Anmerkungen zum Bundesprogramm der Grünen (1983)
Vorbemerkung vom 3. September 2022: Diese Ausführungen wurden Ende 1983 verfaßt, nachdem ich eine Zeitlang die Mitgliedertreffen der Grünen in Oberhausen besucht hatte. Die damals geäußerte Kritik trifft leider heute noch weitgehend zu, und wäre erweiterbar durch weit schärfere Kritik. Waren die Grünen damals eher schwärmerische Idealisten, sind sie heute allerdings verbohrte Ideologen.
Die Ziele der Grünen, wie sie in ihrem Bundesprogramm formuliert werden, nötigen im großen ganzen jedem Vernünftigdenkenden Zustimmung ab. Einige der politischen Ideen jedoch, in deren Sinn diese Ziele angestrebt werden sollen, und die in der Präambel aufgeführt sind, zeugen, wenn sie ernst gemeint sind, von einer Naivität, die wesentliche, wenn auch nicht angemehme Eigenschaften des Menschen zugunsten humanitärer Illusionen als nicht vorhanden ignoriert; wenn sie nicht ernst gemeint sind, von einer Verlogenheit, die die Grünen in die Nähe der "etablierten Parteien" rückte. Die zweite Möglichkeit ist nicht wahrscheinlich, denn wären die Grünen verlogen, und sei es nur in ihren führenden Köpfen, wären sie "politikfähiger" als sie sich bis jetzt gezeigt haben. Dagegen beweisen die Streitigkeiten innerhalb der Partei, die offenbar zunehmen seit die Grünen im verschiedenen Landesparlamenten und im Bundestag vertreten sind, daß die Kluft zwischen politischen Wünschen und politischer Wirklichkeit einigen bewußt zu werden beginnt, was zu Meinungsverschiedenheiten mit denen führen muß, die lieber paradiesische Träume träumen statt zu nüchterner Einschätzung des Erreichbaren zu erwachen. Dabei ist nichts dringlicher als gangbare Wege zur Verwirklichung der im Bundesprogramm formulierten Ziele zu finden, die bei manchen schon bald absolut lebensnotwendig sein kann. Das erkennen auch die anderen Parteien und werden folglich die Verwirklichung solcher Ziele, wie Erhaltung einer bewohnbaren Umwelt oder Veränderung des Wirtschaftssystems, verstärkt in Angriff nehmen; deshalb ist zu befürchten, daß sie, an Einigkeit und politischer Raffinesse den Grünen überlegen, diesen zuvorkommen und das durch Zwangs- oder zumindest einseitige Maßnahmen zu verordnen versuchen, was unter der Regie oder Mitwirkung der Grünen mit der Wahrung bzw. Wiedererlangung eines Minimuns an Freiheit und Lebensqualität für alle einhergehn könnte. Je später mit der Verwirklichung des Notwendigen begonnen, je dringender sie also wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß man es mit diktatorischen Mitteln durchsetzt, um überhaupt zu retten was zu retten ist. Das gilt besonders für die Umweltpolitik im weitesten Sinne. Es stimmt deshalb traurig, mitanzusehn wie einer guten Sache durch Uneinigkeit und politische Schwärmereien Abbruch getan wird, noch bevor die Grünen recht Gelegenheit hatten, sich ihr zu widmen. Und diese Gelegenheit werden sie nicht mehr bekommen, wenn sie sich nicht zu einem klaren und sachlichen Durchdenken auch ihnen unliebsamer Gegebenheiten aufraffen.
Ich habe das Bundesprogramm, besonders die als Entwurf bezeichnete Präambel, gelesen und alle Stellen, an denen mir Wunsch und Wirklichkeit in unvereinbarem Widerspruch zu stehen scheinen, mit Anmerkungen versehen, die ich im Folgenden wiedergebe. Die Zitate entstammen der Präambel und dem Abschnitt "Demokratie und Recht".
