ZWEITER TEIL
JEAN PAUL, DAS UNBEKANNTESTE GENIE
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Wer durch Jahrzehnte immer wieder zu diesem ungeheuerlichen Dichter hingezogen worden ist, der kennt auch den kalten, bösen Blick auf ihn. Manchmal hat ihm die hölzerne Maschinerie der Romane ins Ohr geknarrt; die Unwahrscheinlichkeit der Voraussetzungen hat ihn vertrieben; der an Methusalems Frisur verschwendete echte Geist und Witz fing ihm an zu grinsen; ein Papua-Medizinmann lächerte ihn mit seinem Verlangen, er solle die aufgesetzte breite Larve wie ein Gesicht glauben. Gehörte manche Voreingenommenheit der vor uns bewegten Figuren nicht auch dem an, der sie erdacht hatte? An Standesklüften schien die Wahrheit zu zerschellen, fürstliche Geburt schien künftige Götzen in die Wiegen zu legen. Geschlechtliche Strenge manchmal über die Erlaubnis der Natur hinaus, Duelle (obwohl da meist ein leiser komischer Glanz Raum gewann), Scheintod, rührende Blindheit, in einem einzigen Werke an Haupt- und Nebenspielern ein halb Dutzendmal wiederholt, Tochtergehorsam über alle Sanftheit hinaus bis in knechtische Dummheit hinein, — was sollte das heute irgend taugen? Zuweilen wiederum drängte sich das Advokatorische auf. Psychologische Funde waren unkünstlerisch zerfällt in erstens, zweitens, drittens. Ein Kanzleiverwalter schleppte verstaubte Akten und notierte, notierte, notierte schnurrig wesenlose Hinterweltsraritäten. Geographische, medizinische, archäologische, philologische, literarische, astronomische, mathematische, physikalische, meteorologische, chemische, botanische, politische, militärische, konfessionelle, prozessuale, merkantilnumismatische Merkwürdigkeiten zu Zehntausenden, durcheinandergeschüttelte Lexika und ganze Bibliotheken! Bei erneutem Lesen sodann trat der papierne Putz in den Vordergrund. Rührung, gepreßt aus makabren Phantasien und Verklärungen, dekorierende Sonnenfinsternisse, Gewitter, Feuerwerke; für die Größe der Natur und der Seele Wörter wie: Triumphtorbogen, Jubelpforte, gemalte Jubelpforte gar, Ehrenpforte, Goldküsten, Perlenbänke, Säulen des Glückstempels, Hesperiden-Fruchtschnüre, Harmonikaglocken, Savoyarden-Orgeln, Monatskupfer, Wachsfiguren-Kabinette, Isolier-Schemel, Rosensirup, Veilchensirup. Von Musik war häufig in seraphisch steigenden Sätzen die Rede, aber dann: was ist das für eine Musik? Sentimentale mechanische Flötenwerke, Äolsharfen, und immer diese gläserne modische Harmonika! Ehrliche Tonmeister sind nur eben erwähnt, und meist mit Anekdotischem aus ihrem Dasein und Werk. Wasserkünste, Feuerwerke auch hier!
Genügt das, um Jean Paul zu vernichten? — Es ist nicht Jean Paul, es ist nur sein aufgedünstetes, gedunsenes Gespenst, das ihn verfolgt und verdeckt.
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Er erzählt: einmal besuchte er den Mann im Monde, den alten Lunus. Der saß auf dem Krater, welchen die Astronomen Leibniz nennen, und streckte die Beine hinein, wahrscheinlich, um sie zu wärmen. Er trug Gürtel mit Flaschen. In diesen befanden sich von der Erde heraufgesogene Essenzen. Eine Flasche war von der Art der Impossible-Gläser, in denen immer einige Tropfen zurückbleiben und die daher unmöglich zu leeren sind. Sie war mit der Aufschrift versehen: „Esprit franc de goût“, und darunter stand der Name Jean Paul.
Gutmütig die Zähne entblößend, wehrt er die Angreifer seiner Geschmacklosigkeiten ab, wie ein starkes Tier, das auch in der Ruhe die Last und Kraft seines Körpers spürt. Er gibt die Geschmacklosigkeiten freiwillig zu. Aber er scherzt zuweilen so bitter darüber, daß man sich wundert, wie er sie dennoch ohne ernsthaften Arbeitswiderstand fortduldet und forthätschelt. In seiner Konjektural-Biographie, wo er sich als literarischen Jubelgreis sieht, sagt er: „Nach diesem Jubeljahr hoff’ ich, nicht ohne allen Geschmack zu schreiben. Ich hätt’ es früher gekonnt, wenn ich zur Apoplexie mich entschlossen, oder wenn ich, wie Ludwig XII. von Frankreich auf Befehl seines Arztes Bouvard, in einem Jahr zu 215 Purganzen, 212 Lavements und 47 Aderöffnungen gegriffen hätte; ich wäre dann kapabel geworden, so ordentlich und nüchtern zu schreiben wie ein vernünftiger Mann im Reichsanzeiger. Inzwischen, da das Alter selber eine Krankheit ist, und eine asthenische dazu: so ist noch schöne Hoffnung da und wenig verloren.“ Wenn der Vulkan keine Flammen und Lava mehr speit, so wird er noch leichte Bimssteine auswerfen, womit man polieren kann. Im „Titan“ räsoniert er über den bunten Stil eines sehr beliebten und geschmacklosen Schriftstellers; sein buntes Übermaß ganz wildfremder Bilder bedeute gewiß am Kopfe, wie buntes Farbenspiel am Glase, die nahe Auflösung. Immerhin, was tun, Fixlein? Da es unabänderlich bleibt, daß an den Wagen seiner Psyche ganz verschiedene Pferde geschirrt sind, Engländer, Polacken, Rosinanten, sogar Steckenpferde, so bittet er einfach um Vergebung, wenn er im Bündel so vieler Zügel zuweilen fehlgreife und ermatte.
Er fordert Vertrauen für den Instinkt, denn die Besonnenheit allein sieht nicht das Sehen, und „wären wir unser ganz bewußt, so wären wir unsere Schöpfer und schrankenlos“. Er preist den inneren Stoff, der sich im äußeren, mechanischen, mit der Wirklichkeit gegebenen nicht findet, sondern der selber die Wirklichkeit findet. Dieser innere Stoff, die angeborene unwillkürliche Poesie, sei unnachahmbar. Gegen die Nachahmer erbittere nicht der Raub an witzigen, bildlichen erhabenen Gedanken ihrer Muster, denn nicht selten seien sie ihr eigenes Erzeugnis, sondern es sei das Nachspielen des Heiligsten im Urbilde, das Nachmachen des Angeborenen. „Eine Melodie geht durch alle Absätze des Lebensliedes. Nur die äußere Form erschafft der Dichter in augenblicklicher Anspannung; aber den Geist und Stoff trägt er durch ein halbes Leben, und in ihm ist entweder jeder Gedanke Gedicht oder gar keiner. Dieser Weltgeist des Genius beseelt wie jeder Geist alle Glieder des Werkes, ohne ein einzelnes zu bewohnen. Er kann sogar den Reiz der Form durch seinen höheren entbehrlich machen, und der Goethesche zum Beispiel würde uns, wie im nachlässigsten Gedichte, so in der Reichsprose doch anreden. Sobald nur eine Sonne dasteht, so zeigt sie mit einem Stiftchen so gut die Zeit als mit einem Obeliskus. Dies ist der Geist, der nie Beweise gibt, nur sich und seine Anschauung. — Manchem göttlichen Gemüte wird vom Schicksal eine unförmliche Form aufgedrungen wie dem Sokrates der Satyrleib; denn über die Form, nicht über den inneren Stoff regiert die Zeit.“
Hier schlägt eine Tatze zu, und eine harte Kralle schrammt beinahe den immer verehrten Goethe. Liebte Jean Paul Goethe nicht wie Jacobi oder Herder, mochte er ihn sich nicht so vertraut machen wie die englischen Humoristen, die er fast auswendig wußte, so umgab er ihn doch mit einem Hofe der Unnahbarkeit, obwohl er von ihm böse geschliffen wurde. Übrigens stimmte Goethe, als er in einer Zeitschrift ein Bruchstück der „Levana“ fand, so uneingeschränkt und begeistert zu, wie es ihm bei fortschreitendem Wachstum seines eigenen Universums sonst selten möglich war. Zwei Menschen, welche sich durch ihr Werk das Weltganze unterwerfen, können in ihrem Bewußtsein nicht so nebeneinander stehen wie in einem späteren Bewußtsein anderer. Die ernsthafte Kritik des Zeitgenossen läßt eine Erscheinung ihren Raum mehr suchen, die Kritik des Nachfahren läßt eine Erscheinung ihren Raum mehr finden. Jean Paul lehnte nur auf eine andere Weise ab als seine klassisch gerichteten Rivalen. Das Meisterwerk gab ihm für sein Schreibdasein so viel wie der Schmöker: das erste die Gelegenheit, es zu erwähnen, zu zitieren, kurze funkelnde herrliche Formulierungen über seine Art und seinen Wert zu prägen, – der zweite, es ebenfalls in einer Notiz der Vergessenheit zu entreißen und ihm Material auszuweiden, um die Magie und Lebendigkeit seines Geistes in Gleichnissen, despotischen Überfällen auflodern zu lassen. Hätten die großen Dichter seiner Zeit seine Innenwelt wesentlich bestimmen helfen, so würden sie in seinen Arbeiten praktisch sichtbar geworden sein: nicht anerkannt, sondern anerkennend, nicht von ihm unterschieden, sondern in ihm unterscheidend, nicht als groß oder klein gebildet, sondern das Große und Kleine bildend. Nicht sie vermehren und reinigen seine gestaltenden Kräfte, sondern die Philosophen. Die Dichter sind endgültige Gegenwart: der erste Dichter erwärme das Herz des letzten Lesers. Die Philosophen dagegen sind nie endgültig; wenn die Systeme wechseln, erhelle der erste Philosoph nicht den Kopf des letzten. Aus der denkerischen vorläufigen Beruhigung der Welträtsel schafft der Poet erst den unruhig flammenden Frieden der Gestalt. Seine Figuren können nicht handeln, wenn sie nicht denken können, sie können aber auch nicht denken, wenn sie nicht handeln können. Ebenso sind ihrem Dichter ihre Gefühle nicht zugänglich außerhalb ihrer Erscheinung, wie sie ihnen selbst anders nicht zugänglich wären, und wie sie dem Leser außerhalb dieser Form im Letzten unzugänglich bleiben. Die Totalität des Dichters wird erst in dem alle oder jeden in einer Gesamtheit umspannenden pseudonymen Schöpfer Jean Paul sichtbar, nicht in dem realen Geschöpf Friedrich Richter.
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Die Erschaffung des Schöpfers Jean Paul durch das mit ihm identische Geschöpf der Götter ist die vielleicht unerhörteste Leistung dieses literarischen Werkes aus hundert Werken. Weil der Autor als eine erfundene Person mit den anderen Personen durch das Buch wandert, sind alle Mitspieler nach seinem Maße vergrößert oder verkleinert. Beides ist richtig. Will man die Anpassung aller Dinge an die Lebensgröße des Autors nicht zugeben, so wirken sie gestrüppig, glaubt man die Verkleinerung aus der Perspektive eines fingierten Betrachters nicht, so werden sie unnatürlich erscheinen, bald durch Überhitzung, bald durch Frostigkeit, weil ihr Klima dann an den Temperaturen der Wirklichkeit abgeschätzt werden muß. Die in die Bücher miteingesperrte Person des Autors stört und schwächt durch ihre dauernde Anwesenheit und Teilnahme den reinen Begriff der epischen, lyrischen, dramatischen Elemente, ebenso wie er am Ernst und der Intensität aller dieser Elemente mitarbeitet. Bald scheint sie alles als Spiel und Maskerade erklären zu wollen, bald eigens dazu dazusein, um die Lügen aus der Welt zu treiben, die Herzen aus der Brust zu reißen und in die letzte Gehirnfalte zu spähen. Die papierene Figur des Autors ist der Marktschreier mit dem Stock und mit der Lederkasse, um das Schaugeld einzusammeln. Er läuft mit seiner Fröhlichkeit und Traurigkeit quer durch die Volksmassen der Bürgerlichen und Adligen und verschafft sich überall Zutritt. Er ist ein harmloser Spion, ein Entdecker dessen, was längst bekannt sein sollte und es nicht ist, gleichsam ein Columbus zu Fuß und auf dem Festlande. Er muß sogar die Gefühle vorempfinden, damit sie überhaupt entstehen, denn wenn sie nicht einer zuerst hat, so hat sie niemand. Er muß auch den Nachrichtenboten spielen und, um die vielen deutschen Fürstentümer immer mit Neuigkeiten zu versehen, Mitbeobachter einsetzen, sogar Hundsposten organisieren, die das gesammelte Material überbringen. Der Autor ist nicht unwirklicher als der Post-Hund oder der Beobachter, sie alle zusammen sind aber bestimmt nicht nur Erfindungen, sie versichern es bei dem Obersten ihrer Zunft. Der Autor muß sich auch mit Feinden beuteln, den Rezensenten, und auch diese sind nicht außerhalb, sondern innerhalb des Buches leibhaftig. Insgleichen der Leser, mit dem er sich unterhält, dem er sein Herz ausschüttet, dem er schmeichelt und brüderlich die Hand reicht. Auch er ist in die Geschichte hineinhypnotisiert, und sein Maß ist nicht verschieden von dem der anderen Akteure. Das Buch hätte noch nicht angefangen in den gedehnten Vorreden und Vorreden der Vorreden? Wir sind mitten darin von der ersten Zeile an! Noch andere Autoren finden sich zu dem, welcher sich Jean Paul unterschreibt, alle auf derselben Wirklichkeitsebene, Verfasser von Einlagen und Extrablättern, wie Leibgeber etwa, Verfasser von Briefen und Idyllen wie Walt oder der Bauer Hafteldorn mit seiner Idylle wider die Lüge des Idealisierens. Und es hat seine Richtigkeit damit, daß Siebenkäs nachträglich zum Autor der „Auswahl aus des Teufels Papieren“ werden muß. Als Richter die Satiren schrieb, war er noch nicht Jean Paul. Richter beginnt spät sein Leben zu beschreiben, — es kleckt nicht, weil er hier nicht den Autor dichten kann. Darum schwankt er, ob er die Kapitel der Autobiographie nicht wenigstens in den Kometen-Roman schieben kann, immer abwechselnd eins aus dem einen, eins aus dem andern Werk. Dadurch schriebe doch Jean Paul das Leben Richters? Er braucht einen objektiveren Wahrheitsraum, als es die noch nicht mythisierte Seele ist. Er braucht eine Lockerkeit und Freiheit, die der prosaischen unten auf Erden entgegengesetzt ist.
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Der reale schriftstellerische Arbeiter Jean Paul Friedrich Richter ist anders: ein grausamer Kerkermeister gegen sich selbst, ein Seelen-Orang-Utang, wie er eine seiner Gestalten nennt, ein systematischer Scharwerker, ungeheurer wohl als Flaubert, von härterem Fleiß wohl als Balzac, ein eigensinniger Zeitgeizhals, ein barscher, nie zufriedener Befehlshaber seiner Fähigkeiten, ein bis zur Hinterlist scharfer und rühriger Intellekt. Er legt sich strenge Befehlsbücher für sich selber an: tue dies, tue das! Der Student befiehlt sich: ich will Schriftsteller werden! Zehn Jahre Hunger und Not. Ein Bruder ertränkt sich, ein Bruder bestiehlt ihn. Er bleibt unverwirrt. Er befiehlt sich Ordnung. Seine „Übungen im Denken“, — Bände! – sollen nüchtern, hell, blumenlos sein. Lichtenberg rät, vor dem 30. Lebensjahre keinen Roman zu schreiben: Befehl! Fast so lange widersteht er dem Gegenrat der Freunde. Er hat eine Rechtschreibung nach eigenem Gesetz, harrt aus dabei, bis er vierzig Jahre vollendet hat, akkurat auf den Tag. Er ist oft verliebt, aber macht sich immer bald los. Seine Minuten sind geregelt. Er will alles wissen, alles lesen, exzerpiert alles, Bände, Bände, Bände voll. Poetische Hilfskonstruktionen, riesenhaft, nach Materien geordnet, Folianten, Rubriken des Weltstoffs! Er ist oft unwirsch gegen die Ehefrau, er beschränkt, wie berichtet wird, die Kinderzahl, damit sie ihm nicht zuviel Zeit und Geld nehme. Um Geld zu bekommen und damit Luft für die Arbeit, widmet er hochgestellten Personen seine Bücher.
Befehl: vormittags Produktion, nachmittags Rezeption, abends geselliger Verkehr! Die Betreuung eines ausgedehnten Verehrerkreises schafft eine große Erschwerung, daran festzuhalten. Trotzdem! Rauschmittel in Mengen, alles in genau errechneten Dosierungen, helfen ihm den artistischen Präzisionsapparat bis zum äußersten ausbeuten. Nie trinkt er Bier oder Wein um ihrer selbst willen, aber wohl bis zum Unfug, um sich visionär auszupressen. Ihn drückt die Verantwortung vor dem besten Leser der Zukunft. Schreiben sei schwerer als Lesen, darum nur ja nicht das Schreiben zum Lesen machen. Immer große Quadern! Wenn diese auch notwendig große Lücken ließen, so doch keine Anhängsel der Ermattung! Es blitzt fortwährend. Er läuft und springt dauernd, kann nicht sitzen, entspringt einsam im Sommer zu Fußreisen in süddeutsche Städte, seit 1810 regelmäßig. Auch das tut er im Joche seines einzigen Zweckes. Wieder Wein trotz der Rebellion des erkrankten Herzens. Der zynische Dämon flüstert: „Zur Erfindung trinke Kaffee!“ – „An wichtigen Tagen nimm Magnesia!“ Drei Lot Kaffee! Die Atemnot erstickt ihn, er stirbt fast erblindet. Selten ist ein Gewitter von solcher Spannung und Dauer über diese Erde gegangen.
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Hinter der freundlichen fingierten Figur des Schriftstellers steckte die grimmige Zyklopengestalt des Arbeiters. Was hat aber diese für einen Zweck? Wer verbirgt sich hinter ihr?
Vielleicht ein Narr. Vielleicht ein Sonderling. Wer? Jean Paul würde, so tragisch gefragt, nicht antworten: Ich. Die Antwort ist der Gluthimmel seines ganzen Werkes, und es wäre nicht entstanden, wenn es die restlose, zum Verstummen zwingende Antwort gäbe! Das Ich muß von seiner Tätigkeit immer bestätigt werden, damit es bestehe, und es kann gar nicht anders als sich bestätigen, weil es einmal besteht. Durch seines Vult Mund spricht der Dichter eines der tiefsten Worte, die gesprochen werden können: „Ich lebe nicht, um zu leben, sondern weil ich lebe.“ Was kommt es vor dieser unsäglichen Melancholie und unsäglichen Heiterkeit darauf an, ob einer ein Weltweiser oder ein Tor ist? Gefaßt wird das Rätsel von beiden nicht. Und zwischen seinen vier Wänden ist nach Jean Pauls Ausspruch fast jeder Mensch ein Sonderling. „Ich sage das: nur einmal wandert der Mensch über diese fliehende Kugel, und eilig wird er zugehüllt und sieht sie nie wieder.“ Könnte ihm da das Ich etwas sein? Er rät einmal, nur vierzehn Tage aus dem Leben der bedeutendsten Menschen recht genau anzusehen, um zu erkennen, wieviel Leerheit darin stecke. Von Morgen bis Abend immer wiederkehrende Geschäfte, Speise, Trank, Ankleiden, Auskleiden in öder Wiederholung! Nur durch Zusammendrängen und Hervorheben ein Schimmer von Bedeutung!
