VIERTER TEIL
GERHART HAUPTMANN
(Zum 60. Geburtstag)
Einst war der Dichter unserer Gegenwart so alt wie Wann in „Pippa“, er war hundertjährig mit der singenden Greisin in der Leierbaude des Emanuel Quint, einst war er so alt wie Florian Geyer und der arme Heinrich und Montezuma, wie Prospero, Orman und Tehura in „Indipohdi“, kürzlich so jung wie Luz und Anna: Hunderte von lebendigen Menschen bekennen ihre Jahre als die seinen, und da ihnen ein Zauberer verlieh, unter uns zu wandeln und zu atmen wie Freunde und Feinde aus Fleisch und Blut, denen wir in unserem persönlichen Schicksal begegneten, mit denen wir hausen und die wir nicht aus den Gedanken löschen können, so haben sie die Kraft, den Ort ihres Ursprungs zu verlassen, von drüben nach hüben, aus der Zeitenferne in die Zeitennähe zu kommen. Daß Gerhart Hauptmann seinen sechzigsten Geburtstag feierte, bedeutet für sein Werk keine zeitliche, sondern eine räumliche Bestimmung. Wäre es nur seine Welt, die aus ihm strömt, wir dürften es nicht sagen; unsere Welt strömt aus ihm. Wenn wir ihm aber huldigen und immer wieder glückeswarm huldigen mögen, so darum, daß unsere Welt doch die seine ist.
Er führt uns hinein, wir lernen sie Stück für Stück kennen. Fügt er Neues an, so verändert sich geheimnisvoll auch das Ältere, so wächst es an allen Enden, – nein, wir sehen, es war schon immer da. Nur bei wenigen großen Dichtern ist so an Stelle des wägenden Jünger und Älter das anschauende Früher und Später verstattet. Denn Hauptmann ist nicht nur ein gewaltiger Arbeiter, er ist ein mächtigerer Seher. Das Gesicht legt Anstrengung und Willen nicht in seine Vision, und wo Vision vorhanden ist, bleibt sie und ruht sie unantastbar. Schon manches Drama Hauptmanns hat dem Urteil, daß es minder oder besser sei, heiter widerstanden, und selbst aus dem Ruhme der Vortrefflichkeit ist manches in einen höheren Ruhm emporgestiegen, in den des selbstverständlichen Daseins. Aus dieser unwillkürlichen Voraussetzung des Daseins erwächst im Streiten, Fragen, Zweifeln und Bewundern rings um die Werke des Dichters seine Ehre. Vielleicht noch nie bei uns in Deutschland brauchte einer so verhältnismäßig kleinen Schar wie jetzt gesagt zu werden: „Mein Ruhm ist Fremder Eigentum, nicht meiner, o Telemach, Freund seines Ruhmes und nicht deines Vaters.“
Unsere Welt strömt aus ihm. Nicht nur gesunde Jugend mit Füllen-Ungeduld, auch die überhellen Dumpfen, die Narren der Künstlichkeit, die ewigen Sklaven ihrer unsinnlichen kritischen Brunst, die Spezialisten des Fortschritts mögen wohl kühl vor etwas so Ungeheurem bleiben, weil es zu einfach und, um Ereignis zu werden, zu sehr Gnade der Kunst ist. Schöpfergabe in diesem Sinne lebt befreit von jeder Beschränkung, die den meisten Menschen vom Geschick heilsam auferlegt wird, damit sie sich auswirken können. Was um sie ist, ist in ihr. Die beiden Welten, die unter unseren Füßen und die in dem lebendigen Gefäß, das unsere Füße tragen, scheinen von der Notwendigkeit entbunden, einen Unterschied zwischen sich anzuerkennen, obgleich es unter der Sonne keinen gewaltigeren, keinen stolzeren und demütigenderen Unterschied gibt. Schöpfergabe dieser Geburt fand sich seit je und je ungemein selten. Es läßt sich gewiß einwerfen, daß uns Poeten hoher und höchster Grade geschenkt waren, die sie nicht besaßen. Von dem einen wissen wir gefühlsmäßig von vornherein: dies ist ein Acker, den zu bestellen ihm beschieden bleibt auf Lebensdauer, von dem anderen: dies ist sein herrlicher Berg, den er zu erklimmen hat; versucht er auf dem Felde nebenan zu ernten, im Strome nebenan zu schwimmen, so wird sein Glück ihn nicht begleiten. Für sein Gebiet aber ist er gerüstet und geschickt, und er vollbringt darauf sein Leben; da nun wiederum ein Leben voll Ernst und natürlicher Artung alle einem Sterblichen überhaupt zugängliche Fülle bescheren kann, so nehmen wir den Berg und Acker der vorbildlichen Bergsteiger und Ackerer gern für die Welt. Schiller hatte seine Domäne, Hölderlin hatte seine. Der Dämon des ersten glühte seine frühen Dichtungen, der des zweiten seine späten zu einem so gültigen Gleichnis seiner selbst aus, daß eine Gattungsvollkommenheit darüber hinaus kaum denkbar ist. Besonders der kleine Chor der Geister, deren heimlicher Kaiser Hölderlin ist, legt auf seine Adepten leicht einen unzerbrechlichen, alles Übrige ausschließenden, magischen Bann. Der Magier einer göttlichen Wahrheit, eines heroisch süßen Dienstes und Trostes diktiert durch sein musikgleich werbendes Beispiel gesetzhaft, was Kunst, Erkenntnis und Recht sei, was nutz und was niedrig. Seine Nachfolger suchen immer nur ihn, messen nach seinem Maß, verwerfen nach seinem Gericht. Und sie dürfen in der Tat fragen: wo spricht der Geist mit heiligerer Zunge? (Übrigens gehörte Hauptmann zu den Verehrern und Kennern gerade Hölderlins in einer Zeit, als Hölderlin nur als ein Romantiker unter vielen gezählt wurde, vielleicht als einer mit besonders lauterer Seele.) Aber es ist dennoch ungerecht, von den — sagen wir ungeschlacht: homerischen Dichtern, denen die Weite und Breite der äußeren Welt in die innere wächst, wie diese in die äußere, zu fordern, daß sie wären wie die auf einem äthergebadeten Berge Siedelnden, zu welchem sie freilich den Sinn der gesamten Erde hinaufzulocken vermögen. Für die Homerischen und vornehmlich für die durch Drama, Lyrik und Gedankensysteme im Laufe der Jahrhunderte verwandelten und aus der Blindheit in die Blendung erweckten Homerischen, wandeln jene Gestalter, ohne daß ihrer Herrlichkeit in der Wertung und Dankbarkeit etwas genommen würde, als Einzelfiguren durch das All, wie Erdgeist, Ariel und Lynkeus, jeder in seiner Sphäre. Da sie die Unzahl der Persönlichkeiten darzustellen, die Vielfalt der Lebensgebärden zu überliefern haben, ist es ihre Weisheit, dem einzelnen Individuum nicht zu viel und nicht zu wenig Raum zu geben, es nicht mit Wünschen, Begierden, Nöten und Klagen einer geschichtlichen Konstellation zu überladen, es nicht mit ästhetischen Kraft- und Schönheitspulvern zu vergänglicher Stattlichkeit aufzupäppeln, es nicht mit Ethik und Metaphysik so zu überladen, daß das Geschöpf Herr über die Nebenmenschen und den Schöpfer wird. Der Geist der Figur wäre gerettet, aber die Seele wäre in Gefahr, oder die Seele blühte auf, aber söge den Leib auf, oder ein Riese an Leib und Seele erstände und verschlänge die Welt, oder ein Zwerg krankte an allem und würde verschlungen.
Hauptmann hat diese Weisheit. Sie ist nicht aktiv und nicht passiv, sie ist Natur. Wer das gefühlt hat, zweifelt nicht, daß viele seiner Personen durch lange Generationenräume ihren Herzschlag und ihre unverwelkten Züge behalten werden, daß man über ihre Rasse und ihren Wuchs von Thalia und Melpomene die verschiedensten Urteile vernommen haben wird, jedoch nicht über die Tatsache ihrer Existenz. Hauptmann gibt einmal Zeugnis davon, wie er seine Natur in Tätigkeit sah. „Dichterische Produktivität ist, wie das Atmen, halb willkürlich, halb unwillkürlich: daher beim Dichter ein Kennen und Nichtkennen, ein Können und Nichtkönnen, ein Tun und Nichttun, ein Lassen und Nichtlassen, ein Wollen und Nichtwollen Hand-in-Hand geht.“ Den Satz hat er in ein Tage- oder Notizbuch geschrieben. Er bescherte uns eben eine reiche, volle Auswahl seiner Aufzeichnungen. Mit den vielen wunderbaren und erregenden Aussprüchen, die sich darin finden, verhält es sich ebenso wie mit zahlreichen seiner Dichtungen: eben waren sie für den Aufnehmenden noch nicht vorhanden, und nun sind sie unentbehrlich. Unauffällig, unaufdringlich, lärmlos erwuchsen sie an ihrem Orte und zu ihrer Stunde, nur daß der Ort kein enger Garten und die Stunde keine Generalpause des Weltlaufs ist. Goethe sagt mit überschwänglichem Dank von der Natur: „Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst.“ Da Hauptmanns Genie nichts aus Gründen seiner Verfassung ausschließt, gilt heute für niemand wie für ihn sein eigener Elementarsatz: „Kunst macht gerecht.“ Vor der Kunst wie vor dem Gesetz seien alle Menschen gleich, heißt es in den „Ratten“. Doch gewährt das künstlerische Gesetz nicht nur Raum für alle, sondern allen Raum, jedem nach seinem Wesen. So kam denn Hauptmann, sie in seiner Arbeit immer von neuem erprobend und bewährend, einmal zu einer politischen Maxime, wie sie schlichter, stolzer, utopisch klarer keine Sehnsucht formulieren kann: „Zu erstreben? Das Volk der Einzelnen. Der Staat der Individuen. Die Geselligkeit der Einsamen. Die Herrschaft der Duldenden.“ Das Recht der Weber, der Bauern um Florian Geyer ist also, wie man ja außerhalb der ideennivellierenden Parteien längst eingesehen hat, nicht bloß die berechtigte Tendenz der Gequälten, Betrogenen und Ausgesogenen, sich selbst zu helfen und Joche zu zerschmettern, sondern letzten Endes jenes Land der Einzelnen, Individuen, Einsamen, Duldenden. Das Ziel ist für jeden, der unverkürzte Mensch zu werden, der er ist! Unrecht und Unheil von außen, Geblüt, Traum, Hochmut und Trägheit von innen machen ein einmaliges Zufallsspiel aus ihm: zu zeigen, daß die Einmaligkeit und der Zufall dennoch nur Schein sind, das ist auch die Gerechtigkeit des Dichters. Gewiß hat die Mehrzahl der Hauptmannschen Gestalten eine unwiederholbare Eigenheit und Selbstheit, allein diese ist so schrankenlos vorhanden, daß dadurch die Einmaligkeit wieder aufgezehrt wird. Bei Bekannten unseres Verkehrs denken wir nicht mehr daran, daß sie nur für dieses einzige Mal in der Genauigkeit ihres Sein-müssens von der Erde getragen werden und nie vorher und nachher in der Unendlichkeit des Universums vorkommen können, sie spinnen an dem Gespinste unserer Welt, und obwohl auch die eine Einmaligkeit ist und bleibt, so haben wir keine Vielmaligkeit außer ihr. Nach diesem Gesetze des Auges erkennen wir die Allgemeingültigkeit extrem besonderer Personen Hauptmanns: wir erinnern uns nicht eines Fuhrmanns Henschel, nicht einer Frau Wolff, nicht eines armen Mädchens, das Hannele gerufen wird, sondern der Fuhrmann Henschel, die Mutter Wolffen, das Hannele trifft mit uns irgendwie im Raum unserer Vorstellungen zusammen und besinnt sich gleichsam ebenfalls darauf, daß wir von ihrem Gehaben und Erleben ja wissen. Schluck und Jau sind zu sehr da, als daß wir erst eine symbolische Abstraktion für unseren Besitz und unsere Anschauung des Schnurrigen an ihnen vornähmen. Sie leben das verbreiternde Symbol in ihrer unsymbolischen Entfaltung gleich mit. Das Vielfältige zeigt sich in uns zugleich einfach ohne unser Zutun. Hier liegt die Wurzel des Volkstümlichen in Hauptmanns Gestaltung. Wir geraten gar nicht auf den Gedanken, die am Ereignis seiner Fabeln Beteiligten könnten einem Gehirn entkeimt sein, – ihr Um und An, ihre Landschaften, seelischen und sozialen Verhältnisse sind doch die unseren? Folglich werden diese Relationen von unseresgleichen erfahren! Wie, auch die Umgebungen und Verwicklungen wären von Gehirnkräften erzeugt? Aber die Menschen, die hineinversetzt wurden, sind doch von Fleisch und Bein, – demnach leben sie nicht in abgespiegelten Räumen, psychischen und gesellschaftlichen Bezirken! Der Zirkel ist geschlossen. Bei Hauptmann ist die Gefahr der zerbrochenen Illusion fern durch Nähe der Illusion. Seine Stücke enthalten fast nichts, was dem medialen Vollzuge durch die Auftretenden unerreichbar bliebe. „Vor Sonnenaufgang“ hat noch nicht alle Beziehung zu der privaten Persönlichkeit des Dichters abgebrochen; allerlei Züge betonen sich dort noch zum Werke hinaus – nicht bloß in den ausführlichen Theorien des Doktors Schimmelpfennig. Umgekehrt jedoch: wer glaubt, daß manches herrlich kräftige Wort im „Florian Geyer“ zum Beispiel Schertlins von dem historischen Schertlin von Burtenbach genau so geschrieben worden ist, bevor er es mit eigenen Augen in dessen Chronik gelesen hat? Zweimal derselbe Satz, – das eine Mal naturalistischer Stoff, das andere Mal geprägte Form. Die Figuren Hauptmanns sind Komplexe, die im Grunde vom Anfang bis zum Ende, von der Höhe bis zur Tiefe der sie enthüllenden Werke reichen und von der ersten und letzten Seite eingegrenzt werden, mögen sie auch erst auf der zwanzigsten sichtbar werden und auf der fünfundzwanzigsten verschwinden. Er zeichnet selbst einmal die vielfältige Bewegung eines auf seinem Schiffe Fahrenden nach: erstens würde dieses vom Wasser geworfen, zweitens habe es die Richtung einem Ziele zu, drittens bewegten sich die Passagiere ununterbrochen umeinander, gegeneinander, miteinander, und viertens habe jeder von ihnen sein Reiseziel. An einer Stelle der Erzählung „Aus dem Tagebuche eines Edelmannes“ läßt der Dichter seinen Memoirenschreiber über die Unerschöpflichkeit des Lebens auch nur eines Menschen staunen und ihn resignieren; man könne, um zusammenhängende, übersichtliche Formen zu erreichen, kaum mehr tun als der Chemiker, der einen Faden in eine gesättigte Lauge tauche, damit sich Kristalle daran absetzen. Hauptmann hat vor einem solchen Überfluß nicht nötig, eine sparsame Auslese von Motiven zu treffen und das Gewählte durch betonende Komposition in wirksames Licht zu setzen, durch Wiederholung künstlich zu steigern und die Stimmung aufzufrischen, als würde ein verkohlender Docht geputzt und neu angezündet. Um nur einige willkürliche Beispiele unter zehntausend zu nennen: der Keuhengst, das gespenstische Pferd in „Anna“, wird nur einmal erwähnt, während es sich die meisten anderen Poeten nicht versagt hätten, bei fortschreitendem Unheil auf den Aberglauben zurückzugreifen; Käthe Vockerat in den „Einsamen Menschen“ sticht sich, an ihre Ratlosigkeit sinnlos verloren, mit der Nähnadel mehrmals in die Haut – es bleibt ohne Konsequenz, weil es Konsequenz ist; der arme Heinrich sieht sein durch Vetter Conrad veranstaltetes eigenes Begräbnis in Constanz, und Flocken Feuers von den Fackeln sengen ihn – es ist nicht ausgeschlachtet, in leuchtender Sachlichkeit wächst das unheimlich unerträgliche Leiden, sichtbar und faßbar werdend, gleichsam immer erneuert und immer aufgehoben, es ist Platz da für den vogelgleich zwitschernden gefrorenen Schnee, es ist Muße da für die Augen- und Ohrenweide des milchweißen Araberbluts, das „klingelnd unterm Zeichen des Propheten, umhüpft von güldnen Monden“, seinen Weg schreitet, bis groß und morgenländisch ruhig am Schlusse das Wort ertönen darf: „Es steht im heiligen Koran geschrieben, daß nach dem Schweren auch das Leichte kommt.“ Andere Motive wiederum umfassen soviel, daß Hauptmann mit der gleichen grandiosen Unbefangenheit ihr Maß vollaufen läßt, wo andere eine monotone und übersättigende Wirkung und das Versagen des künstlerischen Beharrungsvermögens fürchten würden: Der Schiffsuntergang in „Atlantis“ währt über Hunderte von Seiten, und was an dem Buch auch ausgesetzt worden ist — Verlegenheit, Hast, Absicht, Übertreibung, Lässigkeit, Störung und Bevormundung des sich bereitenden Schicksals wird man in der Durchführung dieses Themas schwerlich finden. Eine Parallele dazu in unserer und den fremden Literaturen wohl auch nicht. Das gleiche, in ganz hohe Sphären der Kunst übertragen, gilt von dem Wandel Emanuel Quints, welcher der eine einzige Schritt in das Göttliche hinein ist und doch ein ausgebreitetes, allenthalben real stichhaltiges Menschenepos ohne Abschweifung, ohne Stillstand, ohne Hemmung wird, und dies trotz der eminent erschwerenden Parallele zum Leben Jesu. Möglicherweise verbarg sich auch in einem Lustspiel wie den „Jungfern von Bischofsberg“ vielen Zuschauern jahrelang der Aufbruch zu einem Reigen „ins Blaue, ins Dunkle, ins Weite hinein, ins Ungewisse der Himmel und Meere“ darum, weil die Anstalten zu einem solchen Reigen nicht geübt und eingeprägt wurden, vielmehr aus den Vorgängen ein Wille zu größeren Themen zu deuten schien. Doch gerade bei einem, wie die Kritik sagt, in der Durchführung problematischen Stücke ist die Frage nach der Beschaffenheit des eigentlichen Themas interessant. Was ist dieses eigentliche Thema? Schon darauf läßt sich nicht mit einem Worte dienen. Daß der Vater Ruschewey Organist am Dom zu Naumburg war und den Sandsteinbildern seine Fugen spielte, gehört dazu, ferner, daß Sehnsucht Sehnsucht ist, und die Wirklichkeit stets etwas anderes bleibt, ferner die Gepflogenheit der Gespräche über Kunst; die Waffensammlung im alten Bischofshause, das Tagebuch, die Weinlese mit Pistolenschießen, das Pfeifenrauchen Ruscheweys, ferner das Geigenspiel, ferner, daß Ludowike für sich allein auf dem Wäscheboden tanzt, ferner die friedliche Melancholie der Betrachtung: oh, um wie weniges tiefer liegen die Toten als wir (in den Aphorismen findet sich derselbe Hinweis), ferner das Sichregen des alten Dionysos im Weinberg, weiter der verödende Laubfall von den Bäumen, die anachronistische Süße, das unschuldig Stille, das Verwunschene – – man bräche zu früh ab, wenn man irgend etwas in dem Buche überschlüge. Wie gründlich oder wie obenhin durchgeführt, das Thema ist das Ganze.
