ERSTER TEIL
JOHANN SEBASTIAN BACH
ODER:
WANDLUNGEN EINES GEDANKENS ÜBER DIE MUSIK UND IHREN GEGENSTAND
„Bach ist kein Musiker, er ist die Musik selbst“, sagte der bedeutende belgische Komponist Edgar Tinel und empfahl ihn der singenden Katholischen Kirche als Reformator. Veränderte man das Wort in den Ausspruch: „Bach ist die Kunst selbst“, so hätte man es weder vergrößert noch verkleinert noch verfälscht, weil es nicht mehr eine Reihe erhabener und ergreifender Werke preist, sondern auf die Verfassung der Welt gerichtet ist, die gestaltet so offenbar wurde, daß sich nichts ändert, ob man die Welt als Gleichnis der Kunst oder die Kunst als Gleichnis der Welt ansieht.
Den Ausschlag der Wage nach der einen oder der anderen Seite zu rücken, das ist der eigentliche Kampf des bildnerischen Willens und Geschmacks aller Zeiten, welche Antithesen er auch zu seinem Feldgeschrei erwähle. Betrachtet man darum einen Geist wie Bach, so wird die Betrachtung eine brennende Not jeder Gegenwart treffen müssen, und von den Ergebnissen wird vieles auf andere Künstler vor ihm und nach ihm anwendbar sein, nur die Gesamtheit der Ergebnisse nicht. Was ist diese Gesamtheit? Etwas dem Grauen Vergleichbares, Winkel und Pentagramme zeichnen zu wollen und immer denselben Kreis ziehen zu müssen. Etwas wie das Glück, in alle Richtungen der Windrose zu wandern und doch den Zenith über sich zu behalten.
1
Bachs Themen ragen nicht in die Zeit, sondern in den Raum. Von seiner Mitte her, nämlich dem Sinne und Geiste der Themen, weisen viele Achsen in seine Dimensionen. Solche Achsen können verlaufen: melodisch nach der Höhe und Tiefe, rhythmisch nach der friedlichen und unruhigen Seite der Bewegung, harmonisch gegen die Dissonanz und volle Konsonanz, farbig von der hellsten Diatonik zur dunkelsten Chromatik. Die dynamische Achse wird meist erst in der thematischen Verarbeitung sichtbar in Gegensätzen wie: Solo, Ripieni, Tutti; oder Behauptung und Echo; vokal und instrumental. Die Tendenz nach allen diesen Richtungen kann mechanisch oder seelisch vom stillsten bis zum leidenschaftlichsten, extremen Stärkegrad befolgt werden. Danach werden Begriffspaare wie hoch und tief, konsonant und dissonant, ruhig und unruhig usw. das Resultat ihres Daseins nicht mehr genügend bezeichnen, zumal kein Paar vereinzelt auftritt; sie müssen gleichnishaften Namen weichen, Tag und Nacht, Alter und Jugend, Verzweiflung und Friede, Tod und Leben. All das als musikalische Raumdisposition. Musik als solche ist gegenstandslos, aber nicht abstrakt. Insbesondere die imitatorischen Formen, welche die Ära Bachs beherrschen, fordern, daß etwas vorhanden sei, was imitiert werden könne. Was sich in ihnen voneinander absetzt, kann also nur räumlich sein. Zeitliche Relationen konturieren nicht den Kanon oder die Fuge als Ganzes, sondern nur ihr Baumaterial. Die zeitlichen Relationen richten ihre Zeitdauer nach dem Raume ein, den das Thema sich aufbaut. Die Beziehungen stehen von Anfang an fest.
Daher kennt die Musik Bachs keine Entwicklung ihrer Gegenstände aus dem Chaos. Höchstens könnte das Chaos zum Gegenstande der Entwicklung werden. Als Form wohl, sonst in keiner Weise kennt sie einen Beginn, einen Schluß. Sie bricht an, sie bricht ab – sie ist da. Sie scheint ewig nach dieser sinnlichen Tatsache, nicht nach dem Urteil des ihr Ewigkeit zugestehenden Bewunderers.
Die Formen einer Fuga, eines italienischen Konzerts, eines Tanzes, einer Dacapo-Arie mit Orchesterritornell, die sich ja alle in den wortbegleiteten und wortauslegenden Kirchenmusiken finden, hängen ausschließlich vom Willen zu ihrer eigenen Gestalt ab. Sie können, sobald sie zu sich selbst entschlossen sind, nicht mehr auf ein Ding außerhalb ihrer selbst blicken, sie müssen sich ihre Dinge schaffen. Das musikalisch Urerschaffene hat seine Raumverdrängung, seine Zeitrelationen. Daß es sich der draußen gültigen Zeit bedient, um sich empirisch zu entfalten, nimmt seiner Gesetzlichkeit nichts weg, gibt ihr nichts zu. Der Spieler oder Hörer braucht die Gangart Allegro oder Adagio zur Ausführung, die Gegenstände selbst brauchen sie nicht: sie sind allegro oder adagio. In der späteren, der Homophonie mehr zugeneigten, Musik änderte sich das. Dort ist der Komponist schon der Zuhörer oder Vorspieler seiner Regungen und Erregungen, — Mozart vielleicht ausgenommen. Beethovens Musik sagt: Leid geht schweren, betrübten Schrittes einher; schwärmerische Glut hat ihr Wesen, sich zu zeigen. Bei Bach ist es umgekehrt: weil das Leid Leid ist, bewegt es sich seufzend, trübselig. Nicht die Person deutet die Welt, sondern die Welt deutet sich selbst, und wo sie an Personen gebundene Inhalte hat, deutet sie somit auch die Personen. Die Teilnahme anderer ist eine Frage zweiten Ranges.
Man darf das von ihm erlöste Leben nicht mit dem unerlösten hier unten, hier um uns vermischen, — um beider Leben willen nicht. Vollkommene Kunst steht nicht mit einer Fußsohle in der unerlösten Wirklichkeit von beispielsweise 1720, mit der anderen in der zeitbefreiten Wirklichkeit, sondern ganz und gar im idealen Raume, und dieser Raum zählt dann vielleicht in der nur ihm eigenen Zeit auch sein Jahr 1720. Geballtes Wasser, schwebende Kugel!
Sieht man Plastiken von Michelangelo, so kann man aus dem an ihnen Sichtbaren ermessen, welche physischen Lasten sie schleppen könnten und welche Berge von Schmerz und Einsamkeit, welchen Jubel sie nilgleich über das ganze Festland aussenden würden, wie eine Erde beschaffen sein müßte, die Kinder solcher Zeugung in Herberge nähme. So ist es bei Bach. Nichts ändert sich, wenn der Vernunft-Schluß von der Gestalt auf die Kraft in umgekehrter Richtung geschieht. Aus den Bergen Schmerz und Jubel tauchen die Einwohner, die sie besteigen und begackern müßten, die Riesenschicksale, die ihre Entstehung zuließen, die Weltweisheit, die sie fesselte oder entfesselte, die sie weit hinausstieß oder ihr Feld beschränkte. Der Anteil eines Jeden enthält die Disposition des Ganzen: Das Gewebe, die Verflechtung des Ton-Alls, worin das eben Ertönende nur ein Beispiel ist. Das Beispiel wäre, wie es ist, nicht ohne das Gewebe. Diese Uranlage scheint sich einem Gesetze zu unterwerfen, — aber wunderbar, das Gesetz entsteht erst in dem Augenblick, in dem danach gehandelt wird, um nun ewig zu gelten.
Weil die restlose Disposition des Ganzen von jedem seiner Punkte her wirkt, ist in ihm kein Ereignen selbstgefällig. Jedes ist ja vom Ganzen her auf das ihm Gebührende beschränkt. Es ist hart, d. h. einmal für allemal. Das Sentimentale jedoch ist das Haltlose, das Einmalige, dasjenige, was sich für die Frist seiner Dauer an Stelle der Welt setzt, das Vergeßliche, das nur an sich selbst denkt, und das daher, musikalisch formal aufgefaßt, ebenfalls bloß sich selber prägt und die Ordnung vergißt, in der es sich aufhält. Es würde in Bachs Werk sterben; die Nachbarn würden ihm die Nahrung verweigern.
Bachs Weltanhörung ist eine Weltanschauung. Er hört die Welt an, ohne zu richten, ohne zu klagen, ohne anzuklagen. Gericht, Klage, Anklage haben ihre Stätten in ihr, nicht außer ihr.
Es gibt ihm immer neben dem Weinen, das eben schluchzt, noch ein Lachen, ein Gefaßtsein, eine Unerschütterlichkeit. Denn es hat seine Gestalt und seine Gesinnung: es würde ja nicht weinen, wenn es sonst nichts anderes vermöchte. Es würde sich nicht einsam fühlen, wenn es nicht das Gemeinsame spürte.
Die Affekte sind Maximen über das Erfahrbare hinaus, ganz wie die ethischen Behauptungen Goethes. Maximen vermehren die möglichen Erfahrungen um solche, welche die Gewähr der Richtigkeit von vornherein in sich selbst tragen und keinen Beweis durch Erprobung zu erbringen brauchen. Sie erscheinen bei Bach als das Äußerste an Leidenschaft, mit der äußersten Festigkeit an Gestalt verknüpft. Sie vertragen nicht noch mehr Leidenschaft, weil dann die Gestalt zerstört, nicht noch mehr Gestalt, weil dann die Daseinsglut beeinträchtigt würde. Das Regulierende ergibt sich als Maxime der Maximen. Technisch lautet die regulierende Frage: Welche harmonischen, melodischen, modulatorischen, dynamischen Bedingungen garantieren den überzeugenden Verlauf? Seelisch: welche Stromstärke garantiert noch die technischen Bedingungen?
Daher gewinnen wir einen über die gewohnte Schönheitsempfindung hinaus befriedigten Eindruck. Das Schöne ist hier nur eine Bestimmung. Obwohl stets vorhanden, fällt sie uns oft gar nicht ein. Zuerst und zuletzt verlassen wir uns auf das, was wir hören. Diese Gleichgewichtssicherung des Anwesenden geht uns vor, und sie ist uns selbst mitten im verzweifeltsten Ungestüm so selbstverständlich, daß es uns trivial dünken würde, das mitgegebene Schöne zu bemerken. Da es sich um das All handelt, zeigt dieses nur eine seiner Eigenschaften, wenn es auch schön ist. Das Gehörte ist ebensosehr wahr: daher ist das während seiner Gegenwart nicht gerade Gehörte wirklich, daher ist Wahrheit in der Musik der einzige sittliche Begriff. Gut ist wahr, böse ist wahr. Aber die wahre Darstellung des Guten ist nicht gut, die wahre Wiedergabe des Bösen nicht böse. Wundervolle Niederlage des aus überfütterter Selbstsucht aufsteigenden Geistes der Düsterkeit und Krankheit! Hier ist ein Hauptaltar der Freiheit, wir werden in unseren Betrachtungen noch oft zu ihm zurückkehren. Die objektive Schönheit ist die Vollkommenheit. Voll kommen, in Fülle kommen: die Erscheinung gibt sich rund, körperhaft, hat einen Aspekt von allen Seiten. Ihre Länge ist von der Breite und Tiefe abhängig. Bei Einseitigkeit wäre die eine sichtbare Seite gewiß manchmal pomphafter.