Dennoch bekennt er, er würde sich töten, wenn er wüßte, er wäre kein Ich, sondern eine Harmonie, ein Akkord von Wesen. Da ihm die Gewißheit nicht wurde, die ihm diese Folgerung erlaubte, so blieb nur der Ausweg in schwärmerische Lebensbejahung, – denn Gleichgültigkeit konnte die Zweifelsfrage überhaupt nicht stellen. Wo aber war das Ich? Was war sein Wesen und seine Form? Die vorüberziehenden Ereignisse und Schicksale konnten auch ohne es da sein, bewirkten es nicht, behielten es nicht, formten es nicht. Man vergäße nichts leichter als sich, zeichnet er auf, fremde Zustände würden uns so sehr durch unsere neuen Zustände verwischt wie unsere eigenen älteren. Und er im besonderen vergäße Büchersachen nicht am meisten, sondern das wirklich Erlebte. Und wenn er begeistert an einer komischen Darstellung arbeitet, so stört ihn der Schmerz über einen eben berichteten Trauerfall darin nicht. Die Erregung der Begeisterung enthält ihn. Über jeden kurzen Zweck hinaus dauert die Kraft, die sich ihm widmete. Wo endet sie? Nirgends. Etwas Wahres enthält die Wahrheit, etwas Schönes die Schönheit, etwas Taugliches die Tugend, etwas Göttliches den Gott: Ohne die unendliche Idee dieser Begriffe wäre ihre Erscheinung in der Endlichkeit nicht zu denken. Der Einzelfall wäre dann nicht schön, wahr, sittlich, göttlich, sondern eben nur Einzelfall. Wir hätten keine Beziehung dazu, wären Materie unter Materie. Die Beziehung jedoch ist immateriell, und die Zusammenfassung aller Beziehungen, der „innere Sinn aller Sinne“ ist das Ich. Die Kräfte Schönheit, Wahrheit, Sittlichkeit sind ihm eingeboren oder welche immer (Jean Paul glaubt an das Erzböse, wenn er schon an das Böse glauben soll), sie sind seine zwanghafte Anschauungsform, wie für andere Raum und Zeit; da mit ihrer Idee die Idee Unendlichkeit oder Ewigkeit gegeben ist, so ist erst recht die Ewigkeit des Ichs gesetzt. Das Ich ist ewig oder ist nicht. Es fließt durch den vergänglichen Körper und währt unbegrenzt fort. Damit hat Jean Paul den immanenten Gott gepackt. Ebenso hat er gleichzeitig den absolut transzendenten persönlichen stabiliert. Ohne Ich gibt es die seelischen Begriffe nicht, das Ich ist ihre Summe und Potenz, also auch für den Gott. Einmal schreibt er: „Es gibt nur ein Ich – Gott.“ Der menschlichen Persönlichkeit ist das Universum samt Elysium, Tartarus und Gott immanent oder all das ist nichts, der göttlichen Persönlichkeit ebenso das All samt den Menschen. Auf die Frage, warum der Umweg über soviel zeitliche Körperlichkeit? gibt es wohl wieder keine Antwort als diese: ich lebe nicht, um zu leben, sondern weil ich lebe. Daraus ergibt sich eine schwelgerische Arbeitsamkeit des Herzens. Jedes Ding ist Jean Paul Beweis des Unendlichen, nicht etwa nur Beispiel. Daher erblickt er mit so feierlicher Schärfe das Kleinste wie das Größte, daher läßt er mit lauschender Freude jedes an seinem Orte. Weil in Bayreuth der Kaffee-, Wein- und Biertrinker dieses Ich hat, ist er auf der Milchstraße so zu Hause.
Unheimlich ist es, bei ihm zu lesen, daß er den Moment anzugeben weiß, in dem sein Selbstbewußtsein geboren wurde. „An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht: ich bin ein Ich, wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig. Täuschungen des Erinnerns sind hier schwerlich gedenkbar, da kein fremdes Erzählen sich in eine bloß im verhangenen Allerheiligsten des Menschen vorgefallene Begebenheit, deren Neuheit allein so alltäglichen Nebenumständen das Bleiben gegeben, mit Zusätzen mengen konnte.“ Das war ein dumpfes Ereignis. Die Wiedergeburt des Ich, die es genial machte, ist ebenfalls dokumentarisch festgehalten. Am 15. November 1790 sah er sich selber auf dem Sterbebett wie in einem zweiten Gesicht „mit der hängenden Totenhand, mit dem eingestürzten Krankengesicht“. Das Tagebuch meldet: „Wichtigster Abend meines Lebens: denn ich empfand den Gedanken des Todes, daß es schlechterdings kein Unterschied sei, ob ich morgen oder in dreißig Jahren sterbe, daß alle Pläne und alles mir dahinschwindet, und daß ich die armen Menschen lieben soll, die so bald mit ihrem bißchen Leben niedersinken. – Der Gedanke ging bis zur Gleichgültigkeit in allen Geschäften.“ Da rafft er sich auf und zieht alle Konsequenzen für das an ihm, was nicht stirbt. Er hatte früher geschwankt, ob er ein Dichter oder Philosoph werden müsse. Nun erleuchtet sich in ihm immer stärker die Art Philosoph, die den Dichter nicht allein erlaubt, sondern ihn nährt. Als junger Mensch war er ein Skeptiker an allen Dingen gewesen, ein Rationalist bis zur Selbstvernichtung. Unter den Ortsgenossen galt er als Atheist. Als Gymnasiast hatte er die Göttlichkeit Christi mit so scharfem Verstande geleugnet, daß der Lehrer, am Ende seiner Gegengründe, ihm nur zu schweigen befehlen konnte. Die stoischen Denker retteten seinen alles anfressenden Geist von Wahn oder Tod. Nach dem Durchbruch hätte er mit seinem Wissen um die Menschlichkeit Jesu nicht mehr auftrumpfen mögen: sie war ihm zu selbstverständlich. Weder die stoischen noch die idealistischen Philosophen können seinem Drange, unumstößliche Gewißheiten auszusprechen, mehr etwas anhaben. Nur Kant mit seinem „unsichtbaren großen Herzen“ ist ihm zu gewaltig; weil er ein Herz hat, wenn auch ein verborgenes, braucht er zu seiner Bekämpfung die geistigen Leidenschaften nicht heerhaufenstark aufzubieten. Das Bedrohliche der anderen wächst in riesenhaften Gestalten seiner Phantasie auf und wird im Ich dieser Gestalten unschädlich. Ihr „Herz“ wettert durch die Systeme Fichtes, Schellings, Hegels. Was an den Philosophen, die für den Herzschlag des Alls werben als für die Welteinheit, etwa nicht mehr als nur sentimental ist, wird in ihm herzhaft, beherzt, wagemutig. Aus seinem dichterischen Kosmos mit unzähligen Bildern und Figuren ließe sich eine gewaltig starke Essenz alles dessen, was die Welt grüblerisch und intuitiv in Systeme gebracht hat, abziehen, gingen diese unter. Jean Pauls Werke haben auch einen erkenntnis-theoretischen Grundriß und Aufriß durchaus, wie sie einen ästhetischen oder moralischen haben. Ihm spricht in der Dichtung nicht der Mensch zum Menschen, sondern die Menschheit zur Menschheit. Hamann, — wie Platon, Leibniz, Herder oder Jacobi — eines seiner Vorbilder, scheint ihm gleichsam mit einer Ewigkeit geboren, scheint ihm jede Zeit vorauszunehmen. Nur die unbeschränkten Raum schaffenden Eigenschaften sind ihm ganz willkommen. Sie fegen den Plan der Unendlichkeit für das Werk einer Einbildungskraft, die unersättlich ist und Sicherungen braucht gegen Überfälle der kalten Klugheit. Die Schwächen in den Gedanken seiner Freunde, selbst in denen seines Busenfreundes Jacobi, merkt er. Und wenn seine eigenen Ideen vielleicht anfechtbar sind: sie verhüllen sich in lebendige Erscheinung. Leben aber darf unvollkommen sein, es irrt und strebt. Müde geworden jedenfalls ist seine Bemühung nie, auch die logisch einleuchtende Formulierung seiner Überzeugungen zu finden. Er schleift und schleift an den Schwertern seiner Gedankenschlachten, daß sie ja nie stumpf werden, er pocht und pocht an den Grundfesten seines Baus, ob sie auch jeder Anfechtung widerstehen. Die Freude zwingt ihn dazu, keine Besorgnis.
Überschießende Kraft ist denn auch das Wertentscheidende darin, nicht Unwiderleglichkeit, die es ja auch nur in der Vorstellung des Pfaffen gibt. Das „Freiheitsbüchlein“ fragt, ob ein Meinen irgendein Fühlen erstatte? Fühlen ist kein weichliches Hinduseln, vielmehr das Leben in seiner kühnsten Form. Es fährt in alle Dinge und verhindert ihren mechanischen Zusammenbruch. Wenn aus der Welt uns ein bloßes Weltgebäude wurde, aus dem Äther ein Gas, aus Gott eine Kraft, aus der zweiten Welt ein Sarg, so haben wir in uns die Leidenschaften zur Wiederherstellung. „Levana“, die Erziehungslehre Jean Pauls, fordert die Schonung der Individualitäten unter allen Umständen, befiehlt die Pflege der Leidenschaften. Beethovens Wort: Kraft ist die Moral der Menschen, die sich vor anderen auszeichnen, gilt auch für ihn. Titanismus heißt ein Schlagwort seiner Zeit: sein Titan-Epos verlieh ihm über das Sehnen hinaus die erfüllte und befestigte Wirklichkeit. Schöpfertum im Inneren und nach außen durch das Innere, — darin findet sich die Synthese und Erklärung der sämtlichen Idealbegriffe Jean Pauls. Die Sprache des achtzehnten Jahrhunderts täuscht uns leicht über die Bedeutung gerade der Wurzelwörter des Lebens. Die Vokabel Tugend wird vielen von uns als besonders häßlich, altjüngferlich hochtrabend und hoffnungslos abgetakelt vorkommen: sie schmeckt nach anmaßenden Kanzelreden, riecht muffig nach Schulstuben, verzieht peinlich und ironisch unsere Lippen. Nähern wir uns also, solange wir sie aus dem Munde eines Genies hören müssen, ihren Quellen, und sie wird jung und frisch werden. Die Moral mit ihren Polen Gut und Böse ist inzwischen soviel beklopft worden, daß allerlei Maden und Larven herausgekrochen sind und das nachsickernde Wurmmehl über ihre Zuverlässigkeit und Haltbarkeit bedenklich machte: fassen wir sie also in einem Zustand, als das Geziefer noch nicht hineingekrochen war! Dann wird auch das Wesen des Begriffes Schönheit hell werden, dessen Gipfel sich nach Jean Paul mit dem der Sittlichkeit in ein und derselben Höhe verliert. Das Gute ist ihm keineswegs eine schwächliche wehrlose Güte. Es ist nicht eingepaukt, sondern eingeboren, wie eben auch die mit ihm identische Schönheit. Beide sind nicht Beschnüffler und Mäkler vor einzelnen Gegenständen, sondern ein Zwang zu erhöhter Lebensenergie. Jean Pauls Menschen weinen viel, allzuviel für die moderne Duldsamkeit. Jedoch die Tränen entfallen nicht der Schwäche, dem Schmerz, der Zerknirschung und Ratlosigkeit. In seinen ausführlichen Sterbeszenen herrscht Feierlichkeit. Die Rührung steigt nicht aus persönlichem Elend auf, die weinende Begeisterung steigt von der Gottheit herab. Die Tränen sind beinahe symbolische Zeichen. Sie quellen wie der Same, der ein neues Wesen erzeugt. Schönsein und Gutsein sind unwillkürliche Religion, die immer hungrig ist nach Vereinigung. Diese Religion bildet die einzige Offenbarung, jede andere, Konfessionen bildende Offenbarung wüßte nichts zu bieten als historische Neuigkeiten. Darum haßt er Gebetbücher, auch Gebete sind ihm zuwider als matte Schmeicheleien, als Kaffernlob unverstandenen höheren Wesens. Beten ist fast einerlei mit dem Beweisen oder Bezweifeln Gottes, da ein solches Neutralisieren oder Isolieren hieße, das Dasein des Daseins bezweifeln oder beweisen. Für den kalten Schmecker des Dichters ist es nur eine launig drollige Szene, wenn Fixlein als Student sein langes Abendgebet, um Zeit zu ersparen, schon im Hof anfängt und gerade damit fertig wird, als er ausgekleidet ins Bett plumpst. Es ist anders gemeint: so steht im kleinsten homo schon der Bauriß zur katholischen Kirche, — heißt es nämlich weiter. Natürlich ist dem Dichter die Polizei der Bekehrungen, Opfer und der ganzen himmlischen Algebra verhaßt. Kein Einzelner dürfe dem All, der Vielheit der Einzelnen geopfert werden. Der Ewige könne ohne Ungerechtigkeit nicht einmal mit den Schmerzen des winzigsten Wesens die Freuden aller besseren kaufen, wenn es nicht jenem wieder vergütet würde. Nur der Theologe vergelte Gleiches mit Ungleichem, Zeit mit Ewigkeit und Einen Schmerz, den man gibt, mit Millionen Schmerzen, die man erhält. Die kondensierte Tätigkeit ist alles. In der Ermattung des Sterbens gäbe es eine Bekehrung? Die letzte Stunde ist ganz gleichgültig, ist absolut unfruchtbar, sie erlaubt keine Tatenfolge mehr. Man soll auf das sieche, welke Herz nicht noch Salz streuen, damit es brenne, wie die Galgenpater tun. Und in demselben „Siebenkäs“, wo das steht, ist auch zu lesen: „Es ist leichter sich für Menschen zu opfern, als sie zu lieben, dem Feind Gutes zu tun, als ihm zu vergeben.“ Einmal hält der Bußwecker dem Moribunden seinen Kopf hin statt des üblichen Schweinskopfes, der die Verfehlungen drastisch demonstrieren soll, und sagt etwa: du warst so wenig wie dieses Schwein keusch und gut, du fraßest und soffest wie das Schwein und grunztest den ganzen Tag sehr, bekehr dich geschwind ein wenig, denn du stirbst diesen Augenblick und bist ja schon völlig ohne Sinnen und Verstand, ohne den ich noch bin. Die legendäre Sanftheit Jean Pauls ist zuweilen einigermaßen schneidend. „Sprecht nicht: wir wollen leiden, denn ihr müßt; sprecht: wir wollen handeln, denn ihr müßt nicht.“ Immer wieder mündet er bei dem Fühlen, das ein Handeln, bei dem Handeln, das ein Fühlen ist. Die vielfarbigen Äußerungen der freien Aktion stürzen in der religiösen Einheit zusammen: das geistige Universum ist nicht mehr zersprengt und zerschlagen in zahllose Quecksilberpunkte von Ichs, welche blinken, rinnen und irren, zusammen- und ineinanderfließen ohne Einheit und Bestand (Siebenkäs). Wäre denn die Seele gar nichts, sondern bloße Gedanken leimten sich wie Krötenlaich aneinander, kröchen so durch den Kopf und dächten sich selbst? So schon in der „Unsichtbaren Loge“. Ein einziger Genieblitz kann die Synthese herstellen, und ist sein Licht eine gute Tat, so wiegt es ein langes schlaffes Leben auf. Enthusiasmus ändert alles; nimmt sich der Enthusiasmus die Änderung bloß vor, dann wird sie nie geschehen, weil eben der Enthusiasmus die Voraussetzung dazu bleibt. Wiederum in der unsichtbaren Loge erhebt sich die Frage, ob die größten Bewegungen unseres Ichs nicht vielleicht außerhalb des Körpers ihren vergönnten geräumigen Spielraum antreffen. Der Übermensch ist hier wieder in seiner Überwelt! Nebenbei gesagt, findet sich das Wort Übermensch ziemlich häufig bei Jean Paul, wie er auch die moralfreie Skala Pflanzen-, Tier-, Gottmensch aufstellt.
Dementsprechend ist sein Himmelreich kein Lümmelreich. Weil da keine Lobgesänge und Weihrauchwolken schweben, sondern ein Feuermeer brennt, kann man es ebensogut eine geniale Hölle nennen. Ihr Teufel ist vorher besiegt, die Akten darüber finden sich spät in der Schrift „Wider das Überchristentum“. Wenn man den Teufel und den heiligen Geist im Menschen streitend annehme, so sei der Mensch weder etwas Gutes noch etwas Böses, sondern nur der Kampfplatz beider. Und habe jener angenommene Teufel wieder ein böses Prinzip in sich, also einen streitenden Teufel? Dann wäre er selber gut. Habe er aber keinen Streit, so sei ihm auch nichts vorzuwerfen. Das Böse sei sein Gesetz, wie bei uns das Gute. Auch aus dieser Betrachtung geht hervor, daß es auf die Auswahl der wie auch immer gearteten Handlungen nicht ankommt, sondern auf die wie auch immer geartete Radikalkraft. So wäre in der Ewigkeit Zeit und Zahl gar nichts, sie ist ja gerade durch die Befreiung davon charakterisiert. Die Länge ist kein Wert. Wäre sie es, so würde die Ewigkeit nur zur Fortsetzung und Wiederholung des irdischen Daseins, – so wäre sie nicht da, die doch aus der geistigorganischen Verbindung der „vier Evangelisten“ Schönheit, Wahrheit, Sittlichkeit, Seligkeit sicher ist. Sie ist hiernach nochmals nichts anderes als die Unmöglichkeit, das Ichbewußtsein ausgelöscht zu denken. Um aber auch Beweise für die Unsterblichkeit dennoch zu finden, spielt er wie ein elysisch trauerndes Kind mit Träumen. Sein Optimismus räumt alle Hindernisse weg. Wenn alle Glieder sterben, ist das Bewußtsein noch nicht zerstört, erst wenn das Gehirn stirbt. Was dann? „Das Gehirn entscheidet den Tod bloß durch seine Unentbehrlichkeit für die übrigen Organe.“ Beim Beweisen, das, entgegengesetzt dem vertrauenden Wissen, vom uralten Zweifel unterspült sein muß, denn sonst hätte es keinen Grund für sich, braucht er viel die Naturwissenschaft Goethes (auch Darwins). Ein großes Aphorismenbuch lagert seine Inseln in die Sintflut, und auf der merkwürdigsten von ihnen lebt autogen, spontan Goethes Unsterblichkeitsglaube. Goethe sagt, wenn er bis an sein Ende rastlos wirke, sei die Natur verpflichtet, ihm eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige seinen Geist nicht ferner auszuhalten vermöge. Und: „Ich zweifle nicht an unserer Fortdauer, denn die Natur kann die Entelechie nicht entbehren; aber wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren, muß man auch eine sein.“ Vor allem: „Vom Untergang höherer Seelenkräfte kann in der Natur niemals, unter keinen Umständen die Rede sein; so verschwenderisch behandelt sie ihre Kapitalien nicht; wie viel aber, oder wie wenig, von der Persönlichkeit verdient, daß es fortdauere, ist eine andere Frage und ein Punkt, den wir Gott überlassen müssen.“ Und nun Jean Paul in der „Selina“: „Geist als Kraft behält die Einwirkung. — Wenn ein Wesen durch ein langes Leben sich zu einem Leibniz ausgebildet, so sind nur zwei Stellen anzunehmen möglich, in welche diese Ausbildung zu verlegen ist. Die erste ist bloß das Gehirn, das aus einem unwissenden zu einem vielwissenden, scharfsinnigen gebildet worden. Man läßt also das Ich, das als unveränderte Kraft wirkt, wenn man es anders nur annimmt, die Gehirnteilchen so ordnen, daß mit ihnen dieses Ich diese Vollkommenheit der Reife zeigen oder anschauen kann; das Ich selber geht, wie es kam. Wer nun dies nicht annehmen kann, sondern behaupten muß, daß so viele tausend Gedanken und Bestrebungen im Ich selber etwas geändert und gebessert haben, der kann diese verstärkte Kraft nicht untergehen lassen. Die Einwendung des Alters ist so eine, wie die des Schlafs; nehmt ihn weg, die gereifte Kraft ist wieder da.“
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Wer an Jean Paul nicht mißversteht, daß er die Menschen in ihren höchsten Exemplaren wohl bis zu Übermenschen steigert, aber nicht zu Überpersönlichkeiten und ebenso seinen Gott nicht zur unpersönlichen Gottheit, der begreift, daß die Unzahl und verwirrende Vielfältigkeit der sichtbaren Dinge in seinen Büchern keine Unordnung ist. Wenn schon denkende Wesen aus ihrer Vereinzelung im Ich nicht hinausspringen können, um wieviel weniger die Ereignisse und bloßen Gegenstände! Die Menschen verleihen ihnen gern einen Schein, als ob sie symbolische und allegotische Geltung hätten, aber sie hören dennoch nicht auf, immer von neuem in ungezählten Einmaligkeiten aufzutreten wie die Menschen auch, und ungeachtet aller zusammenfassenden Vernunft daneben nur sie selbst zu sein.