Diese Weise Hauptmanns, alles Leben durch den ruhelos endgültig, aber ohne Ende sich verleiblichenden Begriff seiner selbst zu begreifen, wurde mir nie so zaubervoll ergreifend klar wie im Herbst 1921, als ich bei ihm auf dem Wiesenstein in Agnetendorf seine fragmentarischen Arbeiten kennenlernen durfte. Der Reichtum an skizzierten, begonnenen und schon weit vorgerückten Dramen und Erzählungen ist unwahrscheinlich groß. Vor das frohe Licht, das immer über gestaltetem Dasein waltet, legte sich zuerst ein Schatten. Hauptmann litt unter der Vorstellung der Todeskrankheit seines Freundes August Gaul. Die Wärme seiner Liebe rang in und hinter allen Worten, trauervollen, gütigen, heiteren, gegen das Unabwendbare auf, den ganzen Abend über. Die Feuerseelen des Holzes im Kamin sprangen abseits und ergriffen die beiden marmornen jungen Bären rechts und links, Schöpfungen Gauls. Hinter großem Hallenfenster reiste ein himmlisches Floß wagerechter Gewölkbalken am nüchtern harten Herbstmond vorüber. Letzte Herbstrosen neben den Weingläsern. Obgleich Hauptmann freudig offen war jeder Verwandlung des Gefühls und Geistes und aus jeder die Fülle spendete, obgleich Frau Margarete Hauptmann mit beseelter Leidenschaft und ihrer schönen, scharfen, leichten und vollen Genauigkeit des Teilnehmens und Wirkens bereit war, bei ihrer Kunst, der Musik, bei ihrer Kunst, dem Dichter Saadi und Dschelaleddin Rumi, bei ihrer Kunst, der Gegenwart, zu verweilen, obgleich ich mich unter diesem Dache εἰς ἀγαθόν δαίμονα und in seine Huld und Hut gegeben spürte, rührte mich etwas von der Stimmung an, die in Hauptmanns epischer Szene „Das Fest“ umgeht. Dort finden sich ein paar alte Gefährten zu einer Feier der lebensgefestigten Nachdenksamkeit, der schwermütig lächelnden Überschau, der sonnigen Totenfeier vor Erfahrungen und Erinnerungen in einem Gemache zusammen, das einem Refektorium gleicht; Herbst, Gebirge, Herdenglockenlaut geistert draußen. Große silberne Weinkrüge werden aufgetragen. Um die Lichterkrone aus blankem Messing sind letzte Rosen gelegt, weiße und wenige rote, von denen ab und zu eine auf den Tisch herunterfällt. Und unterweilen stellt sich das Wissen ein: „Das Leben enthält ja doch alles, auch den Tod, und der Tod ist ja nur die mildeste Form des Lebens“ – hier steht das Kramerwort ein zweites Mal. – Hauptmanns andächtige Sorge um den kranken Freund hatte den stummen Duft dieser Worte mir an jenem Abend beschworen. Dann kam ein Morgen und weitere Morgen und Tage mit der bestürzenden Freudigkeit menschgeschaffener Kreatur. Der Dichter entnahm Schränken, Schüben und Truhen seine angefangenen Werke und durchmusterte sie; ich hatte ihm die Bitte überbracht, das eine oder andere zur Ergänzung der vollendeten bekannt zu machen. Wer ihn jemals, ihm nahe gegenüber, hat lesen hören, der hat über das Wesen der poetischen Kunst etwas Letztes und Unverlierbares erfahren. Etwas von dem ist darin, was Goethe (in der Campagne in Frankreich) als das Schöne erklärt: der Anblick des gesetzmäßig Lebendigen in seiner größten Tätigkeit und Vollkommenheit, der uns zur Reproduktion reizt und uns dahin bringt, uns gleichfalls lebendig und in höchste Tätigkeit versetzt zu fühlen. Nämlich auch das Vereinzelte, möglicherweise Unvollkommene und Träge seiner Figur wird gesetzmäßig, vollkommen und höchst tätig durch die äußerste Entschiedenheit, mit der die Stimme und was sie lenkt, sein Recht anerkennt, so sehr anerkennt, daß sie es unverletzt wie etwas Kostbares aufhebt und es mit seinem eigenen Spiegelbilde tröstet. Das heißt, ihm ist nun eine Seele eingehaucht, und Seele hebt immer die Vereinsamung auf, weil sie der alles Beseelte umgebende, gemeinsame Einsamkeitsäther ist.
Abgekürzt formuliert Hauptmanns Lesen irrational im jeweiligen Beispiel, was er mit seiner ausgeführten Lebensarbeit von jeder Formel erlöst. Abgekürzt erschien mir in den Fragmenten das Gesamtwerk. Das Perspektivische ist gleich. Um den Ausschnitt legt sich, von jedem Punkte aus in derselben Entfernung, der Horizont, und man hat die Gewißheit, daß der Horizont wiederum so weit abgerückt wäre, ginge man auf ihn zu, um ihn zu fassen. Das verleiht die Zuversicht, überall und in jedem Moment am rechten Ort zu sein, – die Hauptbedingung der Einbildungskraft. Wir brauchen nicht auf ein voreiliges Zusammenfassen des sich Entfaltenden zu dringen. Und unversehens hat Hauptmann das beste getan. Er entzog seine Aufmerksamkeit nicht dem Äußerlichen des Innerlichen, damit es nicht entfliehe und in die weite Welt hinein untergehe — sonst wäre die Beobachtungsschärfe um ihr Gewissen betrogen. Und wo das Gewissen etwas für würdig befindet, gesammelt, aufgehoben zu werden, dort gibt im Künstler die Schönheit als Gewissen des Gewissens den Raub zurück. Was vielleicht durch den bösen Blick der Verachtung, des Spottes, der Grausamkeit getötet wurde, wird durch den guten Blick der Milde, des Mitleids, der Leidenschaft zu einem neuen Leben erweckt. Hauptmann sieht unbarmherzig und barmherzig, unbarmherzig, um sich nicht täuschen zu lassen, denn er baut auf die Wirklichkeit, — aber die Wirklichkeit als Gestalt ist vollkommen und verzeiht die Unvollkommenheit, die sie als Inhalt war.
Das ist einfach und doch so schwierig, daß man sich spitzfindig und wunderlich dünkt, wenn man einen Augenblick von Hauptmanns Gebilden abstrahiert, um zu erkennen, wie es darum steht, als mache man die weitesten Umwege und verwirre das Schlichte. Überflüssig und aussichtslos, einen Baum im Walde zu erklären! Deuten kann er sich nur selbst, indem er wächst. Aber wenn man ihn nur benennt, gar nicht erklärt, benennt von den Chlorophyllkörnern an bis zu den Wurzelfäserchen, ohne die er doch nicht wäre, so scheint er schon wüst und unwahrscheinlich und mechanisch konstruiert.
Hauptmanns Phantasie aber ist seine Wachstumsform und objektiv betrachtet, das Gewächs seiner Gestalten. In den beiden Werken, die vielerlei Aufschluß über die ihm eingeborene Rangordnung der Urkräfte enthalten, dem „Griechischen Frühling“ und dem Roman vom Narren in Christo, finden sich direkte Aussagen darüber. Aus ihnen wird hell, daß zwei Grundbesessenheiten Hauptmanns, das Aufringen aus den Düsternissen des Christentums zu seiner Süße und die Sehnsucht nach dem freimütigen Hellenentum in ihrer Synthese wiederum auf nichts anderes hinauslaufen als auf die Tendenz seiner Phantasie. Ihr Gefälle ist eine heidnische Andacht, konzentrisch strömend gegen die Möglichkeiten und Erfüllungen aller Religionen, ehrfürchtig, aber frei. Im Quint lesen wir: „Phantasie ist das, was der Geist erzeugt und wovon sich die Seele des Menschen nährt. Die Seele auch des verknöchertsten Mannes nährt sich aus den Schätzen der Phantasie, trotzdem er sie bekämpft und gering schätzt, wie die Lunge die Luft: und sofern es dem Manne gelänge, eben die Phantasie zu ersticken, so stürbe sein Geist: – und auch seine Seele, so wie sein Körper, verfiele unmittelbar dem Etstickungstod. In dem Bereiche der Phantasie wohnt dem Menschen der Mensch, Welt und Gott! Dem Manne das Weib! Dem Weibe der Mann! Den Eltern das Kind! Dem Kinde die Eltern! In eben demselben Bereiche schweben und weben Hölle und Paradies. Der Einzelmensch ist in eine bunte, gebärende Wolke eingeschlossen, eine Wolke, die jeder nur um sich selber, nicht aber an seinem Nebenmenschen sieht, der in Wirklichkeit von einer ähnlichen gebärenden Phantasmagorie umgeben ist.“ So bildet sich alsbald in der gemeinsamen Atmosphäre der Betbruderschaften, wo die Weber und anderen Handwerker um Quint ein endloses vergebliches Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit in den Augen tragen, ein Warten, ein Staunen und Grübeln über ihr Leben voll Bekümmernis, eine Angst und wieder ein Warten und wieder gespenstische Not, – so bildet sich unter ihnen herrschsüchtig, überirdisch leuchtend und spukhaft wirklich und unerschütterbar die christlich sektiererische Phantasmagorie. Da nun, nach Hauptmann, in bodenständigen Volksschichten stets die Hoffnung auf einen Menschen oder auf einen Tag lebe, da weiter stets der Mensch Vertreter und Mittler des Göttlichen sei oder anders Gott stumm bleibe, so erhebt sich in Quint und wird von seiner Umgebung anerkannt der göttliche Menschensohn und der menschliche Gottgeist. Er muß sich notwendig gebären, zumal da unter den zuschauenden armen Schwärmern inzwischen jeder rastlos den Webstuhl treten muß „wie Wasser, wer nicht ertrinken will“. Emanuels Zugangsmethode zu seiner Christussubstanz jedoch ist von heidnischer Ursprünglichkeit. Er betet die Sonne an, die ihm die Bilder der Erde bringt und fortnimmt. Er kniet neben dem Strohschober, sein Perlmutterfleisch glänzt, als wäre es der Körperschwere ledig, „gleichsam durchschlagen von Licht“, sein rotes Haar gleicht heiligen Flammen, „die ein Opfer verbrennen, das sich selbst darbringt“. Oder gar „als nun die Sonne mit dunkel purpurnem Lichte, goldfeurig warm, in weiter Glorie spielend, ins Irdische brach und die Räume gleichsam mit einem urgewaltigen Gottesgetümmel erfüllte“ – er kann der Überzeugung nicht widerstehen, des Überirdischen teilhaftig zu sein.
Das Hinüberwechseln vom Heidentum zum Christentum und umgekehrt beobachten wir in vielerlei Fassungen. Griechentum und ein tapfer und gütig machender Pietismus sind der edelste Ausdruck dieser Polarität. Andere Namen dafür wären Natur und Bildung, panische und mystische Versunkenheit, Unbürgerlichkeit und Bürgerlichkeit, Wildheit und Gezähmtheit, Einsiedelei und Geschäft. Es ist ohne weiteres offensichtlich, daß die echtesten, meistumklammernden dramatischen Elementarmächte in dergleichen Gegensätzen schlummern.Vielfach zieht Hauptmann sie unverhüllt an die Oberfläche. Im „Ketzer von Soana“ die Bockswelt und das Reich des Krummstabs, im „Helios“ Christus und Baldur, Geist und Natur, im „Weißen Heiland“ und im „Opfer“ der Kampf zweier Kultwahne, zweier diesseitigen und zweier jenseitigen Welten. Die Herrnhuter in „Anna“ werden nahe hinter den Büschen von griechischen Gottheiten belauscht. Zivilisiert, jede Hälfte schon mit ihrer eigenen Literatur ausgestattet, stehen sich Häckelschüler und Gnadenfreier in den „Einsamen Menschen“ gegenüber. Die soziale Verkappung der Polarität kommt fast allenthalben vor, individualisiert im Zusammenstoß des Kunstzigeuners mit dem Ordnungsmenschen, des vom Herzen Geführten mit der Obrigkeit, des Guten mit dem Bösen. Wo die tüchtigen „Bösen“ im Leben triumphieren, wie etwa Hanne Schäl oder Mutter Wolffen, triumphiert beinahe ein starkes gerades Heidentum über ein schwaches verbogenes Christentum. Realistik und Mystik keltern gemeinsam das kristallene Lebenswasser zum Beispiel am Schlusse des „Henschel“, am Schlusse des „Kramer“, in „Und Pippa tanzt“. Die „versunkene Glocke“ führt die Phasen der Vermischung von bocksbeinigem und kreuzträgerischem Leben vor. Rautendelein nimmt christliche Elemente von Heinrich in sich auf, dieser sagt nach vertrautem Umgang mit ihr: „Bei Hahn und Schwan und Pferdekopf“. Wo das Urwüchsige und die selbständige Verantwortung in beiden Welten gleich groß ist, da brauchen sie sich nicht zu bekriegen: der Klosterzuflucht suchende Kaiser Max zieht den naturdämonisch duftenden Rock des Hirten an und sinkt der jungen Wilden vom Gebirge an die Brust (in dem dramatischen Idyll „Kaiser Maxens Brautfahrt“). Die schicksalhafte Blutjugend und Ungebundenheit im Bilde des Tieres klingt immer wieder bei Hauptmann an, auf ihr Recht trotzend gegenüber allem irgendwie Gebundenen. Melanto hat „Pans Bockduft in erdiger Haarflut“, Gersuind ist bald ein Schlänglein in der Gabel, bald ein Buttervogel über der Pfütze, bald ein Salamander. So wittert Hauptmann immer die Naturgöttlichkeit, wenn er Tiere ehrfürchtig belauscht. Unvergeßlich ist das Fuchsopfer in „Kaiser Karls Geisel“; wie bei bittrer Kälte die Scheiterhaufen gleich Legionen trampelnder Dämonen durch den Wald lärmen und ein zweijähriger, langmähniger Fuchs, den Schweif nachschleppend, „das edle Tier am Zügel eines Hünen“ herangeführt wird, wie es, vom jähen Schein der Opferglut berührt, die Nüstern hebt und wiehert. „Ich kann nicht sagen, wie es klang: war es ein wildes Lachen oder war’s ein Weinen.“ Mit wenigen Worten erschütternd führt uns der Dichter im „Griechischen Frühling“ ein gefesseltes parnassisches Lamm vor Augen und Seele. In diesem griechischen Reisefrühling entdeckte er die Heimat vieler Tiergötter. Über dem dionysischen Tal hängen überall kletternde Ziegen, kleine schwarze Dämonen, über dem athenischen Theater des Dionysos wohnen in zahllosen Löchern des rotvioletten Gesteins die Götter, wie Mauerschwalben, die Akropolis ist ihm ein „zwitschernder Götterfelsen“, und überall begegnet der Bock, ein Ausdruck zeugender Kräfte.
Seine Phantasie erfindet nicht das Naturdämonische, sondern sie findet es. Liegt es doch in der peripherischen Reichweite der Sinne, und es darf keine Lücke in der Peripherie sein. Gesicht, Gehör, Geruch, Getast, Geschmack bleiben nicht auf den engsten Kreis beschränkt. In ihnen schwebt das All. Wie war es Hauptmann in Griechenland? Er versinkt gleichsam in die Geräusche des Meeres, das Rauschen erfüllt seine Seele, scheint seine Seele selbst zu sein. In Olympia hört er ein „ewiges flüsterndes Aufatmen, traumhaftes Aufrauschen, gleichsam Aufwachen, von etwas, das zugleich in einen schweren, unerwecklichen Schlaf gebunden ist. Das Leben von einst scheint ins Innere dieses Schlafes gesunken“. Er hört wie Kirkes Webstuhl „das allgemeine tiefe Getöse. Es scheint aus der Erde zu kommen. Es ist, als ob die Erde selbst tief und gleichmäßig tönte, mitunter bis zu einem unterirdischen Donner gesteigert“. Die halluzinatorischen Kräfte des Ohres sind gesund, und da sie metaphysisch von denen der anderen Sinnessphären nicht durch Klüfte getrennt sind wie physisch, so treten gesunde Gestalten in ihren Raum. Etwa Hermes, der Rinderdieb, der Schalk, der Tänzer, der schlaue Lügner, der lustige Meineidige, der Maultierdieb und Götterbote. Wie durch Tao weiß der Dichter, sobald er einen Zipfel sinnlicher Offenbarung fest gehascht hat, das Ganze. Auf Korfu sieht er ein Tempelchen und vermutet, scheinbar grundlos, eine Grotte und Quelle müßten dazugehören. Er sucht nach und findet beides.
Demnach, was er auch schafft: er denkt nicht aus und deutet nicht um. Er sinkt seinem Ohr und Auge nach, bis sie das Objekt aufgenommen haben, bis er in das Objekt hineinverwandelt ist, und nun kommt es, langsam deutlich werdend, sich färbend, sich bewegend, tönend zu sich, als streife es den Schlaf der Magie ab, erwache zu seiner Objektivität zurück und könne trotzdem doch nie mehr aus der Dichterseele heraus. Das Objekt sei beispielsweise die Insel Hiddensee. Hauptmann vereinsamt sie nicht mit bohrendem Blick, und sie läßt ihn nicht einsam. Er faßt sie nicht als ein starres Mondbild, das er ausstaffieren will, sondern so unaufgeregt wie etwas seit je Gewohntes. Sie bevölkert sich also nicht mit Kolonisten, die er hinbringt, sondern sie ist es ebenfalls gewöhnt, bevölkert zu sein, mit Einheimischen und Gästen. Während nun die Insel nicht die Absicht hat, sich von den Menschen entdecken zu lassen, tun die Menschen auch nicht so, als entdeckten sie die Insel. Sie erscheint nicht wie dem Dichter gehörig, er ist nicht anmaßend, und sie ist nicht Eigentum der Gestalten, dazu sind sie nicht eitel genug. Insel und Menschen erleben einander so tief oder so flüchtig, wie es nach ihrer Beschaffenheit sein muß, ein jedes zu seiner Zeit. Die unbelebte Landschaft reicht so weit wie ihre Menschen reichen, nicht weiter – und darum viel weiter. Und nur was gemäß der Fassungskraft der Personen wahrnehmbar ist, bildet sich in ihnen ab. Je nachdem ihnen der Sinn hell oder bewölkt ist, ist ihnen ihr Phantom der Umwelt rein oder düster. Aus alledem taucht erstaunlich getreu die Insel Hiddensee empor, getreu bis zum roten Wasser ihrer Brunnen, aus alledem wird „Gabriel Schillings Flucht“, aus alledem, nicht bloß aus den dargestellten Problemen.
Wer nach dürr ideellen Problemen gräbt, wird Hauptmanns andere Insel Ithaka (der Bogen des Odysseus) enttäuscht verlassen. Welch ein besonderer Odysseus, schreiend, geduckt, spukhaft und grausig in die harten und weichlichen Extreme fahrend! Er weint zu der Musik seiner Heimat. Ein Priaplied! ein Nymphenlied! ein Lied zu Ehren des Zeus und des Pan! Zuweilen liegt bei Hauptmann die Musik des Lebens mehr in den Menschen, zuweilen mehr in den Vorgängen, zuweilen mehr in dem Humus, aus dem die Menschen und Vorgänge wachsen. Im Odysseus tönt sie aus dem Humus, wohl zum Schaden des Dramas, aber das Ithaka seiner Sehnsucht bleibt schön. Hornton ruft von ferne, stockende Quellen rinnen, zu überirdischem und unterirdischem Donner kommen die Hirten wie getrieben und treffen sich ohne Abrede. Aus dem Meere hebt sich der Pallas weißer Schild, mächtige, gallig schwarzgrüne Erzplatten werden an Felsen in Staub zerbrochen. Der verratene Greis Laertes bleibt nicht wie ein kranker Adler im Käfig, sondern verkehrt mit Göttinnen, die ohne Dach sind, und ruht auf trockenem Weinlaub. Ein Regenbogen verbindet die goldenen Ziegel des Palastes und den heiligen Ölbaum Athenes am Koraxfelsen, und Tageulen sammeln sich auf dem Baume. Aus solcherlei Akkorden vernehmen wir den Klang des griechischen Frühlings.
