DRITTER TEIL
BUDDHO VON WESTEN
Als in Asien schon Millionen und Abermillionen von Menschen in das Licht des Buddho – des Erwachten – geströmt waren, während der bisherigen ersten zweieinhalb Jahrtausende seines Lebens, wurde bei uns nur ab und zu ein Einzelner von einem verirrten Blitz der großen Sonne Gotamo getroffen. Die Bekenner Gotamos, auch die starken und reinen, und die Bibliotheken über seine Lehre bildeten eine wachsende, schwer zu durchdringende Adhäsionskruste um ihn. Wenn drüben im Osten viele sich mit der Auflösung der Phänomene, denen sie verhaftet waren, beschäftigten, so war auch das ein Vorgang in der Welt der Phänomene; wenn sie das in den Erscheinungen wurzelnde Leid zu vermindern trachteten, so war auch das Erscheinung, und insofern blieb das Leid für den Betrachter von außen her in seiner Summe unvermindert. In Mönchen, Künstlern, Gelehrten und Bürgern hatte die Lehre mindestens viererlei Bedeutung und Wucht und gemäß dem wechselnden geistigen Fassungsraum der Unzähligen, die sie in sich schöpften, einen unzählige Male veränderten Sinn. Ist die Möglichkeit und Notwendigkeit, zu deuten und kommentieren, nicht ein Beweis für die Veränderlichkeit? Ist die Gemeindebildung, als ein Kampf für die Lehre, nicht in jedem Augenblick auch ein Kampf gegen sie? Kierkegaard sagte, die Schwierigkeiten des Christentums seien jetzt, da es Christen sich gegenüber habe, womöglich doppelt so groß wie zu der Zeit, als es Heiden und Juden sich gegenüber sah. Wir Europäer waren bis in die jüngste Vergangenheit vor dem Buddhismus Heiden.
Plötzlich scheint sich das zu ändern. Der Verlag von R. Piper & Co. in München konnte die 152 gewaltigen Reden der mittleren Sammlung im Jahre 1923 zum dritten Male hinaussenden, dreißigtausend Exemplare des Werkes, neunzigtausend Bände. Er konnte „Die letzten Tage Gotamo Buddhos“ (einen wesentlichen Ausschnitt aus der längeren Sammlung) und „Die Lieder der Mönche und Nonnen Gotamo Buddhos“ unmittelbar anschließen. Von der Übersetzung des brevierartig zusammenfassenden Dhammapadam („Der Wahrheitspfad“), um die sich dreißig Jahre lang nicht viele gekümmert hatten, bestand eine Neuauflage schon etwas früher. Karl Eugen Neumann, der große Übersetzer all dieser Schriften, dessen Leben (von 1865 bis 1915) und Lebenswerk, die identische Prägung der Worte Buddhos in deutscher Sprache, durch Beachtung keine Störung erfuhr, wurde vom siamesischen Gesandten in Berlin einmal befragt, ob es wahr sei, daß sich buddhistische Einflüsse, wie er gehört habe, in Europa wahrnehmen ließen. Neumann entgegnete, er hätte davon nicht eben viel gemerkt, worauf der Gesandte, in seiner feinen Weise lächelnd und auf ein buddhistisches Volkswort anspielend, gesagt habe: „Nun, wir haben ja Zeit, noch fünftausend Jahre.“
Waren also keine fünftausend Jahre notwendig? Sind sie so geschwind entflogen? Es ist ein Geström und Gedränge zu Buddho entstanden.
Bis zu ihm selbst wird es immer fünftausend Jahre weit sein, für uns, die zu ihm hinüberschauen; aber er hat den Schritt über jene fünftausend Jahre jetzt zu uns herübergetan. Wir können ihn nicht greifen, aber er greift uns. Vor sechzig Jahren wurde der Palikanon auf Ceylon aufgefunden, der seine authentischen Worte aufbewahrt und nur wenig von Irrtümern und Zutaten der Überlieferung bestäubt ist. Durch Karl Eugen Neumann spricht der Inder deutsch. Die Seele aus seinem Munde verbrennt die Bibliotheken über ihn und seine Worte. Die Flamme reinigt sich vom Rauch.
Was in seinen Worten herüberschwebt, uns auf eine magische Weise verwandelnd, ist seine Persönlichkeit, nicht seine Lehre. Erst auf dem Umwege über diese Persönlichkeit nehmen wir die Lehre an, sind gefügig, guten Willens, gestimmt, geneigt. Wir sind es, obwohl eine der Formeln für den Inhalt seiner Verkündung doch lauten könnte: Auflösung, Zerstörung, Leugnung der Persönlichkeit. Der Zusammenhalt der Aufklärungen und Anweisungen Gotamos ist uns nicht das System, sondern der einmalige Mensch. Das Moralische, Ästhetische, Erkenntnistheoretische, Leben, Glauben und Wissen ist in ihm einerlei. Und diese dichte Einheit wirkt in den sich absondernden Darlegungen herüber. Die bloßen Erkenntnisse, das Vertrauen dazu und die Entschlossenheit, ihnen zu folgen, soweit die Kraft reicht: das könnten vielleicht auch andere Lehrer, Philosophen, Vorbildner und Vorbilder uns geben, aber die Verschmelzung all dieses Faßbaren zu etwas Unfaßbarem ergibt den uns unerreichbaren Zustand, den wir heilig und selig nennen. Die Erlösung zur Heiligkeit und Seligkeit ist der Ursinn des Buddho. Er sagt zwar: „Nur eines, ihr Mönche, verkündige ich, heute wie früher: das Leiden und des Leidens Auflösung.“ Warum jedoch? Zur Heiligkeit und Seligkeit! Die beiden Begriffe geben eine Außen- und Innenansicht des gleichen Zustandes. Dieser Zustand erst macht alle Teile der Lehre zur Religion.
Die Verheißung jeder Religion wird zum vollen abzugslosen Geschenke nur ihrem Stifter. Jede Religion, in der Strenge genommen, in der sie sich selbst meint, ist ausschließliche Angelegenheit ihres Beginners. Aber Religion ist diejenige Form des Genies, deren die Masse teilhaftig werden zu können glaubt. Und Religion ist die Form des Genies, deren der Stifter die Masse glaubt teilhaftig machen zu können.
Buddho (wir erfahren in einer Anmerkung Neumanns, die verbreitete Form Buddha sei der Vokativ) ist nun wahrscheinlich das größte aller religiösen Genies. Er fürchtete sich vor dem Brande seiner Wahrheit so wenig, daß er ihn nicht nach außerhalb in einen Gott zu verlegen brauchte. Er brauchte die Welt und ihre Ewigkeit nach seinem Tode nicht zu hinterlassen, da er sie vorher als Trug entlarvte und den Trug verlöschte, und deshalb sinken Schuld, Sünde, Strafe, Rache aus ihrem Stolz und Schrecken in die Nichtigkeit des bloß Wahrnehmbaren. Er demütigt weder sich noch andere, er verkleinert niemand durch Drohung und liebevolles Verzeihen. Wie er sich nicht verweigert, läßt er sich nicht erbitten, weil die Wahrheit kein Selbst hat, sondern eins ist, und weder verweigert noch erbeten werden kann. Das Wunder bei alledem aber bleibt, daß Gotamo niemals kühl und als ein Einsiedler zwischen den scharfen Schwertern des Verstandes wirkt. Sondern es geht von ihm, bis in die feinste Präzisierung seiner Einsicht, bis in die unentrinnbare logische Zergliederung, eine warme, süße, reine Strahlung aus. Er scheint die Umkehrung seines Wortes, der Mensch sei heimlich wie die Höhle, das Tier offen wie die Ebene. Der Wahn, in dem die Unerlösten schmachten, scheint vor seinem Blick alle Schrecken verloren zu haben. Er, der Meister der Götter und Menschen, er, das Auge der Welt, scheint eine Demokratie alles animalisch Gesunden aufzurichten, während er sie als Spuk erklärt, der als solcher nicht einmal gefällt zu werden braucht. „Ein wahnloses Wesen ist in der Welt erschienen, vielen zum Wohle, vielen zum Heile, aus Erbarmen zur Welt, zum Nutzen, Wohle und Heile für Götter und Menschen.“ Das Gemüt, warum sollte es traurig sein, da es alles herzugeben hat? Es wird zur Ruhe gebracht, geeinigt, zusammengefügt. Es ist so, wie es den Mönchen verheißen wird: daß sie mit einer klar sichtbaren, zeitlosen, anregenden, einladenden, den Verständigen von selbst verständlichen Lehre belehnt würden. Es ist so: die Lehre ermuntert, ermutigt, erregt, erheitert, sie ist begründet und erfaßbar, sanft und sicher hinleitend, ihre Satzung führt weit und weiter, innig und inniger, mit ihren Teilen von dunkel und licht. Gotamos Reden enthalten schon in der beständigen, fast physisch gewordenen Strahlung wohlwollender Seligkeit ihren Sinn. Man möchte übertreibend sagen, es sei möglich, sie zu verstehen, ohne sie zu verstehen. Sie sind eine Offenbarung des erreichten letzten Zieles, und dieses liegt in jedem Anfang und Aufbruch schon, so daß der Anfänger und Aufbrechende gewiß bleibt, er werde anlangen, er sei schon im Begriff ein Buddho zu sein.
Es ist, als wäre die Welt in eine große, verführerische Musik verzaubert, und indem wir der Wesen Wohl und Wehe, Geburt und Tod, Torheit und Weisheit nur als Stoff der musikalischen Durchführung, durch Rhythmus und Melodie von materieller Schwere entledigt, erlebten, würden wir „geläutert, gesäubert, gediegen, schlackengeklärt, geschmeidig, biegsam, fest, unversehrbar“. Die Musik hörend, glauben wir sie auszuführen. Wir verstehen ihre klaren Gesetze im Klange, und da die Welt, die der Klang in sich genommen hat, zu nichts als Klang aufgezehrt ist, so wissen wir nun ihren Trug und Schein. Wir glauben schon zur „unbeschränkten Gemütserlösung“ zu kommen, strahlend nach allen Richtungen, überall in allem uns wiedererkennend, liebevoll, weit, tief, von Groll und Grimm geklärt, erbarmend, freudevoll, unbewegt weilend. Wir fühlen schon die „unbeschwerte Gemütserlösung“. Nichts ist da! — Das Reich des Nichtwissens. Wir überzeugten uns von der „ledigen Gemütserlösung“, sind leer von Mir und Mein, wir folgten in die „vorstellungslose Gemütserlösung“, geben keiner Vorstellung Raum. Das erste Paar der Erlösungen brachte objektiv, das zweite subjektiv die Welt zum Erlöschen.
Wer sich an einem so leicht gewonnenen Troste genügen läßt, der spielt vor Gotamos Auge! Er ist ein Anwärter auf einen Buddhismus von vier Wochen oder vier Monaten. Sollte er ein Literat sein, so wird er nicht abstehen, Buddho seinen Zeitgenossen zu predigen und so zu tun, als besitze er ihn längst in seiner Lebensführung. Ist er der ewige Europäer des guten Willens, so wird er ihn zerreden und ihn durch Rühmen unschädlich machen in einer Leidenschaft für das Vortreffliche, die wieder nur Leidenschaft, aber nicht das Vortreffliche weckt, in einer Begeisterung, die Begeisterung zeugt und sonst nichts.
Aber es heißt in den Reden auch, die Lehre sei tief, schwer zu entdecken, schwer zu gewahren, still, erlesen, unbekrittelbar, nur Weisen erfindlich. Es heißt im Wahrheitspfad, nur wenige könnten den Lebensstrom durchschwimmen, die meisten irrten am Ufer ratlos hin und her. Lebenslust umzingle das Volk, es renne rund herum, gehetztem Hasen gleich.
Was Buddho errang, ist praktisch errungen, und es kann, wenn überhaupt, nur praktisch errungen werden. „Zerstört hab ich das Weltgerüst, das letzte Dasein leb ich nun.“ Dies nur zuzugeben, erkenntnistheoretisch zustimmend, ist schon schwer. Es kommt aber auf die Verklärung an, in der es keine Stellvertretung gibt. Die Strahlung, welche die Wandelwelt so bannt, daß sie stille steht, kennt keinen Widerruf. Alles andere strahlt nur partiell, die Sonne bei Tag, nachts der Mond, in Waffen der Krieger, der Priester in Selbstvertiefung – den ganzen Tag und die ganze Nacht nur der Wache, Verklärte.
