in seinen Ofen zurückgelassen hatte, Hey allein beiseite. Sie gingen zuerst unter den Birken am Teich spazieren, dann blieb Drechsler stehen, und es kam eine tropfende, vor Verschämtheit unnatürliche Unterhaltung zustande. Drechsler begann:
„Ich scheue vor den Schatten, die der Mond von den Bäumen schält, scheue wie ein bockiger Gaul. Halt, Leopold! Ich mag nicht in die Verlegenheit kommen, über das schwarze Tier da, das man selber ist, hinüberzusteigen. Also halt. Ich wollte nämlich ein Hühnchen mit Ihnen rupfen. Es ist nicht recht, daß Sie mir Ferdinand Stallmann fortholen.“
„Jawohl.“
„Was!“
„Es ist nicht recht.“
„Warum tun Sie es dann? – Was machen Sie mit ihm drüben in Berlin?“
„– – Ich möchte mich vor Ihnen mal richtig ausklagen.“
„Tun Sie's doch.“
„Wenn ich es könnte, würde ich ja nicht sagen, daß ich es möchte.“
„So elegisch. Na, Leopold. Himmeldonnerwetter. Der Kerl, der Ferdinand, hat alle angesteckt. Sagen Sie mal, was ist denn los?“
„– – Wenn mein Liebchen Hochzeit hat et cetera et cetera.“
„Verrückter Kerl!“
„Wenn Sie meinen –“
„Was heißt das?“
„– Na gut.“
„Hey!“
„Ja.“
„Ja. – Was soll ich damit machen? – Also dann ein andermal, mündlich, schriftlich – oder gar nicht. Wir sehen uns vor der Abfahrt noch? – Und schlafen Sie wohl.“
Als Hey diese Unterredung wiedergab, prägte sich in Martas Züge ein immer tieferes Erstaunen. Offenbar erfuhr sie erst jetzt, daß die soeben aus entschlafener Vergangenheit erweckten Minuten in jener traurigen Nacht vorhanden gewesen waren. Sie entdeckte in dem Bergwerk ihres gemeinsamen Geschicks eine neue Ader, die wer weiß wo entsprang und heute und hier mündete. Sie war zu müde, um darüber zu erschrecken, und machte eine Miene, als rede sie sich beflissen ein, einer Täuschung zu unterliegen. Sie schüttelte mehrmals langsam den Kopf. Hey jedoch bohrte die Augen, die wiederum wie von einer Schicht feuchten Goldes überzogen waren, in den Boden und zitterte heftig unter seinem Kittel, ja er schwankte wie ein Schwindelnder, den eine späte Hoffnung mit hinrasendem Flügel in eine längst nie mehr betretene Heimat entführte. Seine stummen Lippen formten mitunter etwas, das verlautend ein Gebet hätte werden müssen. Sein Ohr beteiligte sich nicht weiter an den Erinnerungen.
Marta aber hielt stand, beredt mit einem Eifer, der vieles betäuben wollte und selbst die Scheu der im letzten versehrten Seele vergaß.
Nach Hause zu kommen hatte sie gehofft, als sie Stallmann heiratete. Und nun in ihrer Hochzeitsnacht fror sie in einer schwarzen Wüste außerhalb aller Welt. Sie war voll Zorn. Sie verging vor Scham. Sie war doch die Mutter eines Menschen und hing durch Eltern mit den anderen Menschen zusammen. Wie konnte es der Menschen Gott übers Herz bringen, sie trotzdem so zu erniedrigen, daß sie in dem Augenblick, als sie nichts anderes war als frommstes Vertrauen, zu dem Lappen gemacht wurde, der ein Verbrechen zudecken sollte? Wie konnte ein Mensch und wenn es der allerschlechteste war, denken, daß sie es aushalten könnte, sich so bis ins Nichts entwertet zu erblicken?
Warum starb sie nicht sogleich daran? Wie irr geisterte sie herum. Immer war es, als hörte sie Stallmanns Schritt hinter sich, und sie hatte dann Angst, sich umzusehen. Sie ging auf die Hunde zu, die so wild geheult hatten, als wären sie empört über die Witterung eines aller Kreatur feindlichen Geistes. Als die Hunde nun so dumpf im Hirn, wie Tiere sind, anschlugen, kehrte sie um. Dann machte sie zu Hause die Nachtlampe zurecht, goß das Öl, das schon schmutzig geworden war, aus dem Glase, reinigte das Glas unter der Pumpe, füllte wieder halb Wasser, halb Öl ein und setzte im Mondschein wenigstens fünf oder sechs Schwimmlichtchen drauf, bis sie endlich merkte, daß gar nicht mehr in dem Glase Platz hatten. Da bekam sie wieder Angst, machte das Fenster auf und warf die nassen Dochte in die Mohrrüben. Ja, ja, mit dir ist es wohl nicht mehr richtig, dachte sie, und sie konnte noch lachen.
Die Stunden, die paar, die nach der Geschichte, die Stallmann erzählt hatte, verstrichen waren, waren zu viel an ihrem Leben, fühlte sie. Da am Brennofen wäre das Ende für sie gewesen.
So ging sie hin, das Ende aufzunehmen. Sie wollte ins Feuer. Ein paar Hähne hatten schon gekräht. Sie war neidisch auf ihren Jungen und seinen Vater. Die schliefen jetzt lange, Ferdinand in der traurigen Stube mit den gepackten Kisten. Sie war zornig auf alles, was schlief, auch auf ihren Sohn.
Schlafe du, schlafe du, sagten ihre Tränen zur Erde, auf die sie fielen. Das war grausig, wie ein Fluch, als könnte nun nie mehr etwas aufwachen, auch ihr Sohn nicht.
Da kam sie an den Ofen: Ferdinand Stallmann war da. Er saß auf der Bank hinter der leeren Wiege. Ja, er schlief.
Aber da war es, als hätte sie die Augen voll Schlaf und er wachte in einem anderen Leben.
Ferdinand saß wie ein Engel vor dem Feuer und wehrte ihr, und der Eingang zu dem Feuerloch, aus dem die Glut auf ihre Füße zubrauste, war von dem Lichte, das an ihrer Schürze zupfte, wie zugemauert. Sie mußte dableiben in der Welt und alles ertragen. Soviel wußte sie.
Martas Bericht folgte eine Stille nicht nur in uns, sondern im ganzen Saale. Alle Pressen waren stehen geblieben wie schon vorher die, an der sie beschäftigt gewesen war. Der Feierabend wurde geboten. Wir verabschiedeten uns, und ich ging schnell hinaus, während die Arbeiter ihre grauen und blauen Kittel mit den Straßenkleidern vertauschten. Es war schon tief in der zehnten Stunde. Ich machte meinen halben Weg zu Fuß und dachte zurück an das rote Gebäude, dessen mahlendes Beben mir noch in den Gliedern nachzitterte. In der Erinnerung kam mir das Vorderhaus jedesmal unbewohnt vor. Es brütete vor sich hin. Eine ungewöhnlich steile Treppe führte in seinen Kellerladen. Darin sah man tief unter trüben Fensterluken ein paar grüngraue Kürbisse wie weit zurückgesunkene Augäpfel und ganz im Schatten Korbgeflecht und eine Breimasse von Kohlköpfen wie ein riesiges erschlafftes und vertrocknendes Hirn. Die Fenster an der Mauer hinauf waren nie geöffnet, altertümliche Gardinen versperrten sie wie ein weißes Spinngeweb. Abends enthüllte das Gaslicht im Milchglas der Treppenfenster fünffach übereinander das ausgesparte, schwebende Bild des drachentötenden Ritters Georg. Im Hofe standen hohe Stapel von Kisten. Besonders in der rötlichen Dämmerung so naßnebliger Herbsttage wie heute sahen die Stufenpyramiden aus grellen Holzquadern aus wie Visionen von Grabmälern, gespenstisch leicht und doch zu wirklich. Oft waren sie am Fuße von einem Gewölk von Holzwolle umgeben. Aus der Metallwarenfabrik im Erdgeschosse des Hofgebäudes stammten die Granatenhülsen, die in Reihen längs der Mauer übereinandergeschichtet lagen und bei anhaltendem Regen rosteten. Dann mischte sich der Eisengeruch mit dem Holzdunste. Die zentnerschweren Papierballen, zwischen dünne Bretter geklemmt und von Stricken umwunden, die unausgerichtet, wie sie vom Lastwagen geworfen waren, auf starke Arme warteten, hatten mich kaum durchgelassen, und Fetzen farbigen Packpapiers überschwemmten, was auf dem rechteckigen Raume der Asphaltfläche noch leer sein mochte.
10
Erst in der nächsten Abenddämmerung kam ich wieder, da ich wußte, daß Hey am Tage nur als Hand – wie er es bezeichnet hatte – beschäftigt sein wollte und daß er ermatten mußte, um die Sammlung zu persönlichen Erinnerungen willig zu suchen. Die Mitteilung, mit der er mich empfing, klang hoffnungsvoll, so als erwarte er, daß er und Marta das Schicksal, als dessen verlassene und erstarrte Reste sie hier ausruhten, noch nicht abgeschlossen zu glauben brauchten. Mich machte das traurig. Er sagte:
„Sie will Karl zum Auffangen der Bogen dabehalten und nach Feierabend wieder zuhören kommen.“
„Pelzer fehlt noch,“ antwortete ich ablenkend.
„Jawohl. Und keine Nachricht hat er uns gegeben. Ich dachte schon, Karl hinzuschicken. Ob ihm wirklich etwas zugestoßen ist? Es täte mir sehr leid. Einen Vorwurf aber könnte ich mir nicht machen, denn ich hatte nicht die Absicht, ihn zu seinem Schaden zu erregen. Jede Folge können wir nicht bedenken, sonst dürften wir keinen Finger rühren. Dennoch habe ich nachgegrübelt: Hat ihn in der Tat einmal der Schlag gerührt? Saß er einmal in Österreich auf der Redaktion einer Zeitung? Ist er ein beliebiger Mensch, den das Gliederreißen gelähmt hat? Ist seine Besonderheit nur die, aus einer Laune heraus immer einen Sportanzug mit sorgsam gebügelten, aufgeschlagenen Hosen zu tragen? Wie viel weiß ich aus seinem Munde, wie viel aus dem des Chefs und wie viel habe ich selbst dazugetan?“
Es entging mir beim Zuhören nicht, daß Leopold Hey mit Absicht seine scheinbare Unfähigkeit, ein festes Bild einer Person sich einzubilden, zur Schau stellte. Ein freundliches Lächeln in dem übrigens abgespannten Gesichte bemühte sich gleichzeitig, darauf aufmerksam zu machen; – nur blieb ihm die Peinlichkeit, daß seine Phantasiegestalt an der sinnlichen Gegenwart ihres Urbildes nicht geprüft, verändert und ergänzt werden konnte.
Er stellte seine Emaillekanne auf einen der eisernen Öfen, schürte die Glut an, schenkte dann für sich und mich zwei Gläser voll Kaffee, und auch, daß er sein Brot mit mir teilte, durfte ich ihm nicht abschlagen. Nach dem Abräumen erzählte er weiter.
In der Nacht, die Marta und Stallmann schmerzhaft verbunden hatte, zu einem Kampfe gegen die Gespenster der Vergangenheit und gegen eine vielleicht gespenstische Zukunft, erkannte auch er seine Aufgabe – die alte, die das Schicksal ihm automatenhaft wiederholte: zu entsagen und hilfreich zu sein.
Er hatte Stallmann aus seinem sicheren Berufe gelockt, eine Zeit der Armut und verbissener Notarbeit erwartete den Entwurzelten und seine Gefährtin Marta. Hey aber spürte nichts mehr von Schuld auf sich lasten.
Ausgezeichnet, erwählt vor anderen fühlte er sich, und die Bangigkeit, die ihn nicht schlafen ließ, war die unnennbar süße Verehrung des Entsagenden, war keine Angst, sondern jenes Mitleiden der Leiden der Welt, das Liebe ist.
Die Brutalität des Zieglers war zu groß, als daß er sie eigentlich sah. Das Maß der noch faßbaren Grausamkeit ist für jeden verschieden, und mancher gerät in ein Schicksal, das ihn, wenn er es sähe, zermalmen würde: er sieht es nicht, darum atmet er frei. Der Hahn wird geschlachtet, und die Laus in seinem Balge mästet sich weiter und kriecht ihren Weg.