Die Liebe nimmt sich einiger von ihnen an, die Freundschaft hat Raum für alle. Die Liebe ist lebensammelnd an einem Punkte, die Freundschaft, welche die Überordnung der Liebe ist, weckt Leben überall. Daher nennt Jean Paul Gott gern seinen Freund. Daher steht ihm Freundschaft auch auf Erden höher als Liebe. Sie ist ihm eine Möglichkeit, das All in seinen sämtlichen Erscheinungen zu umspannen, – die großen, ohne die kleinen auszulöschen, die kleinen, ohne von den großen fortgelenkt zu werden. So siedelt er in seinen idealen Frauengestalten eine Liebe an, die eigentlich eine Freundschaft ist. Er selbst kannte in seiner Jugend das, was er Simultanliebe nennt; diese Simultanliebe läßt er zur Genialität in seinen jungen Mädchen werden. Ihre Körperlichkeit hat etwas Astrales, er vergißt nicht, daß sie dem Praktischen schwerlich gewachsen sein werden. Die reinste und höchste von ihnen, Liane im „Titan“, muß jung sterben. Er zeigt nicht ihre derbere, spätere Zeit, wo die Weltfreundschaft zur Untüchtigkeit und Unwahrscheinlichkeit entarten würde. Genialische Weiber seien meistens ungläubig, wie genialische Männer gläubig, heißt es einmal. Ist nun die Gläubigkeit in ein Weib verlegt, meint es mit seinem Gefühl mehr die Liebe als den Geliebten und tritt ihm ein genialer Mann entgegen, der, da er in der männlich umfassenden Sphäre die Alliebe hat, in der Frauenliebe die Geliebte meint, so ergibt sich ein unlöslicher Konflikt. Jean Paul hat ihn in dem Verhältnis Albanos zu Liane tief und klar gestaltet. Allzuviele Frauen von der Art, deren extremer Typ Liane ist, etwa Klotilde im „Hesperus“, die sanfte Tochter Fälbels, Thiennette im „Fixlein“, gibt es übrigens bei Jean Paul nicht, und daß man ihm ihre Mondhaftigkeit immer wieder vorwirft, mag ein gutes Zeichen für die Eindringlichkeit ihres Daseins sein. Manchmal, wie in den „Flegeljahren“, sind sie auch nur durch den vereinfachenden, verzärtelnden Blick des Mannes, der sie liebt, so schwebend über die rauhe Erde erhoben. Der Dichter weiß ganz gut: die Frauen lassen sich zu Göttinnen machen, um selber an keine zu glauben. (Komischer Anhang zum „Titan“.) Diesseits und jenseits der schmalen Zone, in der die Simultanliebe wächst, gibt es den schwärmenden Backfisch mit der verheirateten Freundin, wie die stubsnasige Theoda im „Katzenberger“, die brave tüchtige Rabette, die heroische Linda, die holde wirklichkeitsnahe Dulderin Lenette neben ihrem Siebenkäs, Bergelchen, das ihren Hasenfuß Attila Schmelzle entschlossen schützt, die gescheite Brotta im „Fibel“, dessen hysterische Mutter, oder die Mutter Fixleins, — einen Chor munterer, muskulöser wie dürftiger, leidender, durchaus unverwechselbarer Gestalten. Ihnen rücken, besonders wenn das Hirn eng und das Herz eingeschrumpft ist, die Inhalte und Gegenstände des Lebens in ihrer Vereinzelung hart auf den Leib, und ihre Persönlichkeit grenzt sich nun von Fall zu Fall am Kleinen ins Unendliche ab. Unzählig oft wiederholte Anstöße am Winzigen ergeben auch eine unendliche Reihe, auch eine Unsterblichkeit und bei konsequentem Reagieren sogar eine Art von Freiheit.
Völlig ernsthaft spricht der Dichter aus, sein Bestreben gehe darauf aus, auf der Erde nichts zu kultivieren, was ihm nicht droben gälte, – daher sein Wunsch, das Gefühl des Lächerlichen auch über das Leben hinaus festzusetzen und zu erweisen. Dieser Vorsatz ist noch grandioser als der, es im Erhabenen zu tun. Er erfüllt sich am deutlichsten in seinen komischen Männerfiguren. Spezialitäten des Berufs behandelt er meist mit Hohn, so Ärzte, Minister, Kunstgelehrte, es sei denn, daß sie eine Spezialität des Charakters aufweisen, die wieder eine unendliche Reihe von Spiegelungen bis in den Himmel hinein erlaubt. „Steckt nicht in der Geschichte eines Narren eine kompendiöse Weltgeschichte, aber nicht umgekehrt?“ Zudem prägen und sprechen die Toren ihre Narrheit ja selber wie Weisheit aus. Der Dichter ist unersättlich, diesen närrischen Weisen nachzugehen. So individuell sie bleiben, aus der Fülle der Gelegenheiten, bei denen sie diese Individualität erweisen, bildet sich der Typ. Wir finden den Typ Wutz und den Typ Antiwutz in mehreren Exemplaren, erniedrigt, erhoben, verdickt, verdünnt. Sie schreiben nach den Titeln der Bücher nicht nur die Bibliotheken, die sie nicht lesen dürfen, sondern entdecken nach den Titeln der Freuden den ganzen Freudensaal der Welt. Leiden kommt meist aus Leere, stellt Jean Paul fest. Und Leere hat nicht einmal der Pfarrer Eymann im „Hesperus“, dem die kleinen Gegenstände immerfort zu schaffen machen, oder gar Freudel, der von seiner Zerstreutheit voll beschäftigt wird, oder der Zuchthausprediger Süptitz im „Kometen“ oder Fälbel, der den ganzen Tag ein Pedant und Prunker zu sein hat. Der Kandidat Schomaker aus den „Flegeljahren“ wird noch lange im Himmel damit Mühe haben, einen kleinen Feigling auf seine Weise vorzustellen, ebenso dürfen der kriecherische Badearzt Doktor Strykius, der studentische Haudegen Pelz, der süßmeierliche, eitle Literat Nieß und gar der Unempfindsame schlechthin, jener Doktor Katzenberger, wohl im Grabe ruhen, aber niemals in der Welt, die keinen Charakter, keine Individualität vernichten kann. Daß sie so drall als Begebenheiten in den Kosmos der Begebenheiten sprangen, hat seinen tiefsten Grund in Jean Pauls Unsterblichkeitsüberzeugung. Er hat in ihnen die Hand auf leibhafte Beweise dafür gelegt. Die irdischen Freuden seien Ölblätter, die eine Taube aus dem Jenseits in unsere Sintflut trage. Oder: wer hier seines Daseins müde sei, würde es überall sein. Oder: eigentlich sei jede Begebenheit eine Weissagung und Geistererscheinung, aber nicht für uns allein, sondern für das All, und wir könnten sie dann nicht deuten. Indessen zeigen können wir sie mit dem ahnenden Wissen um ihren überzeitlichen Hintergrund. Der Dichter hat darüber viel nachgedacht, vor der Arbeit und nachher zehntausend Tage lang, wie er in der „Vorschule der Ästhetik“ glaubwürdig behauptet. Das Lächerliche sei das unendliche Kleine. Darum hat es einen gewaltigen, unerschöpflichen Stoff zu bewältigen. Es ist das Reich des Verstandes — das Unverständige. Der Humor als das umgekehrte Erhabene vernichte nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee. Es gäbe keine einzelne Torheit und keine Toren, sondern nur Torheit und eine tolle Welt. Des Dichters Welthumor trifft nicht die bürgerliche Schwäche, sondern die menschliche, das heißt die allgemeine. Er wird zum Welthumor nicht vermittels, sondern trotz der Zeitanspielungen. Die unendliche Welt wird mit der kleinen ausgemessen, auch das ist ein titanisches Unterfangen, aber nun von der erdichteten Person in die dichtende verlegt, was objektiv die gleiche Schwere, subjektiv die gleiche Schwierigkeit hat. Die humoristische Totalität mache vom Leser allerdings eine gastfreundliche Offenheit nötig, und diese würde durch eine gewisse Vertraulichkeit erworben. Ist die Erfindung der Figur eines dazwischenschwätzenden Autors nicht am Ende doch ein genial zweckmäßiger Fund? Ist sie nicht zum mindesten um und um bedacht? Eine konstruktive Straffung, keine Lockerung? Er ist vielleicht lächerlich, aber er macht nicht lächerlich. Da die komischen Gestalten an der deutschen Sinnlichkeit und ihren Beispielen das komische Feuer fangen, wird überdies die Unendlichkeit mit dem Deutschtum ausgemessen! Aber ein Volk ist wiederum nur ein Beispiel für Volk. Jean Paul tritt für den gelehrten Witz ein. „Nämlich zuletzt muß die Erde ein Land werden, die Menschheit ein Volk, die Zeiten ein Stück Ewigkeit; das Meer der Zeit muß die Weltteile verbinden, und so kann die Kunst ein gewisses Vielwissen zumuten.“ — Die Radialkraft seiner Geschmacklosigkeit wird bei näherem Zusehen immer größer!
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Die Dinglichkeit bietet ihm Schutz vor der Auflösung des Gefühls, des Geistes, der Moral, der Schönheit ins phrasenhafte Nichts, denn die Dinge sind ja nicht schön oder häßlich, nicht moralisch, nicht gedankenvoll. Er kennt die Gefahren der Darstellung erhabener Charaktere. In ihnen kommt der ungefallene Adam zum Vorschein, der Universal- und Elementargeist des ganzen Wesens, der ungebrochene Strahl des Willens, das Allgemeine nimmt zu. Wer den Bogen der Milchstraße oder den Regenbogen der Phantasie mit der Hand spannen will, muß scheitern. Deshalb sehen die stürmischen Gottsucher bei ihm nicht schon Gott, sondern noch Wolken, Berggipfel, Gewitter, Sterne, Sonnen- und Mondaufgänge. Auch das ist noch nah, weil es zählbar, anschaubar ist – unempfunden ohne einen Schönheitsgeist, amoralisch ohne einen Moralischen, gefühllos gegenüber dem Fühlenden. Jean Paul ist vorsichtig mit seinen Prototypcharakteren. Er verteilt die volle Gültigkeit eines Ideals auf mehrere Persönlichkeiten. Albano hat so verschiedene Erzieher wie Wehrfritz, Schoppe, Dian, Falterle, Augusti. Sie komponieren zusammen erst das Lehrertum; Albano hat drei hohe Geliebte, sie komponieren erst die hohe Liebe. Jean Paul spaltet die rechte Art, vollkommen das Leben aufzunehmen, in das Brüderpaar Walt und Vult. Oder wo, wie in Viktor, die Elemente seines eigenen Wesens vereint sind, betont er es ausdrücklich. „Er meinte damit nicht, wie die Scholastiker, die vegetative, sensitive und intellektuelle Seele – noch wie die Fanatiker, die drei Teile des Menschen: sondern etwas recht Ähnliches, seine humoristische, empfindsame und philosophische Seele. Wer ihm eine davon wegnähme, sagte er, der möchte ihm immer auch die restierenden gar ausziehen.“ Nichts flieht er so sehr, wie das reine, selbstgenugsame, daher unfruchtbare Ich. Wehe, wenn es, um sich zu bewahren, die Welt verliert! Jener Viktor hält sich selbst, trotz seines Lebenswillens, der zuviel Selbstgenuß war, eine anklagende Grabrede. „Ich sehe ein Gespenst um diesen Leichnam schweben, das ein Ich ist. Ich, Ich! Du Abgrund, der im Spiegel des Gedankens tief ins Dunkle zurückläuft! Ich! Du Spiegel im Spiegel – du Schauder im Schauder!“ Oder Ottomar in der „Unsichtbaren Loge“ nächtlich auf der Altarstufe im Gespensterlicht. „Ich redete das Ich an, das ich noch war: was bist du? Was sitzt hier und erinnert sich und hat Qual? Du, ich, etwas.“ Gar die beiden großartigsten Gestalten, die Jean Paul vielleicht überhaupt geschaffen hat, gehen an dem Grundproblem des wahren Ich zugrunde: Roquairol, der Selbstschlecker, und Leibgeber = Schoppe. Roquairol stürzt in den Abgrund, der Jean Paul selbst verschlungen hätte, wäre er nicht durch seine heraklische Arbeit geschützt gewesen. Durch das Vorwegnehmen der Erlebnisse in der Phantasie, durch das abflachende Verzehren der Wirklichkeit in der Vorstellung unterhöhlt sich der Zwang, nicht von Monat zu Monat, sondern von Sekunde zu Sekunde zu leben. Das Ich schlenkert zwischen Überwelt und Unterwelt und ruht zu selten auf dem irdischen Boden. Die berühmteste Stelle in Jean Pauls Werken, Roquairol gewidmet, lautet: „Wenn so zuweilen die Eingeweidewürmer des Ichs, Erbosung, Entzückung, Liebe und dergleichen, wieder herumkriechen und nagen und einer den anderen frisset: so seh’ ich vom Ich herunter ihnen zu; wie Polypen zerschneide und verkehr’ ich sie, stecke sie ineinander. Dann seh’ ich wieder dem Zusehen zu, und da das ins Unendliche geht, was hat man denn von allem?“ So sind die großen Dichter; was sie reell erhalte, sei der Hunger und das Lob. Der Zyniker Jean Paul weiß es. Im Traume sagt er zu Napoleon, daß er nie klüger wäre als im Bette, wenn er von ihm träumte; dann müßte er ihn und seine Gedanken selber erschaffen. Roquairol hängt tief mit Jean Pauls Begriff von der Musik zusammen. In ihr hört er das zeitlich und räumlich auseinandergelegte Menschliche ewig. Darauf denkt er klar darüber, – während der wirkliche Musiker klar darin denkt. Er sieht und fühlt dann gleich stark, kein Kalter, kein Heißer. Er muß alles wissen, alles bemerken. „Ob ich vergehe, wenn ich nur gehe.“ So kann er über einem Menschenlärm nicht einschlafen, bis er erfährt, daß die Lärmenden Pferde sind! Roquairol besaß nur die Musik und nicht die Klarheit über sie. – Schoppe wandert durch eine Anzahl von Werken Jean Pauls, unter anderem durch die philosophische Schrift „Clavis Fichtiana“. Auf ihn kommt alles an. Er, der auf stürmischer See Geborene, der zum besten Freunde einen Hund hat, er, ein Hinkfuß, ist immer auf der Reise und pfeift unterwegs auf das Leben, ein wahrer Welthumorist. Er gelangt auf das einsame Berghorn, besetzt von den Blutegeln des Weltekels, ohne sonderliche Einbuße von Freiheit und Ungleichheit, wie er meint. Er gelangt auch dazu, seine Rauheit einen halben Tag lang auf dem Waldhorn an einem elenden Heulied zu verblasen. Dennoch, über sein falsches Ich, den Fichteschen absoluten Spuk, springt er nicht hinaus. „Ich so ganz allein, nirgends ein Pulsschlag, kein Leben, Nichts um mich und ohne mich Nichts als Nichts – Mir nur bewußt meines höheren Nichtbewußtseins — In mir den stumm, blind, verhüllt fortarbeitenden Dämogorgon, und ich bin er selber – So komm’ ich aus der Ewigkeit, so geh’ ich in die Ewigkeit – – Und wer hört die Klage und kennt mich jetzt? – Ich. – Wer hört sie und wer kennt mich nach der Ewigkeit? – Ich. –“ Im Wahn vor dem Tode erscheint Schoppe sein Ich als ein Anderes, leiblich, entsetzlich. Er lästert, Gott möge verhüten, daß Gott jemals sage: ich; er würde die dritte Hand nicht finden, um sie zu ergreifen, und nur seine beiden eigenen fassen können.
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Ein Dichter, den diese Gedanken durch sein ganzes Leben aufdringlich quälen, kann keine Romane im üblichen Sinne schreiben. Ihre Geschichte ragt über die Geschichten hinaus. Die fragmentarisch abbrechenden Arbeiten überzeugen daher am meisten. Was wäre durch die Beendigung aus dem „Kometen“ geworden? Der Schluß der „Flegeljahre“, die noch heute nicht zu Ende sind, ist der schönste. Wir finden das Eingeständnis des Dichters, an seiner Epik interessiere ihn das Historische am wenigsten. Den Ablauf kennt er voraus. Daher die Tischlerarbeit der Gerüste. Tröge für das Meer. Putzige Uhrgehäuse für die Zeit ohne Anfang und Ende. Die Kausalität beginnt nicht irgendwo und reißt nicht willkürlich ab.
Jean Pauls Geschichten meinen die Weltgeschichte. So trennt er von dieser allgemeinen Historie weder seine Erzählungen ab, noch das, was man draußen zu Unrecht als Weltgeschichte versteht, den schmalen, meist stinkenden Fluß der politischen Ereignisse. Auch die Politik ist ihm im Ideal das Reich der Freiheit. Allumfassend. Freiheit hier ist ihm jedoch nicht bloße Staatenfreiheit. Er singt die Demokratie aller Wesen, aller Einzelnen. „Das All geht auch auf Würmchenfüßen.“ Er schließt auf die Vorsehung der Weltgeschichte „aus dem uralten Stammbaum der Würmchen, deren Ahnenreihe von den Blättern Edens bis auf unsern Kohlgarten reicht.“ Hat Religion denn Geschichte? Ist sie nicht angeboren? „Wie könnt ihr in den runden Totentanz des umkehrenden Untersinkens menschlicher Schöpfungen, das heißt der Staaten, die göttlichen hineinziehen, die Völker selber?“ Kriegstapferkeit lerne man gemäßigt schätzen, da nichts seltener sei als ein feiges Volk. Heldische Tapferkeit des einzelnen ist ihm da mehr. Er liebt das Vaterland, da diese Liebe ein Teil der größeren und da sie unwillkürlich ist. Aber sie ist nur eingeschränkte Menschenliebe („Hesperus“). Blutvergießen versteht er allenfalls, wenn der Feldherr ein geistig Mutiger ist. Er bewunderte Napoleon lange als ein Genie in seinem Sinne; als er ihn an seinen Früchten erkannte, wurde er ihm ein „Raubmörder“, ein „Foltermörder“ (wie nach einem Zitat bei Josef Müller sogar Friedrich II. zwischen einem Eroberer und einem Straßenräuber keinen Unterschied fand, außer dem zynischen, daß der eine ein erlauchter, der andere ein gemeiner Dieb sei). Aus praktischen Gründen trat Jean Paul eine Zeitlang für den Rheinbund ein. Nicht durch Soldaten, sondern durch die Schriftsteller überwältigte eine Sprache die andere. Heldengeschichte ist ihm die Geschichte großer Seelen.
