Borchardt und Swinburne
Vorbemerkung: die folgenden Aufzeichnungen sind detaillierte vorüberlegungen für eine ausführlichere arbeit, die aber nie geschrieben wurde. Verfaßt wurden sie um 1985. Mit "Kat." beginnende verweise beziehen sich auf: "Borchardt Heymel Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller Nationalmuseum. Marbach am Neckar 1978."
1. Borchardt dürfte Swinburne nach Weihnachten 1896, als das heftchen "10 Gedichte" von ihm (Kat. 36f) gedruckt wurde, die noch den ton vom anfang des jahrhunderts tragen und eine kenntnis der zeitgenossen nicht verraten (vergleiche Tantalus-chöre), und vor 1900, als die Heroische [und (1901) Saturnische] Elegie in der Insel erschienen, die die kenntnis Swinburnes (auch Rossettis, auch Keats') voraussetzen, kennengelernt haben, wahrscheinlich aber erst nach dem februar 1898, als er, im Pan, (Kat. 40) verse Hofmannsthals kennenlernte (dann im April 1898 auch George (Kat. ebd.). Vergleiche auch Hofmannsthals brief an Rudolf Alexander Schröder vom 26.4.1902 (Kat. 110) – die gedichte Heroische Elegie, Gesang im Dunkeln und Pargoletta, die allesamt die kenntnis der Praeraffaeliten (im weiteren sinne) voraussetzen, entstanden laut katalog 592 1899. Ebenda ist auch die beschäftigung mit englischen zeitgenossen vermerkt, sowie eine reise nach England. Der erste versuch einer Swinburne übersetzung, nämlich eines chores aus Atalanta, wird im brief vom 28.5.1901 an Hofmannsthal erwähnt.
2. Gedichte wie Pargoletta, die Heroische Elegie, Gesang im Dunkeln, Ballade von Wind, Schlaf und Gesang, Der traurige Besuch, Fluchtgedanken, Melodische Elegie, Schlechter Tag, Saturnische Elegie, Sestine der Sehnsucht, Letzte Rosen, Verse bei Betrachtung von Landschaftszeichnungen geschrieben (dies mit einschränkung), Idyllische Elegie sind ohne die Kenntnis der Praeraffaeliten nicht denkbar, vor allem sind die sonette B's nicht denkbar ohne die sonette Rossettis, wie überhaupt der einfluß Rossettis in ton und sprache dieser gedichte leichter nachzuweisen wäre als einer Swinburnes, der sich allenfalls in der traumhaften metaphorik und atmosphäre, überhaupt im traumhaften einiger gedichte (Pargoletta, Heroische Elegie, Gesang im Dunkeln, Ballade von Wind, Schlaf und Gesang, Melodische Elegie – hier aber auch überall Keats und Tennyson) aufzeigen ließe; die imagery ist aber auch die allgemeine der praeraffaeliten, besonders auch der maler. Wörtliche anspielungen finden sich am ende der Heroischen Elegie als hommage an Rossetti: Haus des Lebens, auf Swinburne in dem sonett-titel Ave atque Vale. Wenn Borchardt einige gedichte in formen schreibt, die auch Swinburne benutzte (Ballade, Sestine, Form der Bacchischen Epiphanie), braucht das, außer bei der Bacchischen Epiphanie, keine übernahme zu sein; Borchardt kann diese formen auch zuerst bei den alten italienern kennengelernt haben, oder in Rossettis Dante and his Circle.
3. Einzig die Bacchische Epiphanie, deren erste fassung von 1901 stammt (siehe brief an Hofmannsthal vom 28.5.1901) ist in form, ton, bildlichkeit und inhalt durchaus an große gedichte Swinburnes angelehnt. (Ilicet, Dolores, Garden of Proserpine, vor allem Masque of Queen Bersabe, Dedication, entsprechende partien aus Atalanta). Vor allem der rapide, rauschende tonfall ist Swinburnisch.
4. Zwar dichtet Borchardt sein ganzes leben lang ausschließlich in vorhandenen, übernommenen, angeeigneten formen, aber nur in den genannten frühen gedichten und einigen wenigen andern herrscht auch der mitübernommene fremde ton noch vor, in ihnen ist Borchardt sozusagen noch nicht bei sich selbst; in späteren gedichten füllt er die form dann ganz mit seinem eigenen ton, oder überfüllt sie beinah bis zur zersprengung, oder es entsteht ein gemisch von eigenem und angeeignetem, oder durch eine mit der form übernommene sprache spricht doch durchaus Borchardt. Beispiele:
Joram: Borchardt vergewaltigt das Luther-deutsch
Bechino Belforti: Borchardt posaunt Browningsch
Durant und Dante deutsch: Borchardt macht sich sein Mittelalter
Im übrigen tönt aus Borchardts mund all das aus der weltliteratur, was er sich zueignete, noch einmal: aber auf Borchardtsch.