Den ganzen folgenden Tag war Hey auf einsam geschäftiger Wanderschaft. Anderen mochte er müßiggängerisch erscheinen, sich selbst kam er überallhin sonderbar gerufen vor.
Im Morgengrauen sah er in der Nähe des Ziegeleiteiches Bleichwäsche auf einer Wiese ausgespannt. Hühner, von Hunden verfolgt, waren darübergelaufen und hatten sie verunreinigt. Er spülte heimlich die Spuren im Wasser aus, um der Wäscherin den Ärger zu ersparen, und legte alles wieder glatt in die Reihe.
Ein Käfer war in der Wagenspur auf den Rücken gefallen. Er trug ihn beiseite und richtete ihn auf die Beine. In seinem stahlblauen Panzer hatte die Sonne ein Abbild des feierlich frostigen, unbegreiflich aufgereckten Weltraums, in dem die Kaskaden der himmlischen Feuer tobten, eingekapselt.
Vor einem Zaune stand eine Ziege und rupfte Blumen aus dem Garten. „Du liebes, dummes Tier,” sagte er und jagte sie weiter. Da aber der Bauer schon aus der Tür trat, schlug er mit seinem Spazierstock in die Büsche und tat, als hätte er gedankenlos den Blumen die Köpfe abgehauen, und er empfing die Strafe, die sonst der wunderbar zarten weißen Ziege zuteil geworden wäre. Im Weitergehen lächelte er bisweilen glücklich vor sich her.
Nachmittags gar gab es der Zufall, daß er ein Kind vor dem Ertrinken retten konnte. Früher hätte dem des Schwimmens Unkundigen vielleicht der Mut gefehlt.
Abends trat er mit Stallmanns die Reise nach Berlin an. Er schleppte Gepäck, soviel er irgend konnte, besorgte die Karten und wurde auf der Fahrt während der ganzen Nacht nicht müde, seinen Gefährten einen frohen Mut für die Zukunft einzusprechen. Stallmann schlief auf seinem Bettenbündel bald tief ein, aber Marta, deren Kopf schlafschwer immer wieder durch die Luft herunternickte wie durch ein Eis, das er schmölze, und der dann wieder sich aufrang mit einem so fremden Ausdruck, als befände er sich unter Wasser, mußte durch ein Zureichen der Feldflasche mit Kaffee oder durch ein geschwindes Vorzeigen der Zeittabelle im Kursbuch wie durch einen Ammenspruch oft eingeschläfert werden.
Auf dem Schlesischen Bahnhof stiegen sie nächsten Tages aus.
Bevor sie den Bahnsteig verließen, zog Marta ihr Taschentuch heraus, neigte sich aufwallend und wischte Ferdinand den Reisestaub von den Schuhen. Er begriff sie nicht und ging verlegen weiter, während ihre Hände noch ins Leere tauchten, wo er gestanden hatte. Aber sie richtete sich auf und folgte ihm wortlos und glücklich. Die Doppelhalle des Bahnhofs stand wie das Flügelpaar eines Riesenvogels auf den künstlichen kleinen Wolken, welche die Lokomotiven zornig nach ihm spien und mit denen sie seine Last in die Luft zu stoßen suchten.
Auf der Straße blieb Ferdinand mit Karl zurück. Marta war Hey immer einen halben Schritt voran und bog manchmal in eine falsche Straße ein. Alle vier Ankömmlinge waren mit Bündeln und Säcken beladen und erregten viel Neugier bei den ihnen Begegnenden. Marta hatte kaum ein Wort für die unbekannte große Stadt. Sie war voll Ungeduld der Freude hingegeben, welche die Gefaßtheit auf etwas sehr schweres und die Gewißheit, es bewältigen zu können, verleiht.
Sie wollte die Vergangenheit ihres Mannes weder verstehen noch entschuldigen: dann bestand diese Vergangenheit ja weiter, zersetzt und versprengt, wie wenn man die Stare aus den Früchten jagte, und sie schrien nun von allen Bäumen der Umgegend herab. Ferdinand sollte fühlen, daß sie ihn sah wie einen, der dem Kerker entgangen war, und daß sie ihn dennoch liebte.
Ihre vertrauende Seele schien unverletzbar, so ganz und gar zu durchschauen, so ungreifbar wie reine Luft. Mußte nicht Ferdinand die Sehnsucht haben, eine ihr gleiche Seele zu gewinnen?
In ihre frühere Verlassenheit waren gnädig die Dinge hereingekommen, die Tombank, das Flaschenregal, der Vogelbeerenbaum, und hatten in ihr gestanden wie in einem Saale, und die Pferde waren gekommen und hatten an ihr gefressen, und sie war erschrocken. Jetzt, da wieder soviel Raum in ihr war, wollte sie gnädig und erbarmend sein, und die unterirdischen bösen Wesen so lange nagen und fressen lassen, bis sie satt waren und davonschlichen.
Unter der Empfindung dieses ihres Zustandes gelobte sich Hey im stillen aufs neue: hat Stallmann sie mir auch zweimal genommen, so will doch auch ich Zärtliches für ihn tun.
Eine Stunde später hörte er an Marta etwas zerschellen, als hätte sie gläserne Fittiche gehabt.
Karl trappte in der neuen Wohnung herum und ließ seine Puppe, den Mann im Monde, nicht aus dem Arm. Er kletterte mit ihr ein dutzendmal die vielen Treppen hinunter und herauf und begleitete die ächzende Himmelfahrt des Hausrates, den ein einspänniger Gemüsewagen vorgefahren hatte. Karls beide Eltern führte Hey, jeden an einer Hand, vor die Zwischentür der Wohnung und klopfte bei Weises. Diese hatten sich so scheu und still zurückgehalten, als wären sie nicht zu Hause. Vor dem Klopfen trat Stallmann umständlich von der linken Seite Heys hinter seinem und Martas Rücken vorbei auf die rechte und schneuzte sich meckernd. Und die beiden anderen waren beklommen. Mit einmal war es Wirklichkeit: Hehler, Lügner holten arglose Menschen in ihren Hinterhalt. Um den Mund Martas zuckte ein Abschied vor dem ersten Gruße.
Luise trat hinter ihrer Mutter ein. Mit einem warmen Lächeln bewillkommten sie ihre neuen Hausgenossen.
Marta erbleichte vor der übergroßen Ähnlichkeit Luises mit ihrer verstorbenen Schwester. Stallmann durchbohrte das Mädchen mit einem starren Blick, worin ein Strahl Eis und ein Strahl Feuer vereint waren. Die anderen setzten sich, er befestigte Gardinenstangen und nahm zerstreut am Gespräche teil.
Mit einmal stieg er vom Fensterkopf, hob die Hand gegen Luise, als deute er Menschenhöhe vor sich an, und sagte: „Gerade so groß wie Sie war Anna auch.“
Als Weises, von Marta geleitet, in ihre Stuben zurückgingen, sprach er Hey an: „Die Tote ist wiedergekommen,“ und nach einigem Nörgeln an den herumliegenden Bündeln „– als wenn sie alles wüßte und nichts sagte!“
Hey verstand die Auferstehung der Toten und fürchtete sich vor der Stunde, in der sie nicht verschweigen würde, was sie zu sagen hatte.
Marta jedoch glaubte ihrem Herzklopfen noch nicht, das sie ihr neues Dasein mit gewaltig knetendem Zucken einläuten hörte.
Sie konnte wenigstens gleich ein Tagewerk beginnen und den wirtschaftlichen Zusammenbruch aufhalten helfen. Sie setzte sich recht in das Licht der Luise Weise, um von Ferdinand mit gesehen zu werden. Aber er liebte sie nicht. Sie nahm an der Arbeit für die Konfektionsfirma teil. Drei Nähmaschinen brausten, Dutzende von Knabenkitteln und Mädchenkleidern wurden jedes Wochenende abgeliefert. Halbe Monate lang wurde immer dasselbe gefertigt; nach dem gleichen Schnittmuster teilten sie dicke Stoffballen auseinander, die Nadel lief hundertmal dieselbe Zentimeterzahl in Strichen und Bogen, dieselbe rote, blaue oder grüne Borte faßte Ränder und Taschen ein, als gäbe es nur für Waisenhäuser zu schaffen. Und war der Vorrat in dem großen Geschäftsautomobil verschwunden, so klingelte schon ein Diener mit goldgestickter Schirmmütze und in brauner Livree und schleppte von neuem Ballen um Ballen herein. Die Arbeit währte oft bis in die Mitternacht und begann oft vor dem Aufgang der Sonne. Außer dem Stücklohn warf sie kleine Nebengewinste heraus. Das Geschäft lieferte das Material bauschweise überschlagen und forderte, daß eine gewisse Zahl von Kleidern hergestellt würde. Meistens blieben aber ein paar Meter Stoff übrig, und das dreizehnte Kittelchen durfte an eine Nachbarin verkauft werden, oder der Rest reichte gar hin, die Frauen neu einzuhüllen. Es war dennoch nötig, daß Hey seine letzten Ersparnisse beisteuerte.
Stallmanns Herz blieb finster.
Er brachte vorerst nichts heim. Er wurde in der Annoncenexpedition mit sauer zurückhaltendem Lächeln gleichsam wie in einem Scheidewasser geprüft, doch erhielt er die Erlaubnis, als Heys Hilfskraft tätig zu sein. Er unterwarf sich ihm schweigend wie ein Tier. Seine Arme, Beine, Nerven arbeiteten geduldig, wie wenn sich die Glieder in der Phantasie eines sezierenden Anatomen zu toter Logik des Lebens fügten. Er schien nichts für heute, morgen oder übermorgen zu erwarten. Daß er anfangs wie ein kindischer Schüler von Hey abhängig war, verdroß ihn nicht. Mit der Demütigung, daß er auf Heys Kosten städtisch eingekleidet werden mußte, begann seine Laufbahn. Er war linkisch und Hey wurde es aus Verlegenheit darüber. Hey fragte ihn ab: „Welche Tageszeitungen aus Hamburg, Wien, Leipzig, Hannover haben wir?“ Er zählte auf. „Und dann noch?“ – „Und dann noch: das Allgemeine Kraftfahrerblatt, die Hundebörse, des schlesischen Landmanns Freude, das Liboriusblatt“ – „Nein, die hat alle die Konkurrenz.“ Er druckste und zählte dann mit der gleichen unleidenschaftlichen lauten Stimme weiter: „Der Generalanzeiger für das Eisenbahnwesen, der Kindersonntag, der Bergknappe, der Photograph, der Holzmarkt, der Ratgeber für Obstzucht und Imkerei, der Hausfreund für Altkatholiken, das amüsante Sonntagsblatt – ...“ Hey widersprach nicht, obwohl manches unrichtig war. Er merkte es und wiederholte die Reihe.
Die Tote war wiedergekommen und tötete die Lebende.
Mit Sachlichkeit und Ernst sah Stallmann seinen buckligen Herrn allerhand Quacksalber und Mediziner bearbeiten: der erste nahm Hämorrhoiden- und Wurmkuren vor, und die göttliche Vorbestimmung dazu mußte ihm mit Anstand aufgeschwatzt werden, der zweite beseitigte rote Nasen, Gallensteine, Bettnässe und Damenbart; und fette Inserate mußten ihn also ausklingeln; der dritte heilte Hexenschuß und Wassersucht mit Zwieback, der vierte sorgte durch Pomade für Muskelkraft, und ein ganzes Schock verschickte vertrauliche Auskünfte an Braut- und Eheleute. Sie alle hockten wie die Spinnen in ihren Netzen, und Hey trieb ihnen die Beute zu. Stallmann, verschlossen, schweigsam gegen jeden, hungrig, nie dankbar, nie undankbar, stieg treppauf, treppab, treppauf, treppab.
Scheinbar ein hilfloses, geschlechtloses, bärtiges Kind, trappte er hinter Hey durch die unbekannte Stadt. Hey ließ ihn manchmal unter den Laternen vor den Haustüren warten, bis er seine Obliegenheiten ausgerichtet hatte, manchmal nahm er ihn mit und ließ ihn zu seinen Worten scheinbar verständnisvoll nicken. Fuhren sie im späten Stadtbahnzuge heim und klapperte plötzlich das Schallgespenst einer Brandmauer in ihren gelben Fahrkäfig herein, als stürze sie selbst ihnen zu Füßen, oder rauschte ein Baum wie ein schwarzer Wasserfall über sie hin, so fühlte Hey furchtsam Stallmanns riesenhafte Kraft gegen sich aufgären. Allein Stallmann schwieg und schluckte manchmal wie an versteinten Klumpen Galle.