Nicht nur, wer einen klingenden Namen hat, sondern alle und alles, was einen Namen hat, muß ihm heran, um das unabsehbare Loch der Unendlichkeit zu füllen. Er will nicht erzählen, sondern hinstellen. Immer hat er Angst, ob er nicht zu viel berichte, anstatt zu dichten und zu reflektieren! Die Mitteilung, die Rechenschaftslegung bedeutet ihm gar nichts, alles der Ausdruck, welcher seine Vorstellung nicht beschreibt, sondern prägt. Nichts, was einmal in der Welt war, darf ihm in das Chaos der Vergangenheit zurücksinken. Die Arbeiten der Menschen, ihre Ameisenbahnen, was sie an Merkwürdigem fanden, wie sie sich den Kopf zerbrachen, ihre Schnurrpfeifereien, ihre Mißgeburten, bleibt gegenwärtig. Die anonym Gewordenen treten für einen Augenblick aus ihrer Vergessenheit. Die Vorwelt in ihrer ganzen Breite findet in ihm ihre Nachwelt. Schleppt sich dadurch sein Roman mühselig hin, so gewinnt sein Epos eben dadurch eine rapide Schnelle. Springend hetzt er ihm nach, und niemals springt er vergebens, immer erjagt er etwas. Er und das andere sind immer wie die beiden Kohlen zwischen dem Lichtbogen der elektrischen Lampe. Die Kohlen verzehren sich, das Licht macht sie unsichtbar. Seine satirischen oder feierlichen Vergleiche sind voll von Geschichten, sind Keime zu, Kondensierungen aus Geschichten. Das Private in restloser Erschöpfung wird zum Öffentlichen. Überdies: der gleichlange und gleichstarke Lichtbogen zwischen ihm und dem Stern am Himmel und ihm und der Blatternarbe auf einem Gesicht beseitigt den Unterschied der Klüfte. Auswählender Verzicht wäre ihm ein Fortlaufen aus dem Kampfe. Durch das Abstruse, Ungenießbare gerät ihm sein Gedanke zu der von ihm präzise gewünschten Grelle, Schärfe, Säure, Süße oder sonst einer spezifischen Bestimmbarkeit. Er zieht ihn dadurch ebenso aus einem Gerümpelwinkel und Hamsterloch heraus, wie er ihn dort hineinzerrt. Kann es die Intensität stören, daß unter seinen Gegenständen auch Nachtmützen, Schlafröcke und warme Öfen vorkommen? Wie heißen derlei Dinge für die Leute, die nur Idyllen erleben können, heute? Sie heißen Telephon, Untergrundbahn, amerikanischer Hotelkomfort! Das Tempo des Geistes überholt jeden Schneckengang der materiebeladenen Leiber. Die Empirie wird, der Geist ist.
Obschon Jean Paul seine Sätze nicht zerhackt, nicht kürzt, sondern weit schweifen läßt, sind sie die kürzeste Form seiner Absicht. Er plagt sich, Silben, ja Buchstaben zu sparen. Er entdeckt groteske Wörter und schimmernde, Wörter, die ganze Landschaften in sich tragen. Er spricht von einer schweren Sonne, vom Karrenjahr des Lebens, von Donnermonaten, Keimmonaten, von einem Wimmer-Jahrzehnt, vom kalt-schwitzenden Leben, vom höckerigen kalten Leben, von einem rein nachmalenden Wasser, von einer Brause-Erde, vom Kleinsauer des Lebens. Seine Zeitwörter sammeln zu Hunderten überirdisches Licht in ihre Körper. Verstreut in seinen Werken liegen sodann quer über eine einzige Erde verstreut die Orte des Friedens, Lilar, Maiental, Blumenbühl, die Stille Stelle („Flegeljahre“), die Schlummerinsel im Prinzengarten, der Italienische Tag mitten im Herzen Deutschlands, der Tag des schwedischen Pfarrers. Sie nehmen notwendige Stellen in einem rational unfaßbaren System ein, waren nur zu entdecken mit einer vor diesem Dichter unentdeckten Sprache. Ein Jenseits dämmert herein nicht nur in seine Morgen- und Abendröten: überall erhebt sich das Gesicht, „das steinern hinschlief ohne Zeit“, überall umschweben uns unsere „Abendwolken wie ausruhende Riesen im Morgenrot Amerikas“, überall ist das „schimmernde, unaufhörlich gehende Schöpfrad der Zeit, das ewig Sternbilder in Morgen einschöpft und in Westen ausgießt“, überall wird ein Klang gegriffen wie dieser: „Es war einmal in einer alten Zeit eine junge Zeit“.
***
Wer ist Jean Paul? Nach seinem eigenen Worte gehört er nicht der alten Kunst, nicht der neuen. Er ist einer der Ewigen. Er bliebe es, und hörte auch niemand mehr auf seine Rede und seinen Gesang.
Noch steigen unsere schöpferischen Geister in den Glanz seiner Einsamkeit, — so verschiedene wie Alfred Kerr, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal. Moritz Heimann sagt, was Dostojewski für Rußland repräsentiere und Balzac für Frankreich, das repräsentiere Jean Paul für Deutschland. Und Stefan George erkannte: wenn ein Dichter neben Goethe stehen sollte, so müßte es Jean Paul sein.
DER GOETHE DES WESTÖSTLICHEN DIVANS
Als das Schicksal es wollte, mußte Mahomet, der Prophet, fliehen, und von dem Jahre seiner Hegire aus Mekka nach Medina begannen die Völker, die ihm anhingen, ihre Zeit zu zählen. Der Erinnerung an diese Flucht entnimmt Goethe, als er sich, von einem schicksalsgleichen Drange bestimmt, 1814 und dann nochmals 1815 in die Heimat des Rhein- und Mainlandes aufmacht, ein Gleichnis. Fast ein Jahrzehnt lang hatte Waffenlärm, aufdringlich in der Nähe, lästig noch aus der Ferne, ihn gequält. Die Bedrückung durch den Krieg drückte ihn tiefer als die Niederlagen, die Befreiung vom Kriege machte ihn freier als die Siege. Nun ihn niemand hinderte und verfolgte, wie mochte er da noch fliehen? Begab er sich nicht auf eine heitere Hegire mit langen Aufenthalten in Gemäldesammlungen, in Weingefilden, bei befreundeten und geliebten Menschen? Mit den Füßen brachte er einen kleinen Raum hinter sich, im Geiste einen gewaltig weiten. Die geistige Reise hatte ihn an so ferne Ziele zu entführen, daß ihrer Eile und Entschiedenheit der Name Flucht wohl anstand. Seine Umwelt war runzlig und rissig geworden vor Gram, Sorgen, kurzsichtigen fanatischen Notgedanken und allzu genügsamen Befriedigungen. Er hatte eine seinen Instinkten widrige, aber vom Dämon der Staatengeschichte verhängte Politik abzuschütteln, er hatte sich der Nähe des düsteren, fratzenhaften Wahnsinns zu entziehen, den er im Geistesleben seiner Zeit an Macht zunehmen sah. Und auch dem eigenen Altern mußte er entrinnen, das er wahrnahm, weil die Gewalten der Verjüngung in ihm bereits klar am Werke waren.
So trug ihn sein Genius freundlich zu den Anfängen, von denen her die Menschen und Dinge ihre Zeit zählen, wo das Verfälschte noch richtig, das Verworrene noch einfach, das Müde noch frisch ist. Die seit siebzehn Jahren nicht mehr betretene Vaterstadt wurde zum Orte, in dem für ihn selbst die Urzeit der Welt anbrach. Liebe, wie sie ihn auf der Gerbermühle bei Frankfurt an Marianne von Willemer band, ist immer ein Anfang. Das Licht, das sich im heiteren oder heroischen Regenbogenbilde über dem Haupte des Wanderers spiegelt, erneuert sich alle Tage. Die Steine, die der Dichter in den heimischen Gegenden beklopft, erzählen von der Jugend der Erde. In allen Bäumen, die ihn überdachen, verbirgt und offenbart sich die Urpflanze. Jeder Fluß enthält das Wesen aller Flüsse: Der Main darf einmal Euphrat heißen. Im Nahen verwirklicht sich Fernes, im Gegenwärtigen lebt Vergangenes. Die in Morgennebeln liegenden bunten Mohnfelder bei Erfurt täuschen Zelte eines Wesires vor. Die Wartburglandschaft, wohin Goethe einst Herzog Karl August zur Jagd begleitete, duftet wie vor Alters. „Nun die Wälder ewig sprossen, So ermutigt euch mit diesen. Was ihr sonst für euch genossen, Läßt in andern sich genießen. Niemand wird’s uns dann beschreien, Daß wir’s uns alleine gönnen; Nun in allen Lebensreihen müsset ihr genießen können.“ Oder, wunderbar rein und groß, darf die Geliebte die Besorgnis vor dem Altern von sich abtun: „Liebt Gott in mir, vor ihm steht alles ewig.“ Was gültig ist, gilt der Idee nach überall und jederzeit.
Die gereifte Fähigkeit zu dieser wahren und großartigen Perspektive hat einen Hauptanteil an der Entstehung des „westöstlichen Divans“ als eines künstlerischen Grundwerkes der Menschheit. Wer ihn als ein Spiel der Vermummung nimmt, das Gesicht Hatems wie eine vorgebundene Larve auf dem Antlitz Goethes und die Locken Suleikas wie eine Perücke auf den Haaren Mariannens von Willemer sieht, der müßte auch die „Iphigenie“ oder den „Faust“ als Maskenspiele nehmen. Der Begriff des Lyrischen ist gegen frühere Zeitläufte ungeheuer erweitert. Viele einzelne Stücke leben vom zyklischen Komplex her. Der epische Kern, der sich in aller lebensstarken Lyrik findet, woher und von wann sie auch stamme, hat gegenüber der früheren künstlerischen Gepflogenheit eine Ortsverlagerung erfahren. Er ist in den Divangedichten nicht so nah an der Oberfläche wie in balladenhaften und sonstigen mehr erzählenden Gebilden, nicht so eingesenkt und verborgen wie in Liedern, Hymnen und gesungenen Gefühlsbekenntnissen überhaupt. Doch entfaltet er sich unvermutet stark ins Dramatische, knapp ins Betrachtende, Parabolische, rasch ins Ironische, Angreiferische, und selbst wenn er zum seligen, klagenden, schwärmenden Liede wird, so aus einer anderen Erlebnisgegend her als der, von wo man vordem den Ansatz der Sängerstimme zu hören gewohnt war. Hätte früher ein Gedichtbuch einen Schutzgeist besessen, zu dem es sich bekannte, den es anrief, wie dieses seinen großen Schutzgeist in Hafis besitzt, so würde das Verhältnis des Verfassers zu ihm anders gewesen sein, als es hier ist: Hafıs ist in Goethe eingewandert, Goethe in Hafis; sie strömen, einer im anderen, unbefangen gleichberechtigte Klänge aus, gleichberechtigte Bilder, ganze Gestalten und Landschaften. Um Hafıs baut sich ein Orient nach Goethescher Weise auf, und der Perser scheint Goethes Abendland zu kennen und zu billigen. Wie Goethe in mehrfacher Gestalt durch das Buch zu ziehen scheint, als deutscher Dichter und als morgenländischer Kaufmann durch viele Lande unterwegs, als Christ und Muselman, als Schüler der Griechen und Parsen, so ist Hafıs als Sänger, Besungener und Betrachteter vorhanden. „Herrlich ist der Orient Übers Mittelmeer gedrungen, Und wer Hafıs liebt und kennt, Weiß, was Calderon gesungen.“ Wie im „Faust“ aus dem Streite des negativen und positiven Prinzips das All aufschwebt, so entsteht im Divan aus den beiden urtümlich angeschauten Hälften Abendland und Morgenland die Welt. Das scheinbare Verhüllen mit Bild und Figur ist in Wirklichkeit ein Demaskieren. Nur ist es nicht verstattet, die aus gewaltiger Natur aufgestiegene Einheit zu zersplittern, um sie sich zu eigen zu gewinnen. Der Divan ist nur als „westöstlicher“ Divan existent, oder er bleibt unsichtbar. Er lebt sein stolzes Wort vor:
„Wer nicht von dreitausend Jahren
Sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib’ im Dunklen unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben.“
Er ist eine Rechenschaft im Hellen. Sein Stolz ist, sich vieltausendjährig zu geben; er läßt die Überlieferungen des Weisesten, Wirklichen, Echten bestehen, ohne sie anzutasten und für den Gebrauch täglicher, alltäglicher Zwecke zu verdüstern und zurechtzuspitzen. Er ist ein Buch der heiteren Ehrfurcht. Er ändert nicht, was gut ist. Er ist das himmelweite Gewölbe des Geistes, in dem der Haushalt der Erde noch immer weitergeführt wird und trotz Irrtum, Kampf und Verfälschung gleichsam dennoch ruht. Er weist den vulkanischen Geist, der sich des Menschenwesens zu bemächtigen droht, zurück und preist die neptunische Entfaltung, wie sie alles umfassend, fruchtbar, folgerecht, notwendig, willkürlos und trotzdem ernst und übermenschlich besonnen das Leben gründet und dauerhaft erhält.
Wie aber war die hohe Überzeugung deutlich zu machen, zumal da sie, in Übereinstimmung der Mittel mit der Absicht, nicht zum mythischen Epos, zum religiösen Drama, sondern diesmal zu kurzem Lied und Spruche drängte? Eben mit der Durchdringung der späten Zeit mit früheren, entlegener irdischer Breiten mit gegenwärtigen. Dann bestätigten sich alle Elemente der Natur und der Seele durch ihre Identität hier und dort und ließen sich noch in den zufälligen Spielformen ihrer Erscheinung hüben und drüben entdecken. Dann vertiefte sich der selbstgenügsame Schein zum lichtabhängigen Abglanz. Nach eigenem Bekenntnis beseitigte Goethe die Welt, um die Welt an sich zu ziehen.
Die Nötigung, auf die besondere Weise des Divans das Universum einzuatmen und auszuatmen, scheint ihm, wenn man flüchtig sein Leben während der Entstehungsjahre der neuen Gedichtsammlung betrachtet, ganz wider seine Anlage als ein vulkanischer Überfall gekommen zu sein. Er lernt im Frühjahr 1813 die Hafisübersetzung von Josef von Hammer-Purgstall kennen, und bald bricht ein Sturm von Versen in ihm los, zwei, drei und mehr Gedichte an einem Tage, unterwegs auf der Reise, im Gasthaus, zwischen Gesprächen und anderen Beschäftigungen. Die Daten sind erhalten, die Orte, an denen er sich gerade befand, nachweisbar, Anregungen wieder herzustellen, Modelle, wie z. B. der junge Sohn des Professors Paulus für den Schenken im Saki-Nameh, wiederzuerkennen. Seine Tagebücher, Briefe und die Abhandlungen und Noten zum Divan und sonstige Aufzeichnungen nennen weitere Lektüre östlicher Dinge. Aus den Arbeiten heutiger Gelehrter lassen sie sich bequem zusammenstellen. Er lernte den Koran und anderes in den „Fundgruben des Orients“ kennen, etwa den Mystiker Ferideddin Attar, übersetzt von Silvestre de Sacy, las die Schriften von Diez, so dessen Übertragung des „Buches des Kabus“. Er kannte durch Hartmann Dschamis Medschnun und Leila, durch Hammer den Schirin. Er las, was Abbé Toderini über die Literatur der Türken berichtete und Klaproth über eine Reise in den Kaukasus und nach Georgien in den Jahren 1807 und 1808. Er trieb chinesische Studien und durchdrang sich mit der sufischen Mystik in Philosophie und Literatur. Er machte sich mit den Schriften des Olearius vertraut, so dem „Gulistan“ von Saadi (1660), dem „persianischen Rosenthal“ von 1654, den „collegierten Reisebeschreibungen“ von 1696. Die „Voyage en Perse“, die Chardin 1735 veröffentlicht hatte, gab Augenzeugnis hinzu. Doch schon die breite Fülle der Büchertitel erweist, daß ihm der Orient nicht in vulkanischer, sondern neptunischer Enthüllung bekannt wurde. Und wenn wir uns weiter auf sein Lernen und Streben aufmerksam machen lassen, erkennen wir: das Morgenland erwuchs seit seiner Kindheit mit ihm. Er hatte in ihm die Augen fast zur gleichen Zeit aufgeschlagen wie in der anderen, nördlichen Heimat. Die Bibel war ihm von früh auf vertraut. Er hatte sich an einem „Joseph“ versucht, „zwo biblische Fragen“ behandelt, den Aufsatz „Israel in der Wüste“ geschrieben, das „Hohelied“ übersetzt, den „Mahomet“, die „Parabeln“ gedichtet. Herder wies ihn vielfach unmittelbar gegen Morgen, Friedrich Schlegel belehrte ihn über Sprache und Weisheit der Inder, er interessierte sich für die „Sakuntala“, er las Ölsners „Mohamed“, Napoleons Feldzug rückte Ägypten näher, Marco Polo das alte China, es ist kein Ende. Um den engeren Kreis der Quellen legen sich immer weitere. Die zwischen Aufgang und Untergang vermittelnden Geister treten hervor, Plato, Heraklit, Plotinus. Das Verständnis für die Talismane mochten seine antiken Gemmen und Kameen verstärken, welche er seit seiner italienischen Reise sammelte und erforschte. Sodann mußte ihm Abgeleitetes dienen, seine Kenntnis der frühchristlichen Kirchen- und Ketzergeschichten, alte Kirchenlieder wie jenes im Divan anklingende „man trägt eins nach den andern hin“, Sprichwörtersammlungen wie die von Agricola, Gruterus, Lassenius, Schellhorn.
Zu erschöpfen ist der Zustrom des Divanmateriales kaum. An dem napoleonischen Wirrwarr interessierte ihn vielleicht die auffällige Parallele zu den Kriegszügen des Timur am meisten, ja vielleicht interessierten ihn am meisten die Baschkiren, die, mit den russischen Truppen nach Deutschland verschlagen, in Weimar einen mohammedanischen Gottesdienst begingen. Aber auch etwa sein Entzücken an der schönen jungen Kaiserin Maria Ludovika von Österreich ist eine Divanquelle, wie viele mit seinen gleichzeitigen Briefberichten übereinstimmende Verse beweisen.