Demokratie und "Basisdemokratie"
Der Begriff "Basisdemokratie'" ist eine Tautologie, denn der Demos ist die Basis. Daß er geprägt wurde, ist erklärlich nur aus einem verständlichen Unbehagen an dem, was sich in diesem Land Demokratie nennt. Ganz abgesehn von den vielfältigen Mißbräuchen, die hierzulande die "Demokratie" zu einem Hohn machen, ist das System, wie es angelegt ist, zu unpersönlich und unflexibel, als daß es demokratische Strukturen im engeren Sinne überhaupt zuließe. Demokratisch wäre statt des allgemeinen und bundesweiten Wahlrechts ein spezielles regionales. Dabei sollte jeder:
- über alles, was nur ihn und seine Familie betrifft, im Rahmen des Grundgesetzes selber mit seiner Familie entscheiden;
- bei allem, was nur seinen Betrieb betrifft, ein Mitspracherecht haben, dessen Umfang sich nach seiner Funktion, seiner Kompetenz und seinem Eigentumsanteil an diesem Betrieb richtete;
- für alles, was nur seine Gemeinde bis zu einer bestimmten, überschaubaren Größe betrifft, Abgeordnete wählen, die seine Angelegenheiten vertreten. Die Zuständigkeit jedes Kandidaten sollte vor der Wahl festgelegt werden, wahlberechtigt sollte dann nur jeweils die Bevölkerungsgruppe sein, die mit der fraglichen Sparte zu tun hat. Beispiel: der Abgeordnete für schulische Angelegenheiten wird nur von Eltern schulpflichtiger Kinder, Lehrern und Schülern von einem bestimmten Alter an gewählt. Größere Gemeinden werden in überschaubare Bezirke eingeteilt.
Da kein Einzelner die komplizierten Strukturen eines Landes, geschweige der gesamten Republik, übersehen kann und daher auch nicht über Angelegenheiten der Länder oder des Bundes urteilen oder gar mitbestimmen, auch nicht durch Stimmabgabe, ernennen die Abgeordneten der Gemeinden Beauftragte, die sich mit den Angelegenheiten der Gemeinden untereinander auf Landesebene befassen, und zwar jeder ausschließlich in seiner Sparte; diese bilden ein Gremium, das die Koordinierung der Landesgeschäfte besorgt. Ferner ernennen sie wiederum Beauftragte, die sich mit den Angelegenheiten der Länder untereinander befassen und ein Gremium bilden, das die Geschäfte des Bundes besorgt, auch die Außenpolitik. Die Abgeordneten und Beauftragten sollte man gut bezahlen, um ihre Korrumpierbarkeit zu vermindern. Direkte, nach Kompetenzen gestaffelte Wahlen fänden also nur in den Gemeinden statt, die Koordinierungsgremien würden ernannt; ihre Mitglieder wären den gewählten Gemeindevertretern verantwortlich und auf begründeten Antrag absetzbar. Eine solche Ordnung kann allerdings nicht hergestellt werden, sondern muß wachsen. Dies kann man anstreben. Und selbst wenn sie sich je entwickeln sollte, werden die menschlichen Grundeigenschaften Dummheit, Bosheit und Habgier die Entfaltung von Macht und die Ausübung von Gewalt unvermeidlich machen.
Dieses Modell hat in einigen Punkten Ähnlichkeit mit dem, was die Grünen sich unter Basisdemokratie vorstellen, doch wird die Realisierbarkeit und damit Plausibilität von letzterem sehr in Frage gestellt durch Verschiedenes, was im Abschnitt "Basisdemokratisch" der Präambel selbst steht. Da ist von "starken Widerständen" gegen "ökologische Politik" die Rede. "Starke Widerstände" deuten auf eine Mehrheit oder gewichtige Minderheit von Unbelehrbaren, die, um zur Vernunft oder nur zur Raison gebracht werden zu können, regiert werden muß. Und schon ist es aus mit der Demokratie; das Beste, was dann zu hoffen wäre, ist eine regierende Minderheit der Vernünftigen. Doch das Verfahren der Politik ist leider nicht Einigung aufgrund vernünftigen Denkens, sondern Kampf aufgrund von Interessen, Vorurteilen, Begierden. Täglich und für jedermann ist z. B. ersichtlich, daß vielen trotz aller Vernunftgründe ihr schnelles Auto wichtiger ist als eine saubere Atemluft. – Da ist ferner die Rede von "regionalen, landesweiten