Nichts Minderes ist mit alledem umschrieben, als: daß es unrichtig ist zu behaupten, die Musik vermöge nur die großen allgemeinen Kategorien der Gemütsbewegungen nachzubilden, aber nicht so bestimmte wie die Dichtkunst. Allgemeinen Schmerz, allgemeine Lust gibt es nicht. Sie sind immer Lebensgefühl, und Leben wird allein am Objekt gefühlt. Die Affekte sind gegenstandslos als solche, doch indem ihr Hörer von ihrer Gebärde ergriffen und gehalten wird, ist ihm der Gegenstand schon eingeflößt: Er findet sein unendlich fluktuierendes Lebensgefühl auf einen bestimmten Zustand hin gesammelt. Der Zustand mag dem Verstande dumpf bleiben, die Kunst weiß seine genaue Abgrenzung, sein bestimmtes Gewicht. Ein Etwas zieht nieder, aber nicht ganz und nicht nur. Ein Etwas erhebt, aber nicht ganz und nicht nur. Die Widerstände machen es leichter und schwerer, „bedeutender“. Es wäre statt dessen etwas Absoluteres denkbar: das wäre dann jedoch sofort weniger absolut, weil vereinzelt. Seine Abhängigkeit bindet es in Wahrheit los.
Wir leiden das Getön: wir müssen uns leiden, schmerzlich oder freudig mit erdulden bis in das Geheimnis des uns selbst dunklen Körpers hinein. Dieser erinnert sich eines parallelen Zustandes, dessen Anlaß er vergessen hat oder über der Gegenwart der Musik vergißt. Die verunreinigenden Ablenkungen und Zerstreuungen der geschäftigen Kausalität draußen sind ausgeschieden. Der Zustand ist ohne die sättigende Lauge des Alltagsgeschehens. Begründende Überlegungen fehlen, begründende Gesichts-, Gehörseindrücke, Gespanntheiten. Übrig bleibt allein das Resultat. Selbst, was ein logischer, ein philosophischer Gedanke einmal in uns aufgerührt haben mag, bleibt, jetzt neu aufgeregt, ohne diesen Gedanken und dennoch er selbst: als nacktes Leben.
Bach bleibt gern in der menschlich klaren Mitte der Leidenschaft. Da weiß er fast alles zu sagen. Um so überraschender und zerschmetternder sind die Eintritte der Tiefengewalten bei ihm. In diese Tiefe versetzen wir uns nicht mehr als Menschen, die aktiv sind, sondern als dem Schicksal Preisgegebene, Verworfene. In den Höhen wird eine übermenschliche Stärke unser. Gesetzt, es entstehe das Ungeheute lediglich durch eine ungeheure Kraft geistiger Verknüpfung, genug, es ist da. Das Erhabene ist hier nicht nur dem Scheine nach, sondern in einer konzentrierteren Wirklichkeit, als in der umgeformten Naturkraft der Leidenschaft, weil ihr materiell Verängstigendes und Massenhaftes ausgeschlossen wird. Der Mensch setzt keinen Widerstand mehr entgegen. Das ungemeine Schicksal verliert das Gespenstige und wird wirklich. Das in ihm sonst nur Vorhandene wird aktiv. Es macht uns nicht mehr lächerlich vor dem Universum, weil es uns geistig nicht ausschaltet und verlöscht.
Psychische Röhrenwerke führen aus dem Leben in das Sammelbecken des Kunstwerks. Bach schrieb die Schmerz- und Freudenzustände nicht, wie er sie erlebt, sondern stärkere, schwächere, aus zeitlicher Zerstreuung gesammelt. Sie sind nun da in ihrer Essenz, seine Welt nach einer neuen Disposition ordnend.
Nicht Bach spricht sich in seiner Lyrik aus, die Welt spricht sich in ihr aus. Die Tränen, die dort fließen, sind nicht seine Tränen. Seine wären weniger erschütternd als diese. Die Natur sagt nichts doppelt. Darum kann Bach in der Kunst jede Träne weinen, nur nicht seine, und sollte diese auch gemeint sein. Woher nähme anders der Hörer eine Möglichkeit zu verstehen? Bach greift allein das Subjekt gewordene Objektive, und er ist sich selbst das Objekt. Vor dem Objekt bedeutete es keinen Unterschied, ob Bach sich selbst als den Klagenden meinte oder einen anderen. Bach meinte die Klage, und die gehörte niemand, wenngleich sie in jedem hausen kann,
Gäbe ein Libretto vor allem Gelegenheiten zu Assoziationen, so müßte eine Musik die dafür geeignetste sein. Überhaupt hätte dann jede Assoziation ihre beste Musik. Wir aber preisen die Freiheit.
Die Phantasie wiederholt schon als solche jedes Ding. Ihre Hauptkraft ist die Ermöglichung der Wiederholung. Alle Musik beruht auf dem Wiederholen, dem verwandelnden und vor der Verwandlung rettenden.
2
Die praktische Ausführung und Darstellung der Kompositionen hat etwas Handwerksmäßiges. Sie dienen dem Ritus, der theoretischen und technischen Musiklehre, der ausruhenden Erheiterung. Die Kirche feiert dabei ihr Fest, nicht der Kirchenkomponist; der Schüler muß etwas lernen und etwas können — dies ist wichtiger, als daß er etwas fühle, das ist primär gegenüber seiner subjektiven Gemütsverfassung, und diese wird entscheidend erst als Bedingung einer ordentlichen und makellosen Schreibweise und Wiedergabe. „Zulässige Ergötzung des Gemüts“ heißt ein Endzweck der fälschlich Bach zugeschriebenen, aber aus seinem Geiste stammenden Generalbaßlehre vom Jahre 1738, die uns durch Johann Peter Kellner aus Gräfenroda aufbewahrt worden ist. Diese „Zulässigkeit“ zeigt sich gleichsam als der eingesparte letzte Erlös, nachdem die unnachgiebigen Forderungen an die Könnerschaft erfüllt sind. Gerade eine Reihe von Unterrichtswerken und Übungsbeispielen Bachs für seine Schüler und sich selbst enthält viel von dem Beispiellosen, Unlehrbaren, Unerklärlichen, Entschiedenen, Einmaligen, Unbegreiflichen seines Geistes und seiner Schönheit. Die zweistimmigen Inventionen, die bis zur genauen Grenze zwischen Überbefrachtung und Vollfracht harmoniebelasteten „Duetten“, die dreistimmigen Sinfonien, die Trios für Orgel oder ein anderes Tasteninstrument, die Bände des wohltemperierten Klaviers, sie verkünden: die Musik kommt von der Seele her, das Musikstück kommt von der Musik her. Originalität ist ihm dabei so sehr selbstverständliche Voraussetzung, daß er ohne Scheu und ohne Ehrgeiz zum Nachahmer wird. Um die Peripherie des modernen Tonartenkreises machten vor ihm und neben ihm viele Meister ihre Entdeckerfahrten. Den Kompaß beobachteten Mattheson, Joh. Ph. Treiber, Andreas Werkmeister, am Steuer standen Couperin, Frohberger, Benedikt Schultheiß. Bernhard Christian Weber gab den Titel „wohltemperiertes Klavier“. Gehörte der Titel nicht jedem, der wie Bach sich um die gleichschwebende Temperatur bemühte, der wie Bach Instrumente zu stimmen, auszubessern, zu prüfen und zu bauen verstand? Und wer wie er allein schon durch eine neue Technik des Daumengebrauches und Fingersatzes jenem Tonartenkreise einen gewaltig vergrößerten Durchmesser, den Fahrten durch die neuen Meere eine gewaltig gesicherte und beschleunigte Antriebskraft gab, durfte der die schwächeren Modelle Joh. Kaspar Ferdinand Fischers nicht benutzen? Fischer wirkte zudem, viele Tagereisen entfernt, am eindringlichsten für seine unmittelbare Umgebung, in Böhmen, in Baden-Baden, in Rastatt. Der Faden seiner „Ariadne Musica“ führte auch erst durch zwanzig Präludien und Fugen, während vom „Parnassus“ der Orgel noch acht alte Kirchentöne schollen. Mit aller Unbefangenheit nahm Bach zahlreiche Themen, Modulationen, Passagen und Größeres von Fischer in sich hinein und härtete alles in höherer Glut. Es wäre ihm vielleicht leid gewesen, halbwüchsigem Leben nicht beizuspringen, wo er klare Möglichkeiten der Hilfe sah. Verfuhr er doch nicht anders mit selbstgezeugten Gestalten. Die große A-Moll-Fuge für Klavier entfaltete sich zur größeren A-Moll-Orgelfuge, das Präludium der E-Dur-Partita für Solovioline zum Eingangsstück der Ratswahlkantate „Wir danken dir, Gott“, um nur zwei Fälle aus der überlangen Reihe zu nennen. Tüchtigkeit und Wagemut auf dem Instrument, halsbrecherischer Mut und magistraler Stolz in der geistigen Kombination der Lehre hausten mit der Rücksichtslosigkeit von Barbaren in den empfindlichsten Seelengebieten. Das virtuose Könnertum ließ die Berge kreißen, und erst wir Nachgeborenen sehen, daß die Berge geboren wurden. Die Stellen für Laune und Witz des Handwerks sind zahlreich. Um den Sprung in die Nacht des Todes sinnfällig zu machen, hätte der Baß bei den Worten: „das hält der Glaub’ dem Tode für“ in der Kantate: „Christ lag in Todesbanden“, nicht gleich den Salto mortale von anderthalb Oktaven zu wagen brauchen. Die Soprane werden in der Kantate „O ewiges Feuer“ zum Tanz auf den schwindligsten Graten gezwungen. Die im zweiten Brandenburgischen Konzerte über allen Gipfeln konzertierende F-Trompete ist das einzige Exemplar dieser Vogelart nicht nur in der ganzen damaligen Literatur, wie die Gelehrten sagen, sondern auch bei Bach, und wenn man sich heute betreten nach einem Bläser für diese Partie umsieht, so weiß man auch nicht, wer auf den unrein klingenden Trompeten vor zweihundert Jahren die Aufgabe hätte hinreichend durchführen können, und die fragende Vermutung verfällt immer wieder auf den guten Bekannten Bachs, Reiche, der sich nach der Legende ja im Pechfackelqualm bei dem Musizieren eines Bachschen Werkes zu Tode geblasen haben soll. Aber auch an sich selbst stellt der Meister zuweilen keine gutartigen Virtuosenforderungen. Seine Werke bezeugen, wie tollkühn er die Orgel eroberte. Wenn man ihm wieder und wieder Händel als Spieler gesellen will, so ist es verwunderlich, daß von diesem gerade die entsprechenden Zeugnisse verloren gegangen sein sollen. Selbst ein Lobredner Händels, wie sein als klassisch geltender Biograph Chrysander, gibt zu, Massenwürfe wie die concerti grossi seien gemäß ihrer Bestimmung wirklich Gartenmusik, Wassermusik, Feuerwerksmusik. Trotz seines taifunischen Temperaments wirkt Händel hier schwerfällig, wiewohl eine Strecke wie der langsame Satz vor dem Hornpipe überschriebenen G-Dur-Konzert für Streich-Orchester aus Bachs Seele stammen könnte. Lebendige Beweise können für die Lebenden allein von Wert sein, wenngleich etwa jene viel zitierte, in einer Anmerkung zu seinem Quinctitian versteckte Äußerung des Leipziger Universitätsrektors Gesner ergreifend wirkt: „Ich bin sonst ein großer Verehrer des Altertums, aber ich glaube, daß mein Freund Bach, und wer ihm etwas ähnlich sein sollte, viele Männer wie Orpheus und zwanzig Sänger wie Arion in sich schließt.“ (Spitta) Nein, man muß es lateinisch hören: „Maximus alioquin antiquitatis fautor, multos unum Orpheas et viginti Arionas complexum Bachium meum, et si quis illi similis sit forte, arbitror.“ Das äußerste an spielerischer Leistung war notwendig, nicht um den Organisten seinen Händen und Füßen zu unterwerfen, sondern um den Dämon der Orgel in die Hände und unter die Füße zu bekommen. Schon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert kämpfte man mit diesem Dämon, aber er ließ sich Jahrtausende lang nicht völlig zur Dienstbarkeit überwinden: bis in das späte Mittelalter hinein waren die Orgeln leicht zu regieren, doch war die Masse des zu Regierenden nicht groß; als dann die Masse anschwoll, als Pfeifen-Chöre hinter den Tasten warteten, da leisteten sie mit Hilfe der Mechanik Widerstand, und die Orgeln mußten geschlagen, geprügelt werden, damit sie schrien. War nun zu Bachs Zeiten das Druck- und Windwerk auch nachgiebig geworden, so konnte die Einfalt und Unbiegsamkeit des Tones doch nur durch eine Synthese aller mechanischen und geistigen Errungenschaften aus dem Norden und Süden überlistet werden. Bewegung der Stimmführung, Überredung zu sinnvoller Schönheit in ihren Abhängigkeiten, gutes Vorbild durch Streicher und Bläser und menschliche Kehlen, gütige Zurede der Italiener, Würde und Strenge der Spanier und Niederländer, prachtvolle Verlockung der Nordischen, ihr königliches Auseinanderlegen der Klangregionen, die farbigen Überraschungen aus Frankreich mit dem engen Übereinandergreifen der Hände auf zwei Klaviaturen, – eine scharfsinnig geläufige Durchdringung all dieser Elemente kam erst dem ungefügen Haufen aus Holz, Metall und Leder bei und schuf die souveräne Einheit.