Doch genug der Namen und Daten. „Wer sich von dreitausend Jahren nicht weiß Rechenschaft zu geben –!“ Die Belege der Rechenschaft sind von den Kommentatoren, Goethe voran, gesammelt worden, die Rechenschaft selbst in ihrem Gelingen, ihrem Zauber und ihrer Klarheit bleibt geheimnisvoll. Doch unsere Augen sind geblendet, wenn sie die Zurüstungen zum Divan plötzlich beisammen erblicken. Zugerüstet wurde von früh auf das Gesamtwerk Goethes, und in gewissen Entscheidungsjahren sonderten sich die Sphären nur voneinander, wurden aber nicht da erst geschaffen. Sie entschwebten der gemeinsamen Natur wie einst die Planeten der Sonne, und das gleiche Licht blieb ruhend auf ihnen und erzog die verschiedenartigen Geschöpfe ihres Wachstums. Goethe hatte, ohne daß es ihm bewußt werden konnte, schon in grüner Jugend auch den Divan begonnen, ebenso wie er ihn nicht vollendet hatte, als er ihn vorläufig drucken ließ, und selbst nicht, als er starb. Nur war in den letzten Jahren 1814/15 die überpersönliche Natur in ihm, die diese Gedichte wollte, mit seiner Persönlichkeit übereingekommen und kongruent geworden. Da gehörte ihm genau, was bisher anderen gehört hatte. Sie hatten ihre Arbeit nun auch als die seine geleistet. Das Wandern der religiösen, philosophischen, poetischen Gedanken hin und her von Okzident zu Orient und von Orient zu Okzident, durch Jahrhunderte, die Geschiebe, die Schichtungen, — es hatte sich nun in seinem Geiste vollzogen. In den tragfähigen Grundgefühlen, in den konstruktiven Hauptgedanken war draußen und drinnen kein Unterschied mehr. Die Natur seiner Persönlichkeit und die Natur des zoroastrischen, griechischen, mohammedanischen, christlichen Kulturkreises deckten sich. Hafis und Goethe waren Brüder, Jesus und Mohammed waren es, auch Hafis und Hutten, im Kampfe, dieser gegen braune, jener gegen die blauen Kutten seiner Sekte und als dritter wiederum Goethe im Kampfe gegen die „Mönchlein ohne Kapp’ und Kutt’“. Auf seiner neuen Hedschra brauchte er sich physisch nicht weit von der Stelle zu rühren, wie auf der ersten nach Italien. Damals flog er nach einer Richtung, diesmal in alle Dimensionen. In seiner eigenen Verjüngung tauchte die Welt verjüngt auf. Sie ist zu voll und schwer und vielgestaltig, um am leidenschaftlich beflügelten Worte Genüge zu haben. Genießt sie sich selbst in ihrer Erfrischung, eine stille ungestörte Schöpfung, so fühlt der Dichter gleichwohl „Frühlingshauch und Sonnenbrand“. Seine bittere Ungeduld gegen das Verkehrte und Abstruse schweigt nur. Sie vernachlässigt es, indem sie sich ins Positive der Gestalt wendet. Mit Lächeln und Güte geht er hier an dem vorüber, was er auch mit unheimlicher Richterstimme treffen konnte. Als Greis weist er vor Eckermann zornig die Zumutung zurück, daß er glauben solle, eins sei drei und drei sei eins. Im Divan schilt er das Kreuz am Halse der Geliebten zwar eine „moderne Narrheit“ und sagt: „mir willst du zum Gotte machen solch ein Jammerbild am Holze“, gibt aber auch ruhig seine Wahrheit: „Jesus fühlte rein und dachte Nur den Einen Gott im stillen; Wer ihn selbst zum Gotte machte, Kränkte seinen heil’gen Willen.“ Als Greis 1829 erklärt er hart dem Kanzler v. Müller: „Ich bin nicht so alt geworden, um mich um die Weltgeschichte zu bekümmern, die das Absurdeste ist, was es gibt; ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk untergeht, ist mir einerlei; ich wäre ein Tor, mich darum zu bekümmern.“ Sein Amt ist, sich um das Leben zu bekümmern. Seine Politik kehrt sich vom Abnormen und Extremen. Er bedarf nicht des Weltenspiegels Alexanders, der nur ein paar stille Völker zeigt, die Alexander mit anderen rütteln möchte; sein Weltenspiegel zeigt, was er sich eigen sang. Die explosiven Patrioten sind ihm meist zuwider, und sogar gegen den Freiherrn vom Stein zeigt er sich während der Divanzeit reizbar. Erst die innere Befreiung kann wahre Freiheit bringen. Ist ein Volk dumpf, so werden seine lichteren Führer ihm nicht nützen. „Wenn man auch nach Mekka triebe Christus’ Esel, würd’ er nicht Dadurch besser abgericht, Sondern stets ein Esel bliebe.“
Überall vertreibt er die Verdüsterung und Verqualmung, überall, wo eine Flamme ist, wartet er ab, bis sie sich vom Rauche reinigt. Die Flamme ist ihm immer ein Abbild göttlichen Lichtes, als Feuer, Begeisterung, Rausch, Liebe, — die Flamme, nicht der Sturm, der brandstiftende, auslöschende. Er lebte in einer „schaureichen“ Epoche. Wo soviel zu gleicher Zeit lebendig war, konnte ihm das Daherbrausen nichts frommen, sondern nur das Erglänzen. Wie leidenschaftlich sich das westöstliche Weltgebäude in ihm erleuchtete, das ermessen wir vielleicht an der Mitteilung Mariannes, daß ihm beim Lesen seiner Gedichte nicht selten die Tränen in die Augen traten.
Was in den Gedichten steht, drückt sich für alle mögliche Wiederkehr gleichmäßig gültig aus. Im engen Bezirk scheint es zuweilen nur flüchtige Aufbewahrung eines Einfalls oder einer Anregung zu sein, im weiteren zeigt es sich allseitig durch tiefsinnige Beziehungen verknüpft. Goethe übertreibt nicht und überrascht selten. Er braucht sich nicht zu erregen, wenn er in einer neuen Erfindung eben ans Ziel langer innerer und äußerer Wege gekommen ist. Die Erfindung ist nicht erfunden, sie bedeutet sich nur selbst, eins und alles, nicht bloß ein Zweifaches oder Mehrfaches. Das Einzelne darf ruhiger sein als in Goethes Jugend, denn es hat jetzt mehr Welt um sich als vormals. Aber wie groß ist das Alter des Dichters nun, da das Vielhundertjährige und das ewig Jugendliche in ihm beisammen haust? Aus dem Geiste, der die Fülle hat, besitzt er alle Lebensalter zugleich. Im Schenkenbuche, dramatisch geteilt, scheint er sowohl älter wie jünger als er ist. In den Betrachtungsbüchern hat er, nach den dort niedergelegten Proben zu schließen, mehr Maximen hinter sich gebracht, als eine reale Lebenserfahrung zuläßt, und so darf er in die Verklärung des Paradiesesbuches eintreten. In den Liebesbüchern ist sein Alter geringer, als die Wirklichkeit es will. Und nur im Buche des Sängers, dem Reisebuche, besteht volle Übereinstimmung zwischen dem fahrenden Kaufmann aus Morgenland und dem fahrenden Dichter Goethe. Die Stunden und Augenblicke der Dichtung zielen nicht in das private Leben zurück, aus denen sie ihren Stoff nahmen, sondern sie verweben sich dem kunstgewordenen Leben des Werkes.
Dieses hebt den Gewinn aus den langsamen Zeiten in eine gemeinsame Zeit. Sie zählt nicht nach Sekunden, sondern nach Pulsen. Dasein ist der geographischen Herkunft übergeordnet, Wirklichkeit der chronologischen. Darum verwirrt das Vielerlei nicht. Das Westöstliche ist ein unzerteilbarer Begriff geworden. Außer vielen Namen des Morgenlandes sind Aurora, Helios, Hesperus, Iris erwähnt, das Schweißtuch der heiligen Veronika, aber hinter den Namen stehen Dinge, Menschen, Helden und Götter von heute und immer. Mit dem kalten Geschmacke geprüft, mag die Nennung der Wesen mit so vielsprachigen Namen bisweilen stillos wirken. Aber der Name ist Schall und Rauch: „gegraben steht das Wort, du denkst es kaum“. Es ist schwer, die bildnerische und gefühlsmäßige Einheit eines Gedichtes wie „Laßt mich weinen! umschränkt von Nacht in unendlicher Wüste“ zu verlassen, um festzustellen, daß seine Vorstellungen aus verschiedenen Richtungen zusammenstoßen; Wüste, Kamele, Treiber, Armenier, Staub die eine Gruppe, Achill, Briseis, Xerxes, Alexander die andere. Alles war einmal und ist wieder mit dem gleichen Verantwortungsgefühl von dem Dichter umfaßt worden, — das eint es. Die Betrachtung jedes Dinges hat alle Grade von der Nüchternheit bis zum Überschwang durchlaufen, so wurde es durch und durch zum Eigentum dieser Betrachtung. Goethe unterscheidet nicht Gegenstände und Ideen zum lästigen Hausgebrauch, zur festlichen Repräsentation und zum poetischen Traum. Sind sie nicht in dem einen Bezirke gerecht, so auch nicht in dem anderen. Seine Einbildungskraft verläßt niemals die Grenzen der Erfahrung, sie schleppt in der Tat immer die Weltkugel mit sich. Wenn er dichtend des alten Meeres Muscheln im Stein suchte, so tat er es in denselben Wochen als Geolog wirklich. Wenn er von der grünen und augerquicklichen Farbe des Smaragds redet, so liegt sein Wissen darum zugrunde, daß der Smaragd nach alter Überlieferung Heilkraft für die Augen besitzt (was er auch anderweitig erwähnt). Der Liebesbote Hudhud, der Wiedehopf, beruht auf dem Vorgange des Hafis. So ist es überall. Man müßte sein Verfahren übervorsichtig und prosaisch nennen, wenn das Wunder des Geistes ausbliebe. Es geschieht; und der Bogen zwischen der praktischen Realität und der platonischen Idee hat nun die weiteste Spannung, die denkbar ist, und ruht auf den beiden sichersten Pfeilern. So zitiert er seinen Hafis und andere Vorbilder oft nahezu wörtlich nach den schlechten ihm handgerechten Übersetzungen, und wenn zwei Dolmetscher sich um die Richtigkeit streiten, so zitiert er einmal gar beide. „Wer kann gebieten den Vögeln still zu sein auf der Flur?“ Das war einmal Hafis, dann wurde es Hammer, und nun ist es auch Goethe, ohne daß den andern ihr Eigentum geraubt wurde. Mehr noch: Marianne von Willemers schöne Beiträge im Divan sind ganz ihr geistiger Besitz, aber sie sind auch eine Emanation Goethes. Seine geistige Aura hatte sie, die vorher nur Gelegenheitsreime gemacht hatte, in sich gerissen, sie war gleichsam magisch geschlagen und mußte zur Antwortdichterin in seinem westöstlichen Tone werden.
In die magische Welt des Divanbuches wird der Leser durch keinerlei künstlichen Aufwand gezogen. Das Klima der sprachlichen Form durchläuft alle Jahreszeiten, und aus der Vollständigkeit ergibt sich eine wunderbare und so geräumige Einfalt, daß die ungeheuren Weltschichten darin einwachsen und ruhen. Goethe wollte sich nirgends einspinnen. Er bliebe immer bereit, einen artistischen Scheinkosmos, der nur Stil wäre, zu zerbrechen, wenn er überhaupt in eine solche Gefahr käme. Es liegt ihm auch nichts daran, andere einzuspinnen mit einem der Netze, in denen sich das Gemüt des Zuhörers so gern und leicht fortziehen läßt, sei es dem der Ironie, der Sentimentalität oder des genialischen Haudegentums. Die Magie atmet aus dem Ganzen her, und nur, wer des Ganzen gewärtig bleibt, wird vom vollen Atem des Einzelnen bestrichen. Es mehren sich die Gedichte, die den Hochmütigen durch eine ihm nicht genehme Schlichtheit und Simplizität vexieren, und es mehren sich die Gedichte, die durch einmaliges Lesen und Hören nicht zu fassen sind, ohne daß es die Schuld des Autors wäre; sind sie dann jedoch erfaßt, so leben sie als der einfachste Ausdruck ihrer selbst weiter, „Selige Sehnsucht“, „Wiederfinden“ und ähnliche. Prosaische, kalte Wörter vervollständigen auch in seiner Sprache den Bestand an Wirklichkeit. Sie sind nicht von ihrem Orte zu pflücken und nach ihrem Lexikonwerte zu wägen. Aus den Wörtern als Wörtern soll gar nicht Gefühl rinnen, sondern Empfindung von Zeiten und Räumen, Farbabständen, Festigkeitsunterschieden. Dabei geschieht es wohl, daß die Sprache sich aller Rücksicht auf das Normale entäußert. Sie ist manchmal gepreßt, manchmal gelassen, alt und jung, wie der Autor und seine Welt, nicht nachlässig, aber schöpferisch zulässig. Sie ist unschuldig, weder asketisch-fanatisch noch übermütig. Goethe übersetzt nicht aus dem Persischen und nicht ins Schriftdeutsche, sondern er spricht, wie aus vielen Reimen erkennbat wird, sich selbst: den süddeutschen Frankfurter. Dergleichen Reime sind in dem über den Dialekten schwebenden Normaldeutsch unrein, süddeutsch gehört jedoch rein. Am Klargefühl der Persönlichkeit nimmt alles teil.
Unsere Empfindung der formalen Geschlossenheit ist so groß, daß wir sie nur mit Anstrengung uns gesprengt vorstellen können. Wir tun es einen Augenblick lang, um ihre mannigfaltigen Elemente gewahr zu werden. Was drängt sich dann alles nebeneinander! Wir finden Fremdwörter wie: Insulte, Grammatik, rhetorisch, deklinieren, konversieren; wir finden ein dem Englischen des Shakespeare nachgebildetes Wort „bewhelmen“, das etwa „überwölbend bedecken“ ausdrückt, oder ein anderes anglisierend nachmalendes Wort „Kriegestunder“. Wir sehen Goethe in ältere Zeiten, in entlegene Landschaften der Sprache zurückschweifen. Er sagt „kütten“ für „kitten“, er spricht von der „Sehe“ des Auges, er braucht die mittelhochdeutsche Form „betriegen“ für „betrügen“, die freilich bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts vielfach verwandt wurde. Sodann bringt er Neubildungen wie „Schlechtnis“ und „liebeviel“. Fachausdrücke aus Sondergebieten des Lebens siedelt er in seiner Dichtung an, wenn sie ihm Farbe, Kürze, Schärfe zu bieten haben. Statt „o du mein Lichtbringer!“ sagt er „o du mein Phosphor!“ der Kartenspielerausdruck „passen“ kommt ihm einmal für „verzichten“ gelegen. Der durch und durch schauende Gestalter, vor dem der Keim des Wortes offen zutage liegt, so daß es vor ihm noch einmal alle Stadien durchläuft bis zur Gegenwart, einer Gegenwart in sinnlicher Jugend und Frische, zeigt sich in Bildungen wie „umgelost“, „händeln“ für Händel haben und ausfechten, „bedünkeln“ zu Dünkel, „musterhaft“ in der Bedeutung von „beispielhaft“. Er streift die abstrahierende Selbstvergeßlichkeit der Sprache ab, wenn er statt Geruch und Geschmack „Ruch“ und „Schmack“ setzt. Umgekehrt läßt er das Lautbild sich nicht nur von innen beschauen, sondern auch nach außen treiben und quellen: die Geliebte wird angeredet „Allschöngewachsene, Allschmeichelhafte, Allspielende, Allmannigfaltige“. Doch die ungewaltsame Naturgewalt der Rede offenbart sich erst dann, wenn man sie nicht einsiedlerisch – und dann vielleicht zuweilen wunderlich, selbstbewahrend, artistenstolz — der Pflege des Einzelnen zugekehrt denkt, sondern wenn man sie als Rede nimmt. Dann öffnet sie alle Dimensionen des Geistes im farbigen Abglanz der Sinne. Fern davon, bloß Gedanken, Gefühle, Bewegungen mitzuteilen, gibt sie dem Auge, dem Ohre, im raschen prägnanten Zugriff dem Getast und auch den schwerer vom Bewußtsein zu kontrollierenden, willkürlicher reagierenden Sinnen ihr Fest. Darf man die Ausdrucksweise vieler anderer Dichter, nach einer Grundformel suchend, als die Weise von Geistes- oder Augen- oder Ohrenmenschen bezeichnen, so ist das bei Goethe und sonderlich bei dem Goethe des westöstlichen Divans nicht möglich. Seine Rede spiegelt die Form seiner Persönlichkeit und zugleich die Form einer dreitausendjährigen Welt. Während er spricht, sprechen alte Kulturen mit ihm, wie sie ihn gebildet, sich in ihm gemischt und geklärt haben. Natürlich ist hier das Gegenteil eines Vermittelns von Kulturinhalten gemeint: sonst würde ja nach ihrem Maße das durchaus Selbständige und Einmalige der Persönlichkeit verdrängt und aufgehoben sein. Auch sprachlich genommen, ist ein Griechenland, ein Morgenland, ein Welschland und Deutschland, das es nicht gab und gibt, durch Goethe dennoch da. Zu Sulpiz Boisserée äußerte er am 3. August 1815: „Alles ist Metamorphose im Leben, bei den Pflanzen und bei den Tieren, bis zum Menschen, und bei diesem auch.“ Ein anderes Mal bekennt er, aus den Formeln, die seit Jahrtausenden das Tiefste in den Menschengeschlechtern sind und Zauberkraft über Kulturen und Einzelne ausgeübt haben, könne man eine Art Alphabet des Weltgeistes zusammensetzen. Mit diesem Alphabet schreibt er. Seine Buchstaben sind das, was die Metamorphose bewirkt. Aber damit nun das Gedicht nicht „für lauter rationellem und spirituellem Gas“ wie ein Luftballon in die Lüfte gehe, ist es seiner Sprache erlaubt und erwünscht, zufällige Realitäten der östlichen oder westlichen Überlieferung oder des eigenen privaten Erlebnisses zu benutzen, und sie muß deshalb trotzdem nicht aufhören, Idiom des Weltgeistes zu bleiben, – auch im Technischen der Verse, im Syntaktischen der Sätze. Ganz individuelle Schroffheiten des alternden Goethe prägen seine Statur und sind zugleich vielleicht auch eine typische Denkbewegung toter fremder Völker. Es ist nicht bloß eine lässige Manier, wenn er des öfteren das Ich und das Du ausläßt – „bin erbötig“, „wenn bewunderst“. Ebensowenig ist es Absicht oder gar Tiefsinn. „Die Seel’ zur Seele fliehend“, — das ist ein fertiger Satz; „dem ihr sonst Schlafendem vorüberzogt“, — „jetzo glänz’ ich meiner Stelle“ — es findet sich ein, es wurde nur als Geist gerufen, aber auch nicht, als es im Wort erschien, erschrocken abgewiesen. Dergleichen Schroffes rüttelt uns, macht uns aufmerksam und läßt uns fragen: von wannen kam es? Doch auch das Liebliche und Stille zwingt gewiß oft genug geheimnisvoll und unnachweisbar viele typische Formen menschlichen Anschauens zum Klang, während es nur höchst persönliches Glück, höchst persönliche Not scheint. Manches ist leicht zu fassen in seinem doppelten, dreifachen oder vierfachen Hall. „Wenn der Hörer ein Schiefohr ist“ — das ist orientalische Prägung, zeitgenössische Polemik, Goethes freundliche Wärme vor jeder Erscheinung! etwas Salziges, Bitteres und Süßes ist in der Zeile gleichsam zur Einheit geworden. Reiche Reimklänge wie „überall an — Schall an, Lauf stört — aufhört, – Erzklang — Herz bang“ oder „Kaum daß ich dich wieder habe, Dich mit Kuß und Liedern habe“ sind mindestens eine Vierheit: morgenländischer Geist, morgenländischer Klang, deutscher Geist, deutscher Klang. Bei den dichterischen Nachfolgern Goethes wurde das dann als Nachahmung gewöhnlich einfach: Kenntnis und Verwertung der Kenntnis; Rückert, Platen, im Witzigen Heine. In Goethe tun sich die Kulturen auf, ohne daß man ihn Hand anlegen sieht, sie bleiben Gesicht, Gehör, Eigenenergie. Bei den anderen ist das Handanlegen das erste, ein kritisches Auge fällt auf sie, ein fremdes Ohr verhört sie. Sie können dabei richtiger und spezieller gepackt werden, denn sie sind geistige Provinzen nur in einem Menschen, nicht mehr in einem Kosmos. Uns überläuft oft ein Schauer, wenn wir Verse Goethes nach ihren verschiedenen Heimatländern antwortlos befragen. „Ein Ast, der schaukelnd wallet“ — „Die Perlen (der Tränen) wollen sich gestalten, Denn jede nahm sein Bildnis auf“, – „Fingerab in Wasserklüfte“, — „Wenn nun Bassora noch das Letzte, Gewürz und Weihrauch, beigetan“ –. Es soll kein Versuch unternommen werden, hellenische Klarheit, patriarchalische Stärke und mystische Ruhe der Juden, Araber, Perser, romantischen Drang der Westvölker in dergleichen Akkorden aufzuspüren, denn die dem allen wahlverwandte Natur Goethes wirkt ja gerade aus ihrer eigenen Mitte heraus. Nur darauf sei wieder und wieder hingewiesen, daß seine Phantasie viel breiter und tiefer in die Wirklichkeit reicht und sich aus Wirklichkeiten regt, als aus seinen Worten zu entnehmen nötig und ratsam ist. Wer, selber wirklichkeitsarm und der Lebenstyrannei eines nur geistreichen Willens unterstellt, dies vergißt, stutzt vor Dunkelheiten und Kompliziertheiten im Werke Goethes, die in Wahrheit meist nicht dichter und verfänglicher an den verrufenen Stellen sind als an den lichten und gangbaren. „Dort, im Reinen und im Rechten, Will ich menschlichen Geschlechten In des Ursprungs Tiefe dringen, Wo sie noch von Gott empfingen Himmelslehr in Erdesprachen Und sich nicht den Kopf zerbrachen.“
KURZE BEGEGNUNGEN
I. CHINESEN
1. Das Volksliederbuch
Die Hoffnung mag vergeblich sein, daß Volkslieder, die das tendenzlos Gültige, gleichsam leidenschaftlich Unübertriebene, Überdauernde im persönlichen Schicksal singen, zum Trostbesitze großer Massen im Abendlande werden könnten. Wenn europäische Volkslieder das nachgestalten, was Irgendeinem anstelle von vielen oder allen widerfahren ist, einen Schlag des Schmerzes, der Sehnsucht, des Glücks, dann kommt das Repräsentative der Dichtung oft durch eine unbewußte Eitelkeit des Dichters zustande: das Erlebnis begibt sich gern in die Hut einer Sentimentalität, es ist gern stolz auf seine Kraft und Größe oder seine Unschuld und Wahrheit, es hegt sich gern in seiner Wohligkeit oder seinem Trotz, — es wird allgemein, indem es individuelle Ausschließlichkeit annimmt. Die klassische Lyrik der Chinesen, besonders die der Tang-Zeit, bemüht sich nicht, Glut, Wut und Klage, die ein Herz belagern, unverschüttet und unverändert in bewegte Worte zu retten, die nun in der freien Welt Widerhall wecken können, sondern sie sucht die kristallen reine, planvoll notwendige, geometrisch reichere Lebens- und Beziehungsform jeder Daseinsregung auf, sie schaut durch das infolge der Persönlichkeit Getrübte bis zu dem Punkte einwärts, wo das Ich wieder (oder noch) Welt ist, wo Gedanke und Gefühl, Gestalt und Wille einerlei Wesen sind. Es handelt sich demnach hier um keine Abschleifung und Abklärung, sondern im Gegenteil um eine Einpressung zur knappsten, undiskutierbaren Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit erkennt sich in der Erfahrung durch den Dichter, sie ist kein unerprobtes Schema von außen her. Sie erschüttert jeden, der Sinne hat zu empfangen, trotz der Tatsache, daß die chinesische Dichtung nur in schwach andeutenden Umschreibungen übersetzbar zu sein scheint. Im Genie, gleichviel welchem Himmels- oder Höllenstrich es angehöre, ist die chronologische und geographische Bedingtheit aller Angehörigen des Menschengeschlechtes fast überwunden. So hört auch im Schi-King der Osten auf, Osten zu sein, und er wird zum stellvertretenden Orte für die ganze Menschheit. Dabei findet die chinesische Landschaft und ihre Sitte in den kleinen Liedern auf wundersame Weise einen unbegrenzten Raum, wie ihn eigentlich nur riesenhafte Epen gewähren könnten. Der Schritt der Krieger wirft wilde Gebirge unter sich, über die zu schreiten ihnen von nun ab möglich ist, und hallt von öder, wüster, hoffnungsloser Zeit, die Qual der verstoßenen Frauen strömt die ungeheuren Wasserströme Chinas aus, die Klage eines Hofbeamten bannt die prunkvolle Grausamkeit der verdorbenen und verderblichen kaiserlichen Hierarchie in beängstigender Vision.