und bundesweiten Volksabstimmungen" als "Elementen direkter Demokratie'. Eine Volksabstimmung ist nur möglich über Dinge, die das "Volk" direkt betreffen und über die es urteilen kamn. Das sind wenig genug, und die Gefahr, daß das Volk den Propagandalügen entsprechend, die ihm eingebleut wurden, "wählt", oder nach Sympathie und Antipathie, ist groß. Landesweite Volksentscheide wären ein gefährliches Instrument in den Händen von Demagogen, und das Volk hört erfahrungsgemäß eher auf die Stimme von Demagogen als auf die Stimme der Vernunft. Gerade "lebenswichtige Planungen" dürfen nicht dem Volk überlassen werden, sondern gerechten, d. h. ohne Eigeninteresse urteilenden Sachverständigen. Das Problem ist solche zu finden. Daher sind Volksabstimmungen, mit den genannten Einschränkungen, nur regional sinnvoll. Auch ob "nur durch eine Selbstbestimmung der Betroffenen ... der ökologischen, ökonomischen und sozialen Krise entgegengetreten werden kann", wie es im Abschnitt "Sozial" heißt, ist zweifelhaft; denn kann jemand über sich selbst bestimmen, der sich und seine Umgebung nicht kennt oder zumindest nicht versteht? Millionen lassen sich täglich mit Phrasen abspeisen und mit billiger Unterhaltung stillhalten, und haben die Stimme ihrer eigentlichen Bedürfnisse nie gehört oder unterdrückt. "Selbstbestimmung" innerhalb der von Gesetz und Umwelt gezogenen Grenzen könnte nur nach einem langen, schwierigen Weg von der Selbstentfremdung zur Selbstkenntnis möglich werden. Auf diesem Weg müßten die virtuellen 'Selbstbestimmer' erst einmal durch Fremdbestimmung, d. h. durch die Entscheidung und Fürsorge einer intellektuellen Elite, geleitet werden; aber selbst dann bleibt noch die menschliche Dummheit als Hindernis, an dem jeder gute Willen scheitert. In diesen Zusammenhang gehört auch eine fragwürdige Feststellung aus dem Abschnitt "Demokratie und Recht" des Parteiprogramms: "Ohne den Erhalt und die Erweiterung demokratischer Rechte können wir nicht erfolgreich angehen gegen die Zerstörung der Umwelt und für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung." Abgesehen davon, daß der Satz schon grammatisch unmöglich ist, weil seiner zweiten Hälfte das Prädikat fehlt, ist es auch fraglich, ob aufgrund einer Erweiterung demokratischer Rechte notwendige Maßnahmen, wie die Beschränkung des PKW-Verkehrs, durchgesetzt werden können, oder ob nicht vielmehr solche Maßnahmen von Teilen, vielleicht einer Mehrheit der Bevölkerung als Beschneidung demokratischer Rechte empfunden würden. In diesem Fall müßten notwendige Maßnahmen gegen deren Willen diktiert werden. Sätze wie der eben zitierte bezeugen durch die Mängel der Form wie des Inhalts eine ungenügende Sorgfalt des Denkens, für die sich aus den Schriften der Grünen die Beispiele vermehren ließen. Wo die 'etablierten' Parteien lügen, schwelgen die Grünen in wirklichkeitsfernen Wünschen. Mit keinem von beiden läßt sich eine sachliche und pragmatische Politik betreiben.
Organisatorisch undurchführbar ist die "ständige Kontrolle aller Amts- und Mandatsinhaber und Institutionen durch die Basis". Zunächst: wer ist hier die "Basis"? Das Volk würde sich nach wie vor, mit eigenen Problemen vollauf beschäftigt, wenig um praktische Politik kümmern; es meldet sich, wenn überhaupt, immer erst dann, wenn ihm etwas genommen werden soll. Ist mit der kontrollierenden "Basis" die Partei gemeint, wäre Willkür und Intrigen Tür und Tor geöffnet; denn wer kontrolliert die Kontrolleure? Denkbar ist allenfalls eine gegenseitige Kontrolle der Amtsinhaber und, wie oben dargelegt, die Rechenschaftspflicht von Beauftragten gegenüber gewählten Abgeordneten. Komplizierte Organisationsstrukturen sind überhaupt nur für die innerhalb ihrer Tätigen durchschaubar, niemals für Außenstehende, von diesen daher auch nicht zu beurteilen.