Einmal, als er schon sein Haustor abgeschlossen hatte und hinter der Scheibe stand, winkte Hey ihm zu. Er wandte sich ab und ging gegen die Treppe. Nach zehn oder zwanzig Schritten kehrte Hey um und sah durch die Scheibe. Er stand dahinter. Die beiden wurzelten einander gegenüber, lange, rissen sich endlich aus dem Bann und voneinander und redeten nie darüber.
Über Erwarten schnell erarbeitete Stallmann sich eine große geschäftliche Gewandtheit. Dieselbe nachtwandelnde Tätigkeitsgier schien über ihm, die Hey nach seiner Flucht aus dem heimatlichen Dorfe befallen hatte. Auch er war auf der Flucht durch eine große wetterleuchtende Dumpfheit wie durch einen ihn erstickenden luftleeren Raum.
Das Wesentliche blieb: Er konnte Marta nicht lieben. Er konnte nicht, trotz allem und allem. Die Entscheidung darüber lag beim Schicksal. Ihr danken und ihrem Werben stillhalten wollte er nicht. Das Äußerste seiner Leistung war, wie ein Willenloser auszuharren, auch Luise gegenüber. Mied er die beiden Frauen, soviel er konnte, ließ er sich von Hey treppauf, treppab jagen, so quälte ihn doch beständig ein Zwang zum Vergleiche. Das Fleisch Martas war ihm nicht süß wie das Fleisch Anna-Luises. Ihr Fuß war nicht der Fuß eines Geistes. Ihr Haar war dunkel und ihr Wuchs klein. Der Geist klang nicht aus ihrer Stimme. In ihrem Blute kreiste das plumpe kalte Wissen um sein Vergehen, in Anna-Luises Blute war er rein. Beider Frauen Gegenwart schmerzte ihn, aber der eine Schmerz hatte den Geschmack der Strafe, der andere die Wollust der Sehnsucht. Sein Kind strafte all seine wachen Träume Lügen.
Marta schämte sich nicht ihrer Ohnmacht. Noch tat sie Magdsdienste vor ihm, um einmal zur Herrin erhöht zu werden.
Ihr Stolz wurde vor ihm demütig. Aber er war vorhanden und wurde überempfindlich.
Sie suchte Heimat.
Die Mauern des Hauses bewegten sich, rückten auf sie zu, quetschten sie ein wie Mühlsteine, mahlten. So rief sie nach Heimat, daß die Mauern gehorchten.
Die frischgeweißten Decken waren wohnlich, aber die Kalkspritzertränen auf den Tapeten hohnlachten. Zuviel Schmutz und Ungeziefer im Hause! Die Mitbewohner klebten wie Schimmel in ihren Wänden. Irgendwo hoben sich die Lederklappen an den Türgucklöchern, und wurden sie nicht verschoben, so stach durch das nadelfeine Loch in der Mitte ein steifer Blick – das war wie in ihrer Stube. Es gruselte sie.
11
Und ihre ungestützte Kraft ließ nach, zuerst im Haushalt. Das Tritteisen der Nähmaschine ertötete ihre Beine mit seinem toten Rhythmus, die unter irrsinnig hüpfender Nadel fortwandernden Stoffbahnen führten ihre Hände mit und zogen sie von der Arbeit für ihre Angehörigen ab. Der Unrat des ungeheuer verwahrlosten Hauses stieg aus den Kellern herauf und vom Boden herab, und der Verdruß half die Hoffnung einkerkern.
Als Ferdinand Stallmann einmal in die Weisesche Schneiderwerkstatt hinübergegangen war, klingelte es, und Marta ging öffnen. Hey, der gerade da war, sah durch die offene Stubentür einen kleinen Mann mit viel zu großem grünbraunen Rock und ebenfalls viel zu langen grauen Hosen auf dem Treppenflure stehen. Er hob in jeder Hand einen straffen Beutel und stimmte den Ton einer Litanei an: „Der Kammerjäger, junge Frau. Ich komme vom Hauswirt und soll mal die Wohnungen nachsehen. Nichts zu vertilgen, junge Frau?“
Marta schüttelte betreten den Kopf und schloß leise die Tür.
Währenddessen war Ferdinand eingetreten und fragte, wer dagewesen wäre. Sie antwortete nicht gleich, und er wandte sich nun an Hey. Da sagte sie schnell: „Der Kammerjäger, Ferdinand.“ – „Na, endlich!“ entgegnete er. „Ist er in der Küche?“ Sie schüttelte wieder heftig den Kopf.
„Wie, was?“ schalt er in unmäßigem Zorn, stürzte durch den Korridor, riß die äußere Tür auf und rief: „Sie, Mann! Umkehren! Kommen sie rauf! Hier bei Stallmann!“ Aber der Gesuchte war schon unten auf der Straße oder in einer anderen Wohnung verschwunden. Stallmann fuhr Marta an, viel schlimmer, als es der Anlaß rechtfertigte, und schrie: „Die Küche ist schwarz von Schaben, daß man sich vor dem Essen ekelt, und du läßt ihn gehen.“
„Ich habe mich geschämt, Ferdinand, daß wir Ungeziefer haben sollen.“
„Haben sollen?“ Er wollte sie an der Hand in die Küche abführen, doch sie erhob drohend eine Faust. „Sei nicht böse,“ sagte sie dann wunderbar sanft. „Im Augenblick hatte ich alles vergessen. Wir haben es nicht verdient, wir haben es nicht verdient!! Ich werde schon sorgen, ich ganz allein.“
Er stülpte den Hut auf, warf die Türen und war schnell auf der Treppe, hinter dem kleinen Manne mit den Beuteln her. Gleich darauf stürzte er wieder herein, packte zuerst Hey an beiden Händen, schüttelte ihn hin und her und schrie: „Ich will nicht mehr! Macht mir Luft! Ich habe genug von unserem sauberen Geschäft. Soll ich mir mein Lebenlang wie Krätzesalbe auf die Haut schmieren?! Das wollt ihr! Hey, pfui Teufel über uns!“
Dann griff er Martas Hände mit demselben eisernen Griff und zerrte sie um so wilder hin und wider, als Hey sich an ihn machte und ihn fortzureißen versuchte. „Und du – und du?“ knirschte er. „Ich vergreife mich nicht, habt keine Angst. Aber ich will mich nicht ersticken lassen, hörst du? Schleich nicht so um mich! Tritt auf! Schafft mir einen Ausweg! Ich will dich nicht immer bluten hören! Ich halte es nicht aus. Du läßt das Böse nicht zur Ruhe gehen! Du bist so leise, daß ich dich immer bluten höre. Und dann blutest du leiser, damit ich es nicht höre. Hältst du mich darum, damit ich jeden Tag von neuem zum Schuft werde? Wenn ich vergesse, fragst du mich schon wieder mit deiner Stille! Wenn du deine Kochtöpfe anfaßt und die Lampe, das ist ja, als müßte das alles beruhigt werden, damit es nicht schreit: hetz, hetz! Was du anrührst in unserer Wohnung, das nimmst du mir weg. Du machst mich friedlos, weil du nicht aufhörst, mir den Frieden zu wünschen. Ich ersticke. Ich setze mich zur Wehr! – Laß mich meine Wege gehn!“
Sie starrte ihn bleich und wortlos an.
Er hielt ihrer herausgetretenen Seele nicht lange stand und floh in einen neuen maßlosen Ausbruch gegen Hey, in einen Fluchwirbel, der seinen Beruf noch einmal verwünschte und den ganzen Ekel über die elenden Praktiken, die er von Hey hatte lernen müssen, hinausgellte.
„Stallmann,“ antwortete Hey, „viele Menschen dienen schlechten Dingen. Aber die Mühe des Dienens hebt ihnen die schlechten Zwecke ihrer Dienstherren auf. Andere dienen guten Dingen. Die Mühe macht sie den ersten gleich.“
„Ich will nicht mehr! Ich will nicht mehr!“ rief Stallmann leidenschaftlich, daß die Winkel der Stube es meckernd auffingen.
Damit zog er sich seine Mütze über die Ohren, knallte die Tür zu und donnerte die Treppe hinab.
Hey glaubte, Marta dürfe nicht länger in den Kerkern ihrer Demütigung bleiben. Er hatte sich ausgelöscht mit seinen Leidenschaften, um hilfreich zu sein. Er wußte, daß er alle Hoffnungen auf sie erschlug mit dem, was er nun sagte. Doch sie sollte gerettet sein, und so drang er glühend in sie: „Tu die Augen auf, Marta, tu die Augen auf. Verlaß ihn. Ich möchte dich mit Gewalt aus diesem Hause tragen. Ich möchte dich auf meinem Rücken in unser Dorf bringen. Ich möchte dir den Kot abtrocknen, den er dir Heiligen nachwirft. Wenn du glaubst, daß ich es treu mit dir meine, werde ich nicht eher von dir gehen, als bis du mit mir gehst. Und wenn du mir nicht folgst, Marta, werde ich nicht wiederkommen.“
Sie strich über ein Lachen auf ihrer Wange, das sie wie eine krampfhafte Verzerrung zu kitzeln schien, und sagte: „Dann mußt du gehn, Hey. – Du hast es treu gemeint.“
Hey ging langsam in die Küche, während Marta das Tischtuch glattstrich.
Die Wasserleitung ließ ein langes röchelndes Zischen hören, das untermischt war von knackendem Dröhnen. Unten wurde gezapft. Über dem Herde standen in der Tat ein paar Schaben an der Wand und tasteten mit den langen dünnen Fühlern gemach und unablässig über sich in die Luft oder prüften die Ölfarbe. Manchmal kroch eins der braunroten Tiere ein Stück vorwärts. Hey hatte sein Taschentuch gezogen und wollte das größte töten; als er es ihm näherte, war es in jähem Husch verschwunden. Er trat wieder in die Mitte zurück und dachte an seinen ersten Versuch in der Heimat, Marta von Stallmann zu lösen, und dachte an die Ameisen im Chausseegraben. Die unverständlich fremden Lebewesen, die taub vor der schmerzlichen Donnermusik des Schicksals und doch wie nach ihrem Takte aus ihren Löchern in das Licht und wieder zurückkrochen, waren gewachsen, und statt der weißen Kügelchen hatten sie nervöse Fühler. Sonst nichts. – Leise ging er davon.
In dem Schaufenster eines Ladens sah er Bonbongläser und trat ein. Er wollte etwas kaufen. Es gab viele, viele Kinder, die er beschenken konnte. In jeder Straße standen sie mit andächtig sehnsüchtigen Augen vor den Scheiben, so tief verstummt vor den unerreichbaren Herrlichkeiten, als würden sie nie mehr reden und, kleine Greise, vor dem nächsten Morgen erlöschen. Unter diese Kinder wollte er sich mischen wie unter die fremden Wesen eines anderen Sterns. – Er schrak aus seiner Schwermut auf, weil ihm plötzlich zum Bewußtsein kam, daß er von der Verkäuferin nach seinem Begehr gefragt worden war. Er forderte eine Tüte Glasbonbons, – die großen gelben, roten und grünen Quadrate, die das Sonnenlicht wie eigenes sanftes Leuchten wiedergaben, hatten sein Auge angezogen. Als ihm das Gewünschte zugewogen war, errötete er. Er ließ sich noch zwei Tüten mit teureren Sorten füllen.
Auf der Straße fragte ihn ein kleines Mädchen nach der Zeit. Kaum hatte er die Uhr gezogen und die Auskunft gegeben, so wandte es sich ab, und er blieb für die Kleine nichts anderes als die Laternen oder die Litfaßsäulen. Ihre Kameraden und Kameradinnen hatten die Spielreifen um den Hals gelegt oder zwischen die Zähne genommen und scharten sich um einen Trunkenen. Dieser lehnte sich, um sein unsicheres Gleichgewicht nicht vollends zu verlieren, an die Mauer und wies unter Lallen auf den Kellerhals auf der anderen Seite der engen Straße, auf dem er seine Flasche hatte stehen lassen und die er nun nicht erreichen konnte. Die Kinder hänselten ihn, ohne Anstalt zu machen, ihm zu der Flasche zu verhelfen. Nach einer kleinen Weile waren sie des hilflosen Schluckers überdrüssig und beschäftigten sich wieder mit ihren Reifen. Die Häuser schienen von ihren Rufen wie weggeblasen, leicht wie die weißen Schirmchen der Butterblume, die Menschen schienen ihrem Rennen unsichtbar wie Luft und mußten sich beeilen, auszuweichen. Hey spannte seine Hände um die Tüten in seinen Taschen und suchte in brennender Zärtlichkeitswallung den Augenblick zu haschen, in dem er die Kinder mit einer Verteilung der Süßigkeiten beglücken könnte, aber er wagte es nicht. Dann wollte er den Betrunkenen zu seiner Flasche führen. War er zu schüchtern? Das Abendlicht war so feierlich traurig und forschend, als würde es jedes Geschehnis für ewig in seinen göttlichen Augen aufheben.