Kung-fu-tse sammelte diese Lieder; ungefähr dreihundert davon entstammen dem sechsten bis zwölften vorchristlichen Jahrhundert. Wir besaßen sie bisher nicht in deutscher Sprache. Friedrich Rückert versuchte sie aus einer lateinischen Interlinearversion zu übertragen; er hatte nur sprachliches Finderglück. Albert Ehrenstein benützte die Rückertschen Verse und ließ sich von dem ehemaligen Mandarin Pe-Tai und dem Lama Po-Tse helfen, als er die vorliegenden hundert Gedichte nachgestaltete. Mit erstaunlich einfacher Wortgewalt, unbekümmert um die Gedankenblödigkeit vieler Leser von heute, gewann er uns ein ehrwürdiges Urwerk der Kunst.
2. Ein Volksbuch
Noch im Fratzenhaften und durch endlose Wiederholung Entmannten scheint das Gespenst einer ungeheuren gestalterischen Weltvernunft faßbar zu sein. Der Erguß der Wirklichkeit in den Traum und des Traumes in die Wirklichkeit scheint mit unheimlicher Festigkeit die Kategorie geschmiedet zu haben: Die Welt als Kunst. Sie umfaßt alle denkbaren durchgehenden Anschauungsweisen, wie jede von diesen auch die Kunst als einen ihrer Teile begreifen würde. Form und Wesen, Freiheit und Gesetz, Erscheinung und Sinn sind in der chinesischen Dichtung so sehr die identischen, nur einmal von innen, einmal von außen gesehenen Grenzen der Gebilde, daß für den Betrachter das Verstandenhaben vor dem Verstehenlernen steht. Vielleicht aus diesem Grunde gilt in China als die oberste Dichtungsgattung die Lyrik, vielleicht aus diesem Grunde sind nur die chinesischen Formen der östlichen Religionen für den Westler aufnahmemöglich. Wer da glaubt, etwa nach indischen Lehren leben zu können, täuscht sich, ist ein Antiquar, Flachkopf, Heuchler oder von Ernst und Pracht Geschlagener.
Niemals noch ist uns ein Volksbuch Chinas übermittelt worden, bis endlich ein Mediziner, Professor Cl. du Bois-Reymond, der dreizehn Jahre lang in China lebte, eines der „zehn Meisterwerke“, wie die zehn gerühmtesten Unterhaltungsschriften drüben heißen, zugänglich machte. Es trägt den Titel: „Dschung Kuei, Bezwinger der Teufel.“ Der Übersetzer teilt mit, daß es, da im Texte häufig auf Romane der Yüan- und Mingzeit angespielt werde, wahrscheinlich um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts gedichtet worden sei, von einem Zeitgenossen (und Artgenossen) des Moscherosch und Grimmelshausen. „In allen Buchläden, auch von Straßenhändlern auf der Gasse verkauft, von Hoch und Niedrig gelesen, vom Geschichtenerzähler dem Kuli vorgetragen, noch heute nach über zweihundertfünfzig Jahren immer wieder neu gedruckt, ist es ein echtes und rechtes Volksbuch.“ Es ähnelt den Kunstdichtungen nicht, es sei denn, man hörte seinen satirischen Vortrag nicht mehr als Vortrag. Dann bedarf es, obwohl es sie so reichlich hat, nicht mehr der genießenden Teilnehmer, und in seiner wunderbaren Zartheit, seiner wunderbaren Derbheit ist es kein Märchen über das Leben, sondern das Leben als Märchen. Die Weisheit ist gut gelaunt, aber sie ist Weisheit. In den Teufeln, die sich auf der Erde breitmachen, scheint die ganze Menschheit kondensiert. Menschheit, — das ist blaß, verschwimmend, sentimental, ungedacht und ungesehn. Sie hat keinen Charakter. Nun bekommt sie Charakter, und schon hat sie sich in einen Teufelsspuk verwandelt. Und, nicht wahr, die Erkenntnis hatte recht: ein Charakter ist schon deshalb lächerlich, weil er ein Charakter ist? Ist also ein Spötter nicht am meisten berechtigt, ihn zu malen?
Dschung-Kuei findet im Leben die Gerechtigkeit nicht und entleibt sich selbst. Nach dem Tode, ein großer starker Geist, zieht er durchs Land und köpft, was ungerecht, nach irgendeiner Seite hin auswüchsig ist. Die Dämonen, denen er zu Leibe rückt, heißen: Frech-Teufel, Falsch-Teufel, Untreuer Teufel, Hochstapler-Teufel, Stromer-Teufel, Fürwitz-Teufel, Ohngleichen-Teufel, Knicker-Teufel, Bettler-Teufel, Jammer-Teufel, Waghals-Teufel, Leichtfertiger Teufel, Betrüger-Teufel, Scheeler Teufel, Halsbrech-Teufel, Raffer-Teufel, Grübel-Teufel, Umgarner-Teufel, Armer Teufel, Schwarzaug-Teufel, Diebs-, Geringschätziger-, Verkrachter-, Eisenstirn-, Tobsucht-, Spieler-, Zier-, Feiger-, Kriecher-, Lumpen-, Schmutz-, Lügen-, Klauen-, Toller-, Schlauer-, Lustgier-Teufel; endlich ein ganz großer Herr: Glotzäugige Dummheit. Die Darstellung vieler dieser Persönlichkeiten ist von gewaltiger Beobachtungskraft. Die zahlreich eingestreuten Gedichte, oft weich, farbig, vielfältig, süchtig nach den schönen Dingen der Natur, lassen sie noch schärfer und greller aufschießen.
Das Dichterische ist so stark, daß man vergißt, sich um die Entwirrung der übersinnlichen Zusammenhänge zu kümmern, daß man zunächst auch vergißt festzustellen, ein wie überaus lebendiges Kulturgemälde aus Altchina man in sich aufgenommen hat. Wer da lieber ein Buch liest als tausend, der hat hier eins, das seinen Geschmack rechtfertigen kann.
II. HEINRICH SCHÜTZ
In dieser Unglückszeit Deutschlands klingt ergreifender als einst im Frieden jene frühere Unglücksperiode auf, welche unser Land im dreißigjährigen – ach hundertjährigen Kriege zu dulden hatte. Weit vorher in den Religionskämpfen, lange nachher bis tief in die Epoche des Absolutismus hinein fliehen gepeitschte, zerfetzte, mißgebildete, verrohte, eingeschrumpfte, verirrte Dichterseelen vorüber. Viele sind fast sprachlos, viele lallen, schwatzen und gröhlen, manche schwärmen, als wären sie nicht mehr von dieser Welt. Heute vernehmen wir in Bruchstücken ihrer Arbeiten, was sie im Tiefsten meinten.
Menschen verwehen, Kulturen versinken, Reiche schwinden, Welten entschweben, aber erst, wenn die Organe, die Künste schaffen und aufnehmen, zerstört sind, sind sie wirklich dahin.
Eine Kunst, die Musik, brach in der Unglückszeit nicht zusammen, sondern baute sich auf zu ihrer ganzen letzten Herrlichkeit. Die Musik ist die jüngste unter den Künsten, denn ihre Urzeit, ihr Altertum, ihr Mittelalter bricht jedesmal hinter ihr weg, sobald sie Gegenwart wird, mag diese Gegenwart, wo sie nach dem Namen eines Genies heißt, auch ein paar Jahrhunderte währen. Erlebten wir es nicht schon an zeitgenössischen Kompositionen, die Ahnung wäre noch etschütternder, mit welcher Raserei der Geschwindigkeit sich die Willigkeit und Lust des Gehörsinnes ändert, wie rasch die Gesetze seiner Götter ihre Banngewalt verlieren. Die Tongebäude scheinen aus dem Nichts erbaut und an einen festen Punkt im Nichts gehängt; wir aber sind eingeladen, mit ihnen zu schweben. Wie ungeheuer muß die Vision sein, die in der Tat den festen Punkt im Nichts findet, von dem aus das All getragen wird, richtig in den Beziehungen seiner Teile, so sicher, daß das preisgegebene irdische System sich hinaufschwingt und droben lebt!
Lange Zeit retteten sich nur Teile des menschlichen Daseins hinan, Gesinnungen des Gefühls, der Einsicht, der Willensüberzeugung. Wann aber erschien zum ersten Male die Welt im Ohre – so klar, daß der Zeitenschutt den Traumkosmos nicht wieder begrub, daß wir noch in seinem unversehrten Bau wandeln können? Wir erschrecken: trotz aller Großen seit den Griechen, trotz Palestrina und Frescobaldi, trotz Claudio Merulo und Willaert und vielen anderen — die volle Welt tönt zum ersten Male bei Bach!
Nur Heinrich Schütz gebietet vor Johann Sebastian Bach über eine archaische Welt, die von der See der Vergänglichkeit und dem Verfall im Gehörsinne nicht verschlungen worden ist. Vielmehr erhöht sie sich jetzt wieder über den Spiegel des Lethemeeres, das rasch nach dem Tode ihres Schöpfers darüber herbrach. Bach stand schon über seiner geglätteten Fläche.
Doch er ahnte sich in die Kraft auch dieses riesenhaften Gerechten hinein, der gerade hundert Jahre vor ihm geboren wurde. Nichts macht es dokumentarisch wahrscheinlich, daß er eine Singweise des größten deutschen Musikers seiner Vorzeit jemals gehört habe. Als heranwachsender Jüngling konnte er in der Bibliothek der Lüneburger Michaelisschule Hauptwerke des Meisters studieren. Ob er damals dafür offen war? Heinrich Schütz mußte auch ihm wie allen Genossen seiner Zeit ein Schatten sein, aber noch war die Sphäre dieses Gewaltigen nicht beruhigt, der dann fast zweihundert Jahre lang ein Schatten blieb. Der Dialogus „O Ewigkeit, du Donnerwort“ ist Beweis dafür, daß Bach nicht nur die Wirkung des Unsichtbaren empfand, jenen Atomzerfall einer geistigen Einheit nach vollbrachter Erfüllung, den wir Geschichte nennen, sondern auch etwas von seiner persönlichen Gestalt spürte. Vielleicht aber ist es eine Weisheit des Schicksals, daß Bach diese Gestalt nicht in der dichten Wirklichkeit ihrer Werke sah.
Der drängende und gedrängte Ernst, mit dem Schütz die italienische Konzertmusik in die protestantische Kirche leitete, hatte sich wieder gelockert. Was die Natur seines Genies errungen hatte, war nachträglich nur noch anzuschauen wie der Eintritt einer Umwälzung — dem Umsturz jedoch ist immer auch etwas Außerkünstlerisches beigemischt: die Willkür, die Spaltkraft und das selbstsüchtige Temperament der bloßen Talente; die Masse der Mittäter gehört zu seinem Begriffe. Schütz war ein Einzelner durch den Dienst an seiner Sendung. Seine Neuerungen waren ihm nicht neu, sondern notwendig. Von seinem Wesen wie von dem Bachs sagt man nichts Eigentliches aus, wenn man ihn als einen Vollender oder Beginner betrachtet. Wie Bach oder Palestrina ragt er in das Übergeschichtliche. Er war als Schüler Giovanni Gabrielis in Venedig bis zu dessen Leichenbegängnis, er studierte auf seiner zweiten italienischen Reise die Art des großen Monteverde, er sandte weiterhin Botschaften nach Italien und empfing Botschaften daher. Er verpflanzte die Pracht der italienischen Doppelchöre, den Glanz und den Freimut ihrer Instrumentalbegleitungen, die Schärfe und die Jugend ihrer Harmonien, die Kühnheit und die Großgliederigkeit ihrer Melodien, die Genauigkeit, Mündigkeit und das durchdringende Gleichmaß ihres dramatischen Charakterisierens, den Drang und die Wärme ihres Geistes. Der Triumph über all die neuen Geheimnisse und die Gabe, ihrer in mannigfaltigen Umgestaltungen und Abweichungen fähig zu bleiben und sie zu lehren, erklärt dennoch nichts von seinem einigen Geheimnis.
Über uns fällt seine Kunst des Ausdrucks, wenn wir eine seiner häufiger aufgeführten Szenen, seinen Gang der Marien zum Grabe, seine Bekehrung des Saulus, seinen Pharisäer und Zöllner im Tempel hören, als eine Gerechtigkeit, die so gleichgewogen leidenschaftlich ist, daß alle Härte und Süße, alle Großartigkeit der Erde und alle überirdische Sprache der Toten und Geister als der einfache Zwang ihrer Anschauung erscheint — die Verwesung und der farbig durchbebte Äolsharfenwind aus dem Jenseits in jenem „Maria-Rabbuni“ so gut wie der schwermutvoll gewaltige, gleichsam gelähmte Schicksalsdonner aus den Wolken: „Es wird dir schwer werden, wider den Stachel zu löcken.“ Als Schütz das neunte Jahrzehnt seines Lebens betreten hatte, bat er, schon schwerfüßig und harthörig, einen Schüler, er möge ihm als Grabmusik den Psalmspruch komponieren: „Cantabiles mihi erant justificationes tuae in loco peregrinationis meae.“ Diese Gerechtigkeit zu suchen an jedem Orte seiner Pilgrimschaft durch die Länder des Geistes und die Länder der Erde von Fürstenhof zu Fürstenhof, nach dem Süden und mehrmals nach dem dänischen Norden, durch die Not und Vernichtung des Dreißigjährigen Krieges, während Kirchenbrand an einem Teile seiner Schöpfung die Flammen speiste —, es scheint die Sendung des zarten, wohlwollenden, humorvollen Mannes gewesen zu sein, diese Gerechtigkeit zu entdecken, indem er sie singbar machte. Es wirkt wie ein Sinnbild seines Urwillens, wenn er die Bibelstellen und Strophen, die ein Prinz in Sterbensahnung rings an den Brettern des Sarges aufzimmern ließ, zum Texte einer Exequienmusik nahm –: umringenden, festigenden, aus der verborgenen Mitte des Todes strömenden Klang.
III. DER NEUNUNDNEUNZIGJÄHRIGE BRUCKNER
Die Zeitungen melden anfangs 1924: In ganz Deutschland und Österreich werden Vorbereitungen getroffen, um den 100. Geburtstag Anton Bruckners nach Gebühr zu begehen. Man mietet also gewiß Dirigenten, Orchester und Säle. Vielleicht wird man das ganze Lebenswerk Bruckners hören können, wenn man um den 4. September ein paar große Städte bereist. Die deutschen Völker wollen doch zweifellos einem ihrer Heroen danken und an seinem Geiste den ihren auferbauen? Sie werden gottlob plötzlich von einem Blitze erleuchtet sein, die Herzen werden ihm in Bereitschaft endlich entgegenschlagen. Die Presse wird es schon immer gewußt haben, wer der Held war, und sie wird nicht so trivial sein, es nochmals zu verraten, wie sie möglicherweise auch dem Mythos von den Mängeln der ersten und letzten Symphoniesätze Bruckners eine ehrwürdige steinerne oder eherne Monumentalität verleiht.