"Gewaltfreiheit"
"Wir streben eine gewaltfreie Gesellschaft an, in der die Unterdrückung von Menschen durch den Menschen und Gewalt von Menschen gegen Menschen aufgehoben ist. (...) Gewaltfreiheit gilt uneingeschränkt und ohne Ausnahme zwischen allen Menschen..." Das ist kein Idealismus mehr, das ist schon Schwärmerei. Drei Grundkonstanten menschlichen Lebens und Verhaltens: Dummheit, Bosheit, Habgier, die sich überall und fortwährend in allen erdenklichen Formen der Gewalt äußern, werden einfach ignoriert. Dabei genügt ein Gang auf die Straße oder ein Blick in die Zeitung, um sich von ihrer Präsenz zu überzeugen; nicht nur als Krieg, Mord oder Vergewaltigung, sondern vor allem als allgegenwärtige Unterdrückung der Frau durch den Mann, des Kindes durch die Eltern, des Schülers durch den Lehrer, des Untergebenen durch den Vorgesetzten, des Fußgängers durch den Autofahrer usf. Selbst bei friedlichen Charakteren wird dadurch ein Potential von Aggression aufgestaut, das sich irgendwann entlädt, meist gegen Schwächere oder auch gegen einen selbst gerichtet. Sodann gibt es in jeder Gesellschaft bestimmte Typen, denen Gewaltanwendung ein Bedürfnis ist: den Typ des Schlägers, der seine Unterlegenheit auf intellektuellem Gebiet ausgleicht, indem er seine Fäuste oder Schlimmeres gebraucht; den Typ des Ungeliebten, der sich für sein freudloses Dasein durch meist versteckte aber fühlbare Bosheiten rächt; den Typ des zu kurz gekommenen, der sich, materiell oder emotional, auf Kosten der Mitmenschen bereichert. Diese Typen schrecken, gibt man ihnen Gelegenheit dazu, vor Massenmord nicht zurück, man vergleiche unsere Tausendjährige Vergangenheit. Sich gegen solche Typen zu schützen, indem man ein staatliches Organ einsetzt, das im Rahmen der Gesetzgebung zur Gewaltanwendung legitimiert ist, ist absolut notwendig; absolut notwendig ist auch, Vorsorge zu treffen, daß Polizei und Militär nicht im die Hände von Gewalttätern gelangen können. Auch das folgende Zitat ist gefährlich naiv: "Gewaltfreiheit schließt aktiven Widerstand nicht aus... Der Grundsatz der Gewaltfreiheit bedeutet vielmehr, daß zur Verteidigung lebenserhaltender Interessen von Menschen gegenüber einer sich verselbständigenden Herrschaftsordnung unter Umständen auch Widerstand gegen staatliche Maßnahmen nicht nur legitim, sondern auch erforderlich sein kann (z.B. Sitzstreiks, Wegesperren, Behinderung von Fahrzeugen)." "Gewaltfreiheit" bedeutet also, daß ich mich wehre, indem ich mich verprügeln lasse. Das ist evangelischer als das Evangelium. Aber das Leben ist keine Demo, und eine Gruppe von Schlägern, die sich beispielsweise damit vergnügt, auf offener Straße einen Passanten zusammenzuschlagen, wird man weder durch den Einwand "Gewaltfreiheit gilt uneingeschränkt" noch durch einen Sitzstreik von ihrem Tun abbringen, sondern nur wieder durch Gewalt.
Man kann durchaus friedliebend sein, das ist sogar sicher die Mehrzahl der Menschen, solange es ihnen erträglich geht, aber man darf sich nicht der Tatsache verschließen, daß Gewalt von den vergleichsweise harmlosen Formen alltäglicher Unterdrückung bis hin zum Krieg eine Art der mensch— lichen Äußerung ist, die bestenfalls im Sinne der Vernunft und gegenseitiger Achtung sublimiert, doch nicht unterdrückt werden kann. Eine "gewaltfreie Gesellschaft" gibt es nicht, an ihre Möglichkeit zu glauben, ist humanitärer Dusel, sie "anzustreben" Verkennung der menschlichen Bedingtheit und Vergeudung von Kräften. Anstreben kann man höchstens die Einschränkung offener Gewaltanwendung dureh ein begrenztes staatliches Gewaltmonopol.