In der horchenden Bezauberung vergessen wir leicht: Gotamos Religion entspringt nicht dem Mangel, sondern dem Überfluß. Nicht Verzweiflung und Resignation werden dadurch beruhigt, sondern eine wilde unersättliche Seele erweitert sich so titanisch, daß alles Lebendige, aber auch alles, selbst was in unfaßbarer Ferne sich einmal auf einem künftigen Stern im Orionbilde oder Andromedanebel regen könnte, in ihren Sieg verschlungen ist. Durch wütendes Umsichgreifen des Willens wäre das nicht zu erreichen, noch weniger durch Verzicht. Beide würden rasch wieder das Herz verschlacken. Was ist die Herzensverschlackung? Schwanken, Unachtsamkeit, matte Müde, Entsetzen, Entzücken, Schwerfälligkeit, zu straffe Spannung, zu schlaffe Spannung, Beifall, Vielheitswahrnehmung, zu scharfe Betrachtung der Umrisse. Von dem, was Buddho dagegen setzt, der „hellmütigen Sammlung“, können wir uns kaum einen Begriff machen, eine so begnadete Intensität, Unverrückbarkeit, Mächtigkeit, eine so unverwüstliche, strotzende Gesundheit und Beständigkeit der Seele hat sie zur Voraussetzung. Denn um als das Gemeinsame alles Lebens bis in die äußerste Vergangenheit und Zukunft und bis über die Sternheere der Milchstraße hinaus das Leiden zu erkennen, und dieses Leiden als Hebel zu ergreifen, der die Welt aus den Angeln hebt, also etwas Heißes und Leidenschaftliches, nicht etwas Kaltes und Klares, muß das eigene Wohlsein gewaltiger wuchten als die Summe alles Übelseins. Vor allem muß es das leib- und geisteigene Übelsein von Ich und Selbst schattenhaft machen und Ich und Selbst der Schattenwelt überlassen, für immer. Das ist nur aus einem glühend seligen Wohlgefühl heraus denkbar: in einen leichtsinnigen Optimismus oder wehrlosen Pessimismus würde das Leid alsbald wieder einbrechen. Jene beiden Arten, die Welt zu empfinden, gibt es für Buddho nicht. Für den Erwachten sind sie törichter Schall, nur für das Nichterwachtsein und Nichterwachenwollen haben sie Bedeutung. Wenn aber Ich und Selbst der Schattenwelt angehören und wenn sie die Vermittler des Leidens sind, so ist auch das Leiden von der Sphäre der Befreiung ausgeschlossen. Das Leiden braucht Raum und Zeit zur Entfaltung – Zeit und Raum sind von der Sphäre der Befreiung ausgeschlossen. Die Entfaltung ist ausgeschlossen, fernste Vergangenheit und fernste Zukunft stürzen in den ewigen Gegenwartspunkt, in dem Ich und Selbst entbrennen. Zerstört ist das Weltgerüst! All dies als sinnliches Erlebnis, nicht als spekulative Freude! Immer wieder ist davon die Rede, daß die Bewußtheit, die Erweckung den Körper durchdringen, durchtränken, sättigen müsse, bis nicht der kleinste Teil unerfüllt sei. Es heißt: gleichwie jeder, der das große Meer im Geiste gefaßt hat, einbegriffen die Flüsse hat, die nur irgend ins Meer sich ergießen, ebenso hat ein jeder, der da Einsicht in den Körper geübt und gepflegt hat, einbegriffen die heilsamen Dinge, die nur irgend Wissen einbringen. Der Körper nimmt somit an der Transzendenz teil. Wer glaubt, heute das leisten zu können!
Das uralte, geschichtslose, üppige Indien zur Zeit des Heraklit gehört dazu, das die Entwicklung mitleugnen hilft und in tropischer Häufung wie in stehendem, warmem Sumpfe ein mannigfaltiges Zugleich von Entstehen und Vergehen zeigt. Die Seelenwanderung, die Wiederkehr, als eine Verwucherung des Individuellen, als eine zeitliche und räumliche Diaspora der Persönlichkeit, erwuchs dort als ein natürlicher Glaube. Buddho mag wähnen, den Beweis in sich erschlossen zu haben. Da der Trug der Wandelwelt aufhört im gereinigten und unbeschwerten Erwachten, so wird er im ungereinigten Verstrickten nicht aufhören. Sein Ich ist Welt, mitsamt den fünf Stücken des Anhangens, nämlich Form, Gefühl, Wahrnehmung, Unterscheidung, Bewußtsein und dem Willensreiz, welcher der Generalnenner für das Anhangen ist. Das Anhangen gehört nach drüben in die subjektive Realität, nicht nach hüben in die objektive Idealität. Wie sollte es nicht wiederkehren, wie sollte es aufhören, außer in der Verlöschung? Die Bewegung ist scheinbar, Geburt und Tod ist Bewegung, Aufhebung der Bewegung ist die Ablösung von ihrer Substanz, dem Leide.
Die Grundfrage nach dem Leiden stabiliert die Vergeblichkeit der Liebe, der Grausamkeit, des Verzeihens, des Verdienstes, der Sentimentalität, der Gutmütigkeit in der Welt des Scheines. Sie könnten alle nur eine Verschiebung des Unvollkommenen vom Ich aus, nicht von der Welt aus hervorbringen. Haß und Gewalt, Güte und Vergeben nützen nichts! Es frommt nicht, zu sagen: alles Lebende hat gleiches Recht – es wäre eine teuflische Zubilligung, weil die Habgier, die auf dieses Recht fliegt, den Krieg um seinen Besitz verewigt. Es frommt auch nicht, zu sagen: Das Lebende hat verschiedenes Recht — es wäre ein teuflisches Gericht wiederum, eine Sanktion des Kampfes um dieser Verschiedenheit willen. Die Stimme des Seligen anerkennt nur: alles Lebende leidet. Die Stimme Buddhos. Es gibt nur den einzigen Weg aus dem Leiden, den der Leidensauflösung. Da er aber der einzige ist, kann er der schwerste ja nicht sein, der leichteste nicht sein: die Last- und Gewichtsbetonung fällt, die Furcht- und Hoffnungskategorie fällt, die Unterscheidung von Liebe und Grausamkeit fällt.
In Gotamo Buddhos Höhe glüht Liebe und Grausamkeit ineinander. Er spürt Mitleid mit jedem Verirrten, schont jede Pflanze, jedes Tier, und überläßt mit der Kälte, die nur für sich sorgt und den freiwilligen Schüler etwa, die anderen dem Verderben, Völker von Menschen und anderen Wesen. Er billigt Säen, Ernten, Kochen und Weben und lebt selbst von empfangener Wohltat. Sorgte niemand für ihn, so könnte er nicht in der Hauslosigkeit das Heil suchen und bewahren. Wären alle in weltlichem Sinne arm und untätig wie er und seine Anhänger, so träte ein Zustand geistiger Wildnis ein, der keinen mehr das Heil finden ließe. Gemessen an heutigen Verhältnissen, ist seine Armut ein Überfluß an Reichtum. Man würde uns im trivialsten Sinne keine Zeit gewähren, der Schauung zu leben, und wollten wir versuchen, das zur Lebensfristung Notwendige zu erbetteln, so wäre die Arbeit zu hart, um noch die Wahnverlöschung zu erstreben, in unentbehrlichen Übungen zu erringen. Nehmen wir also Buddhos Erbarmen an, so trifft uns ein Blitz seiner Grausamkeit. Und ist es nicht auch an seinen Zeitgenossen, die einen engeren Kopf haben als er und einen minder starken Willen, grausam gehandelt, wenn er sie nicht von sich weist, sondern ihre Nachfolge duldet? Soll nicht die Welt überwunden werden? Der matt und lustlos Lebende aber, dem sie gleichgültig ist, der nur Teile, Bruchstücke von ihr erlebt, der nur das Fassungsvolumen seines engen, dumpfen Kopfes wägt, hat nicht viel von der Welt herzugeben, da er wenig von ihr empfing; er wird nur so weit nach innen kommen, wie er nach außen kam; seine Natur floh die Brutalität des Schicksals, sie wird die Wollust der Schicksalsleere wieder fliehen müssen. Buddhos herrischer Stolz ist es, den Kreis des Unheiligen ohne Lücke zu kennen, darum wird er „die heiligste Stätte der Welt“. Er macht das Ungleiche nicht gleich, weil er es dann nicht mehr zunichte machen könnte. Er ist ein Kenner der Welt, er ist ein Weltmann, obwohl er ein Mönch ist. Der Klügere gilt ihm mehr als der Dümmere, der Stärkere mehr als der Schwächere, sogar der Mann mehr als das Weib. Die Vernünftigkeit und Klugheit draußen preiszugeben, nur um preiszugeben, fällt ihm nicht ein. Jeder Rang wird anerkannt, das Vorzügliche vorgezogen. Daß er ein Mönch ist, hindert nicht, daß er den Glanz des Daseins, während er ihn niederreißt, durch die Herrlichkeit, mit der er es tut, befestigt. Grausamkeit und Liebe für sich selbst und Grausamkeit und Liebe gegen sich selbst scheinen wieder unentwirrbar. Es gibt den Mönchmenschen nicht dem Bekenntnis gegenüber, sondern er ist ein Bekenntnis. Der Mönch Gotamo, ein Riese, überwächst ganz Indien; Indien scheint durch den Umriß seiner Gestalt, Meer, Berge, Ströme, Wald, Luft, Häuser mit Küchen und Schmutzwinkeln, mit allen Geräten, Messer, Beil, Lampe, Pfanne, Sonde, Eimer, Peitsche, mit Perlen, Seide, Sesamöl, mit Elefantenbändiger, Rosselenker, Pfeilschmied, Goldschmied, Trompeter, Töpfer, Krämer, Trödler, Drechsler, Räuber, Mörder, mit Aussätzigen und Blinden. Der große Verlöscher verlöscht sie nicht, er liebt sie mit der Freude des scharfen Beobachters und der Treue des großen Dichters.
Dieser Widerspruch wie die anderen löst sich in seiner Persönlichkeit. Das ist eine Lösung für den Betrachter, nicht für den Jünger.
Zur Lehre Gotamos gehören unabreißbar die Extreme seines persönlichen Lebens. Ein Herr der Welt war er geboren. Was hatte der Sakyerprinz über sich? Wenn er nicht wollte: keine Menschen und keine Götter. „Und ich besaß, Magandiyo, drei Paläste, einen für den Herbst, einen für den Winter, einen für den Sommer. Und ich brachte, Magandiyo, die vier herbstlichen Monate im Herbstpalaste zu, von unsichtbarer Musik bedient, und stieg nicht vom Söller herab.“ Ein Jahr, bevor er dreißig war, sodann, wie es in den „Letzten Tagen“ heißt, brach er auf, zu einer größeren Höhe, in welcher er wiederum keine Götter und Menschen über sich hatte. Er stieg in die Sphären des Haarsträubens (zwölfte Rede), wo er inbrünstig, rauhsinnig, wehmütig, abgelöst war wie noch kein andrer; ein Unbekleideter, ein Ungebundener, ein Handverköster. Eine Handvoll Almosenspeise war seine Nahrung, Kräuter, Pilze, wildes Korn, Samen und Kerne, Baumharz, Gras, Wurzeln, Kuhmist. Seine Kleidung bestand aus Fetzen vom Leichenhof und von der Straße oder nur aus einem Eulenflügel vor der Blöße. Er raufte Haar und Bart, verwarf Sitz und Lager als ein Stetigsteher, Fersensitzer, Dornenseitiger, duldete vieljährigen Schmutz und Staub an seinem Körper bis zum Abfallen. Er fühlte Mitleid mit den kleinen verirrten Wesen in einem Wassertropfen. Er floh vor Rinderhirten und Viehtreibern wie ein verfolgtes Wild, „von Forst zu Forst, von Hain zu Hain, von Tal zu Tal, von Berg zu Berg“. Wenn die Knechte von den Hürden wegwaren, sammelte er in seinem irdenen Topfe Mist von jungen, säugenden Kälbern zu seiner Lebensfristung. „Und was da als mein eigener Kot und Harn unverdaut blieb, auch das nahm ich ein. Und das, Sariputto, ist mein großer Hefekelch gewesen.“ Weiter stieg er empor zur gräßlichen Wildnis eines grauenvollen Waldes und blieb dort in Frost und Eis und Sommerbrand, eisiger, glühender in seiner Kraft als die Naturgewalten. Er wanderte zu einer Leichenstätte und lagerte sich auf einen Haufen fauler Gebeine. „Und da kamen, Sariputto, Hirtenkinder herbei, spien auf mich und benäßten mich und bewarfen mich mit Unrat und fuhren mir mit spitzigen Halmen in die Ohren. Doch erinnere ich mich nicht, Sariputto, daß mir ein böser Gedanke gegen sie aufgestiegen wäre.“ Ihn erreichte nichts. Auch seinen Körper sollte so gut wie nichts aus dieser Welt erreichen: ein einziger Steinapfel, ein einziges Reiskorn täglich sollte ihn ernähren. Dürres welkes Rohr wurden Arme und Beine, wie eine Kugelkette das Rückgrat, wie querkantige Dachsparren die Rippen, wie verschwindend kleine Wasserspiegel in tiefem Brunnen seine Augen. „Und indem ich, Sariputto, die Bauchdecke befühlen wollte, traf ich auf das Rückgrat, und indem ich das Rückgrat befühlen wollte, traf ich wieder auf die Bauchdecke.“ „Und ich wollte, Sariputto, Kot und Harn entleeren, da fiel ich vornüber hin durch diese äußerst geringe Nahrungsaufnahme. Um nun diesen Körper da zu stärken, Sariputto, rieb ich mit der Hand die Glieder. Und indem ich also, Sariputto, mit der Hand die Glieder rieb, fielen die wurzelfaulen Körperhaare aus.“ Gotamos Worte. Sie tragen den Wahrheitsbeweis in sich. Er ist auch auf diesem Wege allen Menschen vor ihm und nach ihm vorangestürmt, da als äußerste Erschwerung hinzukommt, daß er ein Genie und kein bloßer Hungerkünstler war. Was er tat, geschah nicht nur in der Vorstellung oder gedankenlos, oder gedämpft vom Wahne um des Wahnes willen. „Und auch dieser Pfad, diese Zucht, diese Askese, Sariputto, brachte mich dem überirdischen reichen Heiltum der Wissensklarheit nicht näher.“
Und nun beginnt er den fünfzigjährigen Weg der Pilgerschaft und bleibt auf ihm. Zu der extremen Unabhängigkeit nach außen, die er als Fürst gekannt hatte, zu der darauf folgenden extremen Unabhängigkeit von innen her, fügt er die extreme Unabhängigkeit nach außen und nach innen. Wir würden es vielleicht natürlich nennen, wenn er nach dem Ergebnis seiner beiden ersten Lebensepochen verzweifelt oder abgestumpft wäre. Statt dessen geht er den endgültigen Weg über Menschen und Götter hinaus. Und sein körperliches Sterben wird ein kaiserlicher Triumph, an dem die gesamte Wandelwelt teilnimmt. Die Erde bebt, er schickt den Wedler, der dem Sterbenden Kühlung zufächelt, beiseite, damit die wehklagenden Götter ihn sehen können, der Scheiterhaufen entzündet sich von selbst, die Reliquien werden an das ganze Land verteilt.