Wie vortrefflich, daß man das Jubeljahr abwartet! Wie gut, daß nicht schon heute für den neunundneunzigjährigen Bruckner ein Dankfest gefeiert wird! Seine Gefolgschaft ist klein, und vor den Augen der Kenner steht sie als ein Haufe von Dilettanten, Narren und Zeloten da. Die Zuhörer im vollen Festsaal würden heute, wie sie es schon gestern und ehegestern taten, begeistert klatschen, aber sie würden mit Bruckners heiligen Trompeten, Posaunen und Pauken den Ruhm ihrer Lüge und Heuchelei ins Universum trompeten, posaunen und pauken lassen. Sie nehmen seinen Klang als Reiz und Geschenk für ihre gewohnte Seelenwelt, aber sie schenken sich nicht seiner Welt. Form und Welt sind in den größten Musiken ein und dasselbe. Für die Dauer ihres Erlebnisses fordern sie den Erlebenden ausschließlich. Bei dem Erlebnis Bruckners jedoch gehört es zur unzerstörbaren Tradition, auf andre Komponisten zu schielen. Vergleicht man sonst Künstler miteinander, so geschieht es meist um einer Erkenntnis willen, vergleicht man ihn mit Vor- und Nachgeborenen, so geschieht es fast regelmäßig zu seiner Verkleinerung. Man vergleicht von vornherein Ungleiches. Man sieht bei andern Künstlern auf ihre Welt und die Form, die sie annahm, bei ihm auf die Form allein, und da diese abweicht, so schließt man nicht auf eine andre Welt, die sie etwa ausdrücken möchte, sondern leugnet sie. Die altmeisterliche Symphonieform hat sich bei ihm erweitert, und nicht einmal „organisch“. Wenn man ihn von den Wiener Großen ableitet, was bleibt ihm anderes übrig, als ein Wiener Kleiner zu werden? Sein Wesen war nicht das ihre. Als lernender und sich beugender Laie mag er sich umso schmerzlicher nach ihrem Kosmos sehnen, als der neue eigne ihm jenen versagt, und er hat dann recht zu bekennen, vor Beethoven fühle er sich klein wie ein Hunderl.
Wir wollen nicht für ein kleines Hunderl werben, sondern für den nunmehr immerhin 99jährigen großen Anton Bruckner! Im Publikum, unter der Kritik, unter den nachschaffenden und schaffenden Musikern! Fachleute können eine verheerende Autorität ausüben, weil ihr Handwerk sich dem Urteil der Ungelernten entzieht, und weil sie selbst gern den Nichtfachmann unbesehen als Dilettanten gelten lassen. Doch selbst der große heutige Musiker braucht von dem größeren gestrigen nichts zu verstehen. Sakrosankt scheinen nur jene Genies um 1800 herum zu sein. Mit welcher Sicherheit dagegen äußert sich, beispielsweise, Tschaikowsky schon über Bach und die „wahrhaft klassische Quälerei“ seiner Kantaten oder sein „vergebliches Ringen mit den Kunstgriffen der damaligen Schule“ in der chromatischen Phantasie! Nun, Tschaikowsky ist Russe. Eugen d’Albert nicht; und er schrieb doch zum Wohltemperierten Klavier: „Bach kannte die unzähligen Stufen der Leidenschaft, des Schmerzes, der Liebe nicht und ahnte auch nicht die Möglichkeit, diese in der Musik zum Ausdruck zu bringen.“
Willkommen stellt sich der fremde Schutzherr Bach, er, die Urmusik selbst, zu Bruckner. Die privaten, die geistigen, die musikalischen Gestalten der beiden Männer sind nirgends vergleichbar, und der Versuch, ihren Größenunterschied abzuschätzen, würde nichts im Wesen aufklären. Aber in zwei Dingen ähneln sie einander: Beider irdisches Leben schreitet aus der sichtbaren in eine unsichtbare Welt fort, und beide nehmen an einer Kirche die letzte, die gründlichste, die endgültige Reformation vor: die Verwandlung des konfessionellen Bekenntnisses in Musik. Um Bach wird es seit seiner Niederlassung in Leipzig immer stiller, er geht, wie der chinesische Maler in seine Landschaft, in sein Werk hinein und wandelt darin lebendigen Leibes weiter, über der Erde. Draußen verhüllt das schwarze Kantorengewand den Körper, der währenddessen drinnen im Unsichtbaren gewaltig das Kreuz trägt nach seinen physischen Gesetzen, der nach denselben Schwere- und Widerstandsgesetzen als Christus lang am Kreuze hängt und mit seiner Liebe zu Anna Magdalena zur Gottesmutter gelangt, dem schönleuchtenden Morgenstern, und der diese irdische Liebe in Terzen und Sexten durch den ganzen überirdischen Riesenkosmos quellen läßt. Bei Bruckner ist es ähnlich, auch etwa vom 40. Jahr an. In Linz und Wien läßt er von seinem Dasein kaum mehr als einen merkwürdigen Anekdotenkram zurück, alles übrige nimmt er in sechs oder sieben gültige Symphonien auf. Vielleicht rührt daher die jahrelange Arbeit an jeder von ihnen. Sie mußten langsam alle animalische Wärme, alles seelisch Offenbare und Unbewußte aufsaugen, um schicksalhaft unveränderlich dazustehen. Die Länge der Symphonien und die mechanische Mühe ihrer Zubereitung für ein sehr großes Orchester erklärt das Rätsel ihres Wachsens nicht allein. Seinen Schülern verrät er von dieserlei Wachstum nichts. Sie müssen umständlich lernen, was er in acht Jahren bei Sechter studiert hat, die altertümliche, schwere Wissenschaft, mit deren Beherrschung er sich von ihrem Diesseits loskauft, und die er im Reiche der Freiheit leicht und schnell über Bord wirft. Seine Studien schichten sich in seinem Hause an den Wänden hoch, aber er wirft sie von sich, sobald er in seine Musik aufbricht. Er läßt sich immerfort prüfen, wohl mehr als ein Dutzend Mal, wahrscheinlich auch, um Abschnitte zu machen, zu erledigen, um Behelligungen der Vergangenheit loszuwerden und bürgerliche Forderungen der Zukunft durch Entgegenhalten eines Zeugnisses rasch abzuwehren und zu befriedigen. Er liest kein Buch, außer über Mexiko und den Nordpol, denn auch seine schwebend tönende Welt weiß keine Bücher zu lesen, aber ein Gleichnis aus entlegenen, abenteuerlichen Gegenden mag ihr wohl zuweilen frommen. Er kehrt einmal von der Straße in seine einsame Wohnung um und deckt eine frische Schöpfung mit andern Notenblättern zu: war die unsichtbare Welt ihm zu sichtbar? Dorthinein hatte auch er sein Körpergefühl gerettet, die Lagerungsempfindung der Organe zueinander, Hunger und Durst, die Lust oder Mühsal des Gehens, die Erregungen aller Sinne durch die Luft von außen, durch das Licht von innen, das Mysterium des Schwebens und Fliegens, welches der nicht mehr in leibliche und geistige Funktionen geteilte Mensch dort nicht nur in Traum und Vision, sondern in Wirklichkeit erfuhr.
Hier, im Ausdruck der eignen Wahrheit und Notwendigkeit, hat die künstlerische Reformation der Kirche schon begonnen, hier ist die Revolution schon vollendet. Bruckner war, wie Bach, in der bürgerlichen Sphäre ein gläubiges Mitglied seiner Religionsgemeinschaft. Ihren Glauben tönend zu gestalten oder doch ihm nie im Klange zu widersprechen, das war ihnen die Identität des musikalischen Lebens mit dem privaten. Das heißt: ihre Genialität befand sich bereits in der Welt, in der sie wirksam werden wollte. Sie brauchten nicht ihren Kosmos wieder und wieder zu entdecken, sondern nur ihr Dasein in ihm: dann war der Kosmos. So sind denn Bruckners Symphonien durch viele immer von neuem zurückkehrende Bildungen in manchem Betracht eine einzige Symphonie (ebenso wie Bachs Kantaten und Passionen und Instrumentalwerke). Die mythologische und metaphysische Weltansicht der christlichen Religionen sind für ein Tongenie, das sich ihnen ohne Vorbehalt rein hingeben kann, der ungeheuerste Stoff, der sich denken läßt, wie sie für das nur illustrierende, grammatisch oder gar theologisch dienende Talent die peinlichste und verderblichste Materie sind. Freilich, den Namen einer Gottperson oder eines Heiligen kann die Musik niemals sprechen; auch wenn sie sich der Menschenkehle und ihrer Wörter bedient, hat sie immer nur Töne und Tonverbindungen. Die Abstrakta: ewig, unendlich, allgütig, allweise, allwissend – sie sind ihr verschlossen, aber endlich ist sie, gütig, weise, wissend kann sie sein nach dem Maße ihres Schöpfers. Sie kennt jede Erregung und daher auch jedes Ereignis, das der Erregung zugrunde liegt, aber die Ereignisse reichen nicht kausal in die Vergangenheit und final in die Zukunft. Sie sind nur Gegenwart, ihre Entwicklung ist die jeden Moment gegenwärtige Erregung. Das Historische wird räumlich; ihm fehlen die moralischen Begriffe Schuld und Strafe. Grund und Folge liegen allein in den musikalischen Formgesetzen. Aus ihnen aber werden schwierige Begriffe wie Dreieinigkeit, Inkarnation, Auferstehung, Himmelfahrt, Höllenfahrt wesenhaft im Ohre faßbar. Was nun seiner Natur nach nur vom Ohre gestaltet werden kann, läßt sich nicht in die Sprache eines andern Sinnes übersetzen – etwa in Worte zwingen und somit wieder dem Kausalgesetz der sichtbaren Welt unterwerfen. Wenn man das nicht vergißt, kann man unparadox sagen: Die unsichtbare Welt hat ihre physische, ihre politische, ihre geographische Verfassung, aber sie ist keinen andern Vorstellungen als Tonvorstellungen zugänglich.
Dieser Anspruch ist entsetzlich. Bruckners Zeitgenossen ahnten, daß er ihn stellte, und ergriffen die Flucht. Sie merkten deutlich: nicht die sogenannte Form war gefährlich, sondern der Inhalt. Sie ertrugen den Ernst und die Feierlichkeit nicht, den „Modergeruch“, den „verwesungssüchtigen Kontrapunkt“. Bruckners Phantasie erschien ihnen „unheilbar erkrankt und zerrüttet“, sie verbreitete „unabsehbares Dunkel, bleierne Langeweile“, kam aus „fieberhafter Überreizung“. Die Zuhörer komponierten seine „Verlegenheitstremolos“, schrien ihre „Verzweiflungsfanfaren“, rauften sich in den „Angstpausen“ innerlich die Haare über ihr Unvermögen, ließen sich in den „Rettungstonleitern“ hastig auf die feste nüchterne Erde herunter, die sie um keinen Preis aufgeben mochten, und drängten sich in den „Notsequenzen“ aus der Gefahr zu den Ausgängen zum bürgerlichen Leben. Das war ehrlich die Symphonie, die die Zuhörer geschrieben hatten. In ihrer „haltlos zerfallenden, musivischen Form“ hatten sie auf vier, sechs oder acht Takte auch „geniale Einfälle“. Eine solche Symphonie gehört dem Zuhörer, und er will immer das Eigentum. Beethoven gehört ihm durch Gewöhnung der Intelligenz und des Gefühls: Intelligenz und Gefühl sind ja sein Eigen. Der Dichter Léon Bloy sagt, jede Perle am Hals einer reichen Frau bedeute den Tod eines Perlenfischers. Das ist sehr streng. Ohne die Bedeutung ist der Schmuck das Eigentum der Dame, mit der Bedeutung hört er auf, Eigentum zu sein.
Bruckner ist heute Eigentum geworden. Man regt sich nicht auf, man ist umgänglich, man klopft ihm die Schulter: Wie schön, guter Meister, die Scherzos und gar erst die Adagios! Nur die Ecksätze...
Neunundneunzig Jahre! Wenn es hundert sind – möchten dann seine Schultern recht vielen Händen unerreichbar hoch oder in Staub zerfallen scheinen!
Es ist das Schicksal mancher Künstler, das neunundneunzigste Jahr nie zu überschreiten.
IV. DIDEROT IN DEN ROMANEN UND ERZÄHLUNGEN
Goethe sagt in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Diderotschen Versuches über die Malerei: „Ich unterhalte mich mit ihm aufs neue, ich tadle ihn, wenn er sich von dem Wege entfernt, den ich für den rechten halte, ich freue mich, wenn wir wieder zusammentreffen, ich eifre über seine Paradoxe, ich ergötze mich an der Lebhaftigkeit seiner Überblicke, sein Vortrag reißt mich hin, der Streit wird heftig, und ich behalte freilich das letzte Wort, da ich mit einem abgeschiedenen Gegner zu tun habe.“
Wenn wir uns jetzt, fünfviertel Jahrhunderte später, mit Diderot auseinandersetzen, und noch dazu mit dem Erzähler Diderot, so wird unser Streit wieder heftig werden, und das letzte Wort mag uns heute leichter und öfter bleiben, aber wir sehen hoffentlich ein, daß wir darum keinen sonderlichen Anlaß haben, stolz zu sein. Uns bleibt genug Grund, uns dafür zu bedanken, daß wir die Romane und Novellen Diderots in Übersetzungen besitzen.
Große Namen der Vorzeit sind gewöhnlich nur Formeln für die Summe ihrer geschichtlichen Wirkungen. Sie töten öfter die Werke ihrer Träger, als daß sie auf die Leistungen zurückweisen. Wo Radium ausströmt, da entsteht Blei. Hier bei Diderot sind noch viele Radiumquellen in den Bleibarren.
Es reihen sich Inseln des Geistes neben Inseln – schließlich scheinen die Bücher in ihrer Gesamtheit lebendig vorhanden und wirken fort, wenn auch vielleicht in einer gegen die Zeit ihrer Jugend veränderten Weise. Sie scheinen aus einem realen Raum des Daseins in einen imaginären übersetzt. Der geistige Kanon ihrer Zeit ist vergessen, und es wird zu ihrem besonderen Reiz, daß sie ihn zuerst aus sich erschaffen und dann sich selbst aus ihm heraus. Nicht, als ob wir viele der Forderungen des Aufklärungszeitalters nicht auch stellten: es kommt jedoch nicht auf das Einzelne an, sondern auf den Komplex. In einer Anmerkung über Voltaire trägt Goethe eine Fülle von Eigenschaften zusammen, die den Maßstab der damaligen französischen Geistigkeit ausmachen, „zu heiterer Übersicht“. Einige seiner Schlagworte lauten: „Geist, schöner Geist, guter Geist, Gefühl, Sensibilität, Verstand, Richtigkeit, Ton, guter Ton, Hofton, Mannigfaltigkeit, Anmut, Grazie, Gefälligkeit, Leichtigkeit, Lebhaftigkeit, Feinheit, Brillantes, Saillantes, Petillantes, Pikantes, Delikates, Ingenioses, Stil, Eleganz.“
Mit dieser Auswahl haben wir Diderot bereits in seine Luft gesetzt, er beginnt zu atmen, er ist ein Heutiger. Manche abgestandenen Stoffe werden von ihrer Form aufgeschlürft, die Form wird als Anschauung eines Auges, einer Vernunft, eines Herzens einfach und überzeitlich.
Von dem ersten großen Roman, den „geschwätzigen Kleinoden“ über die kürzeren Erzählungen bis zu dem späten großen Roman „Jacques der Fatalist und sein Herr“ führt eine deutliche Entwicklung im Äußeren. Am Anfang finden wir noch das orientalische Gewand und die höfische Sphäre, die uns aus vielen Erzählungen Voltaires vertraut sind, in der Mitte begegnen wir dem spannenden, rührenden, wirklichkeitsphantastischen Filmbuch „Die Nonne“, das in der Schilderung seines kirchlichen, grausam gütigen, unentrinnbar „sittlichen“ Militarismus dennoch von einfacher Wahrheit ist, am Ende steht eine unvermummte Welt der menschlichen Gleichberechtigung, die sonderbar nur dadurch wirkt, daß ihre Einwohner in Don Quijotes und Sancho Pansas eingeteilt sind, mit einem satirisch und überlegen hin und her jonglierten symbolischen Paar im Zentrum. In diesem letzten Buche spielt der Autor mehr mit als sonst, es bereitet ihm Vergnügen, seine Personen überall nach Laune in Marionetten zu verwandeln, ihnen Kopf, Arm und Fuß grotesk zu verrenken und sie dann wieder zurechtzubiegen. Gastwirtin und Gräfin haben nun den gleichen Rang, der Diener Jacques ist der Herr, sein Herr führt nun den Namen Herr. Melancholische Derbheiten können nun fröhlich und nackt gesagt werden, während am Anfang der Laufbahn noch umständliche Maskeraden erforderlich waren.
Doch die Lockung der Verkleidungen, Irrtümer und glänzenden, gesellschaftsspielerischen Labyrinthe hat nicht nachgelassen: alle Erzählungen scheinen atemlos ihrem Schluß zurennen zu wollen und — haben unendlich viel Zeit; Romane wachsen aus ihnen hervor, aus den Romanen knospen Novellen, aus den Novellen Porträts und witzreiche Erörterungen; eine Parallele gebiert zwanzig, eine Variation leitet eine lange Serie ein. Die geschwätzigen Kleinode – d. h., das Geschlecht der Frauen, durch einen Wunderring zum Reden gebracht, verrät die Geheimnisse und Wahrheiten, die ihr Mund verschweigt. Der Einfall langweilt nach einigen Wiederholungen unendlich, aber er rast sich monomanisch aus, bis die ganze Welt auf dem tollen Hexensabbat erschienen und durcheinandergewirbelt ist, der Hof, das Theater, eine komische Gelehrtenakademie, das Märchenhaus der Hypothesen, in grotesk-ekelhafter Szene die Hunde Harias, die in der Hochzeitsnacht dem Freier der Dame als Nebenbuhler das Lager streitig machen, die Kriegerwitwen, die sich während des Feldzuges Ersatzmänner genommen haben und hinterher Gnadengehälter fordern, und dergleichen mehr in unabsehbarer Reihe. Grob gesagt mutet das Ganze, oberflächlich gesehen, wie ein Käse an, in dem es von Maden wimmelt. Damit nicht zufrieden, liefert Diderot im „weißen Vogel“ noch einen breiten Anhang, der in der reizvollen Anfangssituation, worin eine Sultanin sich bis zum Einschlafen die Fußsohlen kitzeln und von Emiren und Dienerinnen abwechselnd erzählen läßt, eigentlich ausgeschöpft ist. Jacques der Fatalist? – Es hat sich noch immer nichts geändert. Die Weisheit des Dieners Jacques erschöpft sich nie, und doch ist sie so einfach: es kann so, es kann auch anders kommen, alles steht dort oben geschrieben! Liebes- und Räubergeschichten, Prügel, Galgen, Betrug, Edelmut, Weinfröhlichkeit, Beinbruch, Degenstoß und nabelbeschauerische Saumseligkeit — alles hat Raum. Freilich die Lebensleidenschaften der beiden Hauptgestalten, hier die Geschwätzigkeit, dort die Sucht zuzuhören, rechtfertigen überaus lustig die ganze alexandrinische Bibliothek. Das Shakespearische Dortchen Lakenreißer hat allzuviele Brüder und Schwestern gefunden; in jenen Szenen will eine abgelebte Zeit nicht mehr auferstehen. Allein auch Novellen wie „Das ist kein Märchen“ oder „Frau de la Carlière“, in denen etwas vom Geschmack des bitteren Schicksals jenseits von Willen und Schuld ergreift, spielen über den sinnfälligen Vorgängen.