Auch anderwärts haben sich die Gestalten von ihrem Boden nicht losgerungen. Die Elfen der „versunkenen Glocke“ wissen, mit Recht, von sich kaum mehr als den Ort, woher sie zum Reihen zusammengeschwirrt sind. Wieder anderwärts hallt die Musik der Erde gedämpfter, wehmütig ferner: der Herbst an der Müggel – die bereiften Anlegepfähle im See, die Weinernte, die Tischdekoration mit Rebenranken, verirrte Bienen und Wespen um das Frühstück, Sommerfäden auf dem Kleid Annas, ziehende Sänger und Turner. Die Menschen sehen, hören und sprechen ihr Nächstes, das Atmosphärische sagen sie nur insoweit aus, als es daran wirkt und ihnen bewußt wird.
Das hat mit Naturalistik oder Stilisieren nichts zu schaffen. Der Grad der Realistik regelt sich nach den verschiedenen Abständen, in denen der Dichter vom Kosmos seiner Werke steht. Innerhalb eines solchen Kosmos bleibt die Aufnahmeschärfe durchgehends gleich. Hauptmann notiert: „Die Distance, aus der man ein Drama sieht, darf sich während der Arbeit nicht verschieben.“ In realistischen Stücken werden gleichsam die Nebengeräusche mitgehört, während in Versstücken nur eine homogene Zone eingestellt wird. Pippa tanzt sichtbar vor gierigen Betrachtern, von Gersuinds Orgie wird nur erzählt.
Die Komplexe bleiben gleich wahr, ob sie ausführliche oder andeutende Erscheinung werden. Hauptmanns Werke sind nicht lastend oder heiter durch Überbürdungen oder Auslassungen wie die vieler anderen Dichter. Bei Geringeren als er finden wir oft eine zu große oder eine zu geringe Vollständigkeit; sie sind zu warm oder zu kalt, zu leidenschaftlich oder zu dumpf. Das Vertrauen stellt sich nicht ein. Entlassen sie uns nach ein paar Stunden Genusses, so dringt unser natürliches Leben ein und ersäuft das künstliche. Bei Hauptmann nicht. Da war das Außenleben nur eine Weile ausgeschlossen, aber nicht aufgehoben, nicht geleugnet. Hauptmanns Figuren begleiten uns aus dem einfachen Grunde, daß sie Raum haben in der Welt. Bei jenen kleineren Dichtern hat nur ihr Werk Raum darin als einer ihrer Bestandteile, nicht aber die Welt innerhalb ihrer Werke. Hauptmanns Figuren, so körperhaft sie wirken, scheinen ohne Schwere. Wir brauchen sie nicht gleichsam auf den Arm zu nehmen und zu tragen. Sie tragen ihre Last selbst. Löwe und Pfau bewegen sich nach ihrer Stärke, doch bewegt diese sich nicht über Haar und Federkleid hinaus durch die Luft. Hauptmanns Menschen gehen nicht auf uns zu und werden nicht auf uns zugetrieben, das heißt, sie werden nicht aus ihren Stätten ausgetrieben, so daß diese erlöschen müßten, weil sie überflüssig wären. Sie behalten ihre Häuser, Tage und Werke. Was sie tun, gehört ihnen nicht wie ein Schatz, den man ihnen entreißen will. Sie zerren nicht eifersüchtig daran herum, damit es ihnen gehöre. Sie haben es nicht eilig, nicht behäbig. Sie haben es auch nicht eilig, sich einen Charakter auf den Leib zu schneidern. Der wird ihnen nicht entgehen, denn er war ja bereits da, bevor sie ihn jetzt und hier zu zeigen begannen. Was wir von ihm scharfsinnig feststellten, machte nur einen Teil dessen aus, was er wirklich war. Einen Charakter im Sinne Hauptmanns können wir nicht als eine Aufgabe für den Dichter, als einen Anlaß zur Teilnahme und Bewunderung für den Zuschauer definieren. Diesem Charakter ist vielmehr, wie gesagt, die Welt eine Aufgabe. Der Zuschauer im Parkett ist irgendwo zugehörig zu dieser Welt, nur nicht im Parkett. Der vor der Rampe Genießende wird nicht umworben, sondern er entsinnt sich seiner täglichen vierundzwanzig Stunden und umwirbt vielleicht den hinter der Rampe Leidenden. Dieses Einfache ist das Subtile: Hauptmanns Menschen gibt es immer und es gibt sie nicht ohne Hauptmann. Ihre Seele verschafft sich einen Anteil am Geschehen, und sie ist zugleich ein Teil des Geschehens. Ihr Schicksal im Makrokosmos ist milde, weil es im Mikrokosmos so wirklich ist. Es ist nicht unheimlich unabwendbar, denn vielen anderen auch könnte es widerfahren. Es zeichnet nicht schrecklich aus wie in der griechischen Tragödie, indem es die Persönlichkeit puppig macht, sondern die Persönlichkeit zeichnet das Schicksal aus, seine Schrecken ragen in jene weite Perspektive, woher aus dem alles verhängenden Zeitengewitter Gerechtigkeit und Frieden wehen. Das allseitige Aus- und Einstrahlen bewahrt die Einzelheiten, selbst die bedeutendsten, vor der Überernährtheit. Noch die katastrophensüchtigen Leidenschaften sind von Widerständen und Ablenkungen aufgehalten, und da sie doch nicht ausrottbar sind, verzehren sie immer neuen Stoff, der sie mit objektivem Gehalt füllt. Selbst durch sie geht der große Werktag weiter, vor der Tür des Gemaches, in dem jetzt die Feierlichkeit ihres Geschehens schaltet. Abgestuft nach dem Quadrat der Entfernung ist der Werktag Parasit des leidenschaftlichen Bewußtseins, welches das Überhelle, Helle, Dämmerige und Dunkle zugleich enthält in gewaltiger Skala. In unwillkürlichen Reaktionen stellen sich frühere Erlebnisse, Erziehung, Temperament, das Dorf, die Stadt, die Zeit mit ihren sozialen und ästhetischen Anschauungen ein. Der Dialog bewegt häufig nicht nur die Szene, er bewegt das Stück, – nein er ist die Bewegung des irdischen Fatums. Das Ruhende hat darum oft den heftigen Unterstrom: im Roten Hahn, im Kramer, zwischen Marei und Geyer, an hundert anderen Stellen. Hauptmann ergrübelt es nicht, er hört hin, bis er es weiß. Es kann nicht so sein, es muß. Darum erfährt er auch so richtig die Namen seiner Personen, ihr Alter, ihre Familienkonstellationen. Darum ergibt sich ihm mit fast jedem neuen Drama eine neue Dramengattung, – eine aus technischer Kombination unerklärliche Tatsache.
Darum fügen sich die uns allen gemeinsamen Wörter ihm zu vielen Sprachen zusammen. Da seiner Lande Bevölkerungen alle autochthon sind, reden sie die Fülle der Mundarten. Sein Wort steht ja dem Horchen und Vernehmen näher als dem Antworten und Auslegen. Es wächst ihm ja, wie bemerkt, aus den Naturbezirken und den Gestalten, auf denen seine Aufmerksamkeit ruht, mehr zu, als daß es uns zuwüchse mit der Absicht, auf jene Bezirke und Figuren aufmerksam zu machen. Aber die Erregung seines Horchens klingt noch in den realistisch-prosaischen Dramen als jener vielbemerkte Hauptmannische „Vers“ wieder, wie sie in den erzählenden Werken, am großartigsten im „Quint“, die gleichmäßigen, großherzigen, warmatmenden Perioden bildet. Was man bei ihm als Wortkunst bezeichnen könnte, ist demgemäß etwas in seinem geheimen Sinn von ihm selbst nur Verehrtes, nicht Berührtes, etwas Umfassenderes, als was gemeinhin so benannt wird. Kein vorgefaßtes Klangbild, keine Assoziation an das eigene Wesen, kein irgendwie beschränkter Wille vollzieht die Auslese. Schön und gut gesehen wird ihm unwillkürlich: gut und schön geredet. Schon weil es sich bei ihm zumeist um direkt redende Personen handelt, bedeutet subjektive Treffsicherheit des Wortes bei ihm zugleich objektive Präzision des Gesichts und Gehörs: Richtigkeit wird Dichtigkeit. Auch für seine Sprachmittel gilt, was Hauptmann von der Kunst überhaupt aussagt: „Es ist nicht so widersinnig wie es klingt, wenn man als Zweck aller Kunst angibt: das große Schweigende schweigend aussprechen.“ Aber freilich, man darf das nicht mißverstehen. „Eine stille Dramatik findet nicht einmal unter den Fischen im Meere statt.“ Die Sprache setzt Grenzen; zunächst und am auffälligsten zwischen Individuen, dann aber, im Grundwesen unterscheidend, zwischen den Individuen und der Welt. Auf der einen Seite der Grenze liegt dann draußen das Universum, auf der anderen der persönliche Anteil daran. In den „Einsamen Menschen“ werden zweierlei Berlinische Mundarten gesprochen; die Waschfrau und die Amme bringen so schon außerhalb der Inhalte ihrer Gedanken verschiedene Luftsphären, verschiedene Ladungen mit Lebensstoff, Vergangenheiten, Bedingungen, Spannungswahrscheinlichkeiten auf die Szene. In den „Ratten“, wo muffigweiche Kleinbürgerluft, brenzlicher Geruch aus dem Dachgeschoß der Kunst und die scharfe, rauhe Witterung weltläufigen Verbrechertums sich mischen, tauchen in den Gesprächen manchmal verirrte Fremdwörter auf; sie erhellen wie Blitze des hier regierenden Dämons die ganze Seelenlandschaft. Solch ein verirrter Ausdruck, ohne daß er vom Sprecher mit Bewußtsein gebraucht, gewogen, wiederholt würde, bringt, wrackgleich daherschwimmend, das ganze Schiff mit Ballast, Fracht und Takelage, mit Flut und Fahrt vor die Ahnung des Hörers. Potentiell ragt in die Fabel des Dramas die Fabel der Person, eine Reihe von Fabeln aus der Zeitgeschichte. An einem Stückchen Kugelkappe erkennt man die ungeheure Ausdehnung der Kugeloberfläche, also ihre Tiefe, die aus der Beschaffenheit ihrer Haut deutbar wird. Die Lokalität, in der das Wort aufgeschnappt wurde, entsinnt sich eines Menschen, entdeckt ihn in der Gegenwartsferne wieder. Auf der Oberfläche einer Frucht lebt die Sonne weiter, die sie beschien, der Wind, gegen den sie sich durch das Barschwerden der Schale schützte, der Regen, die Wolken, das Auge des Gottes, der sie ersann. Zerschneidet man die Frucht, so muß sie verzehrt werden oder sonst verderben. Zwar könnte eine Erkenntnis ihres Kernes, Fleisches und inneren Baues folgen, doch die bliebe der Unvollständigkeit und dem Truge ausgesetzt. Anders aber, von der atmenden Oberfläche her, wird die besondere, einmalige Form der Frucht faßbar, die Stelle des Baumes, an der sie wächst, der Ort des Baumes im Garten, das Erdreich des Gartens im Dorfe, die Lage des Dorfes im Lande. Wer, die Oberfläche vergessend, in die Tiefe dringt, muß töten, und er kann das Leben nur visionär noch einmal aufbauen; sein Kraftaufwand kann ihn über seinen Erfolg belügen; er kann sich im Besitze von Geheimnissen glauben und schwer irren. Eine epische Arbeit Hauptmanns: „Velas Testament“, nennt die Sprache den Mantel der Seele. „Die Seele webt ihn, die Seele hüllt sich darein. Er ist ihr Erzeugnis, aber doch nie die Seele selbst.“ So strömt denn Hauptmanns Mund, wenn er hinreißend beredt ist, die Beredsamkeit des Lebens und meidet die Beredsamkeit des Begriffs und der Abstraktion. Sie bleibt ihm „im höchsten Sinne soziale Funktion“. „Man muß unterscheiden: den Gedanken, welcher denkt, und den, der gedacht ist. Der denkende Gedanke soll laut werden. Höchstens der Gedanke in seiner Geburt, oder kaum erst geboren, ungebadet und mit noch unzerrissener Nabelschnur. Vielleicht auch ein blindgeborener Gedanke, der die Augen zum erstenmal hell aufschlägt. Solcher Gedanken gibt es viele in meinen Dramen, aber sie werden nicht immer erkannt in ihrem Zustand.“
Damit entzieht er das Wort dem Selbstgenuß, dem Lippendienst, dem Egoismus des Künstlers und Zuhörers. Er entzieht es dem Geschmack, der produktiv sein möchte, anstatt nur zu wachen und zu verbessern. Er macht es wesentlich.
Wir leben in einer verwilderten kranken Zeit. Das Auge der Menschen flackert vor dem Gesichte der Natur. Eine verzerrende Aura legt sich um Empfindung und Anschauung. In der Lebensarbeit Hauptmanns betrachtet sich die Natur in tausend Gestalten, verantwortet durch Wirklichkeit, gesichert durch Wahrheit, gekräftigt durch Glück und Schmerz, hoffnungsvoll durch Schönheit, unbetrogen noch im Traume, schrankenlos durch Sehnsucht, vertrauend und gläubig durch das alles. Seine helle Kraft mag uns auch für die Zukunft stärken, denn sie ist nicht Leichtfertigkeit, sondern Licht, und sein Glaube an den Nächsten ist Wissen um die Welt.
HERMANN STEHR
Manche Werke Hermann Stehrs scheinen in einer so großen, feierlichen Ferne zu beginnen und in so verhüllte Fernen hinauszuführen, daß einer, der nur auf diese Anfänge und Schlüsse hingewiesen würde, aber die aus ihnen entwickelten und in ihnen zuruhegehenden Erzählungen nicht kennen lernte, sich schwer eine Vorstellung von dem Wege zum irdisch Engen, das jede Geschichte notwendigerweise hat, zu machen wüßte. Das Vorspiel zum „Letzten Kind“ hebt an: „Der Himmel ist die Seele der Erde. Darinnen läuten unaufhörlich die Glocken des Lebens und des Todes.“ Das Nachspiel zum „Begrabenen Gott“ mündet in die Nacht der Erde, die sich nicht fortschaffen lasse. „Sie gebärt den Menschen; sie nimmt ihn wieder von hinnen. Und zwischen der Nacht des Aufganges und des Niedergangs schwingt auf gar engem Raume die Stundenglocke des Menschendaseins. Ihr Klang ist ewige Sehnsucht in notvollem Kampf und bitterster Süße.“ Aus mythischer Sphäre dringen die Ereignisse des „Heiligenhofes“ her, in mythische Sphären verschweben sie: die Landschaft, in welche wir eingeführt werden, das Münstersche Hügelland, ist ein Lager riesenhafter urzeitlicher Rinder, die beim Wandern von der Weltallsmüdigkeit überfallen wurden und einschliefen; ihr Schlaf ging unmerklich in die große Erdenruhe über; „ihr Fleisch ist zu Erde geworden, ihre Gerippe versteinerten.“ Und am Ausgang des Buches tönt wieder eine Geisterglocke: Das Heiligenlenlein singt zwischen Himmel und Erde.
Aber auch dann, wenn die kurze Spanne Menschenschicksal, die ein Roman oder eine Novelle umfaßt, vom Dichter nicht auf diese Weise gleichsam zwischen zwei Ewigkeiten befestigt wird, ringen sich die Ereignisse bei Stehr aus dem Ungeheuren hervor. Enthält dort eine Probe Zeit die ganze Zeit in ihrer Unerschöpflichkeit, so hier eine Probe Raum den ganzen Raum in seiner Unermeßlichkeit. Aber die begrifflichen Kategorien des Denkers für das dennoch Unfaßliche werden im Künstler Gesang des Körpers und der Seele. Das Unfaßliche, das in jedem Wesen einen neuen Versuch, sich deutlich zu machen unternimmt, ist das Leben selbst. Daß Stehr diese Tatsache nie vergißt, immer wieder vor ihr erschüttert steht und sie von jeder seiner Gestalten auszittern läßt bis in die äußersten Erscheinungen, auf die ihn die Organe seines Bewußtseins aufmerksam machen, verbindet in seiner Epik eine Reihe großartiger Widersprüche zu vollkommener Einheit: zerbrechliche Zartheit und geballte Wucht sind bei ihm einerlei, heimatselige Dörfler sind bei ihm Weltbürger auf eine Weise, wie Stein, Wasser, Baum und Berg Weltbürger sind. Das Dunkle ergibt sich ihm in funkelnder Klarheit und hört dennoch nicht auf; das grob Realistische, scharf Umschränkte, hat selbst im Mystischen, das doch die Realität in sich saugt und schlingt und ihren Extrakt keltert, seinen ungeschmälerten Platz. Solcherlei versöhnte Feindschaften erlöst bei ihm in jedem Augenblick das Vereinzelte zum Allgemeinen und umgekehrt, tätig, bewegt. Was also ist das Leben? Diese Frage steht in jenen hallenden Anfängen und Schlüssen, und wurden die fragenden Anfänge und Schlüsse nicht an die Orte gesetzt, die ihre Namen bezeichnen, so erhebt sich ihre Frage mitteninne in dem Werke, das sich gerade um die gestaltete Antwort bemüht. Faber in den „Drei Nächten“ beginnt seine Geschichte „mit der Feststellung der vollkommenen Rätselhaftigkeit des Lebens und der Seele des Menschen“. Da ist in behauptender Form die Frage! Er sagt weiterhin: „Ein jeder Mensch ist ein neues Gottes-, Welt- und Menschengericht. Ich war das Kind meiner Eltern in Not und Treue, nun bin ich mein eigener Vater geworden, mein Sohn und mein heiliger Geist.“ Da ist die Frage wieder, in gläubiger Form!
Das heißt, Stehr empfindet als Gestalter in sich die Notwendigkeit, die Voraussetzungen seiner Gestalten so weit zurückzuführen, daß hinter den letzten Ursachen keine Ursachen mehr zu finden sind. Er braucht dazu kein umständliches Zurückleuchten, seine Umständlichkeit ist der Blitz. Das direkte nackte Wort des Erkennens, was ein Mensch im Tiefsten sei, steht wie eine Grabtafel über ihm, wenn das Leben aufgehört hat sich zu regen. Doch mit jedem Schritte, jeder Hantierung, jedem Zucken des Mundes und hinter jedem Worte sagt er es sprachlos. All die Bewegung war notwendig, um es ganz zu sagen. Nur manchmal bricht wetterleuchtend eine Ahnung herein, was es sei. Das Jenseits oder das Diesseits! — Das Diesseits für einen Jenseitigen, das Jenseits für einen Diesseitigen. Es öffnet sich ein Spalt in der Wand der Zeit, wie es die alte Wiesnern in einer der frühen Novellen Stehrs ausdrückt, im „Abendrot“. Hinter der Wand ist ein Auf- und Abgehen, und wer nicht tot ist am Leben, der hört’s zwischen Tag und Nacht und Nacht und Tage gehen. Wie kam die verhutzelte Kätnerin dazu, den Geistertritt des versäumten wahren Wesens zu vernehmen? Durch den Wind vor der Tür! Der schwere Gesang des Bergwaldes scholl in der niedrigen Stube wie das Schleifen vorüberwandelnder Schritte wieder. Das Übernatürliche war nichts als die Natur selbst! Das Reich der Erde ist durch das Menschenherz zugleich ein Überreich und ein Unterreich. Stehrs Großartiges und ihn weithin Unterscheidendes ist es, in allem, was er seine Figuren beginnen und vollführen läßt und sei es scheinbar noch so gering, diese Reiche gegeneinander zu führen, sie gegeneinander zu wägen in funkelnder Pracht oder im Frieden des Einklangs, das schwächere am stärkeren zerschellen zu lassen, sie ineinander zu drängen und mit dem gleichen Schritte zugleich im Himmel und auf Erden zu gehn. Wie im frühen „Abendrot“, so überall, etwa in der späten Erzählung „Die Krähen“ entdeckt sein Geschöpf den geheimnisvollen Spalt in die Unendlichkeit, in der er hinstürzt wie ein rasendes Gestirn, während er den gleichen Bogen unter dem Himmel nur in gemächlichem Hinschlendern zurückgelegt zu haben dachte. In den „Krähen“ sieht der Professor aus dem Stubenfenster, und er erblickt plötzlich etwas wie den archimedischen Punkt, der die Welt aus den Angeln hebt. Was war der Anlaß des panischen Erschreckens? „Ich meinte die Krähe. Siehst du, Manja, als ich sie vorhin entdeckte, vorhin sah, hatte ich die Empfindung, das Tier sitze schon seit Ewigkeit auf dem Düngerhäufchen und drehe langsam und weise den Kopf hin und her und mir war es, ich stehe seit Ewigkeit und sehe dem Tier zu. Ich hatte das Bewußtsein von Zeit und Raum verloren und erschrak vor der kleinlichen Geste des Menschenlebens – – auch dem hinter mir.“
Damit ist der Horizont für das seelische wie für das sinnliche All abgestreckt.