Dergleichen Bemühungen entzündend und von ihnen entzündet, mit ihnen parallel und identisch: versucht, vervollkommnet und vermannigfaltigt sich das persönlich geistige Handwerk. Es entstehen schließlich die Lehrwerke wie für den eigenen Gebrauch, ungeheure Maximen der Wissenschaft, da wo sie Weisheit wird, deponiert in den Schatz der Erfahrung, da wo sie einsam und unzugänglich bleibt, Schulbücher zur Verwendung durch den Weltgeist in jenen Teilen, welche von den Menschen schon Künstelei genannt werden. In der „Kunst der Fuge“ schien bis in die jüngsten Jahrzehnte ein Überschuß an Komprimierung, gemessen an dem komprimierten Stoffe. Bei der letzten, in den Tagen der Blindheit zu Ende diktierten Komposition, dem Choralvorspiele „Vor dich, mein Gott, tret’ ich hiermit“ ist es, als knie da einer, der zugleich tanze, oder als schwinge sich einer im langsamen Tanze, der doch zugleich knie. Nur ist der Tanz merkwürdig ernst, und das Knien merkwürdig heiter. Am Schlusse eines anderen Spätwerkes, der Choralvariationen „Vom Himmel hoch da komm’ ich her“ erklingen, nachdem das Lied zunächst im Kanon der Oktave, dann im Kanon der Quinte, darauf im Kanon der Septime, dann mit Vergrößerung wieder im Kanon der Oktave, endlich in dem der Sext, Terz, Sekunde und None durchgeführt ist, – da erklingen alle vier Melodiezeilen gleichzeitig, in verschiedenen Größen der Notenwerte. Wenn das Ohr genau den Vorgang erfaßt hat, ganz und gar zu Geist geworden ist, die Unschuld des Kinderliedes im alterlosen Raumbewußtsein jenseits von aller sentimentalen Trübung wahrnimmt, den süßen Schlaf des Nebeneinander in den Schrecken des Erwachens im Miteinander und Übereinander verwandelt, erst dann befindet es sich in einem harmonischen Paradiese, im vollen sinnlichen Rausche, und das scheinbar nur prunkende Gedankenkunststück zerfällt. Mit der Kompliziertheit zugleich wächst die Einfachheit, „Nah ist, und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Geraten in dem angeführten Beispiel fremde Melodienabschnitte in eine Bach eigentümliche Kontrapunktik, so erspart er mit vorrückendem Alter den eignen Eingebungen die Erprobung in den härtesten Schicksalen einer drohenden, weil vorstellbaren Notwendigkeit ebenfalls nicht. Es kommt ihm auf etwas an, was wohl der Erforschung einer allen erdenkbaren Individualisierungen gerechten Urform gleicht. Wie Goethe zu seiner Metamorphose der Tiere und Pflanzen gelangte, zu seiner Ahnung von der Urpflanze, so umdrängt Bach das Geheimnis der Urmusik. Wo er mit ungeheuerster Schärfe des Verstandes die schwierigsten und gefahrvollsten Kombinationen ineinanderpreßt und noch immer die ganze Freiheit atmen fühlt, da scheint er gegen das Phänomen der Musik-an-sich zu stürmen, die Wissenschaft von seiner menschlichen Natur zu suchen, die er vorher in der Kunst erfahren hatte. Manchmal spüren wir da Fels und Eis unter völlig schwarzem Himmel, darüber sternbildgleiche Figuren und keine Augen außer den seinigen. Er sucht sich, vollkommen wissensgläubig und völlig frei, aus seinem Temperament her die Abgrenzung dessen, was noch er und was er nicht mehr ist. Es ergibt sich ihm in vielfachen Überschneidungen die Identität, wie seine Altstimmen manchmal bis unter die Bässe hinabgehen, seine Tenore bis über die Soprane hinaufsteigen. Die größte Empfindung hat ihr Maß nicht in der größten Form, sondern in der Struktur der ganzen Formenwelt; die Form hängt nicht allein von der Empfindung ab, die sie zu tragen hat, sondern vom Universum der Empfindungen. Häufig scheint bei Bach der Ausdruck, auch in Einzelheiten, eine Stärke erreicht zu haben, über die hinaus eine Steigerung unvorstellbar ist, es sei denn die ins Verzerrte, in den Zierat. Bei seinem Sohne Philipp Emanuel schon wird das anders: dessen Schluchzen, dessen Himmeln ist wunderbar überzeugend, wunderbar gekünstelt, aber privat, Hauch der Barock- und Rokokoseele, undenkbar als Inschrift auf den Gesetzestafeln der Gesamtgeschichte des Herzens, nicht so geistreich und groß wie das Ganze, sondern geistreicher und größer, — also geringer. Möglicherweise läßt sich von hier aus ein Geheimnis des Musikhandwerkers Johann Sebastian ohne Blasphemie berühren. Die Summe an äußerstem Gefühl in seinem Werke scheint über die Erträglichkeit durch einen einzigen Menschen weit hinauszugehen. Noch wuchtender scheint sie durch die Notwendigkeit zu werden, das Gefühl auch zu gestalten, noch länger während, noch tiefer zehrend, — und siehe da, hierdurch wird sie zugleich erleichtert, soweit wenigstens, daß alle Gefühle gleich werden unter dem gleichen Zwange, sie tönend zu bilden. Die tausend apriorischen Wahrheiten begnügen sich mit symbolischen Blutopfern, da das wirkliche Opfer des Blutes der einen Wahrheit, deren Symbol sie sind, nicht vorenthalten wurde. Es ist ein Raum gelassen für die Nachgeborenen, die ihn mit ihrer Erfahrung erfüllen dürfen. In allen Künsten wurden nur von den Seltensten, Meistbegnadeten solche Maximen der Erkenntnis, der Leidenschaft, der Gestalt entdeckt.
Soweit reicht die „zulässige Gemütsergötzung“. Spürte man damals ein Vergnügen an seiner Musik, so sollte man nicht stolz und feierlich sein, weil man ein Vergnügen spürte. Die Symphonien der Späteren versammeln die Festlichen, bei Bach versammelt ein Fest (kirchlich, virtuos, häuslich, wie auch immer) die Hörer zu seiner Musik. Wurde später die Musik ausschließlich, hatte sie Teilnehmer um ihrer selbst willen, Willige für das von ihr vorgeschriebene Datum der Freude, des Schmerzes, des Weltgefühls, so wurde die ältere Musik, und am reinsten die Bachs, dadurch ausschließlich, daß sie nichts vorschrieb und forderte, sondern nur war.
3
Hierdurch ist ihr Verhalten zu ihrem Gegenstande fast erläutert. Der Gegenstand wird nach innen und außen so ernsthaft angepackt, daß er immer irgendwie zugleich Person und Sache ist; durchweg Person, durchweg Sache. Als Personen treten auf: der König, der Held, der Vater, der Sohn, der Sünder, der Erlöser, der geringelte Lindwurm Teufel, es treten aber auch auf die Personen Allemande, Courante, Corrente (an dem Vergleich des deutschen und welschen Vertreters aus der gleichen Klasse oder Kaste wird das Persönliche besonders einleuchtend), ferner die minder typischen Personen „der Freudvolle“, „der Leidvolle“, die Personen Präludium, Fuga, Motette. Der Kreis wendet sich wunderbar aus dem Subjektiven ins Objektive hinüber und umgekehrt, und er schließt sich ohne Lücke. Ließe er beispielsweise etwas nur Prädisponierendes aus wie die Tonarten? Nein, sie drängen sich gerade zwischen 1650 und 1750 mit besonders gesundem Wachstum als Persönlichkeiten vor. Ihre Zahl wächst auf 24 an, während sich bereits im Jahrhundert vorher die Kirchentonarten umbilden. Wären sie nicht Persönlichkeiten gewesen, so hätte man sie nicht erst zu suchen brauchen. Bachs Bemühung leistete, da er Vorläufer darin hatte und eine platte Wiederholung selbstverständlich mied, eine Wiedergeburt aus der Intuition. Rudolf Wustmann übermittelt in einer überaus verdienstvollen Studie Matthesons Auffassung der Tonarten zu Bachs Zeit und belegt sie überzeugend reichlich aus den Werken des Meisters. Fast jede Tonart ist bei Bach ein Doppelcharakter, sie hat etwas Positives und Negatives zugleich. Sie besorgt das Parodieren des eigenen Wesens, zeigt das Dämonische der Verzerrung oder des Ausschließlichen, das zutage tritt, wenn einer nicht weit genug oder zu weit in seine Vereinzelung gerät. So teilt sich C-Dur in das Strahlende, Jubelnde und in das Freche, Spöttische; Bach wendet es in den Passionen für die pharisäisch Selbstgerechten an. Die Stimmfarbe mancher Leute geht uns nicht aus dem Ohre, sie enthält mehr von ihrem Charakter, als was sie reden und tun. C-Moll war minder heroisch als heute und im Widerspiel von lieblicher Trauer, gelinde zum Schläfrigwerden nach Matthesons Wort. Bach als der wohl größte Dichter des Todes auf Erden, spürt gern den ewigen Schlaf. Die Grabgesänge der Matthäuspassion „So schlafen unsre Sünden ein“ und „Ruhe sanft“, weiter „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende“, „Ewigkeit, du machst mir bange“ und viel anderes stehen alle in C-Moll. E-Dur gestaltet als Negativum Verzweiflung, tödliche Traurigkeit, etwas Schneidendes, Durchdringendes. Hat man dies einmal erfahren, so gewinnt eine anfangs etwas enttäuschend süßschmeckende Komposition wie die Kantate „Liebster Gott, wann werd? ich sterben“ an Ernst und Rang. Der Choral „O Mensch bewein’ dein Sünden groß“ wurde für seine erhabenste Krypte aus der ursprünglichen Tonart Es nach E transponiert. In gewisser Weise trifft es zu, daß die vierundzwanzig Tonarten nur zwei sind, Dur und Moll, Umschriften aus Gründen der Bequemlichkeit und Laune. Völlig unverändert bleibt die harmonische Färbung, ob ein höherer oder tieferer Ton der Ausgangs- und Richtpunkt ist. Die Modulationen nach benachbarten oder fremden Tonarten vollziehen unter veränderten Notennamen den gleichen Vorgang. Aber dennoch war für die Phantasieempfängnis des Komponisten der Ausgangsort nicht gleichgültig. Die Tonart war ihm die objektive Stimmungsbeleuchtung eines subjektiven Dranges, war ihm eine in sich gleichartige Wärmezone. Nur sie machte es möglich, daß darin gewisse in der Idealität verschwisterte Gestalten entstanden. Andere Höhenschichten, andere Temperaturen würden die Entstehung verwehrt haben. Busoni zeigt uns eine schöne Beispielsgruppe für die Tonartenvegetation bei Bach. Das Es-Dur treibt dreimal brüderlich ähnliche Themen hervor, in der Es-Dur-Orgelfuge, im fugierten Teile des Es-Dur-Präludiums im ersten Teile des wohltemperierten Klaviers und in der Es-Dur-Fuge im zweiten Teile. (Nach Busoni Bachs Urmotiv überhaupt.) Nicht nur in dieser Gruppe enthüllen die Tonartengeschlechter, also etwas bloß irrational Faßbares, ihre spezifischen Keristallisationsneigungen. Man braucht Bachs Lieblingstonart H-Moll nur beiläufig zu nennen und sieht sofort Urgestein aus seinen bittren Hochgebirgsschluchten. Fis-Dur, ein himmlisch-höllisches Trotzfeuer des Hirns, des Empörers zwischen dem Orte der Wonnen und dem Orte der Pein, schleudert die Worte: „Eröffne den feurigen Abgrund der Hölle!