Hey ging weiter, ging sich müd, ließ sich zu Hause auf den Bettrand fallen und haßte seine beiden schweren Hände, und wenn er tonlos pfeifend den Kopf nach einem Geräusche auf dem Flure drehte, so merkte er, daß er auf den Kellerhals mit der Flasche oder auf das Schaufenster mit den hohen runden Gläsern gestiert hatte.
Den Tisch nahm eine kugelförmige, halbmannshohe Majolikabowle ein, die auf drei Elefantenfüßen ruhte. Dem Deckel war ein ganzes Elefantenkalb angekittet und diente, wenn man seinen Rücken und Bauch umspannte, als Griff. Rings um das hellblau glasierte Gefäß wechselten Pierrot und Colombine viermal ab; alle Umrisse bestanden aus strohhalmdicken rot und grünen Streifen und glichen den Verzierungen auf Konditorkuchen. Dahinein speicherte er die drei Tüten und ging schlafen. Nachts stand er auf, holte sie heraus und aß sie in seinem dunklen Bette leer, fröstelnd, da er niemand gefunden hatte, der eine Wohltat von ihm annahm.
Er fand keine Ruhe, kleidete sich an und eilte nach dem Büro von Vieweg & Co., um in den Räumen zu sein, in denen der papierene Teufel hauste, der Martas, Stallmanns und sein Glück fühllos zerkaute, jener Dämon, der vielerlei Gestalten annahm, nicht zu fassen war, das Mark des Lebens schwächte und keine Besänftigung durch ein schnelles ernstes Opfer fressen mochte. Er setzte sich auf einen Drehschemel, baumelte stoßweise mit den Beinen und schneuzte sich dazwischen die Nase.
Da hörte er draußen das Haustor schlagen. Ein heulender Knall bückte sich die Durchfahrt entlang, ächzte im Mauerschachte auf und zerplatzte gegen den lastenden Nachthimmel in nichts. Dann klappten Schritte über den Hof, es schloß und Stallmann trat herein. Er grüßte nicht, schichtete Papiere zurecht, drehte das Gas aus und sagte: „Komm herunter, Hey. Geh nach Hause! Poltere nicht! Hör auf zu wippen!“ Er faßte seines Freundes rechten Schuh und hielt ihn wie ein Uhrpendel an.
„Macht mir Luft!“ wiederholte er im Tone seines Ausbruchs am Nachmittage. „Sie treibt mich Luise zu, weil sie mit ihr nicht wie mit einer unbekannten Nachbarin, sondern wie mit Anna verkehrt.“ Und er wiederholte die Vorwürfe gegen Martas stetiges leises Werben um ihn, das seine Räume wie mit pressender erstickender Weihrauchluft anfüllte. Er hatte unter seiner Rede gedankenlos zwei Streichhölzer angezündet, Hey betrachtet und wieder ausgelöscht, auch nochmals seinen Schuh gefaßt.
„Hast du kein Mitleid?" fragte Hey langsam.
„Ich habe Mitleid mit Anna, grauenvoll Mitleid. Deshalb kann sie nicht ruhen und kommt in Luise wieder. Nach einer Weile brüllte er: „Ich schüttle euch ab.“ Dann sprach er noch etwas von einem elektrischen Fische, der einsam im Wasser schwebe und niemand versehre, solange er nicht berührt werde.
Seitdem besprachen die drei sich nicht mehr. Sie erreichten sich nicht.
Doch der Alltag hat seine unzähligen nahen und vertrauten Dinge, die keine Tragödie annehmen, wie Isolatoren gegen Kraftströme, Dinge, die uns ihr unverändertes Gesicht zeigen und, mögen sie noch so zerbrechlich und vergänglich sein, durch ihre Beharrlichkeit uns unendliche Dauer vortäuschen und ihre eigene, endgültige, dürftige Fröhlichkeit in uns entzünden. So bekümmert wir sind, – etwas in uns ist unbekümmert.
Dem gab Hey nach. Er konnte die einbrechende Nacht nicht lichtlos ertragen. Er war ja noch immer auch jener Hey, der sich einmal einen Zylinderhut gekauft, am Harmonium gesessen und das Setzen gelernt hatte. Der ließ von Marta nicht ab.
Er mietete sich damals eine Laube draußen auf Wilmersdorfer Gebiet, eine Wohnung für ihren befreiten geliebten Geist, Marta hatte davon bis heute nichts erfahren und sollte es bis zu ihrem Tode nicht wissen, zumal die Laube nicht mehr bestand und die Kolonie, in der sie lag, auch nicht. Sonntags in der Frühe fuhr Hey hinaus und strich die Bretter oft mit grüner Ölfarbe an. Er bastelte und hielt mit Marta eine so herzlos ehrliche Zwiesprache, als wären sie beide schon im Elysium. Er hatte ihr das Gebiet des Gärtchens mit Malven eingehegt und zog ihr Melonen. Dürre und Feuchte, Wolkenzug und Himmelsreine waren das Geschick, jenseits von Blut und Willen. Eines Sonntags war seine Ernte gestohlen. Er segnete den Dieb und lackte und fegte die Laube wie zu einem Feste.
Länger als einen Sommer dauerte seine Herrschaft über die paar Spaten voll seliger Erde nicht. Eines Tages wurde ein Stacheldrahtzaun um die ganze Kolonie gezogen, bald darauf begann man in der Nähe seiner Laube zu graben nach Schnur und Stab und Keller für zukünftige Häuserkasernen auszuwerfen. Schmale Schienen wurden gelegt, eine winzige Dampfmaschine schleppte sandbeladene Loren durch das kahle, sinkende Tal. Eine Laube um die andere wurde abgebrochen, und bald stand nur noch die seinige und eine benachbarte auf einer erhöhten Insel. Seine Gewächse wucherten bis an den senkrecht heruntergestochenen Rand der künstlichen Wüste. Er verteidigte sie bis zuletzt und suchte ihnen mit der Gießkanne Kraft einzuflößen. Wo der nackte Boden drunten lehmig war, spiegelte sich fast der Himmel. Bei Regenwetter hatte Hey durch kleine Seen zu seinem einöden Eilande zu waten. Und endlich fiel auch sein Gärtchen und sein grünes Lusthaus hinunter und war verschwunden.
Eines Winterabends saß er dann wieder an Martas Tische, ohne daß sie viel redeten, so wie gewöhnlich, sie bei der Näharbeit. In der Wohnung unter ihnen schlug sich wieder die Familie mit den drei lockeren erwachsenen Töchtern. Häßliches Frauengekreisch drang herauf. Auf dem Boden polterten die Mäuse. Karl kam aus seiner Ecke heraus, stellte sich mitten in die Stube, sah Hey an und lachte pfiffig, auf den Lärm oben horchend. Dann ging er, um seine Pfiffigkeit zu erklären, in die Küche und brachte eine Mausefalle mit. Unter der drahtenen Halbkugel lag eine tote Maus. Auf die mit der Nase hinabnickend, sagte er: „Mutter, du hast vergessen, sie zu füttern – Mutter, hör doch zu. Du hast doch gesagt, die wollen wir nicht töten, du darfst sie als Spielzeug haben, und nachher lassen wir sie laufen. – Sie lief herum, ganz schnell, dann fiel sie auf die Seite und nun ist sie tot. Hör doch zu, Mutter.“
Marta schob ihn beiseite. Sie hatte offenbar nichts gehört, Nach einer Weile schrie sie auf:
„O Gott, wir grausamen Menschen! Wir haben ja das Tier verhungern lassen.“ Und wiederum nach einer Weile klagte sie:
„Hey, ich bin wie im Nebel. Anna geht durch die Stuben. Ferdinand sieht sie. Ich sehe sie in seinen Pupillen. Sie sitzt mit ihm am Tisch, er redet mit ihr. Ich gebe ihm ein Hemd, einen Kragen. ‚Leg es aufs Bett,‘ heißt es dann, – nachher empfängt er es von ihr. – Endet denn nie die Nacht im Ziegelofen?! Konnte ich damals denn mit den Prügeln beiseite laufen, still sein und die Prügel brennen lassen! Verwandeln wollte ich ihn: aus Schande kann einmal Ehre werden. Und hatte ich denn noch zu wollen? Ich mußte ja! – Als Karl mit der toten Maus kam, gellte es um mich wie die Posaunen des Jüngsten Tages: die Schande ist nicht Ehre geworden! Und wenn ich stürbe, ich würde Anna auch im Tode nicht gleich sein. Die Tote lebt und ich bin tot.“
Hey streichelte Marta die Hände und sagte: „Komm, wir wollen nach Karl sehen und ihn zu Bette bringen.“
Das Kind stand hinter der Tür und wagte nicht, zu öffnen, weil es seine Mutter nicht klagen hören konnte. Seine Neugier nahm aus den Lauten das tiefe Staunen, das er mit einem deutlichen Inhalte zu trüben sich scheute.
12
In einem Hintertreppengeschäftsbetrieb wie dem von Vieweg & Co. war es nötig, den Kunden mit allerhand gelegentlichen Einbußen an Kraft und Geld gefällig zu sein, um sie zu erhalten, besonders natürlich denen, die viel inserierten. Die Angestellten mußten Mahnungen ausrichten und Einkäufe übernehmen, zuweilen auch den Verkauf überflüssiger Gegenstände besorgen. Was den Auftraggebern trotz aller Mühe nicht glückte, ihnen mußte es ja ein Leichtes sein. Bei ihren Beziehungen! In ihrem täglichen Trubel! Mit ihrer abgefeimten Übung. Sie bürdeten sich nicht selten eine Sorge auf mit einer Miene, als bliesen sie eine Feder vom Ärmel. So geriet Stallmann eines Vormittags an einen schon jahrelang mit der Firma arbeitenden Likörfabrikanten. Seine Destillation lag in den Gewölben der Stadtbahn und nahm dort sechs Bogen ein, über die sich an der Stirnseite dicke rote Inschriften auf grünem Grunde krümmten wie sechs Regenbogen. Flaschenkisten, hochgetürmt, faßten gewöhnlich die Eingänge ein, und ein süßlich ranziger Schnapsgeruch schlug aus ihrem Dunkel hervor. Der Fabrikant hatte von seinem in Ostasien für ihn reisenden Bruder einen prachtvollen japanischen Mantel aus roter Seide bekommen, den er, nachdem ihn seine Frau und Tochter wiederholt auf Kostümbällen getragen, gern losschlagen wollte. Er wandte sich an Stallmann, als dieser ihm sein schweres Pack Belegnummern ausgebreitet hatte. „Selbstverständlich kaufe ich ihn,“ sagte Stallmann dienernd, „sehr freundlich, daß Sie an mich denken, mit Vergnügen, mein Herr. Natürlich gegen Barzahlung, das versteht sich von selbst. Was soll er bringen?“ – „Billig, billig,“ erhielt er zur Antwort. „Es ist ja eine Gelegenheit. Natürlich dürfen sie nicht vergessen, daß der Stoff reine, schwere Seide ist. – „Also äußerst? Wenn ich sofort bezahle?“ fragte Stallmann aufmerksam weiter. Er mußte schließlich einen außerordentlich hohen Preis erlegen und sein zäh Erspartes fast bis auf die Pfennige hingeben. Was half es, der Fabrikant durfte nicht von Vieweg & Co. abspringen, oder er selbst brauchte nicht wiederzukommen. Nun lief er doppelt so schnell wie sonst durch die Stadt, um den Mantel möglichst bald zu veräußern. Aber wer kannte ihn? Wer hatte Bedarf? Welches Geschäft mochte auch nur einen Bruchteil des Kaufpreises anlegen? Die Sonne brannte goldene Kokarden in die Topfhüte der Omnibuskutscher, er fuhr oft in ihren Wagen und kam endlich verdrossen nach Hause.