In einem Horizont von dieser Weite, der mit dem Horizont vor unseren leiblichen Augen die Eigenschaft teilt, in unabänderlicher Entfernung alle Stunden, alle Tage, alle Jahre da zu sein und vor jeder Annäherung zu entweichen, zu fliehen vor dem Kinde wie dem Greise, dem Unhold wie dem Engel, – in einem Horizont von dieser Weite und dieser Gewißheit im Ungewissen ist jeder ihn ausfüllende Ausschnitt aus der Welt der Realität groß genug, um für diese Welt selbst gelten zu können. Voraussetzung dafür bleibt aber die Wahrheit und Gegenwärtigkeit des Ausschnitts. Ohne das eine ist das andere nicht zu haben. Es gibt Dichter, die sich den – nennen wir es Himmel – allein zur Aufgabe stellen. Sie erjagen ihn nicht und jagen immer weiter auch von der Erde fort. Andere wollen die Erde packen und packen sie an, als wäre sie ein Ding auf Erden und kein Planet. Stehr hängt das körperbeschwerte Leben wie eine Planetenbahn in das Meer Gott oder Seele.
Die Schwierigkeit, Gott und Seele nicht blasse Namen sein zu lassen, Gott und Seele vielmehr namenlos zu machen und in ihrer Identität mit der Welt zu zeigen, ohne die Welt durch sie zu knechten, sie in ihnen zu zerbrechen und zu zerbiegen, die Welt leben zu lassen, als kenne sie Gott und Seele nicht, — die Schwierigkeit ist nicht kleiner, als sollte einer sprechen ohne zu sprechen. Mit der gläubigen Überzeugung ist noch nichts gewonnen. Mit der hinreißenden Mitteilung des Erlebnisses ist ebenfalls noch nichts getan. Der Hörer wird zwar von dem Glauben des Gläubigen überzeugt werden; ihn hat er erfahren, nicht aber den Inhalt jenes Glaubens. Der ist unmitteilbar. Doch gibt es vielleicht eine Mitteilung gleichsam ohne Mitteilung, – das ist die Kunst! Sie öffnet auch dem Empfangenden den Zugang, den der Schenkende fand. Sie gibt die Weisheit nicht nur im Schema, sondern in ihrer Glut, das Brennen selbst ohne Umgrenzung der Flammen, ohne die Scheiter, aus denen die Flamme züngelt. Werden wir durchglüht, so kann an der Glut kein Zweifel sein, und wenn die Form, die Farbe, das Brausen, die Nahrung des Feuers dann begrenzende Namen tragen soll, ist an ihnen wenig mehr gelegen. „Nennt’s Seele oder Gott, ’s ist einerlei,“ sagt Stehr einmal in den Versen, die er an den Rand seines eigenen Lebens schrieb und vor einigen Jahren im „Lebensbuche“ vorlegte. Benennt es überhaupt nicht, dürfte man ohne Blasphemie hinzufügen, und es ist auch dann einerlei. Wer auf Mittel sinnt, um Gott so zu isolieren, daß er sein Erlebnis der Anschauung wird, der wird sich selbst in seine Mittel hinein isolieren. Versucht es jemand als Mönch, so darum, weil er von Mönchsnatur ist; es wird sich selbst darin entdecken. Tut er es durch Askese, so darum, weil er eine Asketennatur ist. Und so fort durch die Skala der Neigungen, die sich ihre Verwirklichungen, ja Berufe schaffen. Fahndet ein Künstler nach der Seele oder nach dem Gotte, so wird es sein Weg sein, die Kunst zu finden. Er breitet den weiten Acker hin und bestellt ihn, er baut seine Häuser, Dörfer und Städte auf, er ruft seine Menschen herein und bebürdet sie mit ihrem Schicksal, er heißt Sonnen und Monde scheinen, er entzündet Lampen und Kerzen, pflückt Blumen und zielt mit Mordwaffen, – und all das ist ihm kein Umweg und keine bloße Vorbereitung, um in „ein raumloses Licht zu fliegen“, um wundervoll sprechen zu können: „Vergangnes kommt, und Zukunft ist gewesen.“ Wenn der Dichter aus seiner Sehnsucht, aus seiner Begnadung und zu seinem Troste die Summe seines Allgefühls zieht und triumphierend beinahe gebietet: es wüchsen Völker, wie an des Fußes Sohle sprießt das Moos, es stürbe ein Kaiser, wenn irgendwo ein Fisch stürbe, es falle eine Welt, wenn ein Blatt vom Baum sinke, dann kommt dem Leser, der den Dichter nicht als Prediger, Priester, Morallehrer mißbraucht, die Ergriffenheit durch das Erlebnis der Persönlichkeit Hermann Stehrs, nicht durch den philosophischen Ausspruch. Der Leser ist ehrfürchtig und setzt nicht das Wort für das Werk, nicht eine Inhaltsangabe für den Inhalt. Er erblickt über einem solchen Worte den Dichter selbst als sein Werk. Er bricht vom Rade nicht Kranz, Felge, Speichen und Nabe fort, um in seine Mitte zu kommen. Wenn er rechte und kühne Gedanken walten sieht, mag der Leser vor allem die Freude haben, daß er eine Wiederbegegnung hat mit einer neu und selbständig aufatmendenden Kraft, die auch in Gotamo Buddho, Laotse oder Meister Eckhart regsam war, aber er soll nicht vergessen, daß derartige Gedanken bei Stehr in einer dichterischen Welt aufgegangen sind, aufgebrochen, um zu wandeln, zu weinen, zu jubeln, zu seufzen, zu stöhnen. Das alles bleibt seinem Zuhörer hinzunehmen, und der Hörer wäre ein Tor oder ein anmaßender Betbruder, wollte er nur den religiösen Untergrund und erklärte die Dichtungen nur als Offenbarungen der Offenbarung: ist die Welt überflüssig, so ist es auch ihre Seele, ihr Gott.
Leider sind solche Bemerkungen nicht ganz überflüssig, da Deutschland und Europa es bisher versäumt haben, den Künstler Stehr mit dem leidenschaftlichen Danke aufzunehmen, der auf seine Gaben die einzige Antwort wäre. Nun erzählen die „guten“ Menschen in Blättern und Blättchen von ihm, und manche weniger Schwachmütige als sie, die das lesen, meinen in ihrer Trägheit, er sei nur etwas wie ein Heiland seiner Heimat und ginge sie nichts an.
Wohl scheint Faber am Ende des „Heiligenhofes“ den verirrten Sintlinger durch seine ernsten, gütigen Reden allein auf den rechten Pfad zu leiten, jedoch ist der eine nur wie ein Echo auf einen Ruf, den der andere getan hatte. Ungeheuer verzweigte Lebenskomplexe liegen hinter beiden. Sintlinger hat die Welt seiner blinden Tochter auf den Schultern getragen, eine Welt, so groß und so mannigfaltig, wie jene, in der wir anderen weilen. Faber hat ebenfalls eine ganze Welt bekämpft und geschlagen, die Welt des Spukes, die aus den Gräbern seiner Ahnen vergiftend heraufdünstete. Der fortgeerbte Spuk im Blute hatte die Wirklichkeit bis an ihre letzten Enden zum Spuke gemacht, und er ist nun vertrieben. Stehr läßt Faber sagen: „Wenn ein Vogel auf der Spitze des äußersten Baumzweiges sitzt, so erlebt er nur die Bewegungen dieses Zweiges. Rückt er tiefer hinein auf den Ast, so umfaßt er die Bewegungen von hundert Zweigen und schwankt doch nur wenig. Wählt er aber seinen Platz im Kroneninnern, hart am Stamm, so erlebt er die Bewegungen des ganzen Baumes und wird selbst nicht mehr erschüttert. Noch mehr wie diesem Vogel geschieht einem Menschen, der bis in die Tiefe seiner Seele sinkt.“ Was tat Stehr? Er erschuf das Erdreich für die Wurzeln des Baumes, den Stamm, die Krone, und er blieb die hundert Äste und auch den äußersten Zweig nicht schuldig und auch nicht den Vogel, der sich auf ihn setzt.
Durch die Erschütterung zeigt er das Unerschütterte.
Die ungeheure Schwierigkeit seiner künstlerischen Aufgabe wird noch dadurch gesteigert, daß er nicht nur fühlt, sondern weiß. Er weiß: unsere Geisteskräfte und die Schicksalsgewalten decken sich nicht. „Wir singen Töne, die das Fatum zur Melodie ordnet. Die Gedanken der Wachenden sind wie die Träume der Schläfer. Der sehende Willen hat so wenig Macht über die Gedanken, wie der schlafende über die Träume.“
Vor diesem Wissen bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in die fruchtbare Stille des Inneren zurückzuziehen, in der aller Widerstreit zur irrtumlosen Einheit wird. Wie aber, wenn seine Vision den Sturm und Markt der epischen Figuren, wiederum eine Vielheit, wiederum Wollende, durch die Brust dreht, wenn noch sein Innen zu dem breiten Schauplatz wird, der die Augen schon draußen umwirrte, bis sie sich eben einwärts wandten, um dort die Lösung der Rätsel zu erspähen? Nenne man die dichterische Anschauung ein Wachen oder ein Träumen, gleichviel: in dieses Wachen oder Träumen sind alsdann Menschen gesetzt, die ihrerseits ebenfalls wachen oder träumen und mit ihren Geisteskräften den Schicksalsgewalten unterlegen sind und nichts Bündiges, Endgültiges über sie erfahren. Stehr schlüpft dann so tief in sie, daß er auch in ihrer Stille über Tat, Bewegung und Regung ruht wie in seiner eigenen. Und von dort aus erfahren sie allerdings nichts über die Schicksalsgewalten, von denen sie gemeistert werden und die sie zu meistern suchen, aber sie erfahren diese Gewalten selbst. Ihr Dunkel ist von ihnen genommen, weil sie erhellte Beispiele des Dunkels sind. Ihre Zufälligkeit und Besonderheit mag nun ins Extrem getrieben sein, um so mehr wird das Gesetz, das auch vor der unwiederholbaren Eigentümlichkeit noch gilt, gestärkt und bewiesen. Seine formale Unverbrüchlichkeit wird zum leidenschaftlichen Dasein, seine andächtige Anwesenheit im beschaulichen Geiste wird zum Schrei in den Sinnen. Was ein Weiser nur aus seiner Einsicht her behaupten konnte, nämlich, daß Gott auch im Staub sei und auch im Haß, behauptet sich selbst als wandelnder Haß, als wehender Staub nun im Dichter. Er schreibt nicht mehr vom Staube, er schreibt den Staub, er schreibt nicht von Bergen, er schreibt die Berge, er schreibt nicht vom Hasse, er schreibt – den „Graveur“, er schreibt nicht von Liebe, er schreibt Leonore Griebel oder Meta Konegen oder das Heiligenlenlein.
Daher geht es bei ihm in allem, wie es der Titel seines ersten Buches feststellte, auf Leben und Tod. Scheint er in die dickste, gröbste Materie zu greifen, grausam eine naturalistische Beobachtung al fresco nachzuziehen und sonst nichts, so ist es der Tod: das unsichtbar Lebendige wurde völlig sichtbar. „Du lebst, und unsichtbar bleibt dir dein Leben.“ Scheint er nur einer zärtlich verklärenden Freude an einer Menschengestalt nachzugeben, so ist es mehr, denn die Züge im Menschenangesicht sind tiefer als etwa der Gedanke, der sie fassen will, sie sind Spuren des Ewigen, das durchs Irdische hingeweht ist. Je genauer, je irdischer er die Spur bemerken wird, umso deutlicher wird er das Ewige bemerkt haben. Und zeichnet er sie nicht flacher, aber auch nicht tiefer nach, so wird er das Unzeichenbare unverschüttet aufbewahrt haben. Spricht er die schlesische Mundart rein, wie sie an sein Ohr schlug, so hat er sie als Weltsprache vernommen, so wie die Weltsprache des Wasserrauschens und Blätterwehens überall tönt, wenn auch die Wasser Schlesiens mit dem Gefälle ihrer heimischen Berge und in der Krümmung ihres Laufes, der sich völlig sonst nirgendwo wiederholt, daherkommen, wenn auch die Blätter an Bäumen hängen, die nach Gattung, Größe und Verwandtschaftskreis durch ihre heimische Breite bestimmt sind. Wenn sich übrigens die Landschaft bei Stehr zuweilen anthropomorph oder dämonisch aufbaut, so rührt das aus keinem artistischen Mißverständnis her, sondern die Not der Worte sucht ebenfalls etwas wie einen tellurischen Dialekt zu erhören und zu vermitteln. In „Meicke der Teufel“ heißt es, das Land „stolperte in Täler und Schluchten, es stieß in breiten, markigen Höhenrücken aufwärts zu den schwarzblauen Bergen“ – es ist wie das ungefüge Ziehen von Auf- und Abstrichen einer Riesenschrift, so als sähe einer die Erstarrung von zehntausend Jahren plötzlich als vorüberwandelnde Sekunde und müsse nun atemlos, erstickend Buchstaben erfinden, die hinzumalen lastende zehntausend Jahre währt. Stehr gibt nicht den Inhalt des Erkennens, sondern das Erkennen. Einmal spricht er es aus, der Himmel ergreife den Blick so, weil er die eigene Ferne biete, in Wirbeln fortgerissen und unwandelbar, wie wir, die schnell sterben und da waren vor dem ersten unseres Geschlechtes. So hält er im Naturbilde fest, was sich in dem Augenblick steinerner Äonen gleichsam unbemerkt vorüberdrücken möchte, und im schwerelosen Abendlicht erhascht er Kosmogonien, als wäre er vor Urzeiten im sich erfüllenden Raume und es wäre noch keine Stunde weiter. Allmählich hat er sich, dies mitzuteilen, eine einfache Meisterschrift errungen; er nimmt die Gleichnisse aus der Betrachtung des eigenen Körpers, der, das Kleinere, sich gegen das Größere setzt, und dadurch die Ordnungen der Ausdehnung in die höhere Ordnung der Intensität hebt. Man höre: „Das Riesengebirge, dieser wohlklingende, hohe, schöngeschwungene Zug von Bergen, lag in windstillem Lichte, das voll einer milden Verhülltheit und zugleich einer kränklichen Grelle war, einer Grelle, die man wie das sich nahende Fieber einer offenen Wunde nicht mit den Augen wahrnahm, sondern mit dem inneren Schauen empfand. Da und dort über den klaren Himmel verstreut standen opaleszierende Rundwolken in vollkommener Reglosigkeit von schwachem Erröten überhaucht wie aufgeschreckte ratlose Gesichter aus bösem Traum emporgefahren. Das Gebirge aber wechselte wie aus innerem Antriebe die Farben, bald rauchgrau überhaucht, bald tiefblau versunken, bald von stumpfen Rot überlaufen, so daß es seine Festigkeit verlor, zu verschwinden, aufzutauchen und dann wieder unaufhaltsam fortzuströmen schien.“ Trotz der Wucht der Vision empfinden wir keine Vergewaltigung der Natur.
Wohin sich Stehr auch wendet, die Natur ist ihm unverletzlich. Damit er aus dem Blicke des Tieres die verwunschene eigene Gestalt lesen könne, ist erforderlich, daß er die Tiergestalt nicht verderbe. Der Hund Meicke trägt den Beinamen der Teufel, weil er sich an Unglücksverfolgte heftet und sie erst verläßt, sobald sie untergegangen sind. Er hat gleichwohl nichts von einem Dämon, er benimmt sich wie jeder Hund. Die Pferde, an deren Gebaren das unheimlich Nahe einer im Walde verwesenden Leiche sichtbar wird (im Heiligenhof) lassen das Grauen allein durch ihre echte Pferdenatur so deutlich werden. Und die Pferde, die dem Graveur die Spuren seines gehaßten und verfolgten Bruders mit Menschenworten verraten, können das halluzinatorische Wunder in ihm nur darum vollbringen, weil sie selber bis dahin gar nicht wunderbar gewesen sind.
Bei den Menschen erst recht erreicht Stehr die höchsten Triumphe der übersinnlichen Schicksalsgewalt durch schlichte Treue gegen ihre sinnliche Natur. Nur so gelang das Wagnis, die Ehe zwischen einem Stein und einem Vogel, dem Klumpen und Marie im „Begrabenen Gott“, der Sphäre der abseitigen Sonderfälle zu entreißen und ihre Darstellung zu einem der ergreifendsten, mächtigsten Epen aller Literaturen zu machen. Nur so gelang es in den „Geschichten aus dem Mandelhaus“ die Welt des Kindes gegen die Welt der Erwachsenen mit einem Klange stoßen zu lassen, als hätten wir etwas Unfaßliches vernommen, die Vernichtung der Inkas durch die Weißen, das Versinken eines Kontinents oder dergleichen. Dabei wurde nur das holde kleine Dasein des Schneidersöhnchens und das unhold alltägliche des Schneiders gemalt. Das Kind sieht eines Tages seinen Vater, wie der wirklich ist – das ist alles. Die Seele wohnt überall, zuweilen verborgen, zuweilen an der Oberfläche der Sinne. Überall ist die Grenze der Entscheidung. Stehr läßt ihre magische Figur aufglühen.
Unsere Erschütterung und Bezauberung bei ihrem Anblick – wie sie beschreiben? Vielleicht steht sie im „Schindelmacher“ beschrieben an der Stelle, wo der alte Tone den Berghang hinauf nach Hause geht. Er zählt die Lichter, die an der Wegseite bis beinahe auf die Spitze des Berghanges zu sehen sind. Sie entglimmen den Häuschen. Tone bleibt stehen und zählt. „Ees, zwee, dreie...achte. Derhender fanga de Sterne a. Wer weß, ob das dat a Licht, a Menschalicht is oder a Stern? – Wer weß? – –“
ALFRED MOMBERT
1.
„DER HELD DER ERDE“
Die Literaturgeschichten der jüngsten Jahrzehnte wissen von Mombert nicht viel zu berichten. Wie verträgt sich der groteske Raummangel für eine solche Erscheinung mit ihrer gewaltigen Wirkung? Stellt der Geschichtschreiber die Gegenfrage: ist denn die Wirkung gewaltig?, so werden freilich nur ein paar hundert Stimmen (aus den Millionen des Volkes) enthusiastisch antworten: ja! Und fragt er weiter: wo?, so werden sich dieselben Stimmen leidenschaftlich melden: in uns!
Nach Menschenaltern ist es vielleicht nicht anders, im Bösen wie im Guten. Momberts Wirkung vollzieht sich wie die jedes großen, durch einen Menschen ausgeprägten, seelisch-geistigen Systems, jenseits der fragwürdigen historischen Gerechtigkeit. Aus den zuweilen riesenhaften Windeiern des Ruhmes aber können die Dichter nicht wiedergeboren werden, weil sie nicht darin enthalten sind. Nur aus den Werken.