“ Was als stumpfe Folgeleistung nach Vorbildern der Realität, als stumpfe Geborgenheit in Schulregeln, also auch in einem Teile der Realität belanglos bliebe, wird hier Blitz aus polaren Wetterbildungen. Es ist leicht, über den alten Festungsgefangenen Christian Friedrich Daniel Schubart zu spötteln. Dennoch orakelt seine Charakteristik des Es-Moll etwas suggestiv Ungefähres, seltsam Erwartungserweckendes. Es gleiten Stücke wie das Präludium und die Fuge dieser Tonartenpersönlichkeit im ersten Teile des wohltemperierten Klaviers uns vorüber: „Empfindungen der Bangigkeit des allertiefsten Seelendrangs. Der brütenden Verzweiflung; der schwärzesten Schwermut, der düstersten Seelenverfassung. Jede Angst, jedes Zagen des schaudernden Herzens, atmet aus dem gräulichen Es-Moll. Wenn Gespenster sprechen könnten, so sprächen sie ungefähr aus diesem Tone.“
Wird aber nicht all dies hinfällig, wenn wir erfahren, daß die Normalhöhe des Ausgangstons im ganzen Tonsystem, die amtliche Eichung für die verschiedenen Geschichtsepochen verschieden war? Die Stimmung alter Orgeln zählt ihrem kleinen a durchaus nicht die jetzigen 870 Schwingungen in der Sekunde zu, sie gibt ihnen bald mehr, bald weniger. Überdies normierten Kammer und Chor zu gleicher Zeit abweichend. Nichts wird hinfällig. Die Sinnlichkeit des Ohres hat ihren Geschmack geändert, in der Geistigkeit bleibt die Skala der Verhältnisse vom herauf- und herabgeglittenen Richtton aus fest. Es kommt darauf an, daß ein Punkt außerhalb der Materie angenommen werde, um den die geistige Totalität anschießen kann, es kommt nicht darauf an, wo er gefunden werde. Das Wo wird der Intuition jenseits des Willens ohnehin mit angezeigt. Was die von ihm ausgehenden Tonarten betrifft, so bleiben sie offenbar nur für den Schöpfungsakt entscheidend. Nach der Bergung einer Komposition in ihrer Gestalt mag sie höher oder tiefer gespielt und gesungen werden. Da sie mit den gleichen Intervallen durchgeführt wird, behält sie das Zeichen ihrer Geburt. Selbst in solchen scheinbaren Geringfügigkeiten verbirgt sich die geheimnisvolle Notwendigkeit, den rechten Ort im Nichts gefühlhaft zu finden, um den sich bestimmte Geister sammeln. Übrigens verändern außer den Transpositionen ja schon die körperlichen Organe verschiedener Menschen die Gefühlsfarbe, von den verschiedenen Instrumenten ganz zu schweigen.
Der Inhalt, der Gegenstand ruft nach seiner Tonart, so wie er nach seinen Instrumenten zu rufen scheint. In Beethovens Klaviermusik gibt es Klarinettengänge, gleich in der allerersten seiner Sonaten. So kann man bei Bach oft aus den Konturen der Melodie erraten, welche Instrumente wohl zu ihr gehören möchten. Die Persönlichkeit vergißt auch hier ihre Idee nicht.
Die Choräle prüfte Bach natürlich ebenfalls nach ihren Befunden als Person und Sache. Er zerstört jahrhundertalte Traditionen des Gemeindegesanges, um einen Choral in seinen tiefsten Charakter hinein zu entfalten. Als ein Ding, das ihm gehört, nimmt er ihn hin, steigt von der melodischen Horizontale in das Bergwerk der Harmonien, schlägt darin immer neue Stollen auf und gelangt, bietet sich irgendeine Gelegenheit, in seine überlieferungsferne Todesmusik. Die funkelt so stark, als hätte er alles, inbegriffen die Melodie, selbst erfunden. Der Choral als Gesamtheit ist ihm bei solchen Verlockungen nur Überschrift, mit Wort und Ton, mit Haut und Haaren gleichsam, handle es sich nun um eine Orgelphantasie oder eine Chorfuge. Aber er durchschaut ihn auch als eine Persönlichkeit, manchmal mit einem so wunderbaren Instinkt, daß er bei den rhythmischen Ursprüngen seiner Gestalt anlangt, die durch schlechte und ungeschickte Mittel der Überlieferung lange verschüttet gewesen war. Die langweilig plärrende Pfundnoten-Isometrie, die schon Luther, ein Verehrer der Pariser Kunstmusik, nicht leiden mochte, erstarkte muskulös zu wechselndem Metrum. Ohne Philologie stieß er auf die philologische Wahrscheinlichkeit. Doch hält er nicht zähe an seinen Funden fest: ein und dasselbe Lied gibt er schwerfällig sachlich für den Gemeindegesang her und eigentümlich naturhaft für den solistischen und konzertanten. Warum nicht? Das Kirchenlied war ihm das eigentliche Volkslied; oft war es ja als Liebesabschiedsgesang entstanden. Volk jedoch konnte man sowohl als Begriff wie als Gestalt fassen. Und selbst das lateinische Kirchenlied, der Choral im eigentlichen Sinne, war in älterer Zeit Volkslied gewesen, durch den gregorianischen Priestergesang zurückweisend auf römisches, vielleicht griechisches Volkstum. Ein opernhafter Bestandteil der Kunst Bachs, das aus der Renaissance stammende Rezitativ, wurde diesem lateinischen Chorale wesensverwandt, als es in ihr — Schütz kannte er nicht – eine deutsche Figur wurde. Volkstum und Volksfigur waren ebenso sehr die Tanzformen, die Gigue ein Engländer, die Sarabande ein Spanier, der Siziliano ein Italiener, die Courante ein Franzose. Und der Nichttanz, die Fuge, war alles zugleich, war Europäer. Das Völkergetümmel des Dreißigjährigen Krieges, das Gestampf der Nationen auf der heimatlichen Erde hob, als der einheitlich zusammengeschmolzene Gegenstand für eine einzige schöpferisch anschauende Persönlichkeit, seine trümmerhafte Hinterlassenschaft auf und gelangte zum Frieden in fruchttragender Ruhe.
Der Tanz blieb nicht auf das Gesichtsfeld des Tänzers, der ihn erfunden hatte, beschränkt. Er konnte sich auf die Ebene jeder sonstigen Form begeben und sich dort gleichberechtigte Gesten und Haltungen ersinnen. So erscheint der spanische langsame Passacaglio in der Eingangssinfonia zur Kirchenkantate „Gleich wie der Schnee und Regen vom Himmel fällt“ und unterirdisch schwarz im Crucifixus der Hohen Messe. So erscheint die flatterhafte Giga beinahe in einer Sopranarie der Kantate „Bereitet die Wege, bereitet die Bahn“, der Siziliano rhythmisch im Chor „Also hat Gott die Welt geliebt“, und, übernommen aus dem E-Dur-Klavierkonzert in der Kantate „Gott soll allein mein Herze haben“. Ringsum wird die geringfügige Sache zur erhabenen Persönlichkeit erhöht, die geheiligte Person zur werktägigen Sache erniedrigt. Vor allem gilt es, einen möglichst guten Satz zu schreiben, und müßte der heilige Geist zum Orgelbravourstück verdampfen („Komm, heil’ger Geist, Herre Gott“), von einem Virtuosen nur mit sehr gelenken Fingern zu greifen, mit stampfenden Füßen zu treffen, mit klugen Mixturen in die Wölbungen der Kirche zu türmen. Umgekehrt, selbst in den Rezitativen, die doch oft auf die Sache zu verzichten und nur der direkten Charakteristik einer Person zu dienen scheinen, liegt das mathematische Gewissen des Harmonikers auf der Lauer: wurden alle Freiheiten proklamiert, was Nachahmung, Tempo, Motivbildung betrifft, Akkorde greifen dennoch zu und deuten die scheinbare Willkür modulatorisch. Und gerade hier, in den Rezitativen, wimmelt es am meisten von Sachlichkeiten. Hier treten die isolierten Naturalismen auf, die übrigens so kraß darum zu Naturalismen werden, weil sie isoliert sind, ein Hahnenkrähen, ein Glockenläuten, Klopfen, Beben, Wiegen, Laufen, Reißen usw. Es geschieht hier durch die naturalistischen Motive das Gegenteil dessen, was durch sie in den Stücken von gebundener Form hervorgebracht wird. Hier entpersönlichen sie vorübergehend, dort verpersönlichen sie. Das Orgelvorspiel „Durch Adams Fall ward ganz verderbt“ erhält seinen unverwechselbaren Charakter durch das drastisch bittere Fallmotiv, die nicht zu beruhigende Wiederholung der Septime, die „ganz verderbt“ sich quer vor den traurigen Gang der Melodien stürzt. Eine solche malende Naturnachahmung ist schon darum weit mehr als Nachahmung, weil sie für die Dauer des Stückes thematisch festgebannt bleibt. Ein zehnmal wiederholter Fall Adams, eine dreißigmal durch ihr Motiv der verrenkten alterierten Intervalle wiederholte Kreuzigung, wo doch das Einmalige des Vorgangs das Historienbildende war, ist etwas ganz anderes als Fall und Kreuzigung.