In dem Feierprunk scheint er dem Menschentume doch entrückt zu werden. Er scheint sich endlich als einer zu offenbaren, der nicht unseresgleichen war. Die Legende naht sich ihm. Eine begehrlich umworbene Nonne seines Ordens hat ihr Auge ausgerissen und es dem Bedränger gereicht, um ihn zu verscheuchen. Als sie zu Buddho gekommen war, war ihr Auge licht wie vorher erglänzt. Oder Buddho wandelt schon am jenseitigen Ufer eines unüberschreitbaren Stromes, obwohl er im selben Augenblick noch diesseits zwischen seinen Gefährten stand.
Hat er doch die Wunder getan, die er als unmöglich erklärte in gewaltigen Gleichnissen? Hat er mit einem lodernden Strohwisch den unermeßlichen Ganges ausgedünstet, gänzlich ausgedünstet? Konnte er mit Lack oder Gelbwurz, Indigo oder Karmin im Himmelsraume Gestalten zeichnen, ein Bild entwerfen? War er der Mann, der mit Spaten und Korb die Erde erdlos machen wollte? Oder kann er den Erdball nur wegnehmen, und muß ihn nebenan wieder aufschütten?
Er sagt uns jetzt auch in deutschen Worten, er täte kein Wunder, und er tut es doch fort und fort.
Er tut den gigantischen Sprung in das Menschen-Unmögliche, in das Ding an sich.
Er tut einen Sprung über den Tod hinaus, denn er legt die Erlöschung noch diesseits des Todes. Damit wird der Tod großartig vergewaltigt, nicht sophistisch durch Bagatellisierung oder muskulöse Gleichgültigkeit, sondern durch ernste Anerkennung: da durch das Erwachen zur Wahrheit die Wiederkehr unmöglich gemacht ist, wird der Tod als endgültig erkannt und empfangen. Er ist nicht die Erlösung, sonst brauchte ihm die Erlösung ja nicht vorauszugehen. Im Gegenteil, ist er vorzeitig oder freiwillig aus Verzweiflung, aus mönchischer Bequemlichkeit, aus Heroismus oder was immer er für Begründungen aus dem Anhaften an die Welt ziehen mag, so tritt die Erlösung nicht ein. Nur wenn der Tod in das Grundgesetz: nicht fürchten, nicht freuen! einbezogen ist, erst dann bleibt er in der Welt des Truges zurück als ein immer wiederholtes Ding, das den Unweisen verfolgt, nicht den Weisen. Eine schwerere Bändigung und Bewachung des Bewußtseins ist nicht vorstellbar.
Der Weise stirbt nicht, sondern nur einer der unzähligen Körper träumt wieder den schwersten Traum. Weil der Weise zu der feststehenden, sich nicht wandelnden — weltlosen – Welt gehört, in der es Vergangenheit (daher Vergänglichkeit) und Zukunft (daher Entwicklung) nicht gibt, ist es klar, daß er für die Vergangenheit und Zukunft Träumenden unzählige Male auftreten muß. Im Zustande der Raum- und Zeitlosigkeit bedeuten die Unendlichkeit und der geometrische Punkt eins und dasselbe. Das Nichts ist alles und das Alles nichts. An beiden haben die Erwachten teil, sie sind ja ohne individuelle Bestimmung, ihre Bestimmung ist die Erwachtheit. Wir fühlen an Buddho etwas, als wäre er die Summe der Erwachten, als vollbrächte er es ohne Taschenspielerei, ein Leben in der Transzendenz und viele Leben in der Zeit zugleich zu leben. Wir wagen nicht zu behaupten, dies müsse Irrtum sein, wir beugen uns dem Unmöglichen.
Gotamos gigantischer Sprung war auch ein Sprung über den Gott hinaus, zu schweigen gar von den Göttern, den dreiunddreißig, oder den Formhaften, Formlosen, Reinen oder wie sie heißen. Buddho duldet sie lächelnd, nicht anders als alles übrige, was zum Haushalt und Inventar, zum Krieg und zur Regierung der Scheinwelt gehört. Aber selbst der höchste, mächtigste Gott müßte in irgendeiner Beziehung zur Scheinwelt stehen, ihr Grund, Ziel oder auch nur Gegensatz sein. Der Erwachte ist über Grund, Ziel und Gegensatz hinausgerast. Er läßt keinen Platz dafür übrig. Ob Götter in der äußeren Welt spuken oder in der eigenen Brust, – mögen sie sein. Sie sind Aufgabe, deren Lösung nicht schrecken darf. Auch sie siedeln in den fünf äußeren und dem sechsten inneren Sinn. In der Trugwelt sollen sie sogar ihre Trugwirklichkeit behalten, dort widerlegt man nicht Irrtum und Unvollkommenheit, sondern in sich. Draußen ist Raum genug für die ganze Trugvernunft, auch für ihren Tiefsinn, ihre Reife, ihre Schönheit, vorausgesetzt, daß ihre ganze Ordnung oder ihr ganzes Chaos dem Reiche der Unerlöstheit angehört.
Damit wird die Frage nach Unsterblichkeit der Seele und Ewigkeit der Welt als töricht ebenfalls in einem großartig sanften Lächeln vernichtet. Mehr als ewig leben ist leben: – jetzt. Denn Ewigkeit enthielte das Jetzt in jedem Augenblick, dieser Augenblick wäre die Ewigkeit. Und das Erwachen ist die Einschrumpfung der Welt zur Ewigkeit. Mehr als der Sieg über die Unsterblichkeit ist der Sieg über Sterblichkeit und Unsterblichkeit zugleich. Das ungeheure Unterfangen, mit der Welt fertig zu werden, ist gleich groß, ob diese von erschaffener und also begrenzter oder unerschaffener und also unbegrenzter Dauer ist. Es gilt die Seele zu gewinnen, jetzt, diesen Moment, ob sie nun stirbt oder nicht stirbt. Wird sie nicht jetzt gepackt in diesem Leben, so entschlüpft sie ins Ungewisse, Unbewachte: Tod, Wiedergeburt. Das Ich, das doch nichts ist, ist dann mitentschlüpft, ist weiterhin mit dabei; es muß aufgehalten und entlarvt werden: es ist wirklich nichts, es zerrinnt bei unbarmherzigem Hinsehen!
Der Zirkel schließt sich schnell, obwohl die ganze Sinnenwelt in ihn eingeschaltet ist. Zu allen Zeiten gefährdeten die Weisen, welche die Weltruhe aufklaffen sahen, ihr Selbst und ihren Gott. Meister Eckhart, noch Angelus Silesius neigen dazu, nicht nur ihr Christentum zu opfern; auch Christus selbst und sogar der Schöpfer Himmels und der Erden sind eigentlich verschlungen in dieser Weltruhe, der sie nun den Namen Gott geben. Die wortbepflanzten Randgebiete ihrer Erkenntnis sind häufig miteinander identisch; wer wüßte von der sprachlosen Mitte zu behaupten, ob dort nicht Meister Eckhart vor seiner Zeit in Buddho und Buddho nach seiner Zeit in Meister Eckhart hauste, beide keinem Menschenleibe angehörig und identisch? Neumann zitiert in seinen wundervollen Anmerkungen jenen Buddho, der das Mittelhochdeutsch Eckharts sprach: „Daz ist diu allernêhste armuot des geistes, wan ez ist nieman rehte arm, wan der niht en wil unde niht enweiz unde niht enhât, weder ûzwendic noch inwendic.“ „Diu hoehste, diu klâreste unde diu nêhste armuot.“ „Sîns selbes und aller dinge wüeste sîn.“ „Aller stillest stân und aller lêrest ist da dîn allerbestez.“
Die Summe: Religion ist nicht mitzuteilen. Gedanke, Begründung, Wort, Übung machen sie nicht mitteilbar.
Der Bruch des Schweigens stiftete die Weltreligionen. Sie beginnen und enden dennoch in ihren Stiftern, es bleibt dabei. Sie alle (nicht die Erfinder der Mythologien) sind wortgewaltige Redner, der größeste unter ihnen ist Gotamo Buddho. Nicht, weil der Erhabene seiner Erkenntnis lebte, hatte er viele Jünger, sondern weil er sein Erlebnis und die Hilfsmittel dazu, die magische Übung, die List mit Fasten, Einsamkeit und Enthaltung, auszudrücken wußte fast ohne Rest. Und dieses Fast sucht, quält sich noch heute, sich auszudrücken, es wächst zur Lawine, die über Weltteile und Jahrtausende rollt: die Reden des Meisters mit ihrem ordnenden Rausch, die Reflexe der Begeisterung in den Liedern der Mönche, in den Liedern der Nonnen, die Deutungen, Abschwächungen, Verdunklungen, Verfälschungen nach seinem Tode, das Gebirge von buddhistischer Literatur bis auf den heutigen Tag und was dem allen an millionenfältigem Streben zugrunde liegt. Die großen unmittelbaren Jünger des Buddho reden genau wie Gotamo. Sie haben keinen Makel außer dem ungeheuren, daß sie genau so sprechen wie er. Das Urentsprungene gebärdet sich in den Nachfolgern so, als hätte es in ihnen den Ursprung. Was aber ist da schon hinzugekommen? Verehrung, Dankbarkeit, Überzeugung, wenn nicht gar Selbstverzicht. Um diese Eigenschaften ist das Unwiederholbare vermehrt. Die schwärmerische Eifersucht der Freundschaft spricht mit. Ein Anhangen hat sich eingefunden, das doch verwehrt war. Der Ehrgeiz, der es ihm gleichtun möchte, bedroht den Meister: Wenn es zwei ganz gleiche Menschen gibt, kann keiner von beiden das höchste Exemplar Mensch sein. Der Stifter hat die Priorität voraus, und er weist die Ehrung, die ihm um dieser Tatsache willen gezollt wird, zurück: aber ein anderes ist es, zurückzuweisen und ein anderes, gemäß der Zurückweisung zu handeln, und wieder ein anderes, als Meister oder als Schüler eine Ehrung abzuweisen. Solcherlei Imponderabilien wirken durch das ganze System hinauf. So saugt es sich langsam voll Blut und Erde und sinkt in die Wandelwelt zurück. —
Ich schäme mich nicht, zu bekennen, daß mir Buddho vor allem ein ungeheures künstlerisches Erlebnis war. Das heißt, um im Gleichnisse des Meisters zu reden: ich will das Floß, das mich trug, nicht auf den Kopf heben oder auf die Schultern laden, um es nach Hause zu nehmen, sondern ans Ufer legen, in die Flut senken. Vielleicht muß ich den Strom noch oft befahren.
DAS INDISCHE MÄRCHENMEER
Drei Büßer hatten es in ihrer Askese so weit gebracht, daß ihre Mäntel in freier Luft hängen blieben, wenn sie sie darin zum Trocknen aufhängten. Als sie wieder einmal aus dem See vom Bade kamen und die Mäntel wieder schwebten, sahen sie, wie ein Reiher herniederstieß und einen Fisch fing. Der erste Büßer bemitleidete nun den Fisch und rief: „Laß ihn los! Laß ihn los!“ Da fiel der erste Mantel aus der Luft nieder, weil das Wort die Lebensnotwendigkeit des Vogels außer acht gelassen hatte. Der zweite Büßer dachte an den Hunger des Reihers und rief: „Behalt ihn! Behalt ihn!“ Da fiel der zweite Mantel auf die Erde herunter, weil das Wort gegen den Fisch hartherzig gewesen war. Der dritte Büßer sah nur an, was vorging, und schwieg. Sein Mantel blieb in der Luft schweben.
Dies ist eine Geschichte aus dem indischen Märchenmeer. Hören wir daraus nicht ein anderes Indien als das seiner volkstümlichen Religionsmythen?
Wir opfern nicht dem Gotte Wischnu, dem Vierarmigen. Wir verehren ihn nicht in seiner Wiederkunft als Fisch, als Schildkröte, nicht als löwenköpfigen Mann, als Zwerg, nicht als Rama und nicht als Krischna. Aber das weise Prinzip der Naturkraft, das tätige und erhaltende, welches er auch ist, lebt nicht mehr sein tiefsinniges Leben, wenn man den Wust von fratzenhaftem Spuk ihm nimmt, den Überschuß an Mißgeburt ihm abhaut.