Leichter dringen die Werke durch, die zwischen Chaos und Klarheit der Sozialität eine Lebensordnung schaffen, als die, welchen die soziale Weltansicht nur ein Beispiel für den großen Gegensatz und Inbegriff von Chaos und Klarheit überhaupt samt seinen sinnlichen, sittlichen und geistigen Schauspielen ist. Ein Wort von Moritz Heimann lautet: „Ich liebe die Welt mehr als mich. Daß ich bin, hat mich mein Lebtag mehr aufgeregt, als daß ich bin, und so denke ich denn, daß ich mein Leben erzählen könnte, ohne über mich etwas auszusagen, sondern nur über die Welt.“ Wer sein Werk kennt, kann es in diesem Worte wiederfinden, wie er umgekehrt überall aus dem Werke dieses Wort abziehen könnte. – Ein Wort des „Helden der Erde“ – das Buch erschien im Inselverlag, Leipzig – lautet: „Ich weiß die Welt. Nur wer Ich bin –: das wußt’ ich nie. Drum sang ich stets die Welt – und sang nie Mich. Oh, nie – nie sang ich Mich!“ Dennoch spricht er von nichts anderem als sich, seinem Erlebnis, seiner Erschütterung in Seligkeit und Trauer.
Die Summe des Gedachten und Gefühlten bringt unter den Menschen wenig Unterscheidung hervor, aber die Unterscheidung, d. i. die Architektur, bestimmt die Summe. In seinem Dasein zu erstaunen und zu erglühen ist jedermanns Schicksal; aber im Erstaunen und Erglühen das Dasein zu finden, ist so selten, daß, wer diese Gabe besitzt, weltfremd geheißen wird. Dann wäre auch Mombert, der nichts anderes als die Welt singt, weltfremd.
Weil er sich den Kräften seines Wesens bis an ihre Grenzen hingibt und nicht nur so weit, wie sie dem Werkeltage der Menschen dienen, befremdet er viele. Mit großartiger Einfachheit erfüllt er jene Grenzen. Er vernimmt etwa das Tosen eines Wasserfalles oder einer Meeresbrandung und hört, wie das Getöse ihn und alles Sichtbare einschließt; was seine Phantasie ihm an Unsichtbarem dazugesellt, ist ebenfalls in das Tönen eingeschlossen, und wären es die Gestirne des Himmels: so wird das All dem Sinne des Ohres zur „Ton-Halle“. – Der Anblick einer Blume entzündet durch den Sinn seines Auges das Lebensgefühl in ihm, der Anblick eines Vulkans entzündet dasselbe Lebensgefühl, der Anblick des Orion wiederum: die drei Dinge und zehntausend andere sind seinem Herzen gleich nahe, gleich heimatlich; ihre Entfernungen scheinen ihm deutlicher und richtiger durch Stärke- als durch Längenmaße gemessen. Die Entfernungen schwinden. Ebenso wie der leise Wind Wolken über den Himmel weht, weht er „eine Wolkenweise über das Herz dahin.“ Wolken und Wind werden dasselbe: für Herz und Welt. Nicht anders als das Dach wölbt seiner feierlichen Empfindung der Himmel über ihm die Halle seines Hauses. – Sein Geist durchdringt alle Regionen der Welt wie sein Gehör oder Gesicht, ohne daß er oder die Welt ihren Ort verlassen müßten, um sich zu vereinigen: die Welt ist eine Geist-Halle.
So beschränkt er seinen Aufnahmeorganen nicht die Freiheit, die ihr willkürloses Gesetz erfüllen will. Sehen, Hören, Fühlen, Denken ist ihm ebenso gewichtig wie: etwas Bestimmtes sehen, hören, denken, fühlen. Auf diese Weise geht ihm das Große wie das Kleine ganz in jeder dieser Kategorien auf, ja, sie würden als allumspannende Kategorien sonst gar nicht existieren. Weil er die Blume zu seinen Füßen wahrnimmt, vermag er auch die Plejaden wahrzunehmen und umgekehrt. Das Erstaunen darüber ist schon ein Gedanke, ein Wunder, eine Offenbarung, eine Verklärung, eine Weissagung. Das reine vegetative Dasein, aus den großen aktiven Kräften der Sinne und der Seele erst vegetativ gemacht, ist das bestürzend einfache und herrliche Geheimnis Momberts. Er kennt nicht die dialektische Vermischung und Eroberung der Welt, sondern nur die durch ihr Vorhandensein in sich und in ihm. Die Organe, durch die sie zu ihrem Dasein erweckt wird, heben die Grenzen der privaten Körperlichkeit auf. Nicht daß mein Auge mir zugehört, erfüllt es mit Gesicht, sondern, daß Gesicht in ihm ist, macht es zum Auge. Die Welt erscheint dem Dichter als seine Persönlichkeit. Dem Dichter? Ebenso richtig dürfte man sagen: dem Seher. Ebenso: dem Denker. Ebenso: dem Sänger. Ebenso: dem Mythenschöpfer. Man täte ihm jedoch unrecht, wollte man die mannigfachen Ausstrahlungen seines Wesens trennen und sie gesondert betrachten; man behielte dann einen an der Seele Verstümmelten, einen optisch oder akustisch Verwirrten oder Verwirrenden zurück. Gerade die Einheit seiner elementaren Beschaffenheit ist es, was Mombert zu einer einmaligen Gestalt in unserer Literatur und in der Weltliteratur macht. Wer aus der kalt mechanischen Gegenwart und für sie Götter- und Heldensagen erfände, müßte wohl abseits bleiben. Mombert tut es und trifft trotzdem in unser Herz. Sein Mythus ist die Helligkeit des heraklitisch Sinnenden, und der ist an keine Zeit gefesselt, ebensowenig wie der Mythus des Traumschauenden, des Musikvernehmenden. (Welche große Musik wäre nicht auch Mythus?) Damit die Welt im Bewußtsein ihrer selbst vollkommen werde, sind mythische Gestalten der Mombertschen Art immer möglich: der Glühende in der Glut des Alls, der Schöpfer in der Schöpfung, der Denker in der Welt als Wille und Vorstellung, der ewige Mensch Aeon in der Welt als Dauer, der „himmlische Zecher“ in der Welt als Rausch und der „Held der Erde“ als neues, zusammenfassendes Gleichnis ihrer aller. Und leichtere, fernere Ausstrahlungen der Persönlichkeit, die am Rande des Faßbaren aus dem ebenso realen Unfaßbaren hereinragen, sind die Dämonen und Geister, Tilotama, die „himmlische Tänzerin“, Sfaira, der „Tänzerjüngling“, die Verleiblichung der ewigen Jugend, die „Blüte des Chaos“. Das Ich, das sie sagen, ist dasselbe, das der Dichter sagt: niemals ist es das Ich der eigentlichen lyrischen Konfession, das seinen Gegensatz zu anderem Ich betonen will. Es ist das Ich der Zeugung, der vollzogenen Verschmelzung. Ich Staub, ich Meer, ich Berg, ich Welt.
Spricht Mombert als der „Held der Erde“, so weiß er nicht im voraus, wie groß oder klein er ist –: an den Dingen, die er benennt, erst wird es klar. Windwolken oder eine Wolkenweise über das Herz dahin? Er ist zugleich groß und klein, zugleich Mensch und Welt. So ist er an den Dingen, die sich mit ihm vereinigen, gleichzeitig vergänglich und dauernd, zugleich ewige Jugend und ewiges Alter. Wölbt sich über ihm der Himmel als die Halle des alten Hauses, so hat der Bewohner der Halle sich damit schon in die Relation des Uraltseins gebracht. Die Empfindung des Himmels sprach das Ich des Empfindenden aus. Auf der Höhe des Gebirges ist die Wasserscheide auch der „Innenströme“, und der Riese, der neben ihm sitzt, sagt sein Ich auch in ihm. Ein Geist aus dem Samen des „Helden der Erde“ schwindet im Ton einer Schwalbe in seine Welt: da ist sein „Haupt im fernen Rauschen gewaltiger Meere. – Auf meinen ruhenden Händen stehen uralte Eichen.“ Ist es nun noch sonderbar, wenn in dem Gedichte von der großen Brücke zum Vorüberzuge über ihr Joch auch die Meere nahen, die „schweren, asiatischen Gebirge, blendende Ararate, Himalaya?“ Ist es sonderbar, daß der Verkünder der großen Brücke sich selbst, Mombert, im Zuge über die Brücke an sich vorüberwandeln sieht? Die eigene Person, der Inbegriff der Gesamtheit, hat sich zur nämlichen Zeit zum Stücke dieser Gesamtheit objektiviert. Ist es nun noch unbegreiflich, daß ein längst versiegtes, zum Muschelkalkgebirge gewordenes Meer seine Stimme wiederfindet, von der frühen Vergangenheit singt und eine unsichtbare Hand über die Jahrtausende dem Helden der Erde hinüberreicht?
Wer die Einheit des innerlich und äußerlich Seherischen in dem Dichter begriffen hat, wird mit ihm die Relativität der Zeit und des Raumes als ein erschütterndes Wunder erleben. Das Größere in jeder Beziehung hat in dem Kleineren Platz. Während dem Zecher aus geflügeltem Helm überfließend Welten tropfen, fällt im Horizontkreise derselben Landschaft „Regen aus grünen Wolken“. Während nacheinander im Hause ein, zwei, drei Leuchter ausbrennen, kämpfen draußen die Völker an Eispolen und in Sandwüsten, die Sieger und deren Nachfahren sind tot, die Geschichte ist tot: Sais, Jerusalem, der Knabe Hylas, selbst das Sternbild Perseus. Am berückendsten ist es, wenn die Verzauberung der Sehnsucht und des Traumes in tiefsinniger Bildhaftigkeit anschaulich wird. Der Held der Erde irrt hinter der Schönheit her „große Tage, die gestirnten Jahre“; inzwischen entstehen Spinnennetze und Vulkanberge; „uns umkreisen die Schiffer aller Meere; unsere Sage singt schon ein spätes Geschlecht.“ Oder seine trauernde Geliebte, die anfangs hinter ihm reitet, durch Wälder, alte, wüste Königreiche, vorüber an zertrümmerten Tempeln, Zisternen, Raubtierlagern, brennenden Städten und allem Ereignis der Erde, reitet zuletzt vor ihm: er hat den Weg um den Weltball, der zwischen ihnen lag, hinter sich gebracht, — nicht sie ihr Pferd angetrieben. Oder ein Vogel auf einer Sykomore schluchzt: „o Sykomore im Herzen! vereine mich mit weltlosem Schlaf.“
Das Heldentum der Erde ist Eroberung ihrer Weiten und Tiefen, aber ohne zu berühren, zu stören, zu verletzen, zu töten. Kühnheit der erkennenden, Rausch der ahnenden Kräfte. Das Lied ist mächtiger als der Mächtigste, die „Geist-Sonne“ mehr als was sie bescheint: mehr als Arabien und Hellas, Indien und Deutschland. Doch der Held hat zu ringen um den großen Frieden, die große Freiheit der Welt, „daß all die Mohn-Glut auf den Feldern weiterschwärme ohne mich, auch um den See des jungen Schiffers das fromme Schilf, die Erlen und die Weiden selig stille bleiben.“ Die Mühsal der Selbstaufopferung geht darum, das Stumme zum Tönen zu erlösen, damit es wieder stumm werde. Den Heldenanfang entzündete Baum, Fels, Wind, Wolke, Strand, „das Gewölbe stillen Himmels; die Seeschwalbe. Und die Blume der Erde“. Und nach unendlichem Streit das Heldenende? „Da ist Quelle, Berg und Gras, Meeres sonnige Bucht, das Gewölbe stillen Himmels; die See-Schwalbe. Und die Blume der Erde.“
So ließ Mombert schon in seinem „Äon von Syrakus“, nachdem sich die Völker an Bord des Geisterschiffes versammelt haben, den Normannen rückblickend die Summe ungeheurer Schicksale und wilder Taten mit dieser Verkündigung aus seinem Stillsten ziehen: „An jeder Wegkrümmung saßen wir ein Jahrhundert, wir betrachteten das Land, Sonne über den Hügeln, windbewegte Baumwipfel und ihre Schatten, das Schweben der Vögel. So vergingen alle Jahrtausende. Das sind unsere Taten. Das ist unsere Geschichte.“
Aber dieses Verweilen im Paradiesgarten der Erde wird den Menschen nicht in quietistischer Andacht geschenkt. Die apokalyptischen Reiter müssen ihn zuvor immer wieder zerstampfen, — wobei ihre Hufe ebensogut den grünenden Acker wie den des Geistes wie den des Herzens treffen können. Mombert ist ein Kriegsmann, jedoch ein heldischer, einer, der sich selbst zum Opfer bringt. Und niemand, der andere gegen ihren Willen opfert, ist ein Held, sondern ein Verbrecher. Es wäre gut, wenn die Kriegs- und politische Geschichte weniger oft nur als Ruhmeshalle angesehen würde, sondern auch als Zuchthaus, in welchem die Raubmörder durch Genialität vom Raubmord nicht freigesprochen wurden und die Sklavenhalter durch Ideale nicht von der Sklavenhalterei, denn letzten Endes ist ihre Zerstörung und ihr Aufbau für das Leben der Menschheit nicht belangvoller als der Gestank, die Bisse und die Beseitigung von Wanzen im Leben eines einzelnen, von diesen Tieren beglückten Menschen. Der zur Entschuldigung moralischer Narretei und Idiotie vielberufene Krieg der Natur ist etwas völlig anderes; er kann allerdings auch in physischer Schlacht der Widersacher zutage treten. Diese Schlachten toben oft in Momberts Visionen. Einmal auf dem Eise eines asiatischen Sees in Gebirgen: es ist wunderbar, daß unter dem Getümmel Züge wandernder Lachse hinstreichen und daß ein schöner Dämon auf der Klippe über dem See schläft, prächtige Naturträume träumend, — vielleicht das Ereignis unter ihm, das Ereignis der „grauenhaften Herrlichkeit der Wut“ und währenddessen der langsamen Geduld zauberischen Wachstums? Mombert liebt kriegerisches Gepränge und kriegerische Symbole. Sein Lieblingsinstrument für Pans Frieden ist die Vogelkehle, für Pans Kampf aber die Trompete. Ein Gedicht im „Helden der Erde“ lehrt uns, wann zur Trompete gegriffen wird: aus asiatischem Meere kommt ihm Einer entgegen, ihn zu schauen; der Brandungsdonner, die Mauer der steilen Wogen trennt sie, und sie verstehen, wo das Wort zerbirst, einander durch Trompetensignale.
Er haust nicht nur hier, sondern fast immer in heroischer Landschaft, überfunkelt von dem Plejadengotte. „Asia erschien“, das Quellgebiet der Menschenströme, voll großem Traum und großem Fieber, dämonisch und barbarisch, ursprungnah vor großer Jugend und großem Alter. Er liebt die Vulkane und Geiser, die Domberge und Felsensilberhörner, die Eisgehänge und Wasserorgeln, die Wüsten und vor allem die Meere, – besonders zärtlich aber die heimischen Ufer des Rheins. Hier finden Sinne und Geist, die ja identisch mit ihrem errungenen Inhalt sind, ihren gewaltigen Wuchs: sie werden scharfe, harte, glänzende Schwerter. Wohin wird das Schwert des Geistes gestoßen? Mombert sagt es in einem frühen Hymnus, den er in seinem jüngsten Buch an bedeutender Stelle wiederholt: — mitten in das eigene Herz, und das Herz muß das Schwert verschlingen und dies überleben. Dann: „Nun lieg’ ich trunken zwischen Blumen: Mitten im Himmel: in dem Garten der Welt.“
2.
Wer in der Stimme des Meeres die Stimme seines Ichs vernimmt, wem der Himmel als die gewölbte Halle seines alten Hauses über dem Haupte steht, wer da sagt: „Die Erde grab’ ich gern, die braune, feuchte. Ich bin so oft gestorben“ oder: „Ton über Urgebirgen im Nebelmeer, zeitloser Schlafsänger, Einem singst du: Mir, dem ewig Schlummerlosen“ –: der hatte wohl seinen Geburtstag, als das Meer, der Himmel, die Erde, die schlummerlose Musik in ihm geboren wurden.
Läßt sich nie das Alter eines Geistes nach Kalenderjahren angeben, so führt diese Unmöglichkeit bei Alfred Mombert doch mitten in sein Wesen. Sein Geist wird erst fruchtbar an dem Punkte, wo das „Er“ (nicht das „Du“) sich zum „Ich“ verwandelt. Das Hinübergleiten in das Du wäre sentimentalisch, es wäre noch egoistisch. Mombert aber ist der völlig unegoistische Dichter. Das ist schon Erklärung genug dafür, daß er so wenig in die Menge der Leser gedrungen ist, die sich ja sogar durch Größe zuweilen hinreißen läßt, wenn die Teilnahme der privaten Persönlichkeit nicht ausgeschlossen wird. Die Verzauberung des „Er“ in das „Ich“ enthält sodann die Erklärung dafür, daß Momberts Werke als Dichtungen im herkömmlichen Sinne nicht zu umgrenzen sind: was da klingt, ist zugleich Anschauung; da die Anschauung aber Anschauung der Welt ist, so ist sie Erkenntnis, Kunde, Weisheit; da diese Kunde zum alleinigen Inhalt der Phantasie wird und das Innen so gleichsam stets ein Außen bleibt, so ist sie Sehertum; da die Vision ausschließlich das Wort erfüllt, so erzeugt sie den hymnischen Klang des Wortes. Damit schließt sich der Kreis, und bei welcher der Geistesgaben Momberts man immer beginne, jede rundet in unzerbrechlicher Kausalität den ganzen Kreis der aufnehmenden und gestaltenden Kräfte.
Sich die Welt einfallen zu lassen, darin lag zu allen Zeiten das einfache Geheimnis der geistesschöpferischen Größe. Wem das genug war, der hatte in seinem Leben der Mühsal genug, sich einen der tausend Wege dahin zu bahnen. Wer eine Aufgabe darüber hinaus suchte, hatte lebenslang damit zu tun, eine Manier auszubilden, wie er seinen Weg gehen wolle. Manier wird bei Dichtungen meistens mit Stil verwechselt, und Stil wird sehr häufig als Manier empfunden. Stil als geistiges Schreiten, als Offenbarung der inneren Ordnung, trägt eine Redeweise, die nicht in Rede (als Inhalt) und Weise (als Form) zerfällt werden darf. Gibt Mombert nun die Welt in ihrer schlichtesten Wesentlichkeit: die Welt als Dasein, — so hatte seine Leistung das Ungeheure an Konzentration zu bestehen. Denn ein Gebirg, einen Vulkan, eine Wüste, eine Blume, einen Vogel nur zu nennen, das bleibt so jenseits von den Dingen, als wären sie nicht vorhanden. Sie zu sehen, zu hören, zu denken scheint unmöglich, ohne sie auf ein Subjekt zu beziehen. Damit werden sie isoliert, aus ihrem Frieden gerissen, in einen menschlichen Horizont gestellt.