Das vielberufene Malende malt nicht nur. Das mythologisch und dogmatisch Figürliche wird nie objektiver Inhalt dieser Musik, sondern ist Anregung zu persönlich-sachlicher Erfindung. Also Programmusik in einem Sinne, daß die Welt das Programm schreibt, und nicht, daß die Musik es zu einer Welt schriebe. Danach richtet sich Bach bei der Wahl seiner Texte. Außer der Bibel enthielt das Gesangbuch – das damalige, Bachs achtbändiges! – das Beste aus der Poesie der Zeit. Das sonst auf Bestellung oder unbestellt Gedichtete war gewöhnlich Quark. Bachs eminente Bibelkunde schuf Ergänzungen, Beziehungen, Dispositionen, Anregungen zu musikalischer Bereicherung. Die Einteilung des Kirchenjahres, die ihm den Stoff perikopisch zumessen half, maß ihm in seinem Ablauf die ganze Welt zu. Er brauchte außerhalb nicht zu suchen und außerhalb seiner amtlichen Beschäftigung keine Zeit zu verlieren. Das Bühnendrama wäre für seine dramatische Mitgift, für seine dramatische Kenntnis eine Verengerung gewesen. Er hatte das Drama für die absolute Musik zu schaffen. Andere Meister konnten nachher gegen das Theater ausstrahlen und von da aus die Musik erobern. Die bescheidenen madrigalischen Texte, von denen selbst die schöneren im Verhältnis zu Bachs Musik bescheiden sind, liefern nur Stichwörter. Ein Musiksatz dauert zwölf Minuten, ein Madrigal zwölf Sekunden, wie soll es nicht ersticken! Es muß sich berauben lassen, um überreich beschenkt zu werden und sich nicht zu schämen. Es hat von seinem Inhalt abzulegen alles Psychologische, Geographische, Chronologische, Konfessionelle, Private, Philosophische. Vielleicht läßt es sich nun gebrauchen. Vielleicht ist es nun homogen geworden, was schon des äußerlichen Umstandes wegen notwendig wäre, daß Wortgewebe ganz verschieden dichte Maschen haben, während Bachs kompositorische Art in der gleichen gedrängtesten Dichtigkeit verharrt. Allein vor lauterer, starker Erzählung tritt die Musik zurück. Aus den betrachtenden, bekennerischen Texten entnimmt Bach nur den Hinweis auf seine Weltgegenden, auf die Provinzen, in denen weder ihm noch uns mehr das Wort helfen kann. Ist das tragende Thema entdeckt, so hat dieses mit seiner Tatsache und seiner Wesenheit schon mehr zu tun als mit seinem Inhalt. Der Ernst liegt nicht im illustrierenden Parallelismus, sondern im schöpferischen. Formende Energie hier, dort Rohstoff. Auch die Stichwörter der Texte sind Rohstoff. Zieht der Tod herauf, so meint Bach nicht das Wort, das vom Tode berichtet, sondern er meint den integrierenden Weltbestandteil Tod. Heißt es im Texte „Wasserwogen“, so zeigt Bach schon dadurch, daß er die Wasserwogen bildet, eine gewisse Geschwindigkeit der Wellen, ein Licht über ihnen, eine Temperatur, eine Jahreszeit, — wie gar nicht er ein Wort austuscht, das im Zusammenhange des Textes rasch vorübergeht und seinen Begriff dem Gesamtgedanken seines Satzes unterordnet, sondern daß er mit seinem Wunsche hinaustritt in die offene Welt, die musikalisch aufersteht und da ist, die konkret, nicht mehr nur begrifflich, vorgeschriebenen Begriffsbindungen widerspricht.
Die Auswalkung der christlichen Mythologie durch die Texte macht diese für ihn besonders zweckvoll, weil sie dadurch zu Scheuern werden, voll von dem Saatkorn der stärksten Leidenschaften. Ihm keimen viel Klage, viel Schmerz, viel Untergang, viel wilder Jubel zu, viel Wille, viel Wunder, viel Fragen, Versagen, Trost, Mühe u. dgl. Mehretes davon verbündet sich leicht, einander versteifend, einander widersprechend, kontrapunktisch, obstinat. Die klein und eng verfolgten Gedanken der Poeten richten sich doch auf das Allgemeinste und Tiefste, werden, ins Grandiose mißverstanden, widerwillig zu Erklärern der Urzusammenhänge durch ihr summarisches Verfahren. Aus muffig Betrachtendem zuckt Lyrik und Drama.
Und die Gottheit selbst, der jüdisch-christliche Gott? Die Trinität ist von der göttlich kurzsichtigen, durch Nähe berauschten Betrachtungsweise nicht ausgenommen, die sie zunächst zur Sache macht. Ihr wird der brausende Odem dann erst eingeblasen. Das Hineingeheimnissen, das verehrungswürdigsten Gipfelwerken wie der Divina commedia, dem Faust II, der H-Moll-Messe gemeinsam scheint, tötet sie zuvor. Oder ist das viertönige Thema, das, kongruent bis auf sein Staccato und Legato, die Wesensgleichheit von Gottvater und Gottsohn wiedergibt, keine Tötung? Oder war die Trinität zunächst mehr als Material, wenn sie den Einfall: drei Oboen, drei Trompeten, im Dreiklang, den Chor aus sechs gleich zweimal drei Stimmen, mit den sechsflügligen Seraphim als unsichtbaren Schutzherrn, liefern mußte? Eine rein künstlerisch anschauende Gesinnung treibt auch die offenbar zum Preise der Dreifaltigkeit entstandene Es-Dur-Tripelfuge für Orgel hervor, die den dritten Teil der „Klavierübung“ abschließt, wie ihr Präludium mit unendlich großherziger Pracht ihn einleitet. Die Auseinanderlegung des dreieinigen Gottes in drei einige Götter befeuert Bachs Genialität zur überirdischen Sieghaftigkeit der dreiteiligen Fuge, die bei Dietrich Buxtehude oder Vinzent Lübeck noch das Streben nach Abwechslung spüren läßt und ungelenk riesenhaft einherstampft. Götter erstehen ihm vielspältig als Geister zahlreicher Formen. Das Dogma jedoch behält seinen Sinn nur, wenn die vielen ewigen Eigenschaften des Gottes in eine feste Wesenheit zusammengeschmiedet bleiben, und aller theologische Scharfsinn, alles Eiferertum weihte sich von je diesem Ziele. Selbst die historischen Kämpfe, die Reformationen gingen darauf aus, Eigenschaften, die sich lösten und verweltlichten, unbarmherzig mit Feuer und Schwert zurückzutreiben in den Urgrund. Die haarspalterischen Bestimmungen dienten dazu, den Bezirk des Unbestimmbaren zu vergrößern. Bach treibt nun die verschiedenen Eigenschaften in eine verzückte Vereinzelung. Bis auf die eine, die gerade tönt, muß die Gottheit alle für die Dauer einer Musik vergessen. Im Grunde gibt es für Bach keine Drei-, sondern nur eine Zweieinigkeit, wie sie im Begriffe des Kontrapunktes primitiv eigentlich schon vorhanden ist. Gottvater, der Gleichnis- und Bildnislose, fehlt. Die beiden übrigen Personen sind bald König, Landesherr, Herrscher, Verwalter, bald Glorienträger und jubelnder seliger Geist. Sie sind Göttergruppen des Lichtes und Dunkels, doch nicht in einer Bedeutung wie Ormuzd und Ahriman. Christus in seiner irdischen Erscheinung ist ein Gott des Dunkels, umgeben von dithyrambisch hereinbrechenden Qualen, dionysisch schwärmenden Schmerzen, in seiner Erscheinung nach dem Tode ein Gott der Helle, der heilige Geist seine Fortsetzung in die höchsten Regionen des Jubels hinein. Sie erscheinen sächlich auch als Götter der Instrumente, als träten sie aus ihrer Dumpfheit wie die Dryaden aus den Bäumen, — der Gott der Streicher, der Trompeter und Hörner, der Orgeln und Pauken.
Von Fall zu Fall erschafft sich ein anderer dinglicher Schauer der Divinität, von Fall zu Fall ein anderer persönlicher. Aus Chören, Arien, Choralvorspielen, wortfernen Orgelstücken steigt etwas auf wie ein griechischer Olymp. Nordischer nur ist dieser Götterberg, aber auf ihm steht der Künstler Bach dem Privatmanne Bach gegenüber, der einen orthodoxen Sinai erklimmt. Angenommen, einem Hörer seiner Musik wäre die evangelische Lehre nicht bekannt, und er solle die Figuren deuten, die ihm im Feuer der Klänge erscheinen: die Phantasie wird jenseits von Worten und Gedanken parallele Gestalten zu Zeus, Hermes, Apoll, Herakles bilden. Oder nicht? Wenn man nicht predigt, Gott sei ein Herrscher, sondern ihn, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist, vorführt im Wohlgefühl seiner Gewalt, hat man da nicht sinnlich einen Menschen nach übersinnlichem Maße gemessen? Oder jener Gigant, platzend von edler physischer Kraft, von ungeheuerlicher Arbeitsfreude, wie ihn der Doppelchor „Denn dein ist das Heil“ umrast, ist es nicht Herakles selbst? Unschuldig und unabhängig wurde er noch einmal von einem um Jahrtausende später leuchtenden Hirne geboren. Bach kannte ja griechische Sagen und komponierte Stoffe daraus; ihre Gestalten aber sieht er mit Ironie, wenn es sich um den Glauben an die Wirklichkeit ihrer Existenz handelt, und erst abseits von dieser Ironie beginnt dann die Schönheit ihrer musikalischen Existenz. In die christlichen Mythen, maskiert in Überlieferung, folgend ihren Riten, erfüllend ihre Symbole, läßt die musikalische Wahrheit allerlei Gestalten ein, die das Christentum ausgereutet oder noch nicht zugelassen hat. Die Fanfaren der himmlischen Heerscharen klingen irdisch, für Bach war der Himmel ein Kontinent wie Amerika für Kolumbus. All das ist selbstverständlich, aber die klare Vorstellung dieses Selbstverständlichen wird erschwert durch die Vorstellung der Begleitumstände, unter denen es heute lebt: konfessionelle Kirchen die Aufführungsplätze, Institute für Kirchenmusik die Pflegestätten, höhere Kirchenbeamte besonders interessiert, Verständnis und Mißverständnis verknäult. Auf die Verdunkelung des musikalischen Tatbestandes muß hingewiesen werden. Warum ist sie eingetreten? Die Masse der Orgeln steht in den Kirchen. Organisten und Kantoren überwiegen unter denen, die eine genügend intime Kenntnis vieler geistlicher Instrumentalkompositionen Bachs und die zur Ausführung erforderliche Bildung besitzen. Es ehrt sie, wenn sie seine Kunst mit dem heutigen Protestantismus gleichsetzen. Sänger und Sängerinnen kümmern sich vielfach nur um ihr Notenblatt. Sollten sie verstummen, weil sich nach einem Unterliegen vor intoleranten Ketzergerichten ihnen möglicherweise die Chortüren schließen würden? In den Privathäusern blüht hauptsächlich Bachs ‚weltliche“ Musik. Mutige Pastoren verzichten auf Bachs Gottesstaat nicht. Bach sei aus der Kirche entsprossen, also muß er dorthin zurück, lautet ihre Beweisführung.
Gibt es, wenn von Geniewerken die Rede geht, eine profane und sakrale Malerei, eine profane und sakrale Dichtung? Sind heute Klopstock, Milton, Dante Kirchendichter? Rekrutieren diese sich nicht überwiegend aus Choraltextverfassern? Ebenso sind die täglich in der Gemeinde brauchbaren Kirchenmaler, Kirchenmusiker die Mittelmäßigen, wenig weit Ausholenden. Hängen wirklich große Bilder neben einer Kanzel, so sprengen sie den dogmatischen Eigensinn, der sie in ein enges Joch zwingen will. Wäre Dürer ein Kirchenmaler, obwohl wir seine frommen Reime, Tagebücher, Briefe, seine Klage um Luthers Tod kennen? Die Leidenschaft des großen religiösen Musikers ist die Einsamkeit des Menschen unter Dämonen.