Der Mantel war notdürftig und unbeschnürt in ein dünnes und zerknittertes Papier geschlagen, das unterwegs aufgegangen war. Marta packte ihn vollends aus und streichelte die Seide.
„O, ein schöner Stoff,“ sagte sie, und sie hätte das Gewand wohl gern umgetan.
Stallmann war ärgerlich, sich um den Verkauf des Stückes vergeblich bemüht zu haben, und nahm es ihr mit barschen Worten aus der Hand. „Willst du es kaufen? Oder willst du statt meiner damit hausieren gehen?“
„Ja, ich will,“ entgegnete sie schlicht. Sie nahm es aber und breitete es über die Wiege, in der Karl zusammengerollt schlief wie an jenem Abend im Ziegelofen, wie gewöhnlich lag die von Hey geschnitzte Puppe auf dem Kopfkissen. Ein Bein des Kindes hing nackt über den Rand heraus. Die Mutter hob hinten das Deckbett auf und packte das entblößte Bein zu dem anderen. Das Kind war vom Kopfkissen geglitten und lag völlig verkrümmt da, Der Mantel überbreitete es mit Herrlichkeit.
„Nun ist sein Elend bedeckt,“ sagte Marta. – „Unser Junge ist groß geworden. Sieh ihn dir an, Ferdinand. Die Wiege ist nicht mitgewachsen. Ich bitte für ihn um eine Bettstelle.“
Ohne zu antworten versetzte Stallmann der Wiege einen so heftigen Stoß, daß Marta sich bückte, um Karl aufzufangen. Er riß den Mantel herunter und warf ihn auf den Tisch.
Nun holte Marta, mit dem Gesichtsausdruck einer schlafwandelnd Verstörten, Luise, bekleidete sie mit dem Mantel und ließ sie ihre Bitte wiederholen.
Stallmann lachte gewalttätig und verbarg seine Demütigung in der Keckheit seiner mehrfach wiederholten Zusage: „Nun ja, natürlich.“
Unterdessen kam Hey ihn abholen. Er war verwundert über Luises Vermummung und ließ sich andeuten, was vorging. Marta rief: „Hüte deine Finger, Hey, der Mantel brennt.“
Luise begriff sie nicht, zog das Kleidungsstück von ihren Schultern und packte es wieder in das Papier.
So ging Hey mit Stallmann. Hey war es, als blieben sie gebannt und beschwert auf einem Fleck und die Straßen schöben sich irgendwie mit langsamen Stichen durch sie, bis sie die Tür zu ihrem Kontor öffneten.
Im zweiten Raume war Licht. Sie hörten Stimmen, offenbar hatte man ihr Hereinkommen nicht bemerkt. Hinter der nackten, roten Chaiselongue, ihnen zugewandt, wiegte sich einer ihrer Mitarbeiter, der mit der verkratzten Glatze, schleicherisch auf den Fußspitzen hin und her, ein anderer, an ein aufgeschirrtes Frauenzimmer geschmiegt, räkelte sich am Türpfosten. Er sagte gerade:
„Los, los, komm rein. Es ist kalt.“
„Nee, wo zwee Männer sind, komme ick nich,“ erwiderte die Frau.
„Du kannst ruhig kommen.“
Nee, dazu hat man schon zu ville schlimme Sachen vernomm'.“
Damit wandte sie sich um, bemerkte Stallmann und Hey und löste ihre Schultern von dem Galan.
„Na ja, so is richtig, noch zweee. Nu aber verduften. Und nich mal Gardinen sind ans Fenster,“ sagte das Mädchen und ging zur Ausgangstür. Die beiden Männer, die halb gegen dieses, halb gegen die Kollegen witzlose Bemerkungen machten, folgten. Die Lage war ihnen peinlich. Aber bald erschienen ihre Gesichter mit greinendem Lachen draußen am Fenster.
Stallmann hatte abwesenden Geistes sein Paket aufgenestelt und ließ die Seide seine Hände überfluten. Da stürzte das Mädchen noch einmal herein, streckte die Arme aus und rief:
„Det möcht' ick mal überziehen.“
Stallmann erschrak und erschauerte, als flösse die aufbewahrte Wärme von Luises Körper mit einmal aus dem Gewebe in ihn über. Er würgte es rasch in das Papier, warf das Bündel hinter sich auf die Chaiselongue und stellte sich wie ein Wächter davor, bis die drei Eindringlinge sich entfernt hatten. Dann fragte er Hey obenhin:
„Na, warum habt ihr eigentlich dieses noble Möbelstück angeschafft, hier im Kontor?“
„Nach der Arbeit ist man müde, man streckt sich hin und denkt nach.“
„Quatsch.“
„Stallmann, Stallmann, du entgehst dir nicht.“
„Sei nicht feierlich, Hey. Willst du mir nicht den Mantel abkaufen? Ich brauche Geld.“
„Hier hast du Geld. Ich bin glücklich, Martas Kind zu betten. – Stallmann, hier haben wir gesprochen. Ich weiß, wie es um dich steht. Und weiß, wie es um Marta steht –“
„Schlag ein Kreuz vor mir, Hey.“
„Tu ihr nur so viel, wie du deinem Pferde tun würdest.“
„Einem Menschen?! – Du Teufel, du Teufel. Lieber nichts.“
13
Am nächsten Morgen – so vertiefte sich Hey mit beruhigter Stimme weiter in seine abgelebten Jahre mit ihren Versuchen, in die schroffen und unzugänglichen Schicksalsentwicklungen seiner Dorfkameraden einzudringen – am nächsten Morgen nahm ich das Bündel mit dem Mantel und ging hausieren. Die Maskengeschäfte wollten meine Ware nicht, obschon ich sie zum Einkaufspreise anbot, weil ich ihre Herkunft nicht nachweisen konnte.
So stand ich denn mittags in der Jerusalemer Straße, unweit der Leipziger, und hatte mein Erlebnis damit. Sie werden es vielleicht nicht verstehen, ich will es Ihnen dennoch erzählen. Wenn Sie an die Legende von dem guten indischen Prinzen denken, finden Sie möglicherweise den Sinn, den meine Qual hineingrübelte. Doch bin ich nicht ein guter Mensch, weil mir eine Tat fehlt, wie sie Mahasattvavan vollbrachte; darum suchte ich mir wenigstens vorzustellen, wie ich mich opfern könnte, um Marta zu erlösen.
Ihr Widersacher war das unangreifbare Schicksal. Wäre er doch ein Mensch gewesen! Wäre er Stallmann selbst gewesen! Aber ihn töten, ihn vielleicht meuchlings überfallen, hätte geheißen, ihr Leben zur unwiderruflichen Vergeblichkeit verdammen, ihr nicht nur einen Haß gegen mich aufladen – den hätte ich um meiner Liebe willen getragen –, sondern ihren Schmerz ins Unendliche vermehren.
Aber ich bohrte so ingrimmig nach einem Auswege, daß ich die Lächerlichkeit nicht merkte, als ich jenen Widersacher doch in einem Menschen gefunden zu haben glaubte.
Er stand jenseits der Straße, ein Mann, groß wie Stallmann und mit dem Charakteristischen seiner Gestalt. Warum Wiens mich so –
„Sie sagen Wiens?“
Ja, er ähnelte dem Metteur Wiens, – als der hier arbeitete, fragte ich mich heimlich, ob er es nicht gar gewesen wäre. Also warum jener Mann mich so haßerfüllt in seinen Blicken hielt, kann ich nicht angeben. Wir alle haben schon in den Hohlwegen der Großstadtstraßen unschuldige Opfer angetroffen, die wir in halben Augenblicken töteten, und haben es Sekunden später vergessen gehabt.
Der Mann wartete wohl auf eine Straßenbahn, und ich begegnete ihm in unrechter Stunde. Auch ich wollte fahren, wohin, wußte ich selbst noch nicht. So sah ich denn stumpf einem Lehrling zu, der vor dem Schaufenster eines Delikatessengeschäftes acht Kisten auf einen Holzbock stellte, indem er viermal Apfelsinen und Feigen abwechseln ließ. Ich wurde am Bündel gestoßen, das quer aufs Trottoir ragte und den Verkehr hinderte.
Der Feind drüben – ich darf ihn Wiens nennen? – stand ganz ruhig da in seinem braunen Pelerinenmantel, der ihn noch fetter erscheinen ließ, als er war, und seinem grauen Zylinder, und er schwang aufgeregt seinen Regenschirm hin und her. Seine Augen richteten sich über das Verkehrsgetriebe steil nach der Ecke der Leipziger Straße. Von Zeit zu Zeit schüttelte er den Kopf oder blähte pfauchend die Backen. Erwartete er jemand, den er aus der Leipziger Straße in die Jerusalemer einbiegen sehen wollte? Die Entfernung war so groß, daß er sich leicht irren konnte: dies war auch schon mehrfach geschehen, und seine Unruhe war jedesmal, wenn er den Irrtum erkannt hatte, gewachsen, was ihn jedoch nicht veranlaßte, einen günstigeren Beobachtungsplatz aufzusuchen, vielmehr seinen Trotz befestigte, und dieser Trotz schoß in den regelmäßig wiederholten Blicken auf mich. Es tat mir wohl, die Nahrung einer ungerechten Anfeindung zu sein.
Einem Würstchenverkäufer, der mit seinem Handwagen nahebei stand, machte es Vergnügen, den Zorn in Wiens anzuheizen, indem er ihm wiederholt frech seine Ware pries. Sein weißgestrichener Wagen, eine fahrbare Küche mit dampfendem metallnem Doppelnapf, trug oben ein von zwei Eisenstangen getragenes Querbrett, dessen Kreideinschrift außer warmen Würstchen eine Speise anbot, die gegen Husten und rauhe Kehle helfen sollte und wovon umsonst Kostproben verteilt würden. Wiens solle durchaus einen Mundvoll nehmen. „'Ne richtigjehende Kehle is wat wert, mein Herr,“ plärrte der Wurstkoch mit beißender Seelenruhe. Darauf rührte er in seinen Nickelkapseln um und setzte die vertrauliche Aussprache fort. Mir sind alle kleinsten Einzelheiten so zum Greifen gegenwärtig, als wäre meine geisterhafte Empfindlichkeit wie ein Starrkrampf zurückgeblieben.
Wiens starrte über den Koch hinweg auf mich, trachtete ihn durch Nichtachtung zum Schweigen zu bringen und geriet in um so größere Wut, als er selbst gerade dadurch immer größere Aufmerksamkeit erregte. Ein Kindermädchen unterbrach das Gespräch mit einer Spreewälderin, um ihn dumm anzuglotzen, ein blödäugiges schlampiges Weib mit zwei schwarzgesprenkelten Hühnerfedern am Hut, die wie Geißhörner nach hinten ragten, drehte sich um, ein Laufbursch mit vier weißen Kartons ging langsam im Halbkreis um ihn, ein kleiner Knabe mit Matrosenmütze hielt ein Mädchen, das in seinen weißen Gamaschen, seinem weißen Pelz und Häubchen wie ein Eisbärenjunges aussah, an der Wand zurück, ein Schneider, der eine schwarze Hülle zart um einen neuen Anzug zupfte, verweilte. Sie alle hätte Wiens am liebsten mit seinem Regenschirm geschlagen, bezwang sich jedoch und stierte auf mich armen Menschen und schob mir all die Belästigungen zur Last: mit Recht, nickte ich hinüber und noch einmal, weil eine wunderliche Angst und Verlorenheit in mir allen Mitmenschen auf der Straße ihr selbständiges Leben entzog und sie so empfand, als rückten sie wie automatenhafte Versucher zu meiner Verwirrung heran.