Diderots Gedanken verleiblichen sich nicht in seinen Figuren, sondern seine Figuren verleiblichen sich in ihnen. Die Gedanken erschaffen sich gleichsam Seifenblasenkörper und scheinen mit ihnen zu zerplatzen. Das ist etwas Großes, mit dem Schwierigen und Ernsten spielen können, um es zu überwältigen und etwas Letztes zu gewinnen, etwa die Erkenntnis der Fragwürdigkeit unserer Willensfreiheit. Treibt Diderot, verglichen z. B. mit Voltaire, viel Psychologie, so ist doch festzuhalten, daß er eine Psychologie der Beredsamkeit, nicht eine der Überredung gibt. Was bei ihm nun wie rosa Schaum quirlt, wie parfümierter Gischt spritzt, ist nicht Abfall, nicht lüstern und leichtsinnig Spielerisches, sondern wirklicher Geist und wirklicher Witz. Seine unkeuschen Frauen in den Seifenblasen sind schließlich so keusch wie Wachspuppen. Sein scheinbarer Journalismus richtet sich auf ewige Verhältnisse, und das scheinbare, vergängliche Gewölk ist in der Tat das Fundament. Was sich darin an Gestalt bildet, ist minder wichtig, wiewohl es trotz der oft flüchtigen allegorischen Durchschaubarkeit mit knappen Zügen sehr lebensfrisch wirkt. Dickster Naturalismus und schleckerhafter Zartsinn verhalten sich nicht wie Oberfläche und Bedeutung, sondern sie haben Oberfläche und Bedeutung und gleiches spezifisches Gewicht in einem weiteren System, in dem sie zuerst nichts gelten müssen, bevor sie ganz gelten dürfen.
V. FINNEN
1. Kalewala
Ob es vor diesem Gedichte nicht schon vielen gegangen ist wie mir? Als ich es vor zehn Jahren kennenlernte, eines Morgens es anblätternd, da hielt es mich den ganzen Tag und die darauf folgende Nacht fast ohne Unterbrechung im Zauber, bis wieder Morgen war und die dreiundzwanzigtausend Verse ausgesungen verklangen!
Der finnische Doktor Elias Lönnrot hatte 1849 diese dreiundzwanzigtausend Verse zum erstenmal beisammen. Er glaubte als Sammler der Volkslieder seines Stammes, wie sie als epische und magische Runen unter den Bauern lebten und von den Laulajät, den Vorsängern, wachgehalten und zu den mannigfaltigsten Einheiten verbunden wurden – er glaubte endlich auf die Vorgestalt des unzersplitterten Nationalepos gestoßen zu sein, und der Glaube half ihm. Aus Glauben wurde Anschauen. Und Lönnrot wurde etwas wie ein letzter Homer.
Vielleicht ist die Zeit des Kalewala bei uns jetzt gekommen. Viele von uns haben die physischen-allzuphysischen Holzereien in den bekannteren Heldenliedern anderer Völker satt; wir sind gegen kriegerisches Wesen und gegen die sogenannte Jugendkraft, die darin besonders deutlich faßbar werden soll, skeptisch geworden. Auch im Kalewala fehlt es an dumpfer Grausamkeit nicht, aber sie dient nur zum höheren Ruhme des Sänger-Wortes. Man könnte dieses Epos überschreiben: Kalewala oder die Allmacht des Wortes. Das Wort schafft die Unterscheidung der Dinge und damit in einem höheren Sinne die Dinge selbst, es ist der Träger aller Vorstellungen und Einbildungen und damit der Schöpfer der Geister, Dämonen und Götter. Sie sind nur letzte Exponenten des Wortes, ohne Gewalt außerhalb seines Bereiches, sie umwirbeln es leicht wie Blätterstreu. Der eigentliche Gott ist der erste und oberste Sänger: Wäinämöinen. Seine Mutter, die Tochter der Luft, vom Winde geschwängert und zur Wassermutter geworden, hat ihn siebenhundert Jahre getragen, bevor sie ihn gebar. „Alt und wahrhaft“ geht er über die Erde. Ihm ist gegeben, das Nordlandsvolk in Schlaf oder gar ganz fort zu singen, die Gestirne vom Himmel zu spielen. Alle lebenden Wesen kommen ihm zuhorchen, und ihm selber quellen die Tränen der Entzückung bei seiner Musik, „voller als des Sumpfes Beeren, runder als des Feldhuhns Eier, größer als die Schwalbenköpfe“. Die Tränen wandern seinen Körper hinab wie an einem Gebirge und bergen sich nach weiterer Wanderung über die Erde als Perlen im Meere. Er kann, was der Schöpfer singen können würde, denn er ist der Schöpfer: der „säng’ des Meeres Flut zu Honig, Meeres Sand zu schönen Erbsen, Meeres Schlamm zu gutem Malze, Säng’ zu Salz den Kies des Meeres, säng’ zu Kornland breite Haine, Laubwald rasch zu Weizenfluren, Berge bald zu süßen Kuchen, Steine schnell zu Hühnereiern“. Das „Wort“ ist das Herrlichste. Durch das Wort wird im Kalewala die Weltentstehung und Weltgeschichte ein Weltbegreifen. Wenn das Gedicht anhebt, sind alle Dinge zwar schon da, aber es wird so getan, als wären sie noch nicht da, und die zweite Schöpfung der Erklärung, der Überlegung allen Zusammenhanges scheint älter, ernster und gewaltiger als die erste. Eine Ente baut auf dem Knie der Wassermutter ihr Nest, legt Eier hinein, die Eier fallen ins Meer, zerplatzen und entlassen Erde, Himmel und Gestirne, — es schadet nichts, daß die Ente früher da ist als der Kosmos, zu dem sie als ein kleiner Teil gehören wird.
Anton Schiefner hat das wundervolle Buch 1852 zuerst ins Deutsche übertragen, Martin Buber hat es vor einem Jahrzehnt verbessert und jetzt ein Drittel der Schiefnerschen Verse durch bessere, genauere, getreuere aus Eigenem ersetzt.
2. Kiwi
Wir empfinden es an unserer eigenen Literatur oft schmerzlich, daß Geist und Seele und Blut sie an verkehrten Stellen ernähren. Etwa wo nur Blut fließen sollte, in den Adern, wird ein Tropfen Geist wie eine Luftblase eingespritzt, und der Erfolg ist der exitus letalis. Oder: wir nehmen die Landschaft in unser Herz, aber das Herz ist nicht ihr natürlicher Aufenthaltsort; seine Schläge werden den Wind überdröhnen, und Bäume und Blumen werden nur gepreßte Schattenbäume, Schattenblumen sein. Oder wir lassen unsere Seele in ein Tier fahren, und nun ist es vom Tierteufel besessen. Oder wir suchen, der Abstraktionen müde, das Konkrete und sind, weil wir suchen, wieder nur Götter, die von außen stoßen. Das Öl schwimmt auf dem Wasser und vermischt sich nicht mit ihm.
In der finnischen Literatur wird uns das Glück der Natur zuteil. Wir wollen die Scheuklappen vor diesem Worte abnehmen. Es schließt nichts aus und alles ein. Es ist nicht das Ziel einer Flucht, nicht die Erdhöhle nach dem Salon, nicht das klumpige Elefantenbein nach dem nervösen Spinnenfuß. Es riecht nicht nach dem Düngerparfüm der Heimatkunst. Wir wollen weder Emigranten noch Renegaten noch Proselytenmacher sein. Zur Natur gehört, auch dann, wenn sie von einem finnischen Dichter verkörpert wird, daß ein Zwerg ein Zwerg und ein Geist ein Geist sei. Dies zur Voraussetzung.
Und nun: unter den uns vorliegenden neuen Büchern aus dem Finnischen sind zwei einem großen Dichter zugehörig.
Aleksis Kiwi wurde 1834 als Sohn eines Dorfschneiders geboren. Der Knabe zeigte kein Talent für die Führung der Nadel, doch wohl eins für die Führung der Feder. So schickten ihn die armen Eltern nach Helsingfors auf die Schule. Von da ab begann die Zeit seiner Not. Ein guter Humor war sein eigen, und zwar ein sehr tiefer: fast ist bei ihm mit dem Begriffe Humor identisch seine Sehnsucht nach jener Natur im Sinne der urtümlichen Einheit — der Natur seiner Heimat und seines Volkes, der Natur seiner Anreger und Lehrer Shakespeare, Cervantes, Holberg, der Bibel und des finnischen Nationalepos. Mit solchen Neigungen ließen sich noch niemals Reichtümer erobern; von blöden Augen läßt sich in solchem Streben kein deutlicher Mittelpunkt entdecken, kein Sinn, der in vernünftigen und vor allem zweckhaften Ideen ausdrückbar wäre, denn überall, wo Fleisch und Geist ist, scheint er vorhanden, und überall im Fleisch und Geiste scheint er sich zu verbergen. Das Publikum aber als Brotherr des Dichters wünscht praktische Arbeit wie jeder andere Arbeitgeber, es verlangt Erfahrung und strenge Pflichterfüllung in bestimmten Fächern. Was soll es mit der Darstellung seiner selbst und seiner Welt beginnen? Gibt es, ohne sich Gedanken zu machen, schon zu, daß der liebe Herrgott keine Richtung hat, so verlangt es zum wenigsten vom Schriftsteller, daß er dem Herrgott eine klare Richtung vorschreibe, wofern er durchaus von einem freien, erhöhten Standpunkt aus das Leben überblicken will, also wohl in der Nähe des Schicksallenkers sich aufhält. Genug, Aleksis Kiwi, der eine Reihe von Lustspielen und Tragödien schrieb, konnte als Dichter in Helsingfors nicht hausen. Seit 1863 mußte er in dürftigen Hütten auf dem Lande leben. Zuerst hielt er sich im Nyland auf, einer Gegend, wo man schwedisch sprach, dann, als sieben Jahre später geistige Umnachtung auf ihn niederbrach, bei seinem Bruder in der Nähe von Helsingfors. Dort ist er als Almosenempfänger am 31. Dezember 1872 gestorben.
Sein Hauptwerk erschien im Jahre 1870. Es ist der große Roman „Die sieben Brüder“. Doktor Gustav Schmidt zu Helsingfors teilt in der Einleitung zu seiner deutschen Ausgabe dieses Buches mit, es gelte als das bedeutendste Prosawerk der finnischen Dichtung vor der Moderne, es sei zum weitverbreiteten Volksbuch geworden, es habe bis in die jüngste Zeit die Literatur und sogar die Malerei und Musik angeregt. Das ist kein Wunder, denn wollte man in enger Auswahl die epischen Dichtungen von Belang und Gewicht, deren Verständnis und Wirkung von zeitlichen und örtlichen und demnach kulturellen und ästhetischen Bedingungen kaum eingeschränkt wird, aneinanderreihen, so dürften „Die sieben Brüder“ nicht fehlen; ob sie in der Rangordnung dieser weltliterarischen Epen einen hohen oder tieferen Platz einnehmen, das berührt ihr Wesen nicht. Das Werk ragt in den Bezirk, wo das Gebilde keinen Bildner zu haben scheint, und wenn Kiwi auch gelegentlich sagt: ich will erzählen, – so ist dieses Ich seinen Gestalten zugewandt und nicht seiner eigenen Person. Der Dichter vieler Trottel und Rüpel, vieler Leichtfüße und tüchtig Tätigen, ist in sich schwer und einsam. Ein paar Verse von ihm, die wir in dem Auswahlbande „Suomis Sang“ finden, lauten: „Grabt mir ein Grab im Schatten der flüsternden Weiden und deckt es mit schwarzer Decke mir zu, weicht von meiner Wohnung dann hinweg auf immerdar! Denn ich will schlafen in Frieden. Und nicht soll sein ein Hügel gehäuft auf dem Grabe! Es wachse darüber ein ebenes Feld, daß kein Mensch mehr wisse meine Ruhstatt, umweht von dunkelnden Weidenwipfeln.“
Er ist kein Lyriker, es sei denn, man fasse die Lyrik als Quellgebiet aller Dichtung oder als notwendige Kraft im Kraftkomplex des Epischen. Die uns in deutscher Sprache vorgelegten Gedichtproben sind entweder dem Roman entnommen oder entstammen sonst erzählerisch durchgebildeten Situationen. Kiwi ist auch kein Dramatiker, wenn anders sein berühmtestes Stück, das allein bisher übertragen ist, das Lustspiel „Die Haideschuster“, als Beispiel gelten darf. Es soll bis auf den heutigen Tag das beste Zugstück des finnischen Nationaltheaters geblieben sein. Für uns legt die Ferne einen Schleier darüber. Wir haben bis zu seiner Bühne nicht nur eine Stunde Weges zu überwinden, sondern Tagereisen. Wir müßten auch nicht bloß unter unseren Landsleuten gelebt haben, um es recht zu verstehen, sondern unter Finnen früherer Generationen. Oder, noch besser, wir suchen uns eine Bühne, die irgendwo und immer aufgeschlagen ist, und Menschen, die irgendwann und immer da sind. Das will heißen, wir betrachten die kuriose Geschichte, welche damit beginnt, daß ein Schuster auf eine weite Freiersfahrt zu einem anderen Schuster zieht und gerade am Hochzeitstage seiner Braut anlangt, wieder episch. Dann wird sie wundervoll gegenwärtig, dann schmeckt und riecht sie, dann rauschen ihre Bäume und ihr Blut, dann liest sie sich etwa wie eine Episode aus den „Sieben Brüdern“, denn diese haben ihren Anfang und ihr Ende nicht zwischen den Buchdeckeln, und die Personenzahl darin ist nur darum begrenzt, weil alles Menschenwerk der Grenzen nicht entbehren kann.
Was aber wird uns von den sieben Brüdern erzählt? Ihr Lebenslauf und darin der Lauf der Welt. Ihr Vater hat in den besten Jahren einen plötzlichen Tod im Kampfe mit einem wütenden Bären gefunden. Die sieben Söhne, in ihrer Gesamtheit eine wilde, lustige und fast erschöpfende Sammlung der menschlichen Charaktereigenschaften, manchmal im Chore lachend, manchmal weinend, manchmal im Chore tiefsinnig und manchmal töricht geschwätzig, im Chore träumend, schmausend, schlafend, raufend, im Chore nichtsnutzig und brav, – sie werden anfangs von der Mutter durchgewalkt, wo es nottut. Dann aber stirbt die Mutter, die mächtig wie eine alte Riesin in den Pflugsterzen ging, nicht lesen, aber beten konnte. Die Sieben sind Erben des Jukolahofes im südlichen Tavastland. Sie machen nach den weisesten Beratungen die dümmsten Streiche und lassen ihr Gut verwahrlosen. Schon erwachsen, sollen sie lesen lernen. Die harten, wenn auch sonnenhellen Köpfe öffnen sich nicht. Aber das Gesetz ist streng, der Schulmeister und Küster darf Hungerstrafen und den Fußblock anwenden. Er ist den heiratsfähigen Zöglingen die „erschreckende Weisheit und die grausige Ehre“. Alle Glieder werden davor steif, die Füße sträuben sich unbarmherzig. Die Brüder, fröhlich wie Hammel, brennen durch in die Urwälder. Ihren Hof verpachten sie einem Gerber, nur um in eine Gegend zu entwischen, wohin die Ordnung des Gesetzes nicht reicht. Da bauen sie sich eine Behausung auf, „der Wald schützt sein Getier“. Während sie sich am Weihnachtsabend auf ihren Pritschen, trunken vom selbstgebrauten Bier, flegeln, in den dicken Qualmwolken, welche von den begossenen heißen Steinen der Badstube aufsteigen, naht das Schicksal: sie gehen schlafen, ihr Anwesen brennt ab. Im Hemde müssen sie durch den Frost, verfolgt von Wölfen, zum Jukolahofe rennen, um ein Dach über den Kopf zu bekommen. Schon einmal war die Badstube niedergebrannt. Gegen den Leichtsinn half alle Philosophie nicht. Dem Nachdenken hatten sie sich von Zeit zu Zeit hingegeben, besonders, wenn sie bei einem Faustkampfe mit der männlichen Jugend aus Tonkola blaue verschwollene Augen hatten. Dann schlief einer von ihnen süß, „wir anderen aber drehen und wenden uns wie die Würste im schäumenden Kessel“. Und unmittelbar, bevor alles niederbrannte, hatte sich der kluge Timo geäußert: „Wer kann das Gebäude dieser Welt begreifen? Nicht das Menschenkind, das einfältig und dumm ist, wie ein blökender Schafbock. Aber am besten ist’s, man nimmt den Tag, wie er kommt, läßt ihn gehen, wie er geht, mag er dann in die Pilze oder in die Wicken gehen. Hier sind wir nun mal.“ Die Faulheit ist ihnen nur ein anderer Ausdruck für Freiheit. Sie erschüttert die Sehnsucht des Lebens nach Abenteuern und nach endlicher nützlicher Arbeit nicht. Die Faulheit ist nicht bequem, sie schleppt gutgelaunt Lasten wie Herkules. Die Brüder jagen Vögel, Hasen, Dachse, Füchse und mit Lebensgefahren Wölfe und Bären. Das Schlimmste jedoch überstehen sie, als einmal vierzig Bullen auf sie einstürmen und sie in menschenleerer Einsamkeit belagern. Auf dem steilen Riesenstein finden sie Zuflucht, hungern tagelang und retten sich schließlich, indem sie alle Tiere erschießen, die sie nicht vorher im Kampf erschlagen konnten.
Aber es ist unmöglich, einen Begriff von der Fülle des Buches zu geben. Wälder werden gerodet, Moore entwässert. Es wird gesät, geerntet, Schnaps gebrannt und getrunken, alles im Übermaß. Das Nordlicht erleuchtet den Winterhimmel. Ein altes einäugiges Pferd tritt als Teufel auf, dem man mit Gebet, Beschwörung und Feuerbränden zu Leibe rückt. Komisches Volk wächst aus dem Boden, etwa ein mürrisches Weib, das schnupft und Blut schröpft mit Beilchen und Hörnchen und dabei schmatzt und schwitzt, oder ein mit Fabeln vollgestopfter alter Jägersmann. Wie die Trauben des Landes Kanaan hängen Phantasiebilder allenthalben reif und voll in die Wirklichkeit. Unangestrengt irdisch angeschaut, waltet überall die Natur, Sagen und Sitten des Volkes sind überall nahe. Schließlich blüht der alte Jukolahof und das neue Gehöft, vor dem die Urwaldöde zurückweichen mußte, und die sieben grünen Brüder sind hinter den Ohren getrocknet, aber einige haben sich auch den Wunderlichkeiten des Alters genähert. – Das alles war einmal vor ungefähr hundert Jahren und es wird nach weiteren hundert Jahren wohl noch immer vor ungefähr hundert Jahzen gewesen sein.
Nach alledem leuchtet unmittelbar ein, was Gustav Schmidt über Kiwis Stil sagt: „Ohne Mundart zu sein, verfügt sein Ausdruck über die unmittelbare Frische eines Volksdialekts, der romantische Schönfärberei, Abgedroschenheit und Weichlichkeit streng meidet.“ „Aus der Volkssprache stammen insonderheit die zahlreichen Anspielungen auf Vorfälle und Originale der Heimat, knappgefaßte Bonmots und stabreimartige geflügelte Worte.“ –