Selten finden wir ein indisches Buch, das uns den Glauben an seine Götterwelt wirklich erfahren läßt, ohne daß wir doch gläubig sind. Wir ziehen überlegen die asiatische Pest, die asiatischen Tiger und Schlangen ab, die zu einer asiatischen Religion gehören, und meinen irrtümlicherweise, ihrer Weisheit dennoch teilhaftig werden zu können. Oder wir haben eine erkennende Freude an ihren sonderbaren Merkzeichen. Diese Freude ist sentimental und schmeichlerisch: sie verleiht einen bequemen Wissensstolz, um so mehr, je größer die Mühsal des Erlernens war; sie gleicht dem Behagen an bürgerlicher Ordnung, am Sammlerbesitz, – während die Freude am Wesen den Besitz immer wieder feurig aufzehrt, die Ordnung immer wieder zur strengen Aufgabe macht.
Das Katharatnakara, zu deutsch „Das Märchenmeer“, des gelehrten Jainamönches Hemavijaya läßt uns vielleicht in deutlicherem, durchleuchtenderem Wahrtraum die indische Über- und Unterwelt erleben als irgendeine der uns Laien bekannten und zugänglichen Geschichtensammlungen aus dem Lande des heiligen Himalaya und Ganga: wir erleben jene Welten rein im Kosmos der Menschen, wir kümmern uns nicht eigentlich um sie, sie lasten vom Rande her. Sie werden als erfahrenes Leben sichtbar, und die unsichtbare Fülle, der unsichtbare Zusammenhang verdichtet sich schöpferisch in Farben, Tönen, Gerüchen eines sehr bestimmten Ostens, obwohl der Geist des Zusammenhanges nicht mehr Osten ist, sondern nur ist. Er trägt die Bestimmungen des Weltalls, nicht die eines Landes und einer Zeit. Wir fühlen ganz nur das Märchen, die Verwandlung der Wahrheit zur Wirklichkeit und daher der Wirklichkeit zur Wahrheit, mag sie auch märchenhaft heiter sich selber auslegen und über die Erscheinung hinaus sich selber nicht verfolgen.
Das Katharatnakara, eingeteilt in große „Wogen“, ist in der wundervollen Sammlung „Meisterwerke orientalischer Literaturen“ bei Georg Müller in München erschienen. Johannes Hertel, dem wir für viele Dolmetschungen aus dem Indischen zu danken haben, hat es übersetzt, eingeleitet und mit erklärenden Anmerkungen versehen. Den Eindruck der gedankenhaften Welteinheit könnten wir wohl auch aus anderen indischen Erzählungssammlungen gewinnen, wie etwa der Hitopadesa oder dem Sukasaptati, dem „Papageienbuch“. Aber in dem ersten sind wir zu sehr damit beschäftigt, die julklappartigen Einschachtelungen aufzulösen und über den erdrückenden Eingeweiden an Spruchweisheit zu Atem zu kommen; in dem zweiten verläßt uns die Spannung des Rahmenromans nicht, die durch das ganze Buch fortwirkt. Am ehesten mag das Pančatantra, das „Fünfbuch“, dem Werke des Hemavijaya vergleichbar sein. Nur ist das letztere wesentlich jünger. Es entstand im Jahre 1600, ist, wie Hertel mitteilt, in gewählter Sanskritprosa geschrieben, aber, wie aus zahlreichen eingelegten Reimstrophen in anderen Sprachformen hervorgeht, von dem persischen Prosastil beeinflußt. Es ist kein Originalwerk, sondern eine Lese aus dem Schrifttum und der Überlieferung des Volksmundes. Es ist nicht darum besorgt, daß man Parallelen für Teile seines Inhaltes nachweisen, daß man den Vorwurf des Plagiats erheben könnte. Denn sein Stoff ist die Geschichte, es gibt keinen anderen, und sie ist immer und überall wahr.
Die Jahrtausende bleiben immer Gegenwart, und in ihrem Grunde verändern sie sich nicht. Jeder Augenblick trägt alle Möglichkeiten in sich, tragische, fröhliche, nüchterne, phantastische; daher fließen dem Auge des Inders die Milliarden Augenblicke in einen einzigen zusammen. Die Geschichte entfaltet sich ihm nicht in die Zeit hinaus, er teilt das ungeheure Chaos des Gleichzeitigen nicht in Wichtiges und Unwichtiges, um das Wichtige in einer Kette von Ursachen und Wirkungen den toten Chroniken zu überantworten. Die Geschichte keimt ihm gleichsam in den Raum, hinauf in den Himmel, hinab in die Hölle, ihr Gedächtnis ist das Herz und der Verstand des Lebenden. Er besitzt nicht das, was wir ein historisches Werk nennen. Alle Werke sind historische Werke. Wie sollte er den politischen und kriegerischen Verwicklungen einen Vorrang vor anderen einräumen! Weil er vielleicht geschädigt, ausgeplündert, getötet werden könnte? Um vorzubeugen, sollte er sich seiner natürlichen Freiheit begeben? Weil er aus einer abgelebten Vergangenheit sich klug zu verengern, weil er eine ungewisse Zukunft heranzulenken lernen könnte? Er würde glauben, vor den Bäumen, Wassern und Gebirgen, die an dergleichen nicht denken, sich zu verkleinern und zugleich sich ihrer zu überheben. Was irgend sich ereignen kann, kann sich heute ereignen. Es ist immer Anekdote oder Pointe: von da ab klafft das Hüben und Drüben in die Unendlichkeit. Es hat keinen Zweck, die Unendlichkeit zu messen. Das Motiv, die Variation ist die Geschichte. Die Charaktere, räumlich nahe beieinander, zählen durch ihr Dasein die Jahrhunderte und Jahrtausende mit allen ihren Möglichkeiten zusammen, erschöpfen durch die Tat das Unerschöpfliche.
Wie die Welt, die unter den Füßen, vor den Augen und im Hirne ist, einmal entstand, das hat die vedische Literatur längst erklärt. Den Gebirgen, die in der Vorzeit geflügelt einherbrausten, hat Indra die Flügel abgeschnitten. Nun ruhen sie, und die Flügel sammeln sich um sie als Gewitterwolken, sehnsüchtig nach den Stätten ihres Ursprungs. Einst war ewiger Tag, — nun nachtet es längst. Die Nacht entstand, weil das erste Weib den Tod des ersten Mannes nicht vergessen konnte und vor den Göttern ewig wiederholte, heute sei er gestorben; da schufen die Götter die Nacht, und nun vergaß das Weib den Mann und das Leid. Weit liegt das zurück, wie die Ausbutterung des Ozeans, wie der Kampf des Adlers mit der Schlange, das heißt des Himmels mit der Unterwelt. Das All ist endgültig eingerichtet, die Zeit ist gleichsam zum Stillstand gekommen, und was noch geschieht, muß in dem allumfassenden Raume beieinander hausen.
So kommt bei einer unendlichen Vielfalt des Verwandten und Widerspruchsvollen eine überwältigende Einheit des Weltbildes zustande. Im „Märchenmeer“ ist Einheit die Voraussetzung, die keiner Erläuterung und innerlichen Erregung mehr bedarf. Sie wird um so imponierender, je stärkere Belastungsproben sie durch das Sonderbare, Fabelhafte, Törichte, Abstrakte auszuhalten hat. Je bunter und zügelloser sie sich spaltet, um so unentrinnbarer rückt sie zusammen. Am schönsten ist der Sinn der Welt immer durch die Gestalt der Welt ausgesprochen worden. Denken wir an den völligen Gegensatz zu Hemavijaya etwa in dem herrlichen Perser Mewlana Dschelal ed din Rumi. „Als das Vorbild der Wahrheitsforscher hienieden, der Reinen, – ist Mewlana geehrt bei den Großen unter den Völkern und den Kleinen, – den Vornehmen und Gemeinen, – es ist sein keusches Herz ein Schatz von göttlichen Geheimnissen, – und sein übersprudelnder Gedanke der Platz, auf den unendliche Lichter sich ergießen – und niederfließen; — seiner Rede Anmut macht klar die Rätsel der Welt, der unsichtbaren, — sie macht offenbar – durch die Kunde des Gewissen, Klaren – den Weg zum Wesen des Wahren.“ Sein Idealismus erreicht die Einheit der Welt durch Negationen. Aber wie löscht er die Vielfalt aus? Indem er sie Stück für Stück in seinem Feuer verbrennen läßt. Er stürzt sich im Rausche durch alle Zonen, durch den Chor der Dinge, er trägt sie einzeln zu dem großen Scheiterhaufen. Sie könnten nicht nichtsein wollen, wenn sie nicht so überaus leidenschaftlich wären. Und er selbst könnte sich nicht so tief in die Entpersönlichung hinein vereinsamen, wenn er nicht so brüderlich die Gemeinschaft alles Wesens umspannte. „Ihr Muselmänner! Ach, ich kenn’ mich selbst nicht mehr, was fang’ ich an? Ich bin kein Jude und kein Christ, kein Parse und kein Muselman. – Mich bracht’ der Himmel nicht hervor und nicht das Bergwerk der Natur, Nicht Orient, nicht Okzident, nicht festes Land, nicht Ozean; Bin nicht aus Erde, nicht aus Luft, nicht Feuer und aus Wasser nicht, Gehöre nicht der Existenz noch spätern Existenzen an. Ich stamme nicht aus Indien her, aus China, noch aus Turkestan, Nicht aus dem Reiche von Irak, nicht aus dem Lande Chorassan. Von Adam und von Eva nicht und nicht aus Zeit und Ewigkeit, Gehöre nicht der Hölle und auch nicht dem Paradiese an. Kein Ort in dieser Welt ist mein, kein Merkmal soll mein Merkmal sein! Ich bin nicht Körper und nicht Geist, nur Seinem Geist gehör’ ich an.“ Kann der ausdehnungslose mystische Mittelpunkt eine noch ungeheurere Peripherie haben?
Rumi und seine dichterischen Gesinnungsgenossen freilich behandeln die Erzählung als Vorwand und zentripetal, unser indischer Mönch und seine auf Jahrtausende verteilten Zeitgenossen zentrifugal. Bei ihnen steht, kriecht, fliegt, rauscht, tönt, lacht, schwebt, droht, tötet, erweckt, zaubert, verzaubert die Einheit so universal, daß sie gesichert bleibt bis ins Spiel, bis in die Narretei, daß sie die Sachlichkeit und Diesseitigkeit noch im Ertüftelten und Jenseitigen nicht zu entbehren braucht. Den Menschen sind keine Grenzen gegen die Götter gesetzt, sie machen bei irdischem Leibe einen Ausflug am Schwanze der Himmelskuh hinauf in den Himmel, werden freudig bewillkommt und bringen sogar noch vom Geschenk des Amritakuchens etwas heim, damit sie sich drunten auch glaubwürdig ausweisen können. Die Tiere sind gegen die Menschen nicht abgegrenzt, sie reden die Menschensprache, halten Menschengericht, verkehren mit den Menschen vernünftig und freundschaftlich. Die Götter sind auch nicht besorgt um ihre Würde. Ein Gauner fischt einmal in der Gestalt eines hohen Himmelsgottes zu seinem Vorteil im Trüben; er lügt, daß er sogar das heranrückende feindliche Heer schlagen werde; der Himmelsgott läßt sich herab, die Feinde wirklich zu besiegen, damit wenigstens die Ehre seiner äußeren Einkleidung, nun sie schon einmal mißbraucht ist, nicht Schaden leide. Ein anderes Mal verwirrt die respektlose Frechheit eines Räubers eine Göttin so, daß sie die Zunge, zunächst um ihn zu schrecken, herausstreckt und, als sie besudelt wird, nicht wieder einstecken kann; da die Frömmigkeit der ganzen Stadt und alle Blumen-, Kampfer-, Safran- und Speiseopfer sie nicht zu bewegen vermögen, die Zunge in den Mund zu tun, brüllt der Strolch sie so unflätig an, daß sie ihm gehorcht und die Zunge fortnimmt. Nein, die Götter sind nicht eifersüchtig, sie sind keine hebräischen Götter, wie ja schon im Bhagavadgita der Höchste, Krischna, verspricht, sich an der Verehrung der Menschen zu freuen, an welche Gottheit sie sich auch wenden möge, – und das, obwohl seine Natur doch die achtfältige Elementarkraft von Erde, Wasser, Feuer, Äther, Luft, Sinn, Geist und Selbstbewußtsein ist. Wo ein Lebewesen wandelt, ist das Universum ungespalten, findet ein Verkehr aller Gattungen von hüben nach drüben statt, so wie der Ganga die Milchstraße ist, die auf der Erde weiterfließt. Zwischen Himmels- und Erdenbewohnern gibt es keine Wesensunterschiede, nur Unterschiede der Form und Macht durch Glück, Willen, Verstand, Reichtum, Bosheit oder Torheit. Die Seelenwanderungen, denen sie alle unterworfen sind, sind also kein Vordringen gegen das seelenhaftere oder körperlichere Prinzip, sondern ein Wandern der Persönlichkeit gegen die Erlösung von sich selbst. Anders wäre die erdrückende Nähe aller Dinge nicht abzuwerfen. Es gibt nichts Geheimes, denn in den vielen Geheimwissenschaften offenbart es sich; es gibt nichts eigentlich Fremdes, denn eine Verwandlung kann es erreichen und das jetzt noch Vertraute in den gleichen Abstand der Entfremdung versetzen. Darum gibt es auch keine Vergebung der Sünden. Die Folge davon ist allenthalben eine größere Wirklichkeit der Tat und eine größere Gerechtigkeit durch Wirklichkeit (natürlich auch in den stets mit umfaßten übersinnlichen Reichen), — Gerechtigkeit im Sinne der tapferen Lebenslust, die sich nicht wichtiger nimmt als den Weltlauf: die Sentimentalität ist objektiv. Das Endgültige des Geschehnisses in dieser Welt ist stabiliert. Keine christliche Hoffnung zapft ihm die halbe Gültigkeit ab, beläßt es im schwindsüchtigen Stande der Vorläufigkeit und Bedingtheit. Und wenn eine magische Verwandlung auch allerwegen leicht eintreten kann, so zeigt das Stadium des Nachher die gleiche Härte und Schärfe wie das des Vorher; schwimmende Übergänge sind vermieden, man rechnet nicht mit Brüchen. Eine Verkörperung reicht von der Geburt bis zum Tode, zwischendurch wandert die Seele nicht. Wie in unserer Musik bis etwa auf Sebastian Bach die Tonstärke terrassenartig durch Hinzutritt neuer Stimmen zunimmt, aber nicht innerhalb der einzelnen Töne und Phrasen anschwillt, so kommt das indische Crescendo und Decrescendo durch das Versetzen in neue Figuren und Erscheinungen zustande. Ein Schachspiel mit Dingen bewegt die Gedanken.