Vollends der endlose Zug von Wagen, der von rechts und links ganz plötzlich die Straße füllte, dünkte mich in meiner haltlosen Traurigkeit nur eine phantastische, fieberhafte Gestaltung des Ohrenbrausens. Er schnitt dem Feinde Wiens den Blick immerfort ab und mußte seinen Zorn bis zur Entladung reizen. Rollte das alles über mich mit immer neuem Flimmern? Omnibusse, Straßenbahnen, dicht aufgefahren, knirschten heran, ein Dutzend Paketpostchaisen nahmen die Straßenmitte ein. Ich mußte zählen und einem Ausfrager, der meinen Angstschweiß erpreßte, Rechenschaft geben. Mir schwindelte. Die Räder kletterten unheimlich sicher auf die Dächer, brachen in die Mauern ein, die Wagen richteten sich in endlosem Zuge schräg in den Himmel, sausten in Spiralen wie ein ungeheures Karussell um mich: ein stechendblau angestrichenes Hundegefährt, ein durch graue Pläne kastenartig geschlossener Lastwagen mit schwarzweißem Foxterrier – o, ich werde gleich bellen müssen und nicht aufhören können! – bequem auf die Vorderfüße gestützt, unaufhörlich kläffend, offene und geschlossene Droschken – springt Wiens auf ihr Dach und stürzt sich von da auf mich? – ein Rollwagen, hoch mit Reisekörben bepackt, ein anderer, auf den zwei Etagen braune Steinkruken gebaut sind, ein dritter, der einem wandernden Schober gleicht und, mit weißen, giftgrünen, knallgelben, himmelblauen, krebsroten Papierfetzen von den Litfaßsäulen beladen, mühsam dahinächzt – – Marta, Marta, du hast das japanische Gewand an, es brennt, du gehst in Flammen auf, und ich kann nicht zu dir, ich bin in das Karussell gewirrt – ein schwarzer Dreiradkasten, goldschrift- und medaillenbedeckt, ein Karren, starrend von Drahthaken und Kleiderbügeln, ein Fischerwagen voll feuchten, grünlichbraunen Körben, Tang- und Schuppengeruch ausströmend – – eine letzte rote Flamme flackert auf, zuckt, fällt hin, fällt hin, und ich werde ewig in die Nacht hineinbellen, Luise wird einen Aschenhaufen ihrer Schwester Anna im sternigen Purpursaal auf die verklärten Füße streuen. – – Wo bin ich? – – Ohrenrauschen, ein Wall aus Ohrenrauschen um mich, um den furchtbaren Feind drüben aufzuhalten!
Aber nun steuerte er durch das Gedränge, und der Wurstkoch steuerte ihm salbadernd den Karren entschlossen nach. Mir klopfte das Herz: vor dem Umsinken konnte ich mein Opfer vollbringen, ich ging ihm entgegen. „He! He!“ schrie uns ein Droschkenkutscher wütend an und wollte uns mit der Peitsche treffen. Ich sprang vor Wiens auf den Straßenwagen, auf den er wollte. Der Schaffner gab das Zeichen zur Abfahrt und spottete hinterher: „Den nächsten, Dicker!“ Und nun hatte ich zu leiden, wie ich ersehnt: der Verspottete riß mich vom Trittbrett, gab mir wütend einen Stoß, unter unflätigen Ausrufen, wippte auf und fuhr davon. Infolge meiner körperlichen Unbehilflichkeit fiel ich fast und taumelte im Schrecken, vom Lärm der Fuhrwerke umdonnert, bis gegen das Schaufenster der Delikatessenhandlung, um hier doch zu Fall zu kommen. Ich riß die Feigen- und Apfelsinenkisten allesamt herunter.
Als ich, umrollt von den Südfrüchten, meine Gliedmaßen unter Schmerzen aufstoßen fühlte und, dadurch zur Besinnung gekommen, mich alsbald zur Flucht aufraffte, spazierte der Verkäufer aus der Ladentür, hakte seinen Arm voll spöttischer Vertraulichkeit in mein Ellenbogenknie und rief: „Holla, mein Junge! soll das vielleicht in der Soße hier liegen bleiben? Denken Sie Rindvieh, wir pflastern mit unserer Auslage die Straße?“ Ich zuckte in einer Feigheit, die ich mir nicht verzeihe, die Achseln, warf leise ein: „Gott, Sie haben ja den Hergang gar nicht gesehen!" bückte mich dann aber, denn ich wollte wenigstens allen Spott bis zum Bodensatz auskosten, um Martas Erniedrigung zu übertreffen, bückte mich während seines weiteren Geschimpfes hurtig und sammelte die herumliegenden Feigen und Apfelsinen in die Bretterkistchen, zum Gelächter der Umstehenden. Da ich mein Bündel mit dem Gewande nicht weglegte und somit nur eine Hand freihatte, dauerte es eine ziemliche Weile. Ich sprang wie ein Stehaufmännchen und entschuldigte mich. Die behagliche Schadenfreude der Zuschauer stichelte mich. „Da liegt noch eene,“ schrie ein Junge aus dem Hintergrunde. Kaum hatte ich mich aufgerichtet, so rief von der entgegengesetzten Seite ein Stelzfuß: „Immer ‘ruff! hier is ooch noch ’n fauler Appel!“ Und der Verkäufer unterbrach mein Sammeln zuletzt mit der Frage: „Wollen Sie mir gefälligst sagen, was mit dem Zeug, das Sie da einpacken, werden soll?
Ich antwortete so still ich konnte: „Ich will bezahlen. Was bin ich schuldig?“ Der Kommis ging darauf ein und begann die Kisten in den Laden zu tragen, um mir mein Paket zu richten. Meine Barschaft reichte nicht, ich gab noch meine Uhr und würde lange hungern müssen. „Bittscheen, Heer Nachbar,“ sagte der Stelzfuß zu einem Straßenlungerer, „jeben Sie mir doch det Feijenmus da!“ Als er die Früchte in der Hand hatte, klatschte er sie derb in eine der Kisten. „So! un so! Det sind schon mehr Feijenblätter!“ Die Zote, die er daran knüpfte, ging in den allgemeinen Zurufen unter. „Hier is noch wat!“ johlte ein hellstimmiger Straßenfegerjunge und zielte über die Köpfe der Menge hinweg zwei Pferdeäpfel, die er auf dem Fahrdamm aufgelesen hatte. Sie fielen dicht neben mich. Die Aufmerksamkeit richtete sich nun auf ihn. Ich erhielt unterdessen mein Paket, die acht Kisten hoch übereinandergeschnürt. Ich sackte das Türmchen in die flache linke Hand und lehnte es gegen die Schulter, den rechten Arm spannte ich um das andere Paket, und mich durch die Ansammlung zwängend, verfolgt von tobendem Gelächter, wippte ich, für den Gehsteig zu breit beladen, auf dem Straßendamm so schnell davon, wie ich trauergebeugter stiller Krüppel eben konnte.
Mit geschlossenen Augen, schwindelnd im Sieden und Strudeln des vorüberziehenden Verkehrs, erlebte ich all diese Demütigungen. In meinen Träumen erstrahlte immer heller Martas Bild, und sie wurde immer glücklicher und sie war dem Angriffe Stallmanns schon unerreichbar.
Aber an der Wirklichkeit hatte ich nicht ein Stäubchen abgewetzt. Ein Narr kann nur ein Narrenopfer bringen.
Das Gewand habe ich auf einem fremden Hofe in den Müllkasten geworfen.
14
Hier brach Heys Erzählung ab, und er führte sie selbständig nicht mehr weiter, auch dann nicht, als ich seine Gedanken wieder ins Allgemeine zu lenken suchte und als später Marta, auf deren Teilnahme er sich so gefreut hatte, sich zu uns fand.
Ein Maschinenmeister meldete: „Die dreihunderttausend Bogen sind ausgedruckt.“
„Dann können wir gleich die letzte Nummer Ihrer Zeitschrift vornehmen,“ wandte Hey sich an mich. Er nahm das vorletzte orangene Heftchen aus dem Regal über seinem Tische und ließ die Blätter unter seinem Daumen fortstreichen. „Schade, daß der Regulator seine Kugeln stillstehen lassen soll.“
„Gut, dann werden wir die gedruckten Planeten abends am Himmel entdecken, und sie werden uns erst recht als Regulatorengewichte vorkommen.“
„Leichtgläubig wie wir sind.“
Mittlerweile hatte Marta ihren Stuhl bei uns zurechtgerückt und richtete ihren toten Blick in die Ferne, so wie sonst in das Gestänge der Maschine. Es war unzweifelhaft, daß sie aus keinem Drange gekommen war, sie erfüllte Hey nur mechanisch eine Bitte. Und es wurde so, wie es gestern gewesen war. Ein Zwiegespräch entwickelte sich, das mir aufschloß, was ich von den Erlebnissen der beiden noch nicht wußte. Marta war die Redende, Hey immer der Forschende. Sie hatte seine gestrige späte Liebesbotschaft zu den Erinnerungen gelegt und sie nur als Echo im Echo aufgefaßt. Etwas wie weiche Dankbarkeit strahlte in ihrer Stimme mit, doch rückte gerade dies sie aus der Gegenwart ab.
Hey jedoch blühte immer mehr in Hoffnung auf. Seine Wangen wurden abwechselnd rot und bleich. Mitunter ergriff er meine Hand und schüttelte sie und drückte mir damit aus, daß er deutlicher und deutlicher den Sinn seines Erzählens begriffen hätte. Seine Augen rundeten und klärten sich. Er war in einem Krankensaal gewesen und hatte vor dem Anblick der Leiden die Lider geschlossen; sie wieder öffnend, sah er, daß man die Kranken längst hinausgetragen und daß ihn nur der haftende Karbolgeruch geängstet hatte.
Ich spürte, daß die Beziehung der beiden zueinander, die längst in nüchterner Alltagsfreundlichkeit erloschen war, noch nicht ihren Abschluß gefunden hatte. Doch heute noch mußte sich entscheiden, ob Schulkamerad und -Kameradin die Hände zum tiefen Gruß oder zum Lebewohl ineinander legen mußten.
Für den Rest der Erlebnisse Martas mit Ferdinand Stallmann muß ich das Zwiegespräch, das weit mehr ein letzter Kampf Heys um das verehrte Weib war als ein Bericht, ausschalten und will in meinen Worten das Vergangene vergangen sein lassen.
15
Es kam der Tag, an dem Marta Stallmann sich von den Nachbarsleuten trennen mußte. Das nicht zu erstickende Geheimnis drohte sich durch die Verbindungstür zu fressen. Das Schweigen wurde zum unerträglichen Betrug, zum Verrat freundschaftlichen Vertrauens. Vielleicht ein Unglück, vielleicht ein Verbrechen machte sich schon auf, bei Weises einzufallen. Darum fliehen!
Luise brachte neue Arbeit herein. Marta war in der Küche. Sie hatte Ferdinand lange in der dunklen Stube auf- und abgehen gehört. Nun stand er still. Luise sagte laut, damit es Marta draußen höre: „Frau Stallmann, hier sind die fälligen Pakete. Den Rest bringe ich gleich, es ist noch ein Armvoll.“ Marta hörte sie zurückgehen. Stallmann hatte sie nicht begrüßt, noch sich überhaupt bemerkbar gemacht und blieb auf dem Fleck, an dem er seinen Gang abgebrochen hatte. Nach einer kleinen Frist klinkte Luise wieder auf und legte den Stoff auf den Tisch mit der Bemerkung: „So, da ist das übrige.“
Da stöhnte Stallmann auf.
„Anna!!“
Luise entfuhr ein kleiner Schrei, sie hatte sich erschrocken.
„Anna, ich muß dir etwas sagen.“
„Ich bin doch nicht Anna. Mein Gott, die ist doch lange tot.“
„Du bist es ja. Ich werde dir von dir etwas erzählen. Es ist Zeit.“
„Lassen Sie meine Hände los! Lassen Sie los, ich schreie! Was ist Ihnen bloß! Ich schreie!“
Damit hatte sie sich losgerissen, schlug die Tür ins Schloß und lief in ihre Wohnung.
Marta wußte, Stallmann war daran gewesen, ihr zu offenbaren, was auf ihm lastete, sinnlos, ohne zu fragen, was dann geschehen sollte, fände der jetzige Zustand nur ein Ende. Kalkstückchen raschelten in der Korridortapete wie ein kaltes Spottwerk jenes Rieselns, das über ihren Rücken fuhr. Der Topf auf dem Herde sah sie an wie eine Weisheit. Wenn Feuer darunter ist, kocht das Wasser, und wenn es kocht, springt es heraus, wäre es auch ins Feuer selbst.
Sie trug die Lampe hinein. Stallmann stand gebrochen am Tische. Ehe sie mit ihm reden konnte, kam Frau Weise mit einer anderen Lampe herein. Nun schützte ihn Marta mit aller Güte, nötigte ihn aufs Sofa, beschwichtigte ihn wie einen Kranken, so daß Frau Weise nicht zu Worte kommen konnte.