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Bachs Werk wirkt aufgeräumt durchaus. Die Ordnung darin erstreckt sich in gleicher Weise auf die Lebensarbeit wie auf den geringsten Motivschritt. Durch das Hervorheben des Wesentlichen verringert sich die Mannigfaltigkeit der Texte auf ein Minimum. Seelische Anziehungsherde bilden sich, um welche die lauen poetischen Abwandlungen gereinigt und beherzt zusammenschießen. Die Ordnung der Welt, jenseits der Fülle an Fabeln und Personen, an Ereignissen und Schicksalen, wird ehern. Das Gewußte gewinnt Pindarische Gewißheit. Vulkanische Systeme bilden sich, mit Kratern, die weißes, rotes oder schwarzes Feuer speien, zugehörig der selbstgenugsamen Natur, entfernt von allen zeitlichen Vorlagen, Verordnungen und Deutungen. Ob man sagt, die gesamte Natur sei sinnlich, philosophisch oder musikalisch zu erfassen, gilt gleich. Und je näher die Glutflüssigkeit gegen die Materie der Vorstellungen anzudringen scheint, um so weiter entfernt sie sich davon. Die Librettisten Picander oder Salomon Franck werden um so ungefährlicher, je liebevoller sie ergriffen werden. Je konventioneller ihre Dichtung, um so tiefer verweisen sie den Tondichter in die ungeheuren Naturreserven.
Dieselbe Neigung, nichts Unbestimmtes zurückzulassen, Sauberkeit als Gleichnis einer Verantwortung auf Tod und Leben heranzuläutern, System als das Werktagskleid der Ehrfurcht zu ertragen, begegnet uns in allen Details. Robert Handke hat auf die kluge Verteilung des Diatonischen in harmonischer und melodischer Verwendung hingewiesen. Pirro macht auf einen merkwürdigen rhythmischen Weg aufmerksam, der doch so geradeaus führt wie eine Tonleiter: in der Kantate „Herr, gehe nicht ins Gericht“ verwandeln sich Sechzehntel in Achteltriolen, diese in Achtel, diese dann in zusammengezogene Triolen und endlich in Viertel. Rhythmische Anschauungen wie die, daß sich bei dem Worte „erhöhet“ das Tempo auf Achtel erhebt und bei dem Worte „erniedrigt“ auf Viertel sinkt, finden sich nicht selten, wie überhaupt aus beinahe starren Teilungen der Zeit-Einheit durch die Zahl zwei oder ein Vielfaches bei Bach zuweilen die komplizierteste Rhythmik aller Musik zusammenfügt. In der Kantate „Der Himmel lacht“ streiten zum Beispiel vier Rhythmen gleichzeitig um fünf Begriffe (Hinweis ebenfalls bei Pirro). Das zweite Stück der „Kunst der Fuge“ synkopiert das punktierte Überleitungsmotiv auf seinem leichtesten Bruchstück: es lädt sich voll und schreitet aus eigener Kraft herunter, nicht mehr wie im Dienste, nicht mehr wie in Abhängigkeit vom großen Fluß des Ganzen. Die dynamischen Steigerungen durch einen tückisch logischen Aufbau der Massen und Klangfarben sind ein Phantasierreich für sich.
Ein Tonschritt oder -sprung kann gar nicht anders, als etwas bedeuten, oder man verläßt die Kunst und ist in der Physik. Er setzt jedoch nicht allegorisch das Eine für das Andere, das Musikalische für das Stoffliche, wobei das Eine so gut wie das Andere ausdrucksbefähigt bliebe, sondern er setzt etwas von Grund aus Verschiedenes. Einmal, stofflich, ist das Ergebnis erst am Ende des Ablaufs da, das andere Mal, musikalisch, schon am Anfang. Das Ergebnis wird uns körperlich, ästhetisch und moralisch (d. i. beurteilt), zugleich ausgeliefert. Das Fühlen ist Glauben, denn das Glauben ist Sehen geworden.
Die Regeln in ihrer grandiosen Logik bewahren von der Welt nichts. Jeder Ton innerhalb einer Kombination ist deutbar, aber er bedeutet, bevor der Geist hineinbläst, – nichts. Es besteht die ewige Drohung, der Klang werde zum Schall zurückverwandelt werden, und er wird es, sobald die artistische Lehre um einen einzigen Schritt zu weit vordringt; mögen ihn dann Menschenzungen und die Engelzungen der Geigen nachträglich süß und erhaben zu machen trachten, die kommen zu spät und vergebens. Der gleiche Ton kann ja Basis und Spitze sein. Er ist nicht er selbst, sondern der fünfte, sechste, siebente von einem anderen aus und nur als solcher er selbst. Er mag seine Geltung als chromatischer Ganzton oder chromatischer Halbton besitzen, als diatonischer Halbton oder gar als enharmonischer Halb- oder Ganzton. A ist nicht a. Es ist ein geometrischer Ort. Ohne seine Abstände nach oben und unten, nach vorn und hinten besteht er nicht, wie diese wiederum ohne ihn nicht bestehen. Dieses immanente Gefühl und Bewußtsein der gegenseitigen Abhängigkeit schließt in den Tönen ein anthropomorph trübes gegenseitiges Verlangen und Umwerben aus. Es vermöchte nicht mehr, als ohnehin erreicht ist. Die Verwandten hausen immer beieinander, Dominante und Unterdominante usw., die gleichen Cliquen bilden sich unablässig. Ihre enge Verschwägerung drängte sogar die fremderen Familienmitglieder im Laufe der Zeit hinaus, nahm an ihnen Erhöhungen und Erniedrigungen vor, die sie einander ähnlich machten. Ihre systematische Struktur festigte sich. Sie waren vor dem Sturz aus dem Klang in den Schall gesichert, um so leichter konnte ihn der Stoff tun, dessen Gleichnis sie waren. Die unsichtbar mitklingenden Intervalle färben den Ton, und also färben sie auch die hörbaren akkordischen. Der Farbgrund ist durch sie besonders entschieden festgelegt. Bach macht verhältnismäßig wenig Ausweichungen, aber die Intervallverhältnisse und -beziehungen ändern sich natürlich fortwährend, so daß die Grundfarbe in sich reich schattiert ist. Seine scharfe Klarheit wird doch von einem Helldunkel umwoben. Nur mit letzter Anspannung wäre jede Nuance der Schattierung wahrzunehmen.
Die Tonsubstanz neigt rückwärts gegen das Dunkel des Schalls und vorwärts gegen das harte Licht des Themas. Ist dieses schlecht, so ist schon alles entschieden. Die „Mathematik“ wird dann geistlos, die Kunst geht im Schlendrian, verwahrlost ist alles, die Rechnungen widerlegen sich, zweimal zwei ist nicht vier. Wiederholung, Versetzung und Tonartenwechsel sind Mißbrauch. Formeln widern an, wenn sie nur Formeln bleiben, jedoch ihr abstraktes Recht verlassen und Sinnlichkeit anfressen. Eine Fuge beispielsweise mutet dann an, als legte ein irrsinniger Greis bunte Bälle in den Brettern eines Regals auf und ab, in gewissen Abständen nach oben und unten, und käme sich als sybillinischer Magier vor.
Die Fragestellung aus der Gesamtordnung der technischen Bedeutung her ist bei Bach um so mehr berechtigt, als oft genug in vokalen wie auch instrumentalen Werken die Sätze miteinander seelisch nicht verbunden sind. Die heischenden Formen klammern den zu behandelnden Stoff alsbald in sich so ein, daß nichts für weitere Ausmünzung in einem Adagio nach dem Allegro und wieder in einem Allegro übrigbleibt.
Es gibt keine Zusammenhänge mehr, es gibt nur einen Zusammenhang. Die verschiedenen Themen sind längst keine Auslegung des musikalischen Inhalts, sondern Anregung, immer andere musikalische Charaktere auftreten zu lassen. Wie könnte auch das Kleinere das Größere auslegen? Das Verhältnis hat mit keiner Materie mehr etwas zu tun, auch mit der des Tones nicht. Die aus der Grundlage von zwei, drei, vier Tönen geborene Einheit, eben das Verhältnisgefühl, ist vom Stoffe völlig befreit. Es schwebt über der Dreiheit oder Vierheit der Töne. Seine Einheit ist nicht mehr Potenz, erst recht nicht Summe der Töne, sie ist etwas von neuem Einfaches. Die Mittel der Wirkung sind unverborgen, sie lassen sich entdecken, aber wenn man, angenommen, es wäre möglich, alle entdeckt hätte, so hätte man keins entdeckt. Das Hörbare ist ein Gleichnis. Hinter dem Gehör, aus seiner Phantasie, baut sich eine Totalität auf, in der auch alle anderen Sinne ihr Recht besitzen. Denn nur in der körperlich gebundenen Sinnlichkeit sind die Sinne in Zonen eingeschlossen. Wo deren Vermittlung aufhört und sie in die Phantasie einmünden, da fallen die Grenzen. Es beginnt eine Welt mit Morgen und Abend, Tag und Nacht, Göttern und Menschen, aber sie sind alle aus demselben Stoffe.
Solche Arbeit, in der das Tonsymbol nur sich selbst bedeutet, also das Symbol aufhebt, ist auch ein Ethos des Anschauens, weit jenseits aller Moral, weit erhaben über alle Einstellung nach einem Geschmack. Käme es darin nur auf einen bürgerlichen Sonntagsschmaus des Genusses, auf irgendeine bloß lernbare Fähigkeit an, so unterschiede sie sich im Wesen nicht von der moralischen, politischen, sozialen Welt.
Bachs Malen mit musikalischer Bedeutung, die nichts außerhalb ihrer selbst bedeutet, ist Schilderei des Metaphysischen: ewiges Leben. Die Plattheit und Leichtfertigkeit des Glaubens, der eine schlaraffige und frömmlerische Fortsetzung des irdischen Lebens für wahr ausgibt, ist ersetzt durch Probeminuten (oder sind es Jahre?) eines wirklich jenseitigen Lebens in der Musik. Es wird Gegenwart, ist herabgezogen ins Irdische. Es verzichtet nicht aufs Diesseits, zeigt vielmehr, daß seine Fortsetzung ohne Zeitbegrenzung, Zeiternüchterung unsinnig, geistwidrig wäre.
Schon der erste Aufbruch der Musik in den Motiven empfängt vom Zentrum her nüchterne Befehle, zweckmäßig arbeitsam zu sein, sich danach zu bilden und zu halten und sonst nichts. Wenn die Motive genauestens den gegebenen Gelegenheiten dienen, entfliehen sie ihnen doch durch eine während der ganzen Schaffensjahrzehnte Bachs wiederholte Typik so weit, wie es überhaupt denkbar ist, in eine Diktatur dieser einen Seele, dieser einmaligen, unwiederholbaren. Wie aber, liegt die typische Erscheinungsart nicht in der Luft, ist sie nicht den großen und gar erst den kleinen Meistern um 1700 gemeinsam? Man darf gegenfragen: sind Motive überhaupt vorhanden, wo sie arm und leer, bequem und überlieferungsgesichert sind? Ein Baum in einer Tapete, in einem Fries ist keiner, sondern nur ein Ornament; erst daß er wurzelt, wächst, grünt, rauscht, – macht ihn zum Symbol der Naturkraft. Bachs Motiv drängt sich nicht vor, weil es richtig, absichtsvoll ist, in seiner Wirkung gleichsam verschwindet. Bei wem es flach ist, bei dem springt es heraus, da gewinnt es Ausschließlichkeit, drückt lähmend selbst auf die individuellere Umgebung: man hört nicht mehr die Umgebung, sondern das charakteristisch Konventionelle. Die Langeweile hat dann ein Recht zu der Abwehr, das erste Mal sei das zehntausendste. Bei den Lässigen hat alles Schlechte üble Wirkungen: vom Atom her wirkt eine schematische Polyphonie durch das ganze System der Partitur. Bei Bach aber ist im schlicht und unscheinbar Gewollten des Motivs schon das ganze weltbeherrschende polyphone System inbegriffen. Ja, man mag behaupten, weil das Ganze in ihm klingt, klingt das es veranlassende Einzelne nicht. Es verbirgt sich vom Ganzen her. Es umfesselt die vielgestaltige Kraft, es ist der unheimlich leichte Vogelschritt, schicksalsvoll von dem zukünftigen Donner der unheimlichen Lawine, die er lösen wird. Bei den Konventionellen ist die Lawine nicht potentiell vorhanden, also auch nicht der Geisterschritt, unter dem sie aufspringt, sondern ein Schall auf und ab.