Momberts Gedicht nun sucht den Standort, wo die aufnehmende und aufgenommene Gegenwart sich fast vereinigen, wo es nahezu das gleiche ist, gesehen zu werden und zu sehen, Gehör zu sein und zu hören, Gedanke zu werden und zu denken. Er hat erst dann einen Sinn des Auges, wenn etwas da ist, was es Gesicht sein heißt. Er versteht erst dann zu horchen, wenn ein Getön vorhanden ist. Der erregende Eindruck hat ihn jedoch ganz. Erfüllt das Brandungsgetöse den Dom des Himmels, so wächst er seiner Gewalt nach bis in den Himmel hinauf. Ragt der Krater bis über die Wolken, – der Riese, der nur Gesicht ist, wird zum Geist von Überwolkenhöhe. Das Ich wird so klein wie die Blume im Walde, so wüst, daß es das Sternbild des Orion berührt, es wird so alt wie die Gletscher oder die Völker, deren Geschichte es ahnt, es wird so flüchtig wie der Hauch, der vorüberfährt. Es beichtet keine Erlebnisse in der Welt, es bekennt nur das Erlebnis der Welt in ihrem Augenblick, in ihrer Ewigkeit. Die Richtung aller Schmerzen und Freuden ist weltwärts und welther. Er vernimmt eine Quelle: da wurden alle seine Leiden rinnendes Wasser. Sein Ringen ist, den Inhalt und Wert des Seienden unangetastet zu lassen und statt dessen die Relation des Größer oder Kleiner auf sich selbst zu nehmen. In diesem Verstande erscheint er, um es nach den Titeln seiner Bücher zu benennen, als der „Glühende“, der „Schöpfer“, der „Denker“, als „Äon“, der ewige Mensch, als „der Held der Erde“. So darf er die schwermütige Ahnung des Weltsinns, wie er uns allein erreichbar ist, in den Klang fassen: „Ich bin die Musik der Welt. Und wenn Musik einschlafen könnte – ja, dann schlief' ich ein.“
MORITZ HEIMANN
„Prosaische Schriften“. Bücher ohne Titel, — aber der Titel eine Persönlichkeit. Schlagen wir sie irgendwo auf und schmecken ihren Gehalt, so ist auch dieser gleichsam ohne Titel und dennoch ganz persönlich, und dies allein durch seine genaue und vollkommene Sachlichkeit. Vergleichen wir die Persönlichkeit dieser Bücher mit denen der anderen Essaysammlungen unserer Zeit, so werden wir sie klassisch nennen müssen.
Wer schrieb die Bände?
Ein Laie.
Das ist nach des Autors Begriffsbestimmung ein Mensch zwischen Sachverständigkeit und Dilettantismus. An dem großen Beispiel des Laien, das die „Prosaischen Schriften“ geben, erkennen wir die Höhe und Schönheit des Laienstandpunktes: Materiell braucht dem Laien nichts verschlossen zu bleiben, was einem Lebendigen durch Sinn und Seele gehen kann, konstitutionell gehört zu seinem Begriffe die Bereitschaft und Lust, sich zu erfreuen, zu erfrischen, ebenso wie der Gegenpol, — der Ernst, die Verantwortung und Verführung, zu erforschen, zu ergründen und zu bestehen. Es gehört die Klugheit des Willens dazu, vor der Wahrheit nicht kurzsichtig und durch Liebe nicht weitsichtig zu werden, ja, zuletzt die Weisheit, sich ganz hinzugeben, ohne sich aufzugeben, sich ganz zu bewahren, ohne zu verdumpfen. Dies alles wäre für niemand möglich, der seine Organe nach allen Seiten klaftern ließe und selbst verharren wollte. Der Laie weiß keinen Weg, aber er findet einen, indem er geht, er schafft sich einen Boden unter die Füße, indem er sie ins Bodenlose setzt. Laie sein ist keine Sicherheit für das Ich, wie es keine Gefahr für die Welt ist. Es ist überhaupt keine bloße Eigenschaft, sondern eine Gabe: es ist die Form der Persönlichkeit. Füllt sich die Form mit einem System, so wird der Laie ein Philosoph heißen, ergreift sie durch reine Anschauung einen Inhalt, so wird er ein Dichter sein.
Was also enthalten die Essays Moritz Heimanns? Ein Band beschäftigt sich mit dem Leben des Menschen im Staat, mit politischen Ereignissen der Gegenwart, ihren Voraussetzungen und Folgen, mit der geschichtlichen Realität und Idealität, mit dem Wesen ihrer ausgewirkten und potentiellen Kräfte. Dem Leben der Vielen mit den Vielen setzt ein anderer Band das Leben des einen mit dem anderen entgegen: Walt und Wult; Dionysos und Apoll; der Mensch und sein Nachbar, sein Haus, sein Dorf; der Mensch und die Welt, – der Mensch und er selbst. Wieder ein Band betrachtet, wie die Fülle dieser Verhältnisse von anderen in der Dichtung angesehen wurde.
Im Vorworte dieses Bandes findet sich die Bemerkung, fast jeder seiner Aufsätze habe noch ein anderes Thema als das ihm übergeschriebene. Sie ließe sich auf das Gesamtwerk ausdehnen. Und wir ahnen, sie würde auch dann zutreffen, wenn sich das Gesamtwerk an Umfang verdoppelte oder vervielfachte. Denn das zweite Thema weist immer auf ein gemeinsames Urthema zurück, dessen Verkleidung es ist. Heimann sagt einmal: „Es ist mir, als ob ich in allem, was ich schreibe, einen einzigen Gedanken suchte; vielleicht aber suchte er sogar mich. Ich wünschte, daß ich ihn in Worten noch nirgends ausgesprochen hätte und daß er doch überall vorhanden wäre; ausgesprochen, würde er, wie jeder allzu zentrale Gedanke, den blinden Fleck im Auge haben.“ Da Heimann den zentralen Gedanken nicht kennt, konnte seine Absicht auch keine Gleichnisse für ihn erfinden, aber indem er sich mit der Geduld und Unruhe des wahrheitsuchenden Geistes, am liebsten unter dem Gericht und Urteil der Sinne einer scheinbar zufälligen Einzelaufgabe hingibt – und nur dann – bildet er an seinen Gleichnissen. Er geht seinem Ergebnis entgegen, wie dieses ihm, bis zu dem unnennbaren Gleichgewichtspunkte, wo die ungeheuren Widersprüche des Daseins der Welt ruhen. „In diesem Gleichgewicht der Teile, in dieser Bizentralität des Ganzen und in der nahezu physischen Wirkung davon muß etwas von einer Wahrheit über jedem Inhalt gewesen sein,“ sagt er. Der Laie darf der Gerechte heißen.
Besteht für ihn heute eine Wahrscheinlichkeit auf Gehör sowie die Sicherheit der Aufmerksamkeit in einer langen Zukunft? Heute herrscht der Radikale oder meint doch, das ausschließliche Anrecht auf Herrschaft zu haben. Als politisch Extremer wirft er seine ganze Leidenschaft, sein ganzes Hirn, seine Nerven, sein Leben hin, um die Herrlichkeit des bisherigen Reiches zu verewigen oder seine Verruchtheit bis auf den letzten Fäulnisgestank auszurotten. Radikal bleibt er selbst als Trotteur auf der Mittelstraße: gäbe es wohl etwas Gerechteres als Demokratie? und wäre sie noch so spießerhaft und blind, — kann man sie denn noch weiter ausdehnen als auf alle? muß man ihre Feinde nicht haschen und schießen in heiligem Krieg? Ebenso überlärmt der Radikale den Willen der Kunst mit seinem Willen. Bis vor kurzem wurde der Sinn künstlerischer Entwicklungen nachträglich bedacht, wie erst nach der Geburt eines Kindes sein Geschlecht, sein Gewicht und seine Lebensfähigkeit erkannt wird. Heute heißt es etwa: ich zeuge hiermit den Riesen Megaprazon, er wird hundertjährig auf die Welt kommen und ein anerkannter Flegel sein. Der Radikale tritt in der Moral als der unduldsame Liebesprediger, als der blutrünstige Gütige auf. Seine religiöse Gläubigkeit bezeugt eine mechanische Gebetmühle von ungemeiner Handlichkeit, die auf allen vier Flügeln in stolzer Fraktur das Wort Gott trägt.
Nichts von alledem ist in Heimanns Schriften. Und doch sind sie voll von einem Eifer, der nicht schläft, von einem Ernste, der sich nichts abdingen läßt: radikal: zu den Wurzeln dringend, aus den Wurzeln wachsend, nicht die Wurzeln ausreißend. Nur einmal scheint er mir einen künstlichen Baum zu behandeln wie einen natürlichen: den Staat. Als ein Gebilde des formenden Menschenwillens ist dieser unheilig, und für jeden Einzelnen wird der Beginn des Widerspruchs gegen ihn an einem anderen Punkte liegen, eines Widerspruchs, der notwendig ist, damit Menschenwerk nicht vergottet oder vergötzt werde. Heimanns grundsätzliche Gedanken über den Staat, die mich seelenhafter erregen als die aller anderen, führen mich zuweilen in eine ihm entgegengesetzte Konsequenz. Heimann sagt: „Wir sehen die Menschen zusammenfließen nach der Einheit der Rasse, des Glaubens, der Nation, des Standes selbst, des Berufes, alle diese Gesetze kreuzen einander, stören, stärken, fördern und hemmen einander. Und allen mitsamt widerspricht der Staat als ein künstliches Gebilde, benutzt sie alle, deckt sich mit keinem, ja verhindert, daß sie untereinander sich einigen und zur Ruhe bringen. Keine natürliche Bindung der Menschen soll Herrschaft behalten, das erfordert der Bestand und die Erneuerung der Seele, und das leistet der Staat.“ Die Mittel dieser Leistung, die der eine als Weisheit verehren muß, muß der andere als Anmaßung verwerfen. Aber da Heimanns Gedanken über den Staat im letzten Grunde auf innere, d. h. schöpferische Politik gerichtet sind, müssen ihm die Leser, die sich sträubten, mit willigem Gehör rasch wieder folgen.
Die Aufsätze Heimanns sind Dichtung, in keinem formalen und inhaltlichen Sinne, aber in einem subtil menschlichen.
Macht der einzige Lebensgedanke, der wie das Herz des Geistes schlägt, der immer wieder erschüttert und nährt, auch das Wesen des Dichters aus? Jeder erinnert sich seiner hohen Ergriffenheit, als er in Schopenhauers Vorrede zu seinem Hauptwerk las: „Was ... mitgeteilt werden soll, ist ein einziger Gedanke. Dennoch konnte ich, aller Bemühungen ungeachtet, keinen kürzeren Weg ihn mitzuteilen finden, als dieses ganze Buch.“ Als der Philosoph ein Menschenalter reifer geworden war, hatte sich das Buch im Dienste dieses Gedankens sehr geweitet, und neue Bücher waren dazugekommen, und ganz zu Ruhe gegangen ist das Erregende wohl erst im Tode. Ein Denker mag darauf vertrauen, daß ihm die Ausprägung schließlich gelingen werde, ein Weiser mag es hoffen, ein Dichter weiß, er wird es nie vor Augen haben, wie sein leibliches Herz. Und vollkommen, unverletzlich sinnvoll ist es auch beim Philosophen nur in der entrückten, strömenden Dumpfheit; in begrifflicher Fassung ist es irgend einmal mit Begriffen angreifbar und zerstörbar: das Fortleben vieler Denker ist das Fortleben der Dichter. Was sie für das Letzte hielten, war nur ein Vorletztes. Ihr Gebäude war eine Wohnung nur eine Zeitlang, der Ort und der Sinn des Gebäudes dauern. So bewegen sich denn die intuitiven Geister des alten Chinas, wo sie so wahr sind, daß sie die Grenze des Verstummens fast erreichen, freiwillig gegen die Grenze des Dichterischen, des tönenden Verstummens. Wo sie in Worten am hellsten strahlen, sind sie am heimlichsten.
Etwas vom Wesen Laotses und Tschuangtses lebt in Heimann, in den schönsten seiner Dialoge und in manchen Geschichten aus dem Alltag der Welt auch der Form nach. Während ich dies niederschreibe, ist meinem Gewissen ein Wort aus seinem „Joachim von Brandt“ sehr wohl gegenwärtig: „Wer mich überschätzt, unterschätzt mich irgendwie.“ Und dieses andere: „Mach ihn nicht größer als er war, du machst ihn damit kleiner.“
Nach einem Ausspruch Heimanns läßt sich der Rang eines Menschen nicht nach der Fülle der Dinge in ihm bestimmen, sondern nach der Reihenfolge, in der sie ihm wichtig sind. Aus diesem Gesichtspunkt gesehen, bilden alle seine Schriften eine Einheit. Fast alle enthalten den ganzen Heimann, wenngleich sie ihn nicht ganz enthalten. Das ist ein Grund dafür, daß die meisten von ihnen in keinen der geräumigen Schübe passen wollen, in welchen die moderne eilige Trägheit die geistige Produktion täglich unterbringt, damit ihr Haufe nicht wachse und störe. Heimanns Äußerungen über Bücher sind nicht nur Kritiken, obschon das Urteil in ihnen bei aller Knappheit schärfer, reichhaltiger und wesentlicher ist als das der meisten Kritiker — eine ernst ausgreifende innere Struktur kühlt das Vergnügen, Preis und Tadel zu hören, ab. Seine politischen Aufsätze knüpfen an so gleichsam ungebildete Realitäten der Menschennatur an und beginnen so von Grund aus, daß der gelehrte Realpolitiker, dessen Gelehrsamkeit doch viele Quellen hat statt der einen (vielleicht sogar diplomatische) wohl nicht anders kann als ihn einen Dilettanten schelten. Seine Anmerkungen über äußere und innere Erfahrungen gar stehen so abseits von allen literarischen Kategorien, so entfernt von dem einzigen brüderlichen Helfer Lichtenberg, daß nur noch der ruchloseste Lobtadel zu ihrer Ablehnung gefunden wird, der sich in Worten wie „fein“, „geistreich“ und „Plauderei“ kundgibt. Vollends in den Dramen scheinen für den Zuschauer, der nur ihr mechanisches Gespenst und nicht sie selbst gesehen hat, die Nachdenksamkeiten eine Tyrannis zu üben und um des eigenen Glanzes willen Löcher in das Kunstwerk zu reißen.
Und doch, alle Werke des Dichters münden restlos in seinem Daseinsgefühl. Jener immer und nie ausgesprochene Urgedanke läßt ihre Mannigfaltigkeit hervorgehen. „Ich kann eine Tat nicht wollen, die nicht mich will.“ Die schlaflose Kümmernis und die unendliche Besänftigung des Wissens, zwischen den Polaritäten der Welt irgendwo einen Platz zu haben, durchschüttert sie immer wieder. In „Der Feind und der Bruder“ sagt Pallas einmal: „Ich weine, weil ich weiß, daß ich Pallas bin, weil ich ein so überwältigend Alles fühle, wenn ich mich fühle.“ Aber was heißt das: alles, wenn man nicht weint oder gelöst ist durch Musik? Es spaltet sich in unzählige extreme Gegensätze wie Notwendigkeit und Freiheit, Subjekt und Objekt, Ewigkeit und Vergänglichkeit, die insgesamt Gleichnisse für ein und dieselbe Bedrängnis sind. Und die Wahrheit „liegt zwischen zwei Extremen, aber nicht in der Mitte“. Das Suchen und Finden, das Verlieren und Festhalten dieses Wahrheitspunktes macht die farbige Verzauberung des Menschenlebens aus. „Jeder menschliche Geist hat seinen Platz zwischen Idealität und Realität von Natur und Wahl. Eine kleine Verschiebung des Geistes zwischen ihnen näher nach der einen oder anderen Seite, und das Weltbild ist bis in die letzte Faser verändert.“ Ein glückliches Gleichgewicht zu finden aber ist nicht lehrbar. Es wird mit den Menschen geboren, es ist Tao. Aber das Schwanken des Menschen um dieses Gleichgewicht anzuschauen, das ist für den Dichter, als banne er die Magie des Züngleins an einer Wage, die die Welt selbst in ihren Schalen hätte. Er faßt im Begreiflichen das Unbegreifliche. Zwischen Aktivität und Passivität, Stillehalten und Sichwehren, läuft der Weg des Lebens, – und wieder muß es heißen: doch nicht in der Mitte. Dieses „doch nicht in der Mitte“ ist überall das Eigentliche, das Leben selbst, in seiner Bewußtheit und Unbewußtheit. „Nur das ruhende Herz hat die Welt, aber wie will ein Herz, das ruht, die Welt ertragen?“ Wie jedes Sandkorn auf der Erdkugel durch Längengrad und Breitengrad bestimmt ist, ob man es wisse oder nicht, ob man daran verzweifle oder es hinnehme, so hat jede Seelensekunde ihre Wirklichkeit in dem Funken, der dort springt, wo zwei unendliche Widersprüche aufeinanderprallen, ob man einen ihrer unzähligen Namen wisse oder nicht. Und mitunter ist das Wissen darum der Tod. Heimann hat einmal das verderbliche Wissen zum Thema einer Novelle gemacht. In der „Fylgja“ sieht der Held sein Daimonion; er muß daran sterben. Er hat den Schlaf des Lebens geweckt und ist wie „aus der Kette der Notwendigkeit geschleudert“. Denn „die Notwendigkeit entzieht sich jedem Urteil, auch dem zustimmenden“. Im „Joachim von Brandt“ wird in einer tiefsinnig fröhlichen Szene ein Vagabund in diesen Wach- und Wahrschlaf versenkt – es ist bloß ein übermütiger und bitterlicher Scherz — und sein Ungeschick wendet sich: der betrunkene Nehls verfehlt immer wieder das Hoftor und rennt gegen den Pfeiler, da muß er die Augen schließen, und nun findet er sofort den Weg. – „Es ist, als ob das dunkle Licht auch ohne mich da wäre, das helle aber ohne mein Auge nicht.“
Ich erinnere mich seiner tiefen glücklichen Erregung, als Heimann in einem Kreise von Freunden die Entdeckung des physischen dunklen Lichtes erzählte, eines Lichtes, das jenseits der Skala rot-violett die dem hellen Licht undurchdringbaren Körper durchdringe. Er war enttäuscht, ja traurig, als die meisten diese Nachricht aufmerksam, aber nur wie etwas Interessantes anhörten. Er hatte eine gleichnishafte Bestätigung einer gesetzhaften Gewißheit gefunden, war wieder auf die wunderbare Grenze zwischen regloser Materialität und Gottheit gestoßen. Und sein Aufsatz „Das dunkle Licht“ führt in großartiger Kühnheit das Gleichnis weiter; das dunkle Licht ist wie das Unsterbliche in uns, das nicht uns unsterblich ist, das, bei unsren Lebzeiten schöpferisch, auch nach uns schöpferisch bleibt.
So findet er seinen kosmischen Trost für seine Unstäte. Er braucht ihm in keiner Ferne nachzuschweifen, denn „nah ist mir nur auf andre Weise fern“. Und da er im Greifbaren bleibt, kann er hochgemut sein und kann zugleich nicht hochmütig werden. Das Wort Gott, als ein Ausdruck des Hochmuts, kommt in seinen Schriften nicht vor, — zuweilen höchstens der mythologische Name Gott. Glaubt er an eine übersinnliche Welt, so vergißt er nicht, daß diese nicht göttlicher sei als die sinnliche; man kann ja nur beide Welten in die Hand bekommen oder keine. Da niemand in ihnen einen festen Standpunkt hat, soll er, entschlossen tätig, nach seiner Kraft leben, und er wird einen gewinnen. Daß der Mensch etwas anderes ist als seine Augenblicke und Tage, wird erst offenbar werden, wenn er seine Augenblicke und Tage vollbracht hat. Und morgen wird er an dem, was er ist, vielleicht auch erkennen, was er heute getan hat. „Auf dem Strome will ich fahren, von dem Glanze selig blind“, diese Verse Eichendorffs zitiert Heimann gern.