Endlich dann griff sie allen Fragen vor. Die Augen täten ihr weh. Sie wollte nicht mehr nähen. Die neuen Pakete sollten ungeöffnet zurückgehen. Sie danke für alle Freundlichkeit bisher. „Und nun lebt wohl.“
Es war ein Bruch ohne Vorwand, so offenbar, daß jede Frage abgeschnitten war.
Nach der Entfernung der Frauen ging Ferdinand leise aus dem Hause. Er blieb die Nacht aus und den folgenden Tag. In der herausgezogenen Schublade des Tisches fand Marta Geld. Sie nahm es nicht.
Gefestigt, aber verschlossen wie ein Fels erschien sie am übernächsten Vormittag bei Hey und sagte zu ihm:
„Besorge mir eine Arbeit, damit ich mich mit Karl durchschlagen kann. Darum bin ich hier. Irgend etwas, das Niedrigste ist recht. Es muß gleich sein und außerhalb unserer Wohnung. Und den Kleinen muß ich mitnehmen können. Soll ich mitkommen? Wir können sofort gehen. Ich warte in einer Nebenstraße, wenn du mit einem Brotherrn sprichst.“
Hey wollte beginnen, sich anzuklagen, daß er seit langen Jahren den gewaltigen Strudeltrichter zu graben begonnen habe, in den sich nun soviel Bitteres in immer größere Enge hinabstürze. Sie schnitt ihm die Anklage ab. „Hey, du bist gut gewesen. Immer gleich. Du hast bloß zugesehen und nichts gewollt, so wie die Wände, über die man sich zuerst ärgert und über die man froh ist, wenn sie lange um einen gewesen sind. – Sei so gut, komm.“
Hey besorgte ihr die Stelle. Der Likörfabrikant, von dem sie den japanischen Mantel hatten, saß in seinem Kontor im Stadtbahnbogen und spießte mit verdrießlichem Gesicht Papiere auf einen Messinghaken. Dabei kniff er die Lippen zusammen, daß die lange Zigarre, die zwischen ihnen steckte, sich bis über die Brauenwurzeln aufrichtete. Auf die nachlässige Frage, was Hey brächte, erwiderte der, daß die brave Frau jenes Kollegen, der ihm das Gewand abgekauft, verlassen und in Not geraten sei und daß er unbedingt etwas für sie tun müsse.
„Kann sie was?“ fragte er kalt.
„Sie ist fleißig und anstellig, auch nicht ungebildet.“
„So, so.“
Er nahm sie als Aushelferin zum Etikettenkleben und Flaschenspülen an, da sie ja nicht heikel wäre.
So saß Marta denn schon nächsten Tages mit groben und rauhschnäuzigen Weibern zusammen im Bretterverschlage unter dem Stadtbahnbogen. Sie war schüchtern freundlich zu ihnen. Bald konnte Hey ihr die Nachricht bringen, daß Stallmann im Büro der Inseratenexpedition auf der Chaiselongue schlafe und auch um ihre Arbeit wisse.
Stallmann und Marta verfielen in ihrem Gesicht.
Die gemeinsame Wohnung suchten sie auf, ohne einander zu begegnen, sie zu den Mahlzeiten und nachts, er vor ihrer Heimkehr nachmittags, um sich Kleinigkeiten des täglichen Bedarfs zu holen. Geld brachte er nicht mehr, da sie nicht nahm, was er hinlegte, und da er infolge seines täglichen Besuches von Speisehäusern und Schankwirtschaften auch bald nichts mehr erübrigte.
Er trug das neue Leben und sie versuchte es zu tragen. Aber es wollte nicht gelingen.
In einem Kalender fand ich eine Zeichnung, die einen alten Musikanten darstellte, wie er vor einer winzigen Orgel neben der Sonne sitzt, mitten im Raume. War auch leere Luft unter ihm, so beruhigte ihn doch, daß sein Sitz eine Fußbank war, aus rohem Holze gezimmert, mit krummen Fasern und Masern, wie sie in den Wäldern der Erde wachsen und auf unserem Hausrat zu sehen und zu tasten sind, und diese Adern reichen für uns weiter in den Weltraum, als die wirbelnden Glutbälle reichen, obgleich die Sägen sie zersägt und die Messer sie abgeschnitten haben.
Marta suchte immer mehr die Einsamkeit. Wenn sie um acht Uhr abends die Schürze abband und mit den übrigen Frauen wegging, so fand sie keine Ruhe, sondern kehrte wieder. Sie fühlte sich in dem Bretterverschlage wie eine Abgeschiedene in ihrem Sarge und wollte in ihrer niedrigen Arbeit begraben sein. Sie zündete die Gasflamme an, das Licht bildete nach oben einen zart durchsichtigen Buckel und der trug die eisernen Lasten der tausend dunklen Räder der Bahnzüge, ihr Knabe spielte neben ihr, meist mit seinem Mann im Monde, und sie vertiefte sich in die Buchstaben der Etiketten, als hätte sie eine dunkle heilige Schrift zu enträtseln. Plötzlich wandte sie das rechteckige Papier um, fuhr mit dem feuchten Schwamm über die gummierte Fläche und war schon wieder hilflos versunken. Die Züge stampften und grollten über ihrem Kopfe, aber die Schläge der Räder auf die Lücken im Eisen waren zu hoch über ihrem Scheitel und hätten ihn doch treffen sollen. Sie stellte sich das Gewimmel der Menschen und Gefährte in den Straßen vor: dann war es gleichsam, die Bewegung des Blutes in ihrem Haupte brächte das Rauschen und Gären in ihren Ohren hervor, und das vorgestellte Licht in den Straßen wurde zum Flimmern vor ihren Augen.
Manchmal sprang sie auf, ergriff den Knaben bei der Hand und führte ihn durch die dunklen Fabrikräume, vier Bogen, groß wie Säle. Er zerrte sie und fürchtete sich, je mehr, als sich die Augen an die Finsternis gewöhnten. Von den Straßenlaternen her hingen fahle Lichtsäcke durch die vergitterten Fenster herab. Die großen Kupferkessel sahen in ihrer Starre gespenstisch aus und glichen glühenden dickbäuchigen Riesenfröschen, denen man die Beine zu endlosen steifen Rohren ausgezogen hatte. Es roch nach Kräutern, Zucker und Fusel. Man spürte etwas klebrig Süßliches mit der Zunge. Kam ein Zug über ihren Köpfen heran und schlug seinen dröhnenden Donnerschlag in die Nacht herunter, so erhob sich ein langes Klirren im Metall, und es war, als wollte es fortschwellen, bis die kupfernen Ungetüme laut schrien und predigten, ehern, für ertaubte Ohren. Sie mußte stehen bleiben. Und dann war alles vorüber.
Sie aber schien währenddessen in einen tieferen Keller gesunken, worin doppelte Stille und doppelte Einsamkeit hauste und aus dem sie hinaufsteigen mußte, um sich zu retten und vor allem ihr Kind, das doch an ihrer Verdüsterung unschuldig war und keinen Anteil haben sollte.
Ja, hinansteigen, – aber wie und wohin? Dabei fiel ihr Blick auf die Leitern, die unter den Gewölben auf Haken hingen. Vielleicht dienten sie dazu, um auf die Kessel zu steigen, vielleicht sollten sie bei Feuersgefahr zur Hand sein, vielleicht hatte sie die Eisenbahnbehörde hier untergebracht, um die Geleise erreichen zu können. Der erste Anblick weckte ihr ein unklares Gelüste, sie zu mißbrauchen. Es tauchte auch die gräßliche Erinnerung in ihr auf, wie ihr Mann mit der Toten zum Taubenschlag hinaufgestiegen war, und sie wünschte sich wieder, wenngleich unter Grauen, diese Tote zu sein. Sie durchlebte noch einmal ihre schauervolle Hochzeitsnacht und hob den Knaben auf und hielt ihn quer über beide Arme, als hätte sie einen Leichnam eine Treppe hinaufzutragen. Das Kind erschrak und zappelte in ihrer Umklammerung. Dabei fiel seine Puppe herunter. Karl wollte sie wiederhaben. Sie fragte ihn, ob er sie denn so sehr liebe. Er bejahte. Was er denn anfangen würde, wenn er das Männchen nicht mehr hätte? – Immer suchen, bis er es wiederfände. Bei seinen Worten war ihr nun plötzlich das Kind nicht der Sohn seines Vaters, sondern der Vater selbst, und die Puppe war die Tote und zugleich sie selbst. Sie hielt die Figur auf ihren Rücken und wich zurück. Das Kind schlug beide Arme um ihre Hüften und suchte das Spielzeug zu erhaschen. Es reizte sie, grausam zu sein. Dabei fielen Tränen aus ihren Augen. Nun ließ Karl sie los und blieb stehen, während sie noch einige Schritte rückwärts ging.
Sie sagte jähen Entschlusses und mit fliegender Stimme:
„Der Mann im Monde will dich prüfen, ob du ihn wirklich lieb hast und ihn überall suchst.“
Eine schmerzliche Verklärung war über sie gekommen. Sie ging durch die Fabrikräume und sah nach, ob die Tür nach der Straße gut geschlossen sei. Darauf öffnete sie ein Tor, das nach der entgegengesetzten Seite auf einen Hof mit hageren Bäumen, Fässern und Handwagen führte; Brandmauern wichen in weitem Zickzack von ihm zurück. Sie löste eine der Leitern, trug sie hinaus und stellte sie an den Mauerwall der Eisenbahn. Dann ergriff sie die Puppe, stieg mit ihr hinauf, schleuderte sie auf die Geleise und kam zurück. Karl bei der Hand nehmend, deutete sie hinauf, ohne sprechen zu können. Wollen wir sie suchen? fragte ihr bleiches Gesicht.
Ein Zug brauste heran, der warme Wasserwrasen wurde von der nassen Nebelluft heruntergeworfen, und dann zogen die Fenster, Staketen goldenen Lichtes, rauschend über die Kronen der Bäume.
Als das vorüber war, sagte Marta, nun sei die arme Puppe vielleicht überfahren und blute sehr, sie müßten sie holen und ihr helfen. Sie nötigte und zog den Kleinen zur Leiter. Er willfahrte anfangs willig und stieg, stieg ihr Sprosse um Sprosse voran, und sie folgte ihm Sprosse um Sprosse. Auf der Mitte aber machte er halt und versuchte hastig, um sie herum und zurückzukriechen. Sie wehrte ihn ab und schwatzte voll Angst und Verzweiflung auf ihn ein, bis er sich mit dem ganzen Körper fest an einen Holm klammerte und in ahnungsvoller Todesangst sagte: „Du sollst mich nicht schlachten.“ Da sah sie ihn mit großen steinernen Augen lange an, tat den Mund weit auf, erwachte, war wieder in dieser Welt, ließ die Hände los, zuckte und fiel wie in einem Schwindel herab. Der Knabe stieg zu ihr hinunter, streichelte und tröstete sie.
Er stand blitzschnell auf, als es von der Straße her klopfte, und ging öffnen. Es waren Hey und Stallmann. Der Junge brauchte nur wenig zu erklären, so hatten sie begriffen, was hier vor sich ging.
Stallmann stapfte mit großen Schritten umher. „Beinahe drei umgebracht. So kommt man dazu,“ sagte er bitter. „Feine Bude das hier, muß man einmal ansehen.“
Er strich Streichhölzer an und ging, damit leuchtend, rasch durch die Fabrikräume, als wären die anderen beiden nicht vorhanden. Sie folgten zögernd. Stallmann horchte mit einmal auf, als sich in den Ecken ein Brausen wie von einem Wasserfall erhob, warf das brennende Hölzchen jäh aus der Hand, versetzte Karl, der ihm im Wege stand, eine Maulschelle, stürzte zum Tor hinaus, die Leiter hinan und ließ sich überfahren.
Es folgten langwierige Vernehmungen, die jedoch nicht viel zutage förderten. Nahrungssorgen hätten beinahe die ganze Familie in den Tod getrieben, der schreckliche Anblick des Selbstmordes ihres Hauptes hätte Frau und Kind im Leben zurückgehalten, hieß es in den Zeitungen.