Daher sind die Dinge häufig schon die Gedanken. Sie haben ihre Materialität als Reales und ihre Idealität als ebenso Reales. Der schauernde Feigenbaum in der Nähe eines Verbrennungsplatzes kann die spukhafte Unheimlichkeit mit Blätterstimmen aufrauschen lassen, aber er kann auch einen redenden Dämon in seiner Krone beherbergen. Das Meeresbrausen mag einmal nichts anderes sein als das Geräusch des Wassers, ein anderes Mal tritt es als körperhafte Gestalt „Das Meeresbrausen“ ans Ufer und spricht wie ein Mensch oder Gott. Eine verwandte geistige Anschauung finden wir heute manchmal bei unserem Alfred Mombert. Die Beredsamkeit ist eine Eigenschaft und zugleich ein Wesen wie wir alle mit Armen, Beinen, Kopf und Mund. Der Kuhmord gilt als eine verbotene Untat, er fährt aber auch als ein dämonischer Parasit „Der schreiende Kuhmord“ in einen Menschen und kann wie ein teuflischer Bandwurm von einem Wirt auf den anderen übertragen werden. Diese vollwertige Erhaltung der Energie kann zuweilen etwas Dumpfes mit ergreifend faßlicher Deutlichkeit klarmachen. In einer Erzählung zum Beispiel zerschneidet der Brahmane Bhudhara Gurken: da sah er plötzlich in seiner Hand ein neugeborenes bluttriefendes Kindlein liegen, dem er mit seinem Messer die Kehle durchschnitten hatte; vor ihm stand eine Frau, jatnmernd, weinend, und zieh ihn des Kindesmordes. „Nicht das geringste hab’ ich dir zuleide getan, und trotzdem hast du mir mein Söhnchen geschlachtet! Wohin gedenkst du jetzt zu entrinnen ?“ Der schicksalhafte, unschuldig grausame Schlaf der Welt und das bittere Erwachen überfallen den Sterblichen, und beide haben recht.
So tragen sich allerlei Härten und Grausamkeiten zu, nackte Feststellungen werden gemacht, um die Entschiedenheit des Sichereignens nicht zu schmälern, die rauhe Wahrheit der Erfahrung mit keinem Scheine zu betrügen. Ein ungeliebter Mann wird von seinem Weibe in die Zisterne gestürzt. Der gewaltsamen Todes Gestorbene fährt zur Hölle, gleichviel, ob er gut oder böse sei. Ein Kind, das im Wege ist, wird ins Feuer geworfen. Leicht kann man in die Lage kommen, sich selbst zu enthaupten, sich selbst zu verbrennen. Die Hetären plündern ihre reichen Liebhaber bis aufs letzte aus und werfen sie dann unbarmherzig vor die Tür. Frauen, deren Leben eine enge halbe Gefangenschaft ist, erheitern sich an kalten, spitzfindigen Einfällen, wie sie ihre Eheherrn hörnen können, um reichlicher das irdische Glück zu genießen. Mißgunst und Habsucht bekriegen sich bis zur Verrücktheit: eine alte Frau darf sich vom Gotte des Reichtums alles erbitten, und jeder Wunsch wird erfüllt; ebenso wird ihrer Freundin alles gewährt, und sie verlangt nun immer das Doppelte von dem, was die erste erhalten hat. Diese wünscht sich schließlich in ihrem Zorne, auf einem Auge zu erblinden, und als die andere wieder betet: „Gib mir das Doppelte von dem, was du der Buddhi geschenkt hast“, – verliert sie das Licht beider Augen.
Weil Verhängnis und Leidenschaft so gnadenlos walten, ist übel dran, wer gleichsam gezeichnet auf die Welt kommt. Wer arm ist, gilt für so gut wie gestorben. Daß er durch Edelmut oder Geduld die Widerwärtigkeit überwinden könnte, erscheint als heuchlerische, höhnische Verlogenheit der Besitzenden. Man pfeift auf solcherlei ethische Tröstung. Man verschließt die Augen nicht und sagt es frei heraus: ein armer Mann ist so viel wie ein toter Mann. Zu oft hat man das Elend und die Zerstörung der Armut gesehen und läßt jenen Ausspruch darum wie einen Refrain unablässig wiederkehren. Nicht viel besser ist der Dummkopf gestellt, und dem reinen Toren wird der pfiffige oder wenigstens drollige unreine Tor vorgezogen. Der hoffnungslos Einfältige aber muß es büßen, daß er geboren ist, und er hat für gutartigen, gelegentlich auch beißenden Spott nicht erst zu sorgen. Erregung ist nicht vonnöten, denn wer kann gegen die Logik des Einmaleins etwas tun? Aufregung deswegen wäre so überflüssig wie, nach der sprichwörtlichen Wendung, Zitzen am Halse der Ziege. Etwas glücklicher ist der nur partiell Gezeichnete daran. Aber es hilft nichts: ist ein Mädchen einmal die Frau eines Barbiers oder Gärtners geworden, so verfällt sie der Nachrede, eine Kupplerin zu sein. Schwangere Frauen haben absonderliche Gelüste; werden diese erfüllt, so mögen sich weitschweifige, fatale Verwicklungen ergeben.
Der lustigsten Beweglichkeit in dem dichten Gewebe des Weltzusammenhanges erfreuen sich die frechen und raschen Schelme. Wer ein Eulenspiegel ist, gefällt selbst den weltabgeschiedenen Asketen. Seine Überlegenheit wird gern anerkannt, selbst wenn seine Streiche keinen anderen Sinn haben, als ihn und andere sie erleben zu lassen. Listen, Pfiffe und Schliche stehen hoch im Preise. Witzbolde, Unverblüffte, Schnellentschlossene, Männer des schlauen, überraschenden Einfalls sind die eigentlichen Helden der Erde.
Fast sind sie schon eines Grades mit den „Klugen“, welche im Volksurteil den obersten Rang einnehmen. Was von den Indern als Klugheit gerühmt wird, hat mit Stärke der Vernunft und Folgerichtigkeit oder Leuchtkraft des Denkens selten etwas zu schaffen. An einem entlegenen, schwer entdeckbaren Punkte die Auflösung der verknäulten Fäden des Schicksalsmarionettentheaters zu finden, den Witz des Zufalls aufzustöbern, die Anekdote zu inszenieren, die das Einerlei zum Märchen verzaubert, die Taschenspielerei, die den Ganga gleichsam wieder in die Milchstraße zurückfließen läßt, oder ein (übrigens oft gerühmtes) Kunstschützentum nach einem Gehörsziel, oder die Meisterschaft, die einen sechzehnjährigen Elefanten, nach täglicher Übung von seiner Geburt an, vom Boden hochzuheben weiß, oder der Besitz geheimer Lehren und Systeme, – das zu preisen werden die Geschichten der östlichen Märchenmeere nicht müde.
Nach alledem ist die ungeheure Bedeutsamkeit zu verstehen, die dem Worte beigemessen wird und ganz besonders dem Dichterwort. Freilich nicht dem Dichterwort, das in irgendeiner Weise das All nur wiederholt, es also beseelt, besingt. Dies wäre überflüssig, wäre tautologisch und pleonastisch. Es handelt sich um die geistreiche Prägung, die geschickte Erfindung, denn sie vermehrt die Anzahl der vorhandenen Konstellationen, sie überwindet Schwierigkeiten und Verlegenheiten und nimmt insofern an dem Verkehr und der Verknüpfung des Gesamtinhalts der drei Welten teil. Das Wort ist die zweite Hälfte der Welt, es kann ihren Bestand unerschöpflich vergrößern und vermannigfachen. Es strömt von Geschichte, es vollendet im Nu, was die langsamen Jahrhunderte mühselig herabschwemmen. Es hebt die Zeit fast auf, indem es seine imaginäre Zeit ausbreitet. Es überwölbt mit seinem traumhaften Raum den empirischen, der vor ihm einschrumpft. Ist die Rede eine Göttin und das Meer ein Gott, kann aus dem Wort nicht dergleichen Dinglichkeit unabsehbar hervorgehen? Können wir uns ohnehin nicht nur dann verstehen, wenn wir uns nicht wörtlich nehmen? Ist das Wort nicht mehr als eben nur Wort? Tu, was ich dir sage! Wortgetreu ausgeführt ist es eitel Narrheit! Nicht die konsequente, äffische Nachahmung, sondern die sinnvolle fruchtet. Also: hat das Wort nicht ein unabhängig eigenes Leben wie ein Lotos, eine Schlange oder ein Dämon? Erhärtet es nicht durch seine gespenstische Realität die merkwürdige Irrealität des Kosmos der Dinge? Ein Hirte erfreut sich am Spiel einer Schauspielertruppe; zum Dank verspricht er dem Direktor eine Büffelkuh und einen großen Stier; als er sie hergeben soll, sagt er: ich habe sie gegeben, ich habe sie gegeben wie du dein Schauspiel! Deine und meine Gabe waren kein Trug. „Du hast meinen Augen eine Freude bereitet und ich deinen Ohren: wir sind quitt!“ Ein Scherz, eine Gaukelei für uns – nicht für den indischen Geist. In einer Novelle vollbringen fünf richtige Antworten das Naturwunder, einen Mangobaum aus der Dürre zu erwecken. „Bei der ersten Wahrheit entstand ein Schößling, bei der zweiten wuchsen Blätter an ihm, bei der dritten Äste, bei der vierten Knospen und bei der fünften reifende Mangofrüchte.“
So heißt es denn, daß sich die Bösen durch eine gute Erzählung für gewöhnlich von der Sünde wenden. Ein verurteilter Dichter kann sich durch eine gelungene Strophe vom Tode freikaufen. Es ist möglich, durch Nichtwissen einer gewandten Antwort zu sterben, durch Wissen aufleben zu machen. Geschickte Dichter werden fürstlich belohnt mit Silber, Gold, Edelsteinen, Perlen, Geschmeiden, kostbaren Gewändern; ja, sie erhalten, nach der Silbenzahl der Strophen bemessen, Rosse, Elefanten und Dörfer. Gaben sie doch in wenigen Zeilen vorher den Tiefsinn der ganzen Welt! Oft handelt es sich darum, zu den vorhandenen drei Vierteln eines Achtzeilers das letzte Viertel zu finden, das eine Weisheit, eine Schwermut enthält, worin die schale Flut des Alls sich ballt. Ein König sagt: „Hab’ viele herz’ge junge Frau’n, Verwandte, die mir hold sind, Darf Freunden, darf den Dienern trau’n, Die gern in meinem Sold sind. Mir lärmt der flinken Rosse Schar, Die Schar der Elefanten...“ Und der Dichter vollendet: „Und schließ’ ich nur mein Augenpaar, Ist gar nichts mehr vorhanden.“
Bei solchem Ernstnehmen des Wortes hat es nicht nur die pathetische Bedeutung unserer abendländischen Poesie, sondern die Gewalt eines Vulkanausbruchs, wenn die Erde spricht: „Nicht die Gebirge sind mir zur Last, und nicht zur Last sind mir die Meere: zur größten Last aber sind mir die Undankbaren, zur Last diejenigen, die das Vertrauen mißbrauchen.“
In tausend Vermummungen, in profanen Bibeln der Schelmerei, der Laune, des Schmerzes, der Fabel von Bettelsack und Königsprunk gebären sich die unendlichen Motive des Lebens wie Buchstaben, Silben, Sätze einer unvermummten sakralen Bibel. Die vielen Arme, Köpfe und Brüste der indischen Geister sind uns plötzlich nicht leichte, phantastische Ungezieferbrut einer zuchtlosen, willensschlaffen Tropenüppigkeit, nicht die schöne und grinsende Angst der Urwaldgehirne im Kopfe der Scholastiker. Viele der schlichten Motive sind zu uns westlich weitergewandelt. Im Katharatnakara taucht beispielsweise der Amphitryon auf oder der ohne Wissen im Bordell seiner Tochter beiwohnende Vater, — Maupassant gestaltete das auch. Wir klagen, daß unsere heimischen Literaturen neue Motive nicht mehr erfinden, sondern daß sie nur noch begründen. Wir klagen zu unrecht: die indische Erfindung ist ja Begründung, Erforschung, Psychologie, Komposition des Zusammenhanges der Welteinheit. Die den Erzählungen angehängten frommen Lehren schließen die Erzählung nur scheinbar ab, in Wirklichkeit dichten die hundertspältigen Volksbücher auf unkausale Art über den kausal geschlossenen epischen Epigrammen ein einziges Riesenepos, gigantischer als das Mahabharata.