Denn im Auf und Nieder ruht die ganze Musik aller Zeiten, aller Geister. Mit der Notwendigkeit des Steigens und Fallens der Intervalle, Motive, Themen, Durchführungen, Sätze muß sie unentrinnbar arbeiten. Was mechanischer Zwang ist, das Setzen der Finger auf den Löchern der Flöte, den Tasten des Klaviers, das einfache Nichtverharrenkönnen, soll anders Musik gemacht werden, das gilt für alle innerliche Bewegung, – soll anders Musik gemacht werden. Musik ist, von hier aus gesehen, das Gewühl und Gewimmel an einem düsteren oder lichteren Ort, und das nach einem Orte hin. In dieser absoluten Zweiheit sind die Inhalte der Tonwelt vorgebildet, platonische Ideen aller konkreten Möglichkeiten, und wenn sie ihnen draußen in einem Texte begegnen, so gibt der Text nur eine unbestimmte Andeutung, höchstens eine bestimmte Anregung, welche dieser Ideen nun auftreten, sich enthüllen, ihr Drama aufführen sollen. Sollten nun innere Regungen pervers ausgedrückt werden, Leid mit Aufstürmen, Freude mit Hinab- und Zusammensinken? Bach war nicht der Finder dieser trivialen Einsicht, aber der Entdecker des Universums darin. Nicht nur Autoritäten wie Mattheson, auch ein einfacher Stadtpfeifer in Bremen wie Daniel Speer, der später Kantor in Göppingen und Waiblingen war, bestätigen theoretisch, was schon die vorbachische Musik als Gepflogenheit ergibt. Speer (vgl. Pirro, Wolfrum) schreibt: „Er soll einen vor sich genommenen Text wohl betrachten und das darbey befindliche, es heiße nun lang, kurtz, hoch, tieff, Himmel, Erde, Lauffen, Stehen, Reden, Schweigen, Wiederkommen, Weinen, Heulen, Frölich seyn, Ewig, ohn Ende, Prächtig, Gering, Einer, Zwey, Drey, Alle, in Ewigkeit, Amen, Alleluja, und dergleichen nachdenckliche Wort mehr, mit gebührendem Noten-Satz observieren.“ Was Bach getan hat, ist, daß er das „von Fall zu Fall“ durch das „ein für alle Mal“ ersetzte. Damit streift er jeden Rest des Kopierens ab und wird zum Schöpfer. Jeder motorische Gedanke wird zur Variation des Grundgedankens überhaupt. Weil eine Welt da ist, vermag der Takt zur Welt zu werden; nicht weil der Takt ein Stückchen Welt getreulich abmalt, wird allmählich eine Welt gemalt sein. Die Polarität des Hinan und Hinab enthält alle Polaritäten. Aus ihrem Magnetismus, aus ihren Gesetzen der Schwere und Trägheit gruppieren sich die Elemente, verwandeln sich die Gruppen in Form. Das Verweilen in gleicher Tonhöhe wird zum Vorzustande, zur Entscheidungspause für das Fortstieben, zum Laden mit Kraft, zum Anlauf. Die Kantate „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes“ enthält die Textfortsetzung „daß er die Werke des Teufels zerstöre“. Diese Worte geben ein hackendes Unisono sämtlicher Chorstimmen auf c, bis bei zer-„störe“, mit Spitta zu reden, die Stimmen wie eine gewaltige Strahlengarbe nach allen Seiten auseinanderfahren. Das ununterbrochene Verweilen oder der wiederholte Anschlag eines Tones in der Tiefe kann eine besonders verstärkte, gewichtige Bewegung nach der Tiefe sein, kann das Grundlose dieser Tiefe anzeigen. Ein Verweilen in der Höhe, zum Beispiel das unersättliche c der beiden Flöten in der Kantate „Komm du süße Todesstunde“ schwebt wohl in die Unermeßlichkeit dieser jenseitigen Höhe hinauf; das ist hier besonders schön, weil der Tod als der Honig aus dem Munde des Löwen bezeichnet ist: wir sehen nicht den Löwen, sondern schmecken nur den Honig. Oder ein festgehaltenes hohes F der Trompete ist ein unheimlicher Magnet für einen konzentrischen Anflug: „Dein Wetter zog sich auf von weitem“, in der Kantate „Schauet doch und sehet, ob irgendein Schmerz sei wie mein Schmerz“. Es herrscht das volle Bewußtsein, daß die gleiche Erscheinung ungeheuer viel bedeuten könne. Wo wir den technischen Ausdruck aufwärts gebrauchen, kann Bach mit denselben Noten ein Steigen, Keuchen, Fliegen, Hinanfreuen, Schweben, Himmelstürmen meinen. Einmal wiederum mag er Stufe um Stufe nehmen, ein anderes Mal, ohne etwas anderes zu gestalten, Stufen überspringen bis zur Quartstaffel. Oder er verhüllt seinen Weg, verbirgt ihn in figuriertem Gewölk, mit einem Wogen hinan und hinab um die Stufe, die von der Gesamtheit dieses Gewoges erbaut wird. In sechs Tönen oder in acht ruht ein einziger, umsponnen, gefangen, umschmeichelt, ohne zu erklingen, oder nur flüchtig anklingend wie ein Art- oder Altersgenosse der sechs oder acht übrigen, und dennoch ist er der Gebietende. Er, der Unsichtbare, trägt den Sinn und trägt ihn empor oder hinab, wie die Königin der Bienen von den Arbeitsbienen versorgt wird. Abstände, variable Aufenthalte im Drange zur Höhe und Tiefe werden geschaffen. Steigende Motive sitzen als Kern in einer fallenden Tönegruppe, fallende in einer steigenden Figur. Es wird nach Gipfeltönen gezielt von einer Notengemeinschaft, der Schwung trifft bei heftigster Anstrengung zuweilen stets die gleiche Höhenlage, öfter jedoch verschiedene Höhen; natürlich, denn der Widerstand der harmonischen Atmosphäre regelt die Flugkraft. Etwas von der Mathematik der Parabel waltet in solchen Bemühungen. Es spukt auch noch von der Teilung der Oktave in zwei Tetrachorde, wie sie die griechische Musik und die Zeit der Kirchentöne hatte. Damit eine Bewegung wirklich „bis zum Himmel“ steige, wirtschaften Tenor, Alt und Sopran, jeder nach seinem Vermögen, kommunistisch zusammen (Kantate „Man lobet dich in der Stille“); gleichsam schiefe Motive, meist mit viel Chromatik und meist abwärts gerichtet, bringen die festen Himmelsgegenden durcheinander, heben sie auf. Sie führen in mystische Zwischenwelten voll Geheimnis, Blutdunst, Qual, Tod, in die Einsamkeit, als noch Norden und Süden, Mond und Stern nicht war. „Seufzen, Klagen“, „Crucifixus“, Diese Abgründe gibt es immer, sie bleiben permanent jenseits der Welt die Welt. „Et incarnatus est“ — das Hinabsinken göttlicher Befruchtung in den irdisch weiblichen Schoß hat nicht bloß die Dauer des Musikstücks in der H-Moll-Messe, sondern es währte seit Ewigkeiten und wird in Ewigkeiten währen. Mehr als das Ereignis des unheimlich Unwiderstehlichen ist seine Tendenz. Schwaden des Geheimnisses ziehen vorüber, schräg hinab, bis zum Zerren und Ziehen des Todes: „et homo factus est.“ Die Empfängnis des Keimes ist schon das Mähen des Vernichters. Auf einen Punkt zusammengeschrumpft ist alle Gestalt des Lebens, und nur das Mysterium erfüllt alle Dimension mit seiner Dichte. So, wenn eine nachsprechbare oder ausgesprochene Bedeutung vorhanden ist, so auch, wenn das wortlose Sein waltet. In solcherlei Richtungstendenzen liegt wieder die ganze Welt mit Dingen und Personen, das Angelangtsein gleichzeitig in der Höhe und Tiefe. Unten liegt die Vernichtung, bis zu dem Sturz, „der Vorhang zerriß von oben an bis unten aus“, unten liegen die Gräber. Christus, der Tragische, Todumwitterte, Geopferte wohnt in der Tiefe, ihm gehört die Baßregion. Christus, den der Evangelist kündet, lebt in der Höhe der Mitte, der Tenor öffnet ihm die Breite der Welt. Dem Triumphator werden auch die weiblichen Stimmen der Höhe beigegeben, — nicht mehr als Rollendarstellerinnen, weil es hier keine Rollen mehr gibt.
Aus welcher Skala jedoch bauen sich die übergewaltigen Flüge und Stürze in Himmel und Hölle auf? Aus sieben Tönen, in ewiger Wiederkehr. Die Tonleiter ist „alles“, ist der restlose Inhalt der Erde: „Welt, behalte nur das deine“ (Sie versinnlicht auch sonst das Hingehende, das Vergängliche.) Aber sie ist ebenso die Himmelsleiter, wie schon die Zahl sieben, etwa in der (mit den Geigen) siebenstimmigen Fuge des Credo der Hohen Messe das völlige und abgeschlossene Wesen allen Inhalts bekennt. Und der zermalmende Begriff „omnipotens“ erscheint ebendort wieder als die siebenteilige Tonleiter. Also der elementare Anfang aller Musikunterweisung, das enge Alphabet der Fibel, das der unbegabteste Schüler für den dümmsten Hausgebrauch lernen muß, ist jenes „omnipotens“, der Schoß Gottes mit allen Möglichkeiten der Geschichte und dem Gebot über alle Wirklichkeiten. Das einfachste Mittel wurde zum besten. Beginn und Ende des Kreises erreichten sich. „Sicut erat in principio“ — das „Magnificat“ wiederholt nach vielen Stücken wie ein schlichtes da capo seinen Anfang: hier vernehmt ihr das principium der Dreifaltigkeit. Genau wie das Jagdhorn den König Jesus als unbegrenzten Herrschergott enthält und vorher und nachher doch nur ein schlechtes Instrument ist, bedeutet die Tonleiter alles und nichts. Der Unsinn der Materie und der heilige Wahnsinn des Genies bedienen sich derselben Maske. (Wie weit der wirkliche Unsinn sich verirrte, dafür entnehmen wir Pirro ein ergötzliches Beispiel: Ein Herr Schönsleder spielte mit dem Gedanken, ob man den Tag musikalisch nicht mit weißen, ungefüllten Noten, die Nacht mit gefüllten schwarzen ausdrücken könnte.) Da bei Bach so die Mittel sparsam als sie selbst und verschwenderisch als die Träger der extremsten Spannungen gesehen und erkannt werden, da der erste Ton der Tonleiter unter anderem Hölle, der oberste unter anderem Himmel ist, so bleibt schon für die allernächsten, allerfeinsten, allerunauffälligsten Gegensätze eine Kluft zu überspringen und für die weiteste Spannung ein unendlicher Abgrund. Der Geist, der so entschieden Wirklichkeit, Genauigkeit, Wörtlichkeit, Anerkennung, Respekt, Ehrfurcht fordert für jegliches, was in irgendeinem Verhältnisse steht, fordert von der Sinnlichkeit des Ohres natürlich das Ungeheuerste an Wachheit, Beseeltheit, Empfindsamkeit, um es zu bemerken und aufzunehmen.