Um seines ernsten, ihm stets gegenwärtigen Bewußtseins willen hat er zum Erlebnis ein Verhältnis der reinlichen Verantwortlichkeit und Feierlichkeit. Man spürt an den Helden und Heldinnen seiner Dramen und Erzählungen, wie er festlich hegend und zubereitend ihre Stärke und Leidenschaft hinausgeleitet, damit sie, blind und nicht zielend, sich selbst erfülle und dann plötzlich verwandelt und sehend sei als Schicksal. Eben noch frei, ist sie nun unwiderruflich geworden. Seine starken, frischen, tapferen Menschentiere wittern irgendwie das Schicksal, sie schauern auf vor den drei Toden Wollust, Nacht und Musik. Die Schwächlichen merken nichts voraus und kreischen erst auf, wenn sie überfallen und unterlegen sind, wie Beatrice in der „Liebesschule“ von der Nacht überfallen ist. Ein solches Aufkreischen ist es auch, wenn in der „letzten Ohnmacht“ der Vater sein Kind erschlägt oder Dr. Wislizenus den Landstreicher. Das flaumfederleichte Motiv der Tat ist nach ihrer Vollführung von allen Mächten der Welt nicht mehr zu bezwingen, — wie denn von dem Täter? Für den naturhaft Glücklichen jedoch ist sein Erlebnis das selbsterworbene Erbe seines Wesens. Sei es sündhaft, so ist es Segen, sei es Trauer, so ist es Gnade. Auch das Ertragen kann ein Tun sein, wie der weise Narr Anselmo mit ebenso großer Kunst Schläge erduldet wie sein Herr Manfred schlägt. Und im „Wintergespinst“ steht die Tragödie eines Knaben, dem sein wahrster Besitz genommen wird, sein Unglück, das ihm die Tage voll und quellend macht. Den gediegensten Wert aber schenkt die Tat, die den Weg zu einer Idee – in Platos Sinn – öffnet. Der Liebende wird den Eros finden, der Freundschaftliche das Ethos. Dionysos wird sich in Apoll verwandeln, während er Dionysos bleibt, oder in unserem schlichteren Norden Wult in Walt. Das Ringen um das Ideal ist bei Heimann die größte Prüfung seiner Menschen. Dabei will der Dichter ganz, was seine Geschöpfe wollen. Nur erniedrigt er sie nicht: er versucht nicht seine liebenden Menschen, sondern die Liebe in ihnen; er entwirrt nicht die Verwirrten, sondern die Verwirrung. Die Fabel, die sich zwischen ihnen zuträgt, wird durch keine Philosophie gekrümmt, aber sie ist vielleicht eine Philosophie. Das Erlebnis braucht darum nicht laut zu sein, um die äußerste Spannung zu entwickeln. In der Liebesschule genügt eigentlich das Verrinnen einiger Zeit, um die ganze bittere Seligkeit dieser ewig veränderlichen und durch Veränderung ewigen, das ist wirklichen, Seelenwelt zu durchmessen; in der „Tobiasvase“ reicht das Geschenk einer Vase und die Bitte um ihre Rückgabe hin, um diese Novelle zu einer Freundschaftsschule zu machen; im „Joachim von Brandt“ findet nicht die lärmende Kraft des Rittmeisters ihr weitestes Ziel, sondern die schweigende in jener anderen Liebesschule mit Josephe und der anderen Freundschaftsschule mit Eysen. In unberührbar einsamer Stille vollziehen sich alle über den Menschen für seine kurze Frist und für die Äonen entscheidenden Ereignisse, einmalig wie Geburt und Tod. Wenn Heimanns Gestalten diese Entscheidungen, in die sie niemand begleiten kann, erfahren, ergreift uns immer die Stimmung seiner Verse: „Immer schimmert es in deinen Augen von Tränen, die nicht kommen und nicht gehn.“
Eine einheitliche Stimmung liegt auch über des Dichters Gesamtwerk: die des großen Schauspiels – eines Schauspiels, das Schauspiel, Komödie, Tragödie umfaßt und überleuchtet, so sehr sie alle ihr besonderes Klima haben, Altwien, Venedig, Brandenburg. Mancher Dichter verliert niemals das idyllisch Stubenwarme, was immer bei ihm vorgehe, mancher nie das Hitzige, das Romantische, das Humorhafte. Hier bei Heimann waltet der Blick, der sich um das einmalige Gesetz der Welt nicht betrügen lassen kann. Noch im Dunkel des Todes der beiden Geschwister Tuzio und Pallas ahnt er das Leuchten jenes dunklen Lichtes, hört er das, was er das Anonyme in den Erscheinungen nennt, nach einem Namen rufen. Das ist kein Mangel an leidenschaftlicher Beteiligung, wie ein unplatonischer Skeptiker meinen möchte, im Gegenteil, die Leidenschaft verläßt die fetischistische Sphäre mit ihrer Notdurft an Schuld und Rache und greift in die Sphäre der Ananke über. Es ist verkehrt zu glauben, daß man als Künstler Gestalten fälscht, wenn man sie nicht oberflächlich nimmt, daß man sie zu tief nimmt, wenn man sie so tief wie möglich nimmt. Es kommt auf die Wahrheit an, die in einem solchen Falle mit dem Können identisch ist. Heimann würde die Klarheit des Allgemeinen nicht erjagen, wenn er die des Einzelfalls nicht fühlte, da diese ja nach seiner Urerkenntnis die Voraussetzung jener ist. Nur muß sich der Zuschauer dazu bequemen, ihm die Finderschaft eines neuen dramatischen Typs — seines — zuzubilligen. Man zeigt soviel Geduld und Neigung allen Versuchen gegenüber, die mit revolutionärer Geste daherkommen, beweise man sie auch vor einem, der sich bei dem stolzen Anspruch seiner Tatsächlichkeit bescheidet.
Von den Werken Heimanns, insbesondere von den Dramen, gilt, was er an einem anderen Dichter rühmt: sie lassen sich auf verschiedene Weise lesen, poetisch, moralisch und physiologisch – das letzte so deutlich wie das erste. Bis in das Einzelne läßt sich die Übereinstimmung des physiologischen Zustandes mit dem psychologischen verfolgen. Eine tiefe Wachheit und Aufrichtigkeit ließ sie den Dichter überall auffinden. Der Trennungsschmerz tut Lippa in ihren beiden Schultern weh, Konstantin Lamm niest nach seinem Todschlage, mehrfach wird bemerkt, daß langes Hören anstrengenden Gesanges den Hörer in der Kehle schmerzt. Grauen zerspelle wie ein Sieb, melodischer Laut dringe weiter als Lärm; das Plinzebacken im „Wintergespinst“, die Geschichte der Brille in „Mr. Tullers Respekt“, die Wahrnehmung, daß die Wollust immer ernst sei und viele ähnliche Züge gehören hierher. Eine Offenheit, die sich nirgends bewahrt, zeichnet Heimann bis in sein persönliches Leben aus. Sie sammelt, um auszugeben. Geringere Autoren streuen private Vertraulichkeiten aus und nennen das: die Wahrheit bekennen. Im Gegensatze dazu kommt man dem Wahrheitsagen Heimanns am nächsten, wenn man seine Werke auf die drei Weisen gleichzeitig liest, wobei der Glaube an den Wert des Privaten in der Kunst verschwinden wird.
Totalität ist die Besonderheit seiner Dramen. Totalität macht auch die kleinen prosaischen Schriften einzigartig. Ohne von seinem Thema abzuschweifen und es zu überbürden, behandelt ihr Schöpfer doch nicht nur ein Thema. Selbst die Schriften, die in ein Fach schlagen, sind keine Fachschriften. Und wo er praktische Vorschläge macht, wie besonders im Politischen, Vorschläge, deren Dringlichkeit ihn brennt, tritt er doch nie gleichsam als Spezialarzt auf. Er lehrt, indem er lernt und, handelt es sich um Großes, verehrt. Er dient, allerdings nie unterwürfig, sondern auf die hochherzige Weise, die keinen an Glück und Art unterschiedenen Herrschenden anerkennt. Er dient, wie ein Dichter dient. Wo er nicht Dichter sein kann, ist er der Bruder des Dichters. Und wieder finden sich Walt und Wult zusammen. Er wünscht, politisch die Zustände zu schaffen, die schon sind, nur verdumpft und verdunkelt, er wünscht, das Volk seiner immanenten Idee näher zu bringen. Allein dies heißt ihm Entwicklung. Das geschichtliche Werden, läuft es etwa anders als angenommen, kann seinen Gedanken nicht Lügen strafen, ihm höchstens entschlüpfen. Was ist historische Glaubwürdigkeit? „Mehr Wahrheit als einer in die Welt hineinträgt, wird er auch nicht finden, nicht mehr und nicht weniger.“ Die Politik ist ihm eine Geistesschule neben den Seelenschulen. Sie zwingt – aber wiederum auf keiner goldenen oder anderen Mittelstraße! – Stellung zu nehmen zwischen „Journalismus und Chiliasmus“. Der Mensch werde „nicht aufgelöst durch die Zelle und nicht erdrückt durch die Sterne“. Die Straße zwischen jenen leeren Meeren ist unentrinnbar, doch ist sie nicht für jeden dieselbe. Er wird dennoch manchem mehr Festigkeit und Licht geschenkt haben, als einer, der völlig seines Sinnes war.
Das hat in der jenen unaussprechbaren Quellgedanken überall bergenden Realität Heimanns den Grund. Auch sie ist Totalität, und nach ihrer künstlerischen Ausprägung gewertet, keine Realität des bloßen Realismus, sondern eine weltbürgerliche, und die Welt schließt sich zu erstaunlicher und bezaubernder Gleichheit mit der engsten Heimat zusammen, der unendliche Sternenraum mit der Zelle. Heimann entstammt einem märkischen Dorfe. Sein Haus und der Baum davor liegen an der Landstraße in alle Welt. Wenn er von ihnen spricht, sieht sein Auge und hört sein Ohr dabei das über die ganze Erde Verhängte. Im Dorfe, wo, umgekehrt wie in der Stadt, die Arbeit offenbar und die Muße verborgen ist, kennt man nicht den anmaßend wohltätigen, Allegorie und Anthropomorphismus schaffenden Ferienblick in die Natur. In einer kargen, sparsam geschmückten Landschaft muß man genau und sehr aufmerksam sehen (und dennoch nicht hinsehen), um die geringe Auf- und Abbewegung des Bodens zu bemerken, gespannt und oft horchen (doch nicht mit rationalistischem Willen), um ihren Rhythmus zu vernehmen. Doch dann begreift man vielleicht wie Heimann das nächtliche Knacken im Hause als den auf Jahrhunderte auseinandergezogenen Laut des Zusammenbruchs, erspürt vielleicht in winzigen Sandwellen dieselbe Hand, die das Meer und die Berge faltet. Heimann hat seinen Eindruck immer ganz unbezweifelbar gewiß, sonst könnte dieser nicht soviel tragen. Die subjektive Tiefe und Intensität ist in jedem Falle so unbefangen gesichert, daß er nachträglich unterscheiden und ihren Grad angeben kann.
Die Heimat führte ihn zur Prägnanz. Diese ist oft schon das Poetische, wie sie das Moralische, das Physiologische ist, – und eine verkleinerte Wiederholung der Eigenschaften seiner Gesamtleistung. Sie ist seine Natürlichkeit. Sie kennzeichnet seinen sprachlichen Stil, der, ohne sich einer Manier zu bedienen, unverwechselbar bleibt. Der ganze Reichtum wird ohne Völlerei und Schwelgerei verbraucht, nichts hinzugeborgt und nichts zurückbehalten. Dieser beredte Mund setzt nie die Worte nach ihrer Schönheit. Wer seine Rede ohne Trägheit hört, wird hinter den Worten wieder die Dinge erscheinen sehen, von denen sie ausgingen, unberührt, nur — täuschten wir uns? – wo vorher Chaos schien, ist jetzt Ordnung. Die Dinge haben die Schwermut der Dumpfheit verloren, sie sind beglückt, doch die Schwermut ist auf den Redenden übergegangen. Ein Stückchen Dialog lautet: „Du bist sehr hübsch. — Was sagt Ihr das so traurig? — Weil ich es sage.“ Und an anderer Stelle heißt es, die Engel sprächen nicht, sie sängen auch nicht, sie seien Gesang. Der Mensch aber ist nach des Dichters verstummender Demut die Flöte, durch die der Geist fährt, und der Gesang lebt nur in der Veränderung ihres Holzes fort; in der Veränderung durch den Gesang.
WILHELM LEHMANN
I
Wären die bisherigen Romane Wilhelm Lehmanns in der Vorkriegszeit entstanden, so tönte die Stimme dieses Dichters vielleicht nicht in jene ungewisse Umwelt ohne Widerhall, in die heute beinahe jeder echte Schöpfer hineinspricht, wenn er nicht über einen festen „Friedensruhm“ verfügt. Die Blender aus den Kriegsjahren sind zwar abgewrackt, den Dauerhaften und innerlich Gegründeten will es aber dennoch nicht gelingen, im Bewußtsein und Gedächtnis der Öffentlichkeit zu erscheinen. Sieht man von den paar Dramatikern ab, die am ehesten vor eine ernsthafte, unterscheidende und sichtende Kritik rücken – den Lyrikern und Epikern steht ein zu unhomogenes Korps von Rezensenten entgegen, deren widersprechende Urteile das Publikum verwirren und dessen Sprüche in Anerkennung und Ablehnung häufig nur Monologe bleiben. Obwohl das vor zehn Jahren nicht anders war, setzte eine dichterische Natur sich doch leichter durch, und die verwischenden Vokabeln, die man ihr nachwarf, die Vokabeln feinsinnig, geistreich, zart, still, geschmackvoll u. dgl. konnten sie auf die Dauer nicht unsichtbar machen.
Wilhelm Lehmann ist eine Natur. Extreme Neigungen des Geblüts und der gefühlten und geistigen Anschauung verbinden sich bei wirklichen Naturen im Werke zum Gleichgewicht, — ebensogut wie die normaleren, aber die letzteren sind in ihrer Bedeutsamkeit für den immer schwierigen Durchbruch zum Zusammenhang des Weltganzen, zur Einsicht in das Lebensgefüge schwerer zu erkennen. Es ist allzu einfach, Bücher wie den „Weingott“ zu verwerfen; es ist auch leicht, ihnen einen nur mittelmäßigen Rang zuzuerkennen, und dies, ohne daß allzu oberflächliche Begründungen aufgeboten würden. Man braucht nur Klarheit zu fordern und dabei Latinität zu meinen, oder Größe und auf Monumentalität aus zu sein, oder Stil und das Barock auszuschließen. Noch wenn man einen persönlichen Gestaltungskanon zugesteht, vorausgesetzt, daß er auch wirklich erfüllt wird, mag eine Ungleichmäßigkeit der mitwirkenden Faktoren auffallen.
Es ist aber wunderbar, wie scheinbare Widersprüche die Existenz des Romans nicht bedrohen, sondern den Zauber dieser Existenz erhöhen. Das Buch ist mit tiefem, seelischem Reichtum überladen und doch schmucklos, es ist von atemloser Enge und doch herrlich weiträumig, es ist vor Drang aller Kräfte dunkel und doch bis in den letzten Winkel magisch durchleuchtet, seine Szenen sind ungeduldig knapp und haben doch ihre gerechte lange Zeit, der Dichter scheint in gehätschelte Lieblingsgebiete abzuschweifen und stößt rasch auf das Ziel, er scheint sich in eine Einzelbeobachtung zu verlieren und sieht der Welt mitten ins Gesicht. Seine Geschöpfe tragen häufig seltsame Namen, die, in der Partitur gemeinsam angesehen, noch seltsamer werden, und doch, selbst bei merkwürdigen Liebhabereien, haben die Krausnamigen nichts von Wilhelm Raabeschen Sonderlingen. Der beste Beweis für die ungewöhnliche Kraft Lehmanns ist, daß seine botanischen und zoologischen Miniaturbilder ihn nicht kleinlich machen. Es fliegt bei ihm von Schmetterlingen und Vögeln, stäubt von Sporen und Samen, kriecht von Würmern, wuchert von Blumen und Gräsern – nicht nur im Freien, sondern auch in den Häusern, den Herzen, Hirnen und Adern der Menschen, denn seine vielen Naturgleichnisse sind so eindringlich, daß der zweite Teil des Gleichnisses selbständig zu leben beginnt, den ersten fast erdrückt und auslöscht. Aber der Zeugungszwang, der blühende Auftrieb ist so gewaltig, daß die nordische Tropenüppigkeit überall dasein zu müssen scheint, auch wenn sie keinen Dichter zum Urheber hätte. In unzähligen Einzelbeispielen dampft der tellurische Kosmos auf, mächtiger, wie wenn anderswo ganze Gebirge gestemmt und Meere ausgetrunken werden. Jedes Ding befestigt sich gleichsam in seiner Selbstsucht, bleibt daher nicht bloß Farbe, nicht bloß Form, nicht bloß Diener zu höherem Zweck – doch da es außerhalb seiner selbst dennoch zu färben, zu formen, zu dienen hat, gewinnt es hierzu seine größte Nutzbarkeit.
Wir werden wirklich heimisch in der über Kalkhügel gestreuten kleinen Universitätsstadt und ihrem Leben, das zwischen orthodox übernatürlichen und materiell plattgeistigen Ideen schwankt, sich an Georg Ebers, Ludwig Büchner, David Friedrich Strauß und dem Ideale der „Herzensbildung“ speist und in dem unwillkürlichen Rausch, der Freiheit und Reinheit der natürlichen Jahreszeiten eingebettet liegt. Wir schmecken das Schicksal der Professoren, ihrer Frauen, Söhne, Töchter und Studenten, riechen den Alltag und Festtag der ganzen Bevölkerung bis hinein zu den Berg- und Fabrikarbeitern der Umgebung. Auf kleinem Raume vollendet Lehmann fast lauter Hauptfiguren, aus deren jeder sich ein Lebensroman herausspinnen ließe. Der Historiker Weingott selbst, nach dem das Buch benannt ist, gibt einen neuen großen Typus – Typus nicht durch Zusammenfassungen und Verschärfungen des Dichters, sondern durch seine Häufigkeit im wirklichen Leben und seine Entdeckung für die Literatur. Seinen Weg wird er duch eine Doppelhörigkeit vor der „Dame Vernunft“ und „Dirne Phantasie“ getrieben, durch das unwillkürliche „zu weit!“ und „nicht weit genug!“ seines Blutes. Seine Tragik ist, daß das Richtige, das Gehör auf den Ruf der Wahrheit, im einzelnen Menschen, in der Gemeinschaft und im Gebäude des Weltalls nicht identisch ist. Sein Wesen läßt sich auf keine kürzere Formel bringen als sie das Buch ist. Wäre eine Kürzung möglich, so hätten wir ein Recht, nur jene Formel zu verlangen. Heute wollen wir nicht mehr ein festlich breit und witzig ausgeführtes Paradigma für ein Aperçu. Es ist Wilhelm Lehmann gelungen, überall in seinem Buche die volle Summe, überall den ganzen Erlös deutlich fühlbar zu machen und trotzdem fortzuschreiten, zu spannen, zu entwickeln, die Chronik zur Erzählung, die Erzählung zum Kunstwerk zu erhöhen.
II
Wo einem Dichter nachgesagt wird, er stehe im Kampfe mit sich selbst, handelt es sich gewöhnlich um einen Irrtum; es pflegt die Nachgiebigkeit und Schwäche gegen die Unklarheiten, Verschrobenheiten, Temperamentsabkürzungen und monologischen Gaben seiner dichterischen Natur gemeint zu sein; und der Kampf gegen die Öffentlichkeit ist gemeinhin kein Kampf, an dem der Dichter Anteil hätte, sondern der Ausbruch ewiger Gegensätzlichkeiten im Publikum. Ein Mann von der Art Wilhelm Lehmanns jedoch ist gezwungen, einen Widerstand in sich selbst und in der Umwelt zu brechen, der eigentlich kein Widerstand ist; er hat das Schwerste und Leichteste zu tun, was überhaupt zu vollbringen ist, nämlich sich dem Willen des Daseins, in welchem das Ich ein Teil der Welt, aber auch die Welt ein Teil des Ichs ist, rein anheimzugeben und trotzdem ein Künstler zu bleiben. Er ist ein Mensch mit Hintergründen wie der Held seines jüngsten Buches — „mit den Hintergründen, aus welchen der Hahn seinen Kamm, der Bach sein Wasser, der Mensch seinen Samen empfängt“. Auf beiden Schalen der Wage, deren Zungenschwanken ihn beunruhigt, liegt, wie sein Gewissen weiß, ohne Nachlaß das gesamte All, und immer, wenn ein faßbarer Bruchteil davon in das Bewußtsein eines Sinnes, eines Gedankens, eines Gefühles tritt, will der unenthüllte ungeheure Rest mit betreut sein. Bei dem Auftreten einer neuen Generation von Dichtern ist es das Erregende und Ergreifende, daß diese Ureinstellung von Welt und Kunst aufeinander nach einer bis dahin unbekannten Weise deutlich zu werden scheint. Unter den an Jahren jungen Poeten sind in letzter Zeit nur sehr wenige gewesen, die es vertragen, mit dieser Erregung und Ergriffenheit betrachtet zu werden. Die paar Ausnahmen ungerechnet, ergibt es sich, daß die jüngste Generation der wesentlichen Dichter im vierten, ja im fünften Jahrzehnt des Lebens steht. Vielleicht ist auch dies eine Folge des Krieges.