BESESSENE
I. KLOSTERMENSCHEN
Tötet die einsame Zone in den Menschen, und ihr habt die Menschen getötet! Immer wieder seufzt oder stöhnt diese Empfindung auf in einer Zeit, die in irgendwelchen kollektivistischen Gedanken die Erlösung vom Übel sieht, während doch alle jene Gedanken höchstenfalls die beste Vorbedingung für die Erlösung bieten können. Wer einen solchen Gedanken fand, wer ihn zum System ausbaute, der mag die menschliche Freiheit erringen; wer ihn nur erleidet, gleichviel ob willig oder unwillig, dem mangelt zur Freiheit vielleicht nichts — außer einem solchen Gedanken. Man erlaubt, für Nationalismus oder Kommunismus oder Expressionismus oder Individualismus — denn auch der ist als Verkündigung gleichsam die Kollekte zu einer imaginären Kirche – zu schreiben, zu wirken, zu töten und zu sterben, nur nicht, diese Ideen zu leben. Man erlaubt, für sie zu leben, und das ist beinahe das Gegenteil vom Sie-leben. Man ist so eiferisch und rachsüchtig, daß der, welcher sich und die Welt in der Regelbefolgung eines Bekenntnisses nicht erschöpft glaubt, lau, selbstsüchtig, feindlich gescholten wird. Aber es gibt keine Einsamkeit in Lauheit, Selbstsucht, Feindschaft. Man verwechselt sie mit dem bloßen Alleinsein: dieses kann Feigheit, Flucht aus der Verantwortung und ins Behagen bedeuten, und ein heimtückisches Anfallen der Feinde, die offen geschont wurden. Aber sind dann abseits nicht alle die Geschäfte und Gestalten da, die draußen und im Lärme waren? – Einsamkeit kann nur der Bezirk im Menschen heißen, in dem die Welt zur Kugel wird. Bei manchen ist er klein, bei manchen fehlt er vielleicht ganz. Er schließt ein Gemeinschaftsleben nicht aus; ja dieses kann ihm fördersam sein. Und, um den Kreis der Widersprüche zu vollenden, immer haben die stärksten Einsamen, falls sie nicht gerade Künstler waren und das Bild ihrer Welt gestalteten, Methoden empfohlen, durch deren Befolgung die besten Bedingungen für die Entdeckung der einsamen Zone geschaffen würden, und für die Beglückung durch sie. Es gibt keine Einsamkeit ohne Gemeinschaft; doch ist es denkbar, daß, wo sich ihr Wesen dem Genialen nähert, die wesensgleiche Gemeinde, in deren Mitgliedern sie mit der gleichen Stärke der Gegenwart wie bei ihrem Urempfinder empfunden würde, sich auf Jahrhunderte verteile. Bei religiöser Genialität jenseits von Dogma und Kult wird das immer der Fall sein. Doch gerade hier haben Dogma und Kult und ihre Verfassungen die Genialität immer wieder massenhaft zu erzwingen versucht. Je ernster sie es taten, um so phantastischer, mechanischer, wunderlicher sind die Wege ihrer Bemühungen.
Davon gibt ein verdienstliches und interessantes Buch Zeugnis, das von Johannes Bühler im Insel-Verlage zu Leipzig herausgegeben wurde. Es heißt „Klosterleben im Mittelalter“ und versammelt eine ungemein reichhaltige und vielseitige Auswahl aus zeitgenössischen Chroniken, Verordnungen, Briefen und anderen Dokumenten. Benediktiner, Zisterzienser, Augustinerchorherren, Reklusen, Franziskaner, Klarissen, Dominikaner legen in biographischen und protokollarischen Berichten Zeugnis von den Geschicken ihres Mönchstums ab. Ungerechnet ein paar Seiten aus Tauler und Seuse, enthält es nichts Religions-Nahes. Die Religion ist hier nicht vorhanden, ein wüster Raum für sie nur ausgespart. Eine ungeheure Kraft müßte die ungeheure Schwäche, die sich hier vor unseren Augen durch ein Jahrtausend schleppt, rechtfertigen, eine ungeheure Gesundheit diese ungeheure Krankheit, eine ungeheure Summe seliger Verzückung diese ungeheure Summe unseliger Hysterie.
Ist es gerecht, die schönen und herrlichen Nebenwirkungen des Mönchtums zu summieren, die Bauwerke, die Kunst, die Wissenschaft besonders der Dominikaner, den Erwerb an Macht – um die geheimnisvolle Seligkeit, Gesundheit und Kraft zu erkennen, die dieser Dinge nicht gedenkt, sich in ihnen vorübergehend vergißt?
Zuerst gab ich mich der historischen Spielerei hin: dies war dann und dann, dies geschah dort und dort, in dieser und dieser Weise. Aber wer im Klosterleben selbst nicht sein Genügen fände, soll der sich an den Bildern des Klosterlebens genügen lassen? Darf er, von seiner eigenen Zeit bedrängt, nicht weiterfragen? Das Grauenvolle, Gespensterhafte erhob sich aus den Seiten der Chroniken. „Nah ist und schwer zu fassen der Gott.“ Die das wußten und danach handelten – wer vermöchte von ihnen Kunde zu geben? Vor uns erstehen die Widerstrebenden, die Zuchtmeister, die Eingefangenen, die Gaukler.
Vortrefflich erdacht sind die strengen Mittel, um die Willigen dem nahen, dem schwer zu fassenden Gotte zuzutreiben. Wir hörten oft davon. Das ganze Wesen wird etwa in ein Bad des Schweigens getaucht. Wilhelm von Hirsau berichtet, wie ein immerwährendes Sprechverbot nicht bloß für die Kirche, sondern auch für Schlafsaal, Speisesaal und Klosterküche bestand. Gemeinsame, laute Gebete. Psalmen in regelmäßigen Stundenrhythmen durch Tag und Nacht. Kein persönliches Eigentum, kein privates Kleid, kein privates Buch. Wir hörten davon, aber nun hören wir es hundertmal hintereinander und vernehmen es. Ergreifend wirkt die Nachricht, wie in Hirsau jeder frisch in die Klausur getretene Jüngling seinen Hüter mit einer Laterne hat, der ihm überallhin folgt, zu jedem Bedürfnisse, und der selbst seinen Schlaf bewacht. Dazu die Sphäre von Gemeinsamkeit mit ihrer erleichternden Wucht, der Verhärtung der Gesetze durch ewige Wiederkehr, dem Blicke gleichsam in ein hundertfaches Spiegelbild.
Klug und gut sind die Gelübde und Regeln für die gewaltigen Seelen, spitzfindig, folternd, nutzlos für alle übrigen. Wie unheilig waren die meisten Heiligen! Erschütternd ist die stumme Sehnsuchtsklage der armen, wenn auch nach eigenem Entschluß verfolgten Menschentiere. Ein wenig bessere Nahrung, ein wenig schönere Kleidung, ein etwas weicheres Lager, ein Weilchen mehr Entspannung, das scheint der eigentliche und natürlichste Lebenskampf der meisten Mönche gewesen zu sein. Man muß es schließen aus den allenthalben und immer von neuem wiederholten Speise- und Kleiderordnungen, aus der allgemeinen Bewunderung der Einschärfer, der Reformatoren, der Unerbittlichen auf diesen Gebieten. Der Zweck, durch Abgeschlossenheit die ewigen Dinge zu erlauschen, entflieht. Die Mittel bleiben um ihrer selbst willen zurück, und was sich bestenfalls aus ihnen keltern läßt, ist ein Tropfen Schwermut, Schönheit oder Narretei. Kleiner Zank, kleine Rechtsinteressen, kleiner Krieg dringen immer wieder aus den Klostermauern. Die innigen, tiefen Verkehrsformen werden unfreudig und formelhaft. Man hört das Rauschen der Gebetsmühlen. Man sieht Wollüstige der Geißel und des Aderlasses. Man begegnet den Virtuosen des für den Ewigen wohlgefällig knurrenden Magens. In der Schilderung durch ungeschickte Chronisten erscheinen zahllose Äbte als Artisten oder Chargenspieler ihrer Ordenskonfession. Eine Kraft ist häufig da, aber ihr Sinn ist tot. Spezialisten, der Außenwelt in ihrer Spezialität weit überlegen, sind vorhanden, aber in einer Weise, als hätte es gegolten, einen Zirkus für das Auge Gottes aufzurichten. Die fromme Wilbirgis trägt einen engen, eisernen Bußgürtel. „Nachdem sie ihn zwei Jahre getragen hatte, ließ er ihr Fleisch in Fäulnis übergehen. Die Wundjauche ergoß sich darüber, das wilde Fleisch wucherte darüber; man konnte den Ring überhaupt nicht mehr sehen. Nach weiteren zwei Jahren aber zerbrach er in vier Stücke, und als er von ihr fiel, da riß er unter heftigen Schmerzen viel von dem verfaulten Fleisch mit. Sie sah darin aber keineswegs den Willen Gottes oder die Folge ihrer Verdienste, sondern sagte, der abfließende Eiter habe das harte Eisen zerstört.“ — An Wundergläubigen und Abergläubischen wie an leichtfertigen Schwindlern hat es natürlich nie gefehlt. So tritt z. B. das Kapitel von Mecheln im Jahre 1464 gegen die auf, die sich rühmen, Gott habe ihnen etwas Besonderes offenbart. Solche Offenbarungen würden von gewichtigen Männern „für frivole Täuschungen und Phantastereien, ja für vermessene und verdammenswerte Einbildungen gehalten.“
So erscheint das andächtige Gemeinschaftsleben der Durchschnittlichen, der für die geistliche Einsamkeit nicht Begabten. Die Meister Eckhart sind selten, und treten sie auf, so zerglüht und zerschmelzt ihre Genialität die überlieferten Lehren. Ebenso stehen die Stifter der einzelnen Mönchsorden vor deren Erscheinung in der Welt; wer sich ihnen anschließt, ist in seiner Energie um den Wert der organisierenden Schöpfung abgedrängt; trotzdem wird für die Teilnahme an der Klosterzucht seine ganze Energie gefordert, nicht nur die tätige Anerkennung der Einsicht, daß man sich auf eine Konvention einigen müsse, daß man sich den weisesten Vorbedingungen für die geistliche Erleuchtung und Erlösung füge. Streng genommen sind die wunberbaren Bücher, die in den Mönchszellen geschrieben und gemalt wurden, die schönen Kirchen, von denen wir auch in dem Bühlerschen Buche Abbildungen finden, und vieles andere schon Zeugnisse der Abtrünnigkeit, im Grunde sind sie alle Protestantismus, Flucht in die Freiheit der Welt, aus der man entfloh. Einmal wird uns ein großer Redner geschildert, dessen Wortgewalt so unwiderstehlich war, daß er einen Erzräuber aus seiner Burg lockt, hinab in die feindliche Stadt, wo man ihn an den Galgen hängt: protestiert die Beredsamkeit als solche nicht gegen den Inhalt der Bußpredigt? – Ja, dann wäre doch keine Erweckung und Bekehrung der Seelen möglich? – Wie gern füllen die Mächte der Kunst den von Materie befreiten Raum in uns! Wie stürzt die Welt dem Weltflüchtigen nach, durch jeden Engpaß, in jede Höhle, bis in den Wahnwitz!
Trotz all der Verzerrungen, die uns aus dem Spiegel der mönchischen Vergangenheit — gewiß einem Hohlspiegel! – entgegenstarren, ist das Klosterleben voll von dem Bewußtsein und der Verehrung der einsamen Zone in jedem Menschen. Heute ergreifen klösterliche Disziplinargedanken und Disziplinarübungen außerhalb der Klausur ganze Gruppen, ganze Schichten. Aber außer den Methoden wird nichts gefordert und verheißen. Nicht bloß, wer die Methoden verwirft, sondern auch, wer sie annimmt, dabei jedoch um ihren Erlös besorgt ist, wird abgewiesen. Tragt vorschriftsmäßige Bußgürtel! lautet die Weisung. Auf die Frage: wozu? heißt die Antwort: um widerstandsfähiger, willenskräftiger, erfolgreicher zu werden als die anderen, die keine tragen. Auf die weitere Erkundigung: zu welchem Ende sollen Widerstand, Wille, Erfolg dienen? wird entgegnet: das merkst du nicht? und spürst doch Wirkungen, die ohne den Bußgürtel undenkbar wären? – Schön. Ist das aber eine Gewähr für höhere Wirkungen? Versagten nicht schon viele Bußgürtel, und gewiß blieb nur ihre Qual? Ein Beispiel. Deutschland legte sich zwar nicht den häßlichen, eisernen Bußgürtel der Wilbirgis um, aber den Bußgürtel Ludendorff, Rußland jetzt, sagen wir den, welcher den Namen des bolschewistischen Reitergenerals Budjonny führt. Wertet man die beiden nach ihrer höheren Zweckhaftigkeit, so darf man keine Unterschiede zwischen ihnen machen, muß sie beide annehmen oder beide ablehnen. Indessen sagt der kommunistisch Zukunftsgläubige auf den Einwurf: dein Bußgürtel schneidet in das eigene Fleisch und Blut! – die schwelgerische Antwort: aber zum Heile! Und dein Einwurf, der andere Bußgürtel glaube doch auch einem Heile zu dienen, begegnet er mit der entrüsteten Widerrede: aber er schindet das eigene Fleisch und Blut! – (Eine Idee, die fremdes Leben versklavt und opfert, ist keine Idee. Der Glaube, das eigene Ich sei jemals identisch mit dem Ich des Volkes, gehört zu den Offenbarungen, die jenes Kapitel von Mecheln vermessene und verdammenswerte Einbildungen schalt.)