16
Über Stallmanns Tod hinaus begleitete mich keiner meiner beiden Führer. Ich konnte die Jahre seitdem ahnend füllen, wie ich wollte. Hey mochte die Anzeigenjagd gleich aufgegeben und Marta hierher in die Druckerei mitgebracht und einem sicheren, ruhigen Broterwerbe zugeführt haben. Was innerlich aus ihnen geworden war, hatten sie mir gestern und heute vorgelebt. Um das kleine Weib war der vergrößernde Hof seelischen Raums erloschen.
Jetzt versanken sie beide in ein stummes Sinnen.
Wieder machten sich die ersten Setzer für den Heimweg bereit. Da sprang auch Marta auf, band die Schürze ab und sagte: „Jetzt muß ich gehen.“
„Du willst fort?“ fragte Leopold erschrocken und ergriff ihre beiden Hände.
„Ja, ich habe Kopfschmerzen von dem vielen Wind. Karl sitzt schon auf meinem Platz hinter der Maschine.“
Damit nickte sie mir zu und ging.
Die Arbeiter folgten ihr einer nach dem andern. Sie sahen in den Straßenanzügen, die sich in den Schränken und Verschlägen gleichsam steifgehangen hatten, wunderlich verkleidet aus. Am meisten Zeit ließ sich der Greis mit den fröhlichen Augen. Er hob mit milder Sorgfalt drei geleerte Bierflaschen gegen das Licht und prüfte dann mit dem Munde nach, ob er auch recht gesehen hätte. Darauf teilte er uns mit, er habe noch immer keine Nachricht von seinem vierten Sohne und schritt den anderen nach.
Hey fröstelte und begehrte ebenfalls nach Hause zu gehen und zu schlafen. Das Maschinenpersonal könne selbst fertig werden. Als er den Riegel seines Kittels löste, bat ich ihn, erst mich fortzulassen. Ich möge ihn nur in diesem großen grauen Mantel sehen.
Da wurde er gerufen. Ballen neuen Papiers waren angekommen, die auf dem Fahrstuhl noch nach dem Boden gebracht werden sollten. Er ging die Treppe hinab und ließ das Papier auf die Plattform des Lastenaufzugs wälzen. Er öffnete die Verpackung, um den Raum auszunützen. Die Bogen waren gelb, „zu Plakaten für ein Warenhaus“, erläuterte er. Als sie glatt hingeschichtet waren, kletterte er zu ihnen in den Fahrkäfig hinein, der einer platten Mausefalle glich und nur zur Förderung von Lasten dienen sollte. Karl stand oben und drückte auf den Knopf, Hey stieg im dunklen Schachte auf. Oben angelangt, rief er dem Jungen zu: „Nun nach unten.“ Der Stuhl sank.
Und wieder ließ Hey sich heben. Lächelnd bedeutete er dabei dem Knaben: „Laß mich ein bißchen hin und her fahren, es tut so gut.“
Der Junge gehorchte, wenn er auch ein wenig verwundert war, und setzte eine sachliche Miene zurecht. Hey aber ließ den Kopf sinken, so daß sein Buckel das Höchste an seiner Gestalt war, und die seitwärts gekauzten Beine ruhten, auch irgendwie verkrüppelt, zwischen den steifen Pfählen der Arme. Sein grauer Kittel nahm ihm beinahe die Wirklichkeit. Mir schien, nicht das Seil, sondern das Papier höbe ihn wie eine gelbe Wolke in das Dunkel auf und senkte ihn wieder, mehrere Male. Endlich kroch er aus dem Käfig.
Ich wollte mich verabschieden.
„Wenn einer die Schnur durchschnitte,“ sagte er, „dann sauste man auf die Steine und fiele in das Häufchen Unglück zusammen, das man ist.“
Es war ziemlich jäh dunkel geworden. –
Während ich zur Bahn ging, entglitt mir das uns Menschen vorbestimmte Formbewußtsein, das den Raum in uns ordnet, die Gegenstände auswählt und uns zuschiebt, an denen die Augen sich halten sollen, die Ruhe der Farben und Laute, aus denen sich immer Alltag – das wahrhaft Übernatürliche – bildet, in dem wir so still und sicher werden, daß wir es verwunderlicherweise wagen, die Füße voreinander zu setzen, unseren Hunger zu stillen und uns zu freuen. Ich befand mich in dem Raum, in dem einst Marta gelebt hatte.
Überaus dichtes Schneetreiben verwirrte die Straßen und verklebte die Augen. Die sahen oft wie durch Prismen. Das Pflaster wogte und brach in geschichtete Schollen entzwei, daß es flügelgleich sanft in den Himmel hätte schlagen können. Das Grau der Höhe stieg hernieder, daß die bunten feuchten Litfaßsäulen darin aufragten wie Burgen in der Stadt Gottes und die Sterne gleich Bienenschwärmen musizierend ihnen naheflogen. Die Häuserlängen schlichen gleich einem Rauch davon, die Läden, in die man sah, hatten geheimnisvoll die Kanten verloren und waren aschenumkrustete Höhlen um einen Feuerschein, dessen nährende Glutquelle unfaßbar fern rauschte. Unfaßbar fern alles.
Ich sah durch ein rundes Haustor in einen kleinen Hof, worin eine Laterne ein altes, überraschend schönes Häuschen bestrahlte. Zwei Stufen sockelten eine schmale Tür, darüber umfaßte eine schwarze Girlande die Inschrift „Willkommen“. Die beiden Fenster zur Seite der Tür waren blau verhängt und sternbildgleich von diamantenen Lichtkrumen zerstört. Der Raum dahinter sang, mit einer Stimme aus mir. Unfaßbar ferne Welt!
Im Hofe stand ein Schneemann mit Aschenklößen als Aug und Ohr und Mund. Er waltete in dem herabgestiegenen Himmel, der überall zu Ende war vor Nebeln der Unendlichkeit und wieder nur eine Erscheinungsform der inneren Stimme war. Eingebildet war alles Greifbare, nur eingebildet meine Hand, meine Stirn, mein ganzer Körper.
Und zum dritten Male rauschte derselbe imaginäre Raum mir zu Füßen unter dem Roste eines Gullys, in den das Schneewasser hinabgurgelte; ein Silberkamm aus Fischgräten strählte es wie Haar; es löste sich in grauen Himmel, in eben jenen unendlichen Raum, den unsre Schwermut aussendet, dann befestigt und endlich aufhebt, wenn sie selbst aufhört.
Ich wußte, daß ich jetzt in dem allen einen Augenblick aus dem Leben Martas sah, ohne ihren Schmerz zwar, – aber ihn doch sah, wie er das Licht der Sonne überstrahlte und sie mit ihren Trabanten erst zum Gleichnis machte: zur vergänglichen Schöpfung eines Schöpfers.
Das war ihr Wert.
Ich schwärmte, aber alle Wahrheit läßt sich nur schwärmend verstehen.
Der Anlaß war für mein Ausschweifen wohl zu klein, – aber ich Phantast will ja dankbar sein, Muscheln aufzuheben und Meere in ihnen zu hören, die von Schiffen nicht befahren werden. –
Nach einigen Tagen besuchte ich wieder die Druckerei, um die Schlußrechnung für unsere eingegangene Zeitschrift zu besorgen. Ich suchte meine Bekannten umsonst und hörte, Frau Stallmann sei mit einer Arbeitsschwester abgegangen. Sie hätten in einer anderen Großstadt gute Stellen in Aussicht. Vorher habe sie eine lange Aussprache mit Hey gehabt.
Dieser war ebenfalls nicht zugegen. Er läge krank in seiner Wohnung. Ich erkundigte mich, wo die sei, und fuhr zu ihm.
Er wollte mich auf mein Klopfen durchaus nicht in sein verriegeltes Zimmer einlassen. „Ach, Sie sind es?“ rief er nur mit glücklicher Stimme. „Das ist schön. Ich danke Ihnen. Gehen Sie nur wieder. Ich bin gesund. Bitte gehen Sie nur wieder.“
Ich mußte ein paarmal meine Bitte, er möge öffnen, wiederholen, bevor er an die Tür kam. Endlich stand ich vor ihm, das Hemd hing wie ein gebleichter Setzerkittel an ihm herab. Er schlüpfte gleich ins Bett zurück und schloß die Augen. Ich setzte mich. Bald fabulierte er vor sich hin:
„Alle sind sie noch da in der Druckerei. Nur Pelzer fehlt. Der ist tot.“
„Nein, ihr seid wohl fort, aber Pelzer ist da.“
„Marta ist auch fort?“ fragte er sich aufrichtend, öffnete die Augen und erbleichte.
„Ja, sie hat den Dienst dort aufgegeben.“
Er legte sich wieder, unglücklich und so klein, als ständen keine Haussparren, sondern nur ein Frosthimmel als fernes Dach über ihm, und malte mit dem Zeigefinger Figuren an die Wand.
„Warum nur muß immer der selbstgeschaffene Doppelgänger ohne Fleisch und Blut alles vollbringen?“
„Auch der indische Prinz,“ antwortete ich, „der sein Fleisch und Blut der Tigerin opferte, war nicht Fleisch und Blut.“
Er sah mich lange an, dachte nach und begriff, stand dann auf, kleidete sich an und sagte: „Ich will wieder zur Arbeit gehen, mir fehlt ja nichts.“ – –
An diesem Abend war ich von den Eindrücken der jüngsten Zeit zu bewegt, als daß ich hätte einschlafen können. Das murrende Beben des Arbeitshauses war noch in meinem Fleische, die Laute eines winterlichen Regens draußen, die wie ein Nägelkratzen über das Fenster des Schlafzimmers fuhren, erreichten die abgekehrte Welt meines Gehörs nur so zufällig wie das fahlverklärte Gesicht der Dunkelheit die Welt meiner Augen.
Ich sah breite Treibriemen vor mir schweben und schwanken. Die großen Räder, von denen sie heraufkamen, liefen tief in fast unzugänglicher Finsternis. Die Riemen reichten quer durch den Luftraum und verschwanden in den Wolken; sie lagen weit auseinander wie manchmal die Lichtstriemen einer verhüllten Sonne, – und nun endeten sie hinabwärts gleich diesen, die einen in Wäldern, die anderen in Schnee- und Felsenwüsten zerklüfteter Gebirge. Der mittelste hing in unsere große Stadt nieder, deren Bild sich durch eine blakige Röte rang. Alle Häuser darin standen in verschlossener Einsamkeit; einige Lichter waren als kleine Einsamkeiten in die größere gesetzt. Nur der Arbeitssaal unserer Druckerei lag offen da und nüchtern belebt wie immer. Aufmerkend entdeckte ich, daß der Riemen aus den Wolken jetzt unten eine Presse trieb, hinter deren Ausleger Marta saß wie gewöhnlich. Auf der schrägen Lederbahn aber ging Leopold Hey hinauf, den Kopf vor seinem Buckel. Der Weg lief ihm unter den Füßen davon, nach rückwärts, dennoch gelangte er allmählich in die Höhe. Wenn das Band sich einmal schneller senkte, schien er sich die Mühe nicht verdrießen zu lassen, die verlorene Strecke zurückzugewinnen. Er wippte behende mit hinab und pilgerte schon wieder aufwärts. Straffte es sich, so schnellte er leicht ab und bekam es mit ein paar tanzenden Schritten unter die Füße.
Er sah sich dabei immer nach Marta um, und wenn der Rechen mit dem Papier ihr seinen Wind in die Haare schlug, zuckte er in Zärtlichkeit zusammen. Obschon seine Wanderung emsig fortdauerte, blieb er ungefähr in der Mitte zwischen Erde und Wolken. Manchmal spähte er, das Ziel seiner Wanderung suchend, hinauf. Wie ich seinen Augen folgte, sah ich zwischen dem Gewölk eine Laubenkolonie und mitten darin seinen Garten. Ein grünes Gitterhäuschen glänzte hinter den gekreuzten Stäben des Zaunes, und Malven, kleinen Tannen gleich, bildeten hinter dem Zaune eine rosarote Hecke.
Endlich war er oben und pflückte die schönste und größte Melone. Lachenden Gesichtes trug er sie zurück, zu Marta hinunter. Doch fanden seine Füße auf dem unter ihnen immer voranschießenden Wege nicht zurecht, er strauchelte und stürzte ab. Marta hatte von alledem nichts gesehen, sie rückte die Bogen zurecht, und nah über ihr war wieder der undurchsichtige Backsteinhimmel des Saales.
Nun schlief ich bald ein.