Der „Sturz auf die Erde“ ist trotz des geringen Umfanges ein wahrer Roman. Er gibt die Naturgeschichte des Gutsinspektors und späteren Gutsbesitzers Wassermeier. Dieser wurzelt anfangs in der so einfachen und selbstverständlichen wie unverbrüchlichen und unbarmherzigen Gerechtigkeit des Lebens, an der alle Wesen, je nach ihrer Art, den gleichen Teil haben. Vor dieser Gerechtigkeit handelt es sich nicht darum, aus Gründen und nach Zwecken zu leben, sondern nur zu leben, in Übereinstimmung mit ihr. Man entfernt sich aus ihr nicht durch Verfehlungen, man nähert sich ihr nicht durch Bußen und Verdienste. Die Erfüllung ihres Gesetzes und das Versagen vor ihm fließt im Blutlaufe mit um, ja, am Ende ist der Blutzwang nichts anderes als die göttliche Satzung. Eine ernste, eine ungeheure Einstellung! Der Vater einer durch Ehrgeiz und Hingebung nicht faßbaren Schöpfung entzieht sich der gesündesten Philosophie und Theologie, er ist die Kraft und Gesundheit des Lebens selbst. „Der unerschaffene Vater stand auf und schwebte über die Wüste des Staubes im ständigen Übergang zur Schöpfung, heilend, immerwährend, vor sich hin. Die Adern seines großen Leibes endeten in den Flügelspitzen der Fledermäuse, und seine Schultern leuchteten knochenweiß als die Umrisse der Wiesensteine, die ein fernes, unermüdbares Wasser umsang.“ Das ist nur ein erhöhtes Gleichnis, und zwar eins unter wenigen. Sonst zeigt Wilhelm Lehmann seine Figuren im ungeschmückten Verlauf ihrer Tage. Wenn Wassermeier fast unmerklich aus seiner Sicherheit entschwebt, in einen Wust von Schmerzen und allmählich gespenstischen Unausgeglichenheiten hinein, geben seine Erlebnisse nicht die volle und letzte Erklärung dafür. Aber der Dichter macht die Unsicherheit völlig überzeugend, er schreibt eben nicht nur Geschichte, obwohl er nichts anderes schreibt als diese – sondern Naturgeschichte. Ebenso wuchtig und mit Vernunftgründen unenträtselbar und ebenso klar malt er den Sturz aus dem Zwischenreich auf die Erde. Seine ungewöhnliche Kenntnis des Pflanzen- und Tierlebens wirkt mit, aber sie bleibt so unsichtbar, wie das Kunstwerk es verlangt. Er ist hierin weit fortgeschritten.
GEDENKEN AN MAX DAUTHENDEY
Max Dauthendy wird von den fernen östlichen Inseln nie wiederkehren. Als wir, im August 1918, über dem Gedanken traurig wurden, wie er, mit seinem Leibe in ein Paradies geschlossen, nach dem verlorenen Paradiese der Seele bangte, hatte man schon den Grabhügel über ihn geschüttet. Auf Java. Keine Mühe seiner Arbeitskameraden, selbst nicht die verzweifelte Liebe seiner Lebenskameradin war mächtig genug, ihn durch die Feuerhecke des Krieges in sein brennendes Haus zu holen.
So habe denn ich unter den manchen Gefährten, die verehrungsvoll seiner Meisterschaft ergeben waren, ihn am weitesten auf seiner letzten Fahrt hinausbegleitet.
Seliges frühes Frühjahr 1914! Wir trafen uns damals, ohne es verabredet zu haben, in Bremerhaven auf dem Lloyddampfer ‚Goeben‘. Rotterdam, Antwerpen, Southampton, Gibraltar, Algier waren unsere gemeinsamen Stationen. Dann, auf dem Hafenkai in Algier, reichten wir uns die Hände, und abends, schon im Morgenland, in der weißen, engen, schiefen Treppenburg der alten Seeräuberstadt, wo Dauthendey wohlig und wie gesegnet auf den nasalen chromatischen Singsang der Araber, den ersten Gruß der Orientseele, horchte, schüttelten wir sie uns herzlicher noch einmal: Neu-Guinea sein Ziel nun, die Sahara das meine.
Seliger April 1914! – Doch vielleicht würde der Verstummte, wenn wir unsere Ausfahrt in die Erinnerung eines Gespräches rufen könnten, wie vorgenommen – vielleicht würde er mit der höflichen, gesellschaftlichen Freundlichkeit, die oft eine Maske seiner Güte und seines tiefen Lebens war, den Kopf schütteln und sagen: schon damals brannte mich eine verzehrende Sehnsucht nach Liebe und Heimat. — Aber unsere an Mären und Ulk überreichen Grogabende im Kinderzimmer des Schiffes, wohin wir uns mit kleiner Gesellschaft aus dem Rauchsalon aufgemacht hatten? Das lustige Einverständnis mit unserem Tischkellner, der die „geflügelte Erde“ und „Lingam“ kannte und uns allen dafür doppelte Portionen Ananas und Langusten verschaffte? Die drolligen Kunstgespräche mit dem gutmütigen kurzen Berliner Bankbeamten? Die lebensübermütigen Scherze über das Dauthendey Bevorstehende: schwarzen Tod, gelbes Fieber und Pfeile der Eingeborenen? Die nächtlichen Gänge mit mir um das Deck, auf schlafendem Schiff, über großen klingenden Meerwellen, in warmem Sturm, fast durch die Beeren der tiefgeneigten Sternentraube, in glücklichen — ja glücklichen Gesprächen über letzte Dinge?
Auch in jenen Wochen war Dauthendey schon immer beschattet. Er las aufmerksam die Funkentelegramme, die im Treppenhause vor dem Speisesaal täglich angeschlagen wurden, und kaufte sich in jedem Hafen, kaum daß der Dampfer lag, Zeitungen. Auf die Frage, ob er denn nicht einmal für kurze Zeit den Weltlauf vergessen möge, antwortete er: „Es kann doch Krieg werden.“ Das Heraufsteigen des ungeheuren Blutgespenstes, das nun auch ihn gefällt hat, ahnte er gewiß nicht; doch hatte ihn bei einer früheren Weltreise ein Aufstand in irgendeinem Winkel aufzuhalten gedroht, und das Rationale in ihm suchte etwaigen Gefahren vorzubeugen, die seinem schicksalhaft notwendigen Drange, über den Planeten zu ziehen, entgegen sein konnten. Aber das Tier in ihm, einfach seinen Gesetzen vertrauend und doch von äußerst geschärfter intuitiver Wachsamkeit, witterte es etwas Endgültiges von ferne drohen und war darum schwermütig?
In diesem Wittern, das ein unfehlbar klares Wissen ist, liegt jedenfalls eine Hauptwurzel der Kunst Dauthendeys. Nicht die Richtigkeit des Prophezeiens, sondern die Richtigkeit der Feststellung verborgenen Daseins ist gemeint. Aus dem unablässigen Zustrom von Vorstellungen, Bildern und Assoziationen, die an sich nicht freudvoll und nicht schmerzlich, nicht warm und nicht kalt sind, schießt eine Reihe zu einem Liede zusammen und dann wieder eine Reihe zu einem anderen — und sie bewahrt nun einen alles durchdringenden, ganz bestimmten Grad von Bitterkeit oder Süße. Das Wissen des Blutes schuf und entschied nach dem Geiste seiner Natur, während die Verknüpfungen, die aus der konventionelleren Sprache der Seele hinzugefügt werden, oft nicht bis in den magisch notwendigen Bilder-Zauberkreis eindringen können. Der Klang ‚Dauthendey‘ ist uns zuerst der geographische Name für einen erdumspannenden Urwald von Gleichnissen, und an diesem Reichtum läßt sich besonders deutlich erkennen, daß der echte gleichnisbildende Trieb nicht aus der kindlich primitiven Freude steigt, überall Ähnlichkeiten zu bemerken und zu benennen: die verglichenen Dinge vielmehr verstummen Paar um Paar, aber zwischen ihnen springt und irrt ein Ton weiter, in dem Blitzzickzack, der für die Seele das Geradeaus ist, er steigt und fällt in seinem Laufe, bis er die Melodie gebildet hat. Dauthendeys Melodie. Eine endlose Melodie. Solange der Vorrat an Gleichnissen nicht erschöpft ist, findet die Melodie keine Schlußkadenz. Sie deutet in ein ewiges Leben. Die tausend Lieder haben nur Halbschlüsse, ihr wahrer Schluß liegt weit hinter ihnen, wie ihr wahrer Beginn weit vor ihnen liegt. Wenn sie enden, ruhen sie nur aus, wenn sie beginnen, heben sie nur wieder an.
Liebe als Sehnsucht und Erfüllung war Dauthendeys Leben, Wanderschaft sein Dichten. Wäre er daheimgeblieben, er wäre verdorrt vor Sehnsucht, und konnte er nicht heimkehren, so mußte er auch verderben vor Sehnsucht. Zu reisen war die Bewegungsform seines Geistes mehr als die seines Körpers. Seine Ziele – Indien, Japan, Mexiko – waren nur Durchgänge, das wesentliche Ziel blieb vom ersten Schritt an sein Ausgang: das Herz der Geliebten. Der Weltball lag wie ein Gespenst vor diesem Herzen; das Gespenst mußte erst gesehen, gestellt, umschauert, bekämpft werden. Nicht in dem Dichter drängte sich der farbige Spuk der Welt, und nicht draußen war die Wirklichkeit, sondern in ihm war die einzige Wirklichkeit, die es für ihn gab, und ihre Abbilder draußen mußte er nur darum aufsuchen, damit sie ihn an diese Wirklichkeit erinnerten, ihn anstießen, weckten. Er häufte scheinbar nichts als Stoff um eine Liebe, die weiter nichts mit ihm begann. Der Stoff jedoch war nirgends sonst vorhanden als in ihm. Er wurde in Wahrheit die in ihm vorgebildete und über die Erde ausgestreute Form. So besingen fast alle seine Bücher die „geflügelte Erde“, alle sind sie der „brennende Kalender“, die „ewige Hochzeit“, alle „Weltspuk“, alle „in sich versunkene Lieder“. Und es macht die Größe seines Hauptwerkes, jenes Liedes „der Liebe und der Wunder um sieben Meere“ aus und schafft ihm den bleibenden Wert, daß der Dichter nicht irre wurde an der Wahrheit seines Blutes: daß er die ganze Erde nur einem Herzen darbrachte. Das war nicht Opfer irgendwessen, nicht Gewalt an fremdem Leben, sondern einfaches Dasein. Heidnische Ohren, die nach keinem Bekenntnis hingehört hatten, vernahmen diesen spielenden, nachsichtigen, nur märchenerzählerisch ernsten Fabel-Rhythmus, diese warmen, unbesorgt tapferen und unbesorgt bequemen Reime, heidnische und daher poetische Augen drängten die Verse voll mit soviel zweck- und absichtsloser, vor der Anschauung durch Gnadenwahl erwählter und daher nicht mehr wählerischer sinnlicher Fülle. Es kommt uns nicht mehr auf die Frage an, ob alles Material haltbar sei und nachprüfbar – es ist ja Spiegelbild, und alle Farben an dem Bilde sind voll und echt. In seinen Geschichten läßt Dauthendey abenteuerliche und grausame Ereignisse vorüberziehen, aber wir fassen auch sie nur gleichnisweise als Gaben seines Reichtums, nicht abgelöst von ihm in ihrer eigenen Tragik oder Furchtbarkeit. Gehen wir durch den Wald, so genießen wir ihn und uns, obwohl wir um die täglichen Ungeheuerlichkeiten seiner Spinnen und Käfer wissen. Wir genießen unsere Qualen und Beglückungen, nicht ihre. So ging Dauthendey durch die Welt. So ging die Welt durch ihn. Das Herz war das Bewegte, „das im Weltraum, wie ein großer Vogel ausgespannt, im Fliegen ruht“. Es ruht im Fliegen, es berührt die Dinge nicht zur Rast. In einem seiner Bücher schreibt der Dichter: „Wir selbst, unser Körper, unsere gewohnte Art zu empfinden, unsere Art zu denken, nichts von uns kommt jemals in einem fremden Lande an. Wohl kommen mit unseren Kleidern unsere Knochen, unsere Muskeln ... in fremden Ländern an, aber nicht ... unsere Herzwelt, nicht die Jahrtausende von heimatlichem Vorleben, die wir im Blute haben.“
So, mit der Legitimierung als Seher, griff er, umweht vom Winde des Bangens und Freuens, die ganze Erde als Heimat. Sie gehörte ihm als sein Gleichnis. Er mischte sich in nichts ein, er wollte nichts halten als die geliebte Frau, und nichts sollte ihn halten. Ein Anarchist, von edlen, weisen Göttern eingesetzt, von freundlichen. Er besuchte fremde Länder, nicht fremde Staaten, die über den sichtbaren Wundern dieser Länder unsichtbare Systeme und Netze ausgespannt halten, er besuchte nicht einmal fremde Völker, sondern brüderlich nahe und brüderlich andere Menschen, er sah sich nicht umrungen von fremder Fauna und Flora, sondern sah fremde Pflanzen atmen und hörte fremde Tiere brüllen, und wenn er davon sprach, entfernte er es, indem er es mit Worten näherte, schon auf Gleichnisweise.
Auf dem Meere zu scheitern, einem Giftpfeile zu erliegen, von der Lava des Stromboli überrascht und gestürzt zu werden – es wäre für ihn ein Tod auf der geflügelten Erde gewesen. Jetzt aber war sein Sterben entsetzlich: „ein brennendes Recht floß durch sein Herz“, und dieses wurde verletzt.
Und dennoch! Es gab schwerlich für ihn ein Unglück, das nicht in einem gegenteiligen Glück mütterlich aufbewahrt wurde. Der Schmerz verstockte sich nicht selbstsüchtig in ihm, sondern verklärte sich weltsüchtig an der jeweiligen Umgebung. Seine letzten, der Allgemeinheit bekanntgegebenen Dichtungen, die „Erlebnisse auf Java“ sind dessen Zeuge. In seinen Tagebüchern zeichnete er auf, wie er die Hochzeit des „Nagels der Erde“, eines jungen javanischen Sultans erlebte, und wie er den Smeroe, den höchsten Vulkan der Insel, bestieg. In dem ersten Bericht mischt sich, wundervoll ruhig und märchenwillig, zauberisch farbig, was an Prunk und gewaltiger Natur auf dem indisch-ozeanischen Eiland geboren wurde, und das Grellmoderne, das Hastige, Unfertige. Das umfangreiche zweite Stück hat etwas von einer sanften Apokalypse, etwas von einer selbstbestimmten naiven Himmelfahrt, die den Dichter freilich wieder zur ebenen Erde zurückließ, aber wohl nur noch seinen Körper.
Malariakrank stieg er vom Sanatorium Tosari auf, durch das „Sandmeer“, einen ungeheuren Kraterraum, der von mehreren kleineren Kratern erfüllt ist. Langsam näherte sich der höchste Feuerberg. „Wie ein Zauber verwandelte der Smeroeatem unser Erdblut. Wir empfanden keine Müdigkeit mehr, keine Schwermut, keine Sehnsucht, nur Glückseligkeit ging wie eine saubere Trunkenheit in der kaltheißen Höhenluft, in der Lichtklarheit der Äquatorsonne und in der totenstillen, erquickenden Einsamkeit durch unser Blut.“ Sechs Tage lang hielt dieser Rausch an. Noch am ersten Tage wird die letzte Menschensiedlung passiert, eine einsame Gemüseplantage mit Chinesen und einem alten Jagdhund, dessen Triefaugen Blicke nur noch „lallen“ konnten. Es folgt die mühselige Übersteigung eines steilen Bergrückens, wo man wie ein Gibbonaffe sich von Mimosenbaum zu Mimosenbaum schwingen und unter der Wurzelwildnis der Urwaldgebüsche durchkriechen muß, so daß Dauthendey am Ende glaubt, mehrere atemlose Körper zu haben, die alle an dem einzigen luftschnappenden Herzen hängen. In feuchter Luft an einem See, wo die „grimmigen zottigen“ Arme der Riesenbäume ringsum greifen zu können schienen, „wie die Arme der Gottheit“, wird das Nachtzelt aufgeschlagen. Die Kälte besiegt die dicke Winterkleidung und verwehrt den Schlaf. Vom zweiten Nachtlager her wird um Mitternacht zum lilagrauen einsamen Aschenkegel des Smeroe aufgebrochen. An seinem Fuße endet die Fruchtbarkeit; Tannen, deren Silberfransen einem erfrorenen Regen gleichen. Die Luft ist „ein widersinniges Gemisch von eiskaltem Ätherwind und von scharfen Tropensonnenstrahlen“. Die Bergsteiger kriechen auf allen Vieren hinan, viele Stunden lang, immer zwei Schritte vor und einen zurück, bis zu den Knien in einem der tausend langen vom Gipfel herabreichenden Gesteinrisse. Der Kohlenboden kracht und raschelt. „Es knirschte und raschelte bei jedem Schritt, denn der leichte Boden, auf dem man wie auf hohlem Koks und scharfem Bimsstein auftrat, zerbrach und zermürbte und zerplatzte unter den Stiefeln und unter den Händen, die sich bald am glasigen Lavagestein wundrissen.“ Handschuhe wären in fünf Minuten zerfetzt abgefallen. „Aber mir schien, als teilte der leichte, gewichtlose Aschenstein, der so hohl klingt und voll Luftporen sitzt, dem wandernden und kletternden Menschenkörper von seiner Leichtigkeit mit.“ Die Seele des Dichters assimiliert sich den gewichtlosen Aschenrinden. So schwebt er denn, haltlos und luftig, wie auf meilenhohen senkrechten Leitern. Bei Sonnenaufgang sind Finger, Wangen und Ohren wie kaltes Glas. Und schon vor Erreichung des Gipfels ist die verlassene Tiefe ein Jenseits mit ihren Inselsteinen über den Wolken. In der letzten Viertelstunde geht es wie über glattes Porzellangeröll. Endlich die Aschenfläche oben, „wie aus glitzerndem grauen Mehl flach geklopft“. Und nun saugt sich sein Geist phantastisch in den Äther der Höhe. Er wittert Meteorstaub dort, „denn die hohen Berge ziehen in den Jahrtausenden wohl auch viel Meteorstaub, fliegenden, aus dem Weltraum an“. Vielleicht, „weil Berggipfel und Dichterhirn sich verwandt sind“, empfindet er die hohen Bergspitzen als „Fühler der Erde, die mehr in der Ferne leben, fortgerichtet auf die Ferne der Weltallräume eingestellt und nur für die Ferne lebend, lebend für alles, was nicht von der Erde ist“. Er möchte eine Nacht dort oben schlafen, umfangen vom Berggeist, sich reinigen und erquicken, „eine Nacht mit dem Leibe fort von der Erde im Weltraum draußen“. So sieht er in den ungeheuren Krater. Noch einmal: „Der Aschenkegel ist von der Erde fortrückend; er wirkt wie ein erkaltetes einsames Horn der vielgehörnten Sonnenkorona.“ – Dauthendey stieg aus der panischen Sphäre dann ab und lebte noch einige Zeit, aber war für einen Dichter seiner Art der Weg auf den Smeroevulkan nicht ein herrlicher Rüsttag auf den Tod?