Am schlimmsten jedoch ist der Bußgürtel als Mode. Der drückt nicht einmal. Er könnte ebensogut eine Karnevalslarve oder eine Schellenkappe sein, und die Stiftsabtei ein Warenhaus oder ein Konsumladen „Zum Garten Eden“. So trägt man jetzt die Gedanken und Künste des fernen Ostens. Man weiß, daß sie sich eignen, die Welträtsel zu lösen, man weiß, im Einsamen östlicher Geistigkeit schwebte die Welt vollkommener in Kugelgestalt als vielleicht irgendwo sonst, und da man es weiß, braucht man’s nicht zu leben, braucht nur so zu tun.
II. DER PRINZ GOTTES
Er heißt Quirinus Kuhlmann (oder Kühlmann), wurde 1651 in Breslau geboren und starb 1689 in Moskau.
Er ist ein Genie, ein religiöses Genie sicherlich und vielleicht auch ein dichterisches. Welchen Umfang sein poetischer Geist besitzt, das kann erst die Veröffentlichung seines Gesamtwerks oder doch eines wesentlichen Teiles davon zeigen. Aber schon jetzt, da ein paar Dutzend Seiten von ihm bekannt werden, überstrahlt er die Dichter, die in weitem Zeitenhofe um ihn herumstehen, fast alle. Nur Angelus Silesius und die Trutznachtigall Friedrich von Spee verlieren neben ihm von dem Zauber ihrer Stimmen nichts. Wo ist Paulus Gerhardt? Seine Herzlichkeit verödet. Die lyrische Kraft des Andreas Gryphius, der ein kleiner Vulkan schien, steigt nur als düstere Fumarole am Bergabhang. Wo gar bleibt ein hochbegabter Literat vom Schlage Hofmanns von Hofmannswaldau? Schon immer sank er in die Gruft zurück, wenn die Totengräber ihn herauslocken wollten, sei es mit einer Rezitation seiner farbigen Großartigkeiten oder seiner geschusterten unzynischen Pikanterien. Er und Kleinere seinesgleichen, ihnen ist das Fortleben zuwider! Welche unleidlich advokatorische Disposition, welche naseweis witzreiche und umständliche Antithetik des sprachlichen Ausdrucks, welche verdrießliche Unstimmigkeit im Umgang des Zeitlichen mit dem Ewigen! Nein, Totengräber, sagen sie, schweig. Laß uns die Ruhe.
Quirinus Kuhlmann fährt anders aus der Gruft. Die sie öffneten, fliegen von der Wucht seines Auffahrens beiseite und berichten nur in schüchternen Worten von dem, was sie sahen. Aber sind Walther Unus, der wenige Gedichte Kuhlmanns in einer Sammlung deutscher Barocklyrik bei Erich Reiß, und ein Ungenannter, der ein Heft mit ausgewählten Dichtungen Quirins im Hadern-Verlag zu Potsdam veröffentlicht, überhaupt die Graböffner? Oder war es Wackernagel vorher, der zwei Psalmen in seine Sammlung aufnahm? Sie alle bekennen sich nicht deutlich genug. Die Literaturgeschichte eines Jahrhunderts kommt ins Krachen und Wanken. Die Geschichtschreiber schweigen sich also über Kuhlmann, selbst wenn sie etwa den Namen nennen, aus. Er ist unbequem, er ist wahnsinnig, er ist ein Ketzer. Er ist ein Genie.
Er ist noch heute unbequem. Sein Wahnsinn hat sich freilich für die sprachkünstlerisch gleichstrebende Gegenwart beruhigt, aber ein Publikum wird er niemals haben. Er ist zu gedrängt, er verwirklicht seinen vermessenen Größenwahn in so ungeheurer Leidenschaft des Ausdrucks, daß diese Leidenschaft ihren Vater, den kranken Wahn, verschlingt und an der unnatürlichen Speise gesundet. Er ist ein Teufel in der Gewalt seiner Himmelsminne und macht es einleuchtend, daß nur ein Teufel den Himmel bis in solche Tiefen hinein erstürmen kann. Er ist ein grausamer Feldherr, gesetzt über das Heer seiner Vorstellungen, und es bleibt kein Wunder darin, daß er mit diesen blindlings gehorsamen Kriegern, deren Sold sein Blut ist, die Erde erobern wollte. Gehörte ihm nicht die Erde, da sie seinem Gotte gehörte? Einen, der mit Waffen auf Eroberung des Weltballs auszieht, nennt man nur dann irrsinnig, wenn er keinen Erfolg hat. Viele bewundern den normaleren Ausnahmefall, aber keiner ist geneigt, den einmaligen ohne Hilferuf an den Psychiater anzuschauen.
Als erlaubt gilt der zeitüberwindende Mystiker, nicht der vulkanische, raumüberwindende. Ja, vermessen spricht dieser nordische Mohamed. „Wir tunken unseren Kiel in die Ewigkeit, ein ewiger Kielmann, mit unserer Kronzahl der Engelswelt umleuchtet, und übertreffen soweit aller Offenbarungen, als die Macht eines absoluten Prinzens, die Macht aller seiner Untertanen übertrifft.“ Früh in der Jugend beginnt seine Sendung, die in einer günstigeren Weltära sich vielleicht klar als eine künstlerische Sendung erkannt hätte. „Ich schrieb des Babels Grab ein vierzehnjähriger Knabe und brach in Gottesgeist aus Babels Art hervor.“
Seine Assoziationen waren dichterisch erflogen, da er aber so allein im Hochgebirg der Sprache geboren war, und nur sich selbst als Gesellen auf den Eisfirnen traf, nahm er die Abstürze unter sich und die Blendung der Gipfel vor sich nicht als Teile des Menschenlandes. Was zur grinsenden Angst hätte werden können, wäre er ein Schwächling gewesen, die unheimliche Tragkraft der Sprache, ihre endlose Aufnahmefähigkeit für Gedanken und Gefühle, ihre grundlose Gebärfähigkeit für mathematisches Zauberspiel, für Kristall, Pflanze, Tier, Mensch und Gott, das wurde sein Stolz. Da er sich berufen fühlte, berief ihn alles. Schon sein Name, quoll auf, kroch, flog. Kühlmann! Kielmann, ein Kiel für die Ewigkeit! Ein Kühlmann des Durstes, des Höllenbrandes. Quirinus! Hieß nicht so der oberste Sabinergott? Wurde nicht Romulus also benannt? Zwar alle Heiden hatten nur ein der Hölle verfallenes Reich errichtet, – die Athener und Delier werden in höhnischem Triumphgesange angefahren, als er sie auf seinen Sturmfahrten durch Europa besucht, — aber der Name Quirinus, als der des fünften Weltreichbegründers, wird an ihm zu Ehren kommen. „Nihm ein, nihm ein durch mich den virgeteilten Rund, Und ides Element das Fürstenthum der stern, Und was weit den Begrif der Menschen übersteiget.“ „Dein Knechtchen suchet ernst den geist des Jesuels, Nach Feuer und nach Licht, im Center aller Center.“ Da er in dieses Zentrum aller noch so zerstreuten Zentren gestürzt war, wurden ihm die irdischen Entfernungen winzig.
Schwere Krankheit entzündete ihm Lichter und Visionen: Er war der Prinz Gottes! Er brach auf: in den tiefen Jacob Böhme, in das geistig freie Holland. „Alle weltlichen und geistigen Fürsten fordert er auf, ihm als ihrem König zu huldigen.“ Er ist Prophet und findet überall ein schwärmerisches Gefolge. Aber er wird ausgewiesen. Er ist in England, Frankreich, Italien. „Er reist nach Konstantinopel, um den türkischen Kaiser in eigener Person zur Unterwerfung aufzufordern.“ Er entkommt der Einkerkerung, durchreist Deutschland und Rußland. In Moskau läßt ihn der Patriarch „nach kurzem Verhör bei lebendigem Leibe verbrennen.“ (Die Angaben entstammen der Publikation des Hadern-Verlags.)
So brannte denn sein Leib sichtbar in der tragischen Flamme, in der er unsichtbar schon immer gebrannt hatte. „O lebend Liebesflamme, Die lieblichst trifft den tiefsten Seelengrund! Nun bäumst du sanft im Stamme!“ Er glühte immer in den Feuern, „in deren Glanz die tiefsten Sinngrüft licht!“ Denn:
„In einer dunklen Nächte,
Als Liebesangst beflammend mich durchwerkt,
(O Fall vom Glücksgeschlechte!)
Entkam ich, allen unbemerkt,
Da schon mein Haus die Still und Ruh verstärkt.“
In dieser Nacht, als wäre er die Gottesmutter, „erwachst du mir, Geheimster, auf dem Schoß“. Sich selbst nackt, sinkt er auf ihn. Sein Bett ist ganz durchblümt, ein Ring von Löwenhöhlen schwebt um seinen purpurnen Frieden, und Wunderdinge, daß tausend Schilde Goldes gering dagegen wären. Er und der Geheimste eilen zu Felses Höhlenhöhen, still, zum Granatmoosstein. „Das Feld ist rein. Des Wassers Schall macht alles dein und mein.“ Es ist dichterisch grandios, wie im Klange des Wassers der Gott und sein Diener, die Welt mit allem Ich und Du zum Sinne des Ohres eingeht.
So geht sie ihm durch jeden Sinn ein und prägt sich groß, schwer, atemlos im Worte nach, das sich auf der Zunge bildet. Er riecht die Süße des Weltendes – nun hat verspielt das Sternenspiel. Er sieht durch jedes Dunkel bis an das Ende, an dem es tagt. Zu warten, bis der Tag wirklich anhebt, hat er keine Zeit: er saugt ihn aus der Nacht heran und staunt. „Oh unaussprechlichst Blauen! Oh lichste Röt! Oh übergelbes Weiß! Es bringt, was ewigst, schauen, Beerdt die Erd als Paradies. Entflucht den Fluch, durchsegnet jedes Reis.“ – „Welch wesentliches Bildnis? Erscheinst du, so, geheimste Kraftfigur?“ – „Dein Will ist mein, mein Will ist dein: Vollzieh!“ – Und so weiß er viel durch das Zeugnis seiner Übersinne: „Ich bin und bin in mir selbst mir entzogen.“ Vergangenes wird wie Zukünftiges in ihm Gegenwart, greifbar räumlich. Jesu Kreuzigung geht in ihm vor sich. Der Leib empfind die Risse überall! Der Todesschweiß verjagt die Mund-Korallen! Die Sonn erschrickt! Die Toten gehn! Die Felsen stehn zersplittert! – Doch einst werden auch die Schatten der Würmer und des Viehs der Lichtwelt zugehören.
Nicht Mohameds Roß ist ihm not, um ins Paradies zu kommen, sondern Gott bricht ihm mit der Schwere des millionenfach belebten Erdballs ins Hirn. Wie soll er sich retten? Er schleudert Ausrufe, kurz, gehetzt, wuchtig, glühende Scheiterkloben. Manchmal gibt er sie aus unerträglicher Überfüllung von sich wie erbrochenen Geist. Dann kratzt er bloße Striche der Zahlenmagie wild nebeneinander an den Kopf seiner Psalmen. Einsilbige Wörter, mit ungeheuren Vorstellungen geladen, jagt er zu hunderten zusammen, gleichsam in ein Fuchsloch, und von den Worten spritzen Blitze, krachen Gewitter. Kühnste und abstruseste Bildungen, Silbenmixturen, Wortcherube und Wortscheusale fahren daher, eine ingrimmige Alchemie der verzückten Rede treibt ihren Spuk, paradox, erschreckend manchmal ein Irrationales fast zur sinnlichen Materialisation zwingend. Jehova „waristwird, wirdwarist, istwirdwar“. „Liebewig, Geistewig, Lichtewig.“ „Du Feuerluftwassererd!“ „Schwarzfinsterdunkelhart.“ „Dickdunkler Glanz.“ „Der Sturm entstürmt.“ „‚Zerhalme mich, zertreibe mich, zerläutre mich!“ „Fall, Babel! Fabel, fall! Des Abel El ist kommen!“ – Dann wiederum ist er ganz schlicht ein zartes Korn, „das du gepflanzt, das du selbst ausgegrünet“. Und klingen folgende Verse nicht fast antikisch?