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Diese Verfassung wäre unvorstellbar ohne die Mitwirkung des Schweigens am Erklingen, als einer Überordnung der Ordnung. Das ausgespart Verschwiegene schreitet über und zwischen den Heerscharen der Zehntausende von klingenden Noten. Meer und Festland, Luft und Erde. Das Tönen grenzt das Schweigen ab, jagt, peitscht es zurück, geißelt es empor, das Element, das immer wiederkehrt, sich sammelt, ballt, mit gespenstischer Aura drückt, das hochgeschleudert wird, zurückstürzt, unerträglich spannt, zu klingen beginnt, übertönt, überschreit, nicht eingelassen wird und an Gewalt wider die schallende Gewalt zunimmt. Das Unsichtbare kämpft mit dem Sichtbaren, Jakob mit dem Engel. Der unerbittliche Zwist kann ganz gelinde dünken wie in dem Arioso „Am Abend da es kühle ward“ oder im Chore „Bleib bei uns, denn es will Abend werden“, aber die nie tagende Nacht weht dennoch daraus herüber. Schweigen bestimmt die Wahl der Instrumente, gedämpfte Geigen und Lauten in der Himmelschlüsselblumen-Arie der Johannespassion, oder was es sei. Es läßt die Tonarten schwanken und sich nicht entscheiden, wie schon in der frühen C-Moll-Orgelfuge, es kann alle Glieder lähmen bis auf eins, wie ebendort, wo lange nur der eine Schritt vom As-Dur-Sextakkord zum verminderten Dreiklang geschieht, es setzt Quinten und Oktaven falsch und flicht A-Moll und As-Dur ineinander. Der Tag des hellen Verstandes, in dem Bach immer weilt, sähe sonst sofort den erlösenden Ausweg. Der größte Meister im Durchdringen der Dissonanzen brauchte sonst nicht so hartnäckig im Dissonierenden auszuharren wie etwa in der Kantate „Nimm von uns Herr, du treuer Gott“. Die Ordnung, zu reden, weil es das Schweigen gibt, zu schweigen, weil es die Rede gibt, ist vielleicht seine oberste Ordnung. Der darin beschlossene Widerspruch befruchtet wohl jede Kunst, aber am erschütterndsten muß er in der tönenden sein. Obertöne krümmen die Regenbogen dieses Schweigens, sind die erscheinende Fata morgana. Die Orgel mit ihren Klangmixturen hatte das systematisch-mechanisch festgelegt, es brauchte aus jahrhundertealtem Schlafe nur aufgeweckt zu werden. Nicht bloß in schreitend melodischen oder statisch harmonischen Intervallen spricht das Schweigen, sondern es umwebt das Ganze. Es naht erst, wenn der Geist entfaltet wird, nicht das Lernbare, nicht das Zeitübliche. Nicht die Summe und noch nicht die Potenz der Töne hat etwas von seiner Gloriole. Sie ist nicht an die Person eines Meisters gebunden, die nie wiederkehrt, aber auch nie ihre Gegenwart verliert. Sie kann im fünfzehnten Jahrhundert geleuchtet haben und im zwanzigsten wiederkehren. Hier ragt das Werk über seine Bedingungen hinaus, hier offenbart sich das Überpersönliche des Schöpfers, hier verstummt selbst ein Tönendes, wie schon in seinen gleichmäßigsten Figuren vielleicht unter vier ebenbürtigen Notenwerten nur der zweite und dritte Ton metaphysisch wichtig sind, die beiden Ecktöne dagegen nur physisch. Die unsichtbare Melodie, die halb sichtbare, die eingesponnene, umrankte, umblühte, verdorrende, sorgt für die innerlichen Übergänge (die Wagner von seinem Standpunkt aus als das Schwierigste erklärt), die ohne etwas schweigend Fortwirkendes gänzlich unerklärlich blieben. Dadurch erzeugt sich bei Bach auch die nur ihm eigene Gliederung in Haupt- und Nebensachen, obgleich er im Verlaufe seiner Musikstücke nur Hauptsachen gibt. Obwohl konstruktiv überflüssige Nebensachen fehlen, fehlen sie doch nicht in einer Weise, daß die Unmöglichkeit gefolgert werden müßte: lauter Hauptsachen!
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Hiermit hängt das Fehlen gewisser Antinomien in Bachs Werk zusammen. Heidnische Elementarkräfte haben sie verzehrt. Wie alle Musik den Gegensatz des sittlich Vortrefflichen und Schlimmen in Schönheit verzaubert, so weiß Bach erst recht Gut und Böse nicht auszudrücken. Das Böse ist ihm, sobald er Kantor zu sein aufhört, das grotesk Charakteristische: die teuflische Schlange, die Spötter, die Sünder. Seine Teufel sind von einer liebenswürdigen Lebensfrische, die Sünder erblühen tropenüppig in der Leidenschaft des Schmerzes. Die Kurven und Tiefen der Themen für das Arge und Verworfene sind gegensätzlich nur zu den Kurven und Tiefen der Themen für das Reine und Gebilligte, nicht aber die eine ethische Färbung zu der anderen. Das Krumme, das Auswüchsige, das Großspurige, das Stotternde, das Zeternde: so etwa ist ihre Erscheinung. Ihr Unterschiedenes ist nichts als Erscheinung. Sie ordnen sich früher gefundenen Gegensatzpaaren unter, vor allem den melodischen, harmonischen, rhythmischen. Sie sind unentbehrlich, um einen wirklichen Kosmos zu bevölkern. Sie stellen sogar einen Glücksfall dar für ein so mächtig ausgebreitetes Lebenswerk und laufen mit den Kennzeichen der Familienähnlichkeit kreuz und quer durch seine Schichten. Wie die Narren und Schelme bei Shakespeare dürften sie nicht fehlen. Sie sind das untere Volk. Es wäre sogar nicht allzu spitzfindig, das eigentliche Volk, das Volk der turbae, als radikal böse in diesem Sinne zu bezeichnen, denn nie mangelt ihm das genial Charakteristische, das klar Individualisierende, nicht nur in den dissonierenden Gegenden, sondern noch in den pastoralen. Das Genie ist das „Böse“ in unvergeßlichen Chören wie „Du Hirte Israel, höre“, im bußfertigen „Kyrie eleison“, in den Grablegungen, in den Kreuzigungschören, im Wutgebrüll „Barrabam!“
Mehr an die Oberfläche gerückt, heißt der durch die Musik ausgemerzte Gegensatz gut und böse — sakral und profan. Stellt ihn das Vorhandensein der weltlichen Kantaten und Tanzpartiten nicht doch auf? Kein Unterschied der Arbeit und Gesinnung ergibt sich gegenüber den anderen Stücken. Manche Kirchenkompositionen sind von konfessionell Gesinnten als besonders protestantisch empfunden worden. Spitta nennt die Motette „Singet dem Herrn“. So wären die Orgelphantasie über „Das sind die heiligen zehn Gebot“, die übrigen Paraphrasen der Katechismuslieder, die Kantate „Ein feste Burg“ zu zählen. Folgt daraus nicht eigentlich, daß alles übrige minder protestantisch sei? Die Kirche wurde hier interessanter Bestandteil der Welt wie das Rüpeltum in der Bauernkantate. Wenn Musiken auf weltliche, höchst weltliche Strophen auf geistliche Strophen überführt, oder wie man damals sagte, parodiert wurden, so war der Wesensgehalt das tertium comparationis, nicht die inhaltlichen Angaben. Im Weihnachtsoratorium wird der Schlaf des Jesuskindes besungen, auf eine Melodie, mit welcher Frau Wollust den Herakles galant bedacht hatte. Die Melodie atmet aus dem gleichen Schlummer her, gleichgültig gegen Situationen und Personen, aus jenem Schlummer, der jenseits von gut und böse ist. Gleichermaßen wurden ja die musikalischen Formen nicht nach ihrem Ursprung gefragt, je nachdem sie würdig befunden wurden, einen geistlichen oder weltlichen Zweck zu erfüllen. Die Orgelweihkantate für Strömthal ist eine Folge von Tanzstücken wie Rondo, Gavotte, Gigue, Menuett, außer der französischen Ouvertüre. Konzertstücke leiten Kirchenkantaten ein, wahrscheinlich öfter als sich heute kontrollieren läßt, und Bach überschrieb die Partituren selbst mit dem Worte concerto; es störte das „Jesu juva“ daneben nicht. Ja, schwerste Chöre von den letzten Dingen sind solchen Konzertsätzen eingebaut, „Wir müssen durch viel Seufzen“ in den zweiten des D-Moll-Konzerts für Klavier. (Ich kenne die Zweifel an der Echtheit beider Werke.) Was sich gleichzeitig für Violine, Klavier und Orgel findet, wurde nur nach den Fähigkeiten dieser Instrumente bereichert, nicht nach Konzertsaal, Haus und Kirche beurteilt. In der Klaviermusik klingen kultische Stücke an. Die gleichen Stadtpfeifer, die ein unanständiges Quodlibet exekutierten, musizierten ein Weltgericht. Die französische Ouvertüre legt erst im zuckenden Weh des Kirchengesanges die spitzen, trockenen Manieren ab, die sie in der absoluten Musik zuweilen verstaubt und veraltet erscheinen läßt (vgl. z.B. „Preise Jerusalem“, „O Ewigkeit, du Donnerwort“, „In allen meinen Taten“), während die weltlichen Kantaten höchstens den Prozentsatz ihres Stimmungsanteils an einem Ganzen darstellen, nicht ihren Gegensatz zu ihm. –
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Jedes Beispiel aus Bach ist ein Prisma mit unzähligen Brechungen des Lichts. Aber das Licht ist allenthalben dasselbe. Bachs Werk beantwortet den einen fragenden Gedanken: wie kann die Welt in der Kunst existent werden? Das Rätsel verschließt sich in seine Umkehrung: indem die Kunst Welt wurde! Noch die fremden Musiker und ihre Arbeit betrachtete Bach mit einem Auge, das sie als so anonyme Realitäten sah wie ein Stein, Halm und Vogel. Er entlehnte viel, aber er verletzte in seinem Gewissen keine Eigentumsrechte, da er nicht den Willen eines Menschen verwirklichen wollte, sondern den einer Welt. In der kleinsten Invention von wenigen Takten Umfang ist der Trieb ihres objektiven Bestandes mehr als sein eigener: sie gestattet ihm den Zutritt, sie nimmt seinen Geist auf, nicht er sie in den seinen. Wie ihm die Formen der Böhm, Pachelbel, Reinken, Buxtehude gehörten, als hätte er sich selbst in diesen Meistern vor seiner Geburt vorausgesandt, damit er sich mit ihrer Lebensarbeit vorarbeite, so hatte er Legrenzi, Corelli, Albinoni, Vivaldi, Fischer ausgesandt, daß sie ihm einige seiner Themen erfänden. Mit diesen Besitztümern der unteilbaren Wirklichkeit schaltete er als mit etwas Eigenem, das doch jedem freistand wie tiefsinnige und assoziative Wörter der Sprache, mit denen man Gedichte nach dem Maße seiner Natur und seines Talentes dichten konnte. Er gab den Orgelmeistern das Anonyme wieder, indem er die Summe jedes Einzelnen als Summanden in sein Werk fügte. Die französischen „Manieren“ schrieb er zum Ärger zeitgenössischer Kritiker aus, weil sie ihm nicht Manieren blieben. Das grausige Durcheinander nördlichen und westlichen und südlichen Musizierens in seiner Zeit verschwand in ihm. Er hob die Anwendung der Formen ad libitum auf. Der Streit um den Geschmack nach dem blöden Prinzip: um den Geschmack lasse sich nicht streiten, zerstob in seiner freien Tat. Was geschichtlich ins Daseinsrecht gewachsen war, nacheinander, entfaltete sich in Bach nebeneinander und nahm so am universalen Bewußtsein teil: Künste waren Natur geworden, Naturen Kunst.