„Hier seines Herz Begehr, dort sein unrechtes Grab,
Durch dies und jens; durch Mord, Recht, List, Betrug;
Durch sich, durch andere; ganz plötzlich; unverhofft;
Er suchet seine Ruh, bis das Gebein entschwunden.“
Übersetzen wir den Titel „Prinz Gottes“ mit dem Worte: Dichter, – so schallt es mehr sehnsüchtig als irr, wenn es heißt: „Sollst Gottes Ruhm befruchten und besäften!“ Oder: „Ach merke, daß in deinem Saft ich steig, Befruchtend dich vor allen Erdengästen.“
III. DER UNGLÜCKLICHE
Wessen Leben die Natur von Grund aus unglücklich zusammenmischt, dem kann sie die Begründungen seines Unglücklichseins und die Kräfte zur Verteidigung seines Rechtes, in der Welt zu bleiben und zu bleiben, wie er ist, nicht versagen: sonst höbe sie ihre Schöpfung wieder auf. Sie verschont ihn mit Unfällen und Schicksalen, welche ihn vernichten oder stärken könnten. Sie stattet ihn mit einem hellen Verstande aus, weil dieser notwendig ist, die Unvollkommenheit ringsum festzustellen und die bis zu den letzten Sternen reichenden Widersprüche zwischen dem eigenen Willen und der außermenschlichen Notwendigkeit zu begreifen. Sie tut ihm gleichsam den Gefallen, das gesamte ungeheure System des Kosmos seinethalben umzuändern: es ist nicht nur ohne faßbaren Sinn, sondern es erscheint auch zudem noch jeden Augenblick dem verfinsterten Betrachter sinnlos, um ihn zu placken, zu peinigen, zu brennen. Alle Erscheinungen, die, jede für sich, eine unabsehbare Reihe von Deutungsmöglichkeiten in sich bergen, kehren dem in die Welt Mißgeschickten nur zwei Seiten zu, die der Schönheit und die der begonnenen Vernichtung der Schönheit. Schön sind sie, um das Gefühl an sich zu fesseln und die Sehnsucht des Blutes aufzureizen, ihre Dauerlosigkeit zeigen sie, um das Gefühl herabzustürzen, zu enttäuschen, zu lähmen, zu vernichten. Das Leben verneint sich in seiner Form der Selbsterfüllung, verhüllt seine Bewegung zu neuem Leben, macht allein seinen kurzen Schritt zum Tode sichtbar. Es bleibt Vorstufe zum ewig Starren, es bleibt unvollkommen, da auch das Nichtleben vor dem Gedanken, der den Begriff der regsamen Harmonie fassen kann, eine Unvollkommenheit ist. Jeder Trost ist versagt, weil die Unmöglichkeit, Trost zu finden, der einzige Trost, der einzige durch den Daseinswust fortzerrende Faden sein muß: auf andere Weise wäre der Unglückliche in seiner reinen Kristallgestalt getrübt; es würde aus ihm möglicherweise ein heroischer Kämpfer, ein Verbrecher, ein Wahnsinniger. Nur eine Gabe frommt seiner Verfassung, macht sie sogar bemerkbar und leuchtend. Es ist die Mitgift des dichterischen Wortes, aber auch dieses darf nicht ins positiv Leidenschaftliche ausschweifen, es muß den Drang zu langsamer und gemessener Vervollkommnung in sich tragen, es darf nur im Kreise der Klage, der Idylle, der gelegentlichen lächelnden Überlegenheit dienstbar werden. Wäre der Unglückliche ein tragisches Temperament, trüge er die komische Maske, ließe er sich von fruchtbarem epischem Strome tragen –, er würde verwandelt, sagte dem eigenen Selbst ab. Vielleicht aber braucht er sogar notwendig die Kraft des Dichters, die unter den Lebenskräften die am meisten außerhalb des Lebens wirkende Kraft ist, die den Stoff aufzehrt und dennoch bestehen läßt. Er braucht sie zum Beweise seiner selbst und zum Beweise gegen die anderen, die ihn sonst als bloßen Hypochonder, als blutlosen Schwächling anfechten oder beiseiteschieben möchten.
Uns wird eben ein hinreichend umfangreiches Material vorgelegt, aus dem der exemplarische Typ des Unglücklichen aufzubauen ist. Ludwig Wolde gibt unter dem Titel „Giacomo Leopardi, Ausgewählte Werke“ im Inselverlage zu Leipzig eine Auswahl aus den Arbeiten des bedeutenden Italieners in deutscher Sprache. Viel fehlt, so der größte Teil des „Zibaldone“, jenes durch sieben Jahre fortgesetzten Aufzeichnungswerkes, ferner alle Briefe bis auf einen, ferner eine erhebliche Anzahl der Gedichte. Wohl möglich, daß sie das Bild bereichern und in Einzelheiten ändern könnten. Und geändert ist schon jetzt der Eindruck, den die Deutschen von Leopardi hatten, weil sie sich bisher fast nur an weitmaschige Übertragungen seiner Gedichte halten mußten. Woldes Prosaübersetzungen genügen, um uns die Sprachmeisterschaft Leopardis glauben zu lassen, seine Versübersetzungen genügen kaum, um uns die behauptete Vollkommenheit der Originale ahnungsweise zu nähern. Aber da sie hier nicht schweben, sinkt ihr Tönendes als Erdensatz zu Boden, es wird fest und ruhig, wir können es aufnehmen und betrachten. Der Herausgeber wünscht mit anderen Gelehrten, die sich neuerdings mit dem Dichter in ausführlichen Büchern beschäftigten, man solle Leopardi nicht weiter als den Poeten des Weltschmerzes, als vaterländischen Poeten, und was dergleichen Irrtümer mehr seien, ausgeben, sondern ihn schlechthin als einen großen Dichter nehmen. Ich bezweifle seine Größe nicht, würde den Beweis jedoch erst aus den Originalen holen können. Immer wieder ergibt es sich, daß Übersetzungen Wirkungen eines bestehenden Ruhmes sind, nicht Begründungen eines künftigen. Es ist bekannt, daß Leopardi in Italien seine Auferstehung feiert, daß er dort nun ernst und intensiv genommen wird, daß unter dem Schutze seines Geistes eine neue Zeitschrift, die „Ronda“, für die Frist ihres Bestehens eine Gruppe von Kunstneuerern vereinigte. Die ernstmachenden, formklaren, erfahrungssicheren, intuitiv wissenden Äußerungen aus dem „Zibaldone“ (Sammelsurium übersetzt Voßler dieses Wort), wovon uns der deutsche Band Proben vermittelt, bestätigen das Recht zu solcherlei Bestrebungen. Aber was uns in den über dreihundert Seiten am deutlichsten und trotz manchem Widerstreben vor der Schwäche ergreifend vor Augen tritt, ist die Gestalt eines Unglücklichen.
Er wird von seinem Vater die ersten 22 Jahre seines Lebens in einer kleinen dumpfen Landstadt festgehalten. Die Stille und Sehnsucht ins Freie meint nichts anderes als ihn. Sie übt ihren Druck nur aus, damit er sagen kann, als er sich löst: zu spät. Sie schenkt ihm Klugheit und Gerechtigkeit, damit er nicht in Weltschmerz verfalle, denn Weltschmerz als etwas allgemein Verschwommenes wäre dumm und undichterisch. Zwar trägt er in den „operette morali“ sein Leid in den Kreislauf der kosmischen Kugeln hinauf, doch, so wenig auch in den besten Fällen beim Fangballspiel mit Planeten und Fixsternen herauskommt — etwas Satirisches, etwas nur Groteskes, etwas unhandlich Ungeschlachtes für die dem astronomischen Geiste entgegengesetzte anastronomische Seele – sein Leid entdeckt droben Fragen, Zustände, Hemmnisse, Weisheiten unseres Herzens. Auch die mythologischen und makabren Phantasien blühen nur scheinbar von künstlerischem Leben, in Wirklichkeit dienen sie einer vorsätzlichen Beweisführung: seht, ich entziehe mich nicht, seht, welcher umfassenden Überschau ich fähig bin, und seht, wie sehr ich recht behalte. Alles ist eitel. Er sucht Parallelen seiner Anschauung bei den Großen der Literatur: in der Bibel, bei Homer vor allem, bei Petrarca, bei Dante. Und er übersieht nur, daß eine Summe des Verstandes, ein endlicher Weisheitsschluß nicht nackt gilt und das vorgelebte Leben auslöscht, sondern aus der Empfindung eben dieses Lebens wie ein Tropfen Bitterkeit oder Süße in einem Meere gilt. Auch Gotamo Buddho fand das Leiden bis in die äußersten Fernen des Firmaments hinein, aber er durchstrahlt, durchwärmt das All mit seinem erlösenden Lichte. Schon für den Jüngling Leopardi ist die erste Liebe eine Krankheit, die er schriftlich belauert, die keine Torheit in ihm zuläßt, deren Stadien er aufmerksam verfolgt, deren Abflauen er wahrheitsgemäß berichtet, die er durch unablässiges zärtliches Betasten tötet. Und nur, daß er dabei lauter ist, uneitel, nicht altklug, nicht geistreich, sondern klassisch zurückhaltend, läßt uns ihm zuhören. Das Schicksal spricht, weder durch Widerstreben, noch durch Ungeduld beschworen. Schicksal schwächt schon im Knaben die körperliche Rückhaltskraft: es läßt ihn den Irrtum begehen, daß er sich für einen Gelehrten hält und ein wüstes Studieren beginnt, viele Sprachen, Philologie, Philosophie — er wird kränklich, seine Gestalt beugt sich, seine Hautfarbe wird weiß und bleich, aus seinem großen Kopf mit der viereckigen Stirn dringt eine bescheidene, leise Stimme. Schicksal ist sein Bemühen, seine Verse langsam bis zur Makellosigkeit reifen lassen zu müssen. Ein kleines Gedicht beschäftigt ihn mehrere Wochen lang. Er ist dabei nicht ein Ringer wie etwa der verzweifelte Haudegen Flaubert, nicht ein grausamer, bis zum dionysischen Delirium sich aufpeitschender Ungenügsamer wie etwa Jean Paul, er ist nur ein peinlicher Wiederhersteller seiner abstehenden und abschmeckenden schmerzlichen Erinnerungen. Als Knabe schon ruft er den Tod und spielt mit ihm am Brunnen, willens, in seinen Wassern zu enden. „Dann, als das blinde Übel mich griff und schon mein Leben wankte, weint ich die schöne Jugend und die Blüte meiner armseligen Tage, die so früh gefallen. Und in später Stunde, oft, wenn ich auf dem vertrauten Lager saß und fügt’ bei schwachem Schein ein schmerzlich Lied, beklagte ich das Schweigen hin der Nacht dies flüchtige Leben, und ich sang mir selber, da ich so welkte, meinen Grabgesang.“
Die ganzen kaum dreieinhalb Jahrzehnte seiner irdischen Pilgerschaft waren ein Grabgesang. Sie wären schwächlich, abstoßend, uninteressant, wenn sie nicht so grundlos traurig gewesen wären und nicht so Gesang. Die Tatsache der Grundlosigkeit seiner Trauer befreit seine Visionen, Beispiele und Beweise vom Advokatorischen. Er springt ins Objekt, sinkt in ihm unter und wird unsichtbar. Er sieht: nicht allein die Menschen glauben, die Welt sei nur für sie, sondern auch die Gnomen und Kobolde, wahrscheinlich auch die Eidechsen und Ameisen. Aber die Welt ist für den Tod: was immer starb, die Flüsse wurden ihres Laufes nicht müde, das Meer trocknete nicht aus, die Sterne legten kein Trauerkleid an. Alles noch so Selbstbewußte arbeitet nur für den Tod. Sogar die muntere Mode vermehrt den Besitz des Todes, denn bestand dieser von alters nur aus Staub und Knochen, waren seine Liegenschaften bloß Gräber und Höhlen, so habe er jetzt Ländereien an der Sonne: Leute, die noch auf ihren Füßen herumgingen, wären von der Geburt an gewissermaßen seine Leibeigenen. — Ob krank oder gesund, er wisse, daß er die Feigheit der Menschen mit Füßen trete, sich gegen jeden Trost und gegen jeden kindlichen Selbstbetrug wehre und den Mut habe, die gänzliche Hoffnungslosigkeit zu ertragen, unerschrocken in die Wüste des Lebens zu blicken, sich nicht im geringsten über das menschliche Elend zu täuschen und alle Folgen einer Philosophie hinzunehmen, die bitter, aber wahr sei. — Bitter und wahr ist sein Eigensinn, starr zu bleiben, immer nur das Eine zu sehen: „reines Schweigen und tiefste Ruhe werden den unermeßlichen Raum füllen“. Andere täuschen sich auch nicht über den ewigen Zwang, das lebenswerte Leben entbehren zu müssen, und dennoch, sie vergessen, und sie lögen, wofern sie nicht vergäßen.
Vielleicht gab Leopardi in einer Bemerkung seines „Zibaldone“ den Schlüssel für seinen Zustand: „Für einen Menschen von Gefühl und Einbildungskraft, der, wie ich lange getan habe, ständig in Empfindungen und Vorstellungen lebt, sind die Welt und die Gegenstände in gewissem Sinne zwiefach vorhanden. Sein Auge sieht einen Turm, ein Feld, sein Ohr hört einen Glockenklang; und gleichzeitig sieht er in der Vorstellung einen zweiten Turm, ein zweites Feld, und vernimmt einen zweiten Klang. Auf der zweiten Art von Gegenständen beruht alles Schöne und Erfreuende der Welt.“ Mancher ist dem ersten Weltbilde nähergerückt, mancher dem zweiten, er scheint immer genau in der Mitte zwischen ihnen verharrt zu haben, wo die Wirkungen einander aufheben. Beide Bilder sind vollgültig und endgültig zugleich. Schrecklich wie der Mensch ohne Zentrum ist der Mensch, der überall im Zentrum bleibt.