5. Festzuhalten bleibt: die kurze spanne, während der Borchardt sich noch nicht freigeschrieben hatte, hat er den ton und die sprache, hinter der er seine unsicherheit, sein suchen, tasten und probieren (übrigens durchaus nicht schülerhaft) verbirgt, weder von seinem abgott Hofmannsthal noch von seinem Luzifer George geborgt, sondern von Rossetti und Swinburne, vielleicht noch, vielleicht aber auch durch diese, von Keats und Tennyson.
6. Nachtrag zu 1. Borchardt hat, laut Kat. 180, das 1900 erschienene buch Kassners Die Mystik, die Künstler und das Leben, "gleich nach seinem Erscheinen" gelesen und ist also spätestens dann über die englischen dichter ausführlich informiert worden. Aber die Heroische Elegie, Pargoletta und Gesang im Dunkeln sind ja wie gesagt schon von 1899. Eine nennung Swinburnes findet sich auch im 1900/01 geschriebenen Gespräch über Formen (Prosa I 350), ebd. 333 auch erwähnung von Rossettis House of Life und 363 von Tennysons Lady of Shalott und Keats' Isabella. Im übrigen konnte Borchardt auf Swinburne auch durch Hofmannsthals aufsatz (von 1893) oder durch die Blätter für die Kunst verwiesen worden sein.
7. Die affinität zu und verehrung von Swinburne dürfte auch mit dessen vorliebe für alte formen und archaisierende sprache zusammenhängen. Vergleiche dazu auch den unfug im nachwort zum Joram (Prosa I 323) (von 1907); für die griechische tragödie und deren imitation.
8. Auffällig ist, daß sowohl Swinburne als auch Borchardt sehr zum hero-worshipping neigen, zum maßlosen lob und tadel, zur undifferenziertheit in ihrer kritik (wobei Borchardt immerhin voraus hat daß er tiefer ist), auch haben beide ein phänomenales gedächtnis und zitieren daher oft und gut; beide sind, allerdings auf sehr verschiedene weise, überspannt und unbeherrscht: Swinburne offen und vergeßlich; Borchardt mehr auf dem papier und nachtragend; beide denken und schreiben in extremen und neigen zur überschwenglichkeit, daher auch zum bombast und zur rhetorik.
9. Einen höhepunkt von Borchardts beschäftigung mit Swinburne bringt das jahr 1909, in dem am 10.4. Swinburne starb. Für ein geplantes, dann nicht zustande gekommenes gedenkbuch schreibt Borchardt sein gedicht An den Heros, übersetzt The Masque of Queen Bersabe, ordnet um dies seine vorhandenen übersetzungen und schreibt den aufsatz (nachruf) in Prosa III 394-402 (Kat. 197), laut Anmerkungen zu Prosa IV außerdem 1910 ein fragment eines zweiten Swinburne-aufsatzes (der mir aber aus gründen, die unten folgen später geschrieben scheint) und die "Doppelherme" auf Carducci und Swinburne
10. Wie bei Borchardt zu erwarten sagt das gedicht An den Heros mindestens ebensoviel über Swinburne wie über Borchardt aus. Es ist nicht nur eine bombastische Hommage, sondern auch (übrigens ebenso wie das gedicht an Hofmannsthal) eine selbst-Hommage, eine penetrante und undistanzierte selbst-lobhudelei.
11. Desgleichen tragen auch die übersetzungen das gepräge Borchardts, ohne Swinburne zu verleugnen, verleugnen zu können oder zu wollen; sie sind – nichtsdestoweniger oder deshalb – meisterhaft, aber einzuschätzen, zu goutieren und stellenweise auch zu verstehen nur wenn man die originale kennt. Vergleiche auch Borchardts "übersetzungstheorie" im Gespräch über Formen, Prosa I 328ff, insbesondere 349f.
12. Der nachruf und die beiden genannten aufsatz-fragmente sind ein gemisch von darstellung, kritik, geschichtlicher gewalt-konstruktion, hommage und selbst-hommage, bild und selbstbildnis; mitreißend im ton, überschwenglich und undifferenziert im ausdruck, extrem in lob und tadel, gewaltsam im bemühen das bild herzustellen das Borchardt vorschwebt, ungenau und fehlerhaft im einzelnen faktischen, andererseits aber auch erstaunlich genau informiert.
13. Das fragment Swinburne aus Prosa IV 145-160 scheint mir nicht, wie die herausgeber angeben, von 1910 zu stammen, da Borchardt darin eine ausgabe der briefe Swinburnes erwähnt; eine solche soweit ich sehe aber erst 1918 (Gosse and Wise) erschien.
14. Dazunehmen hier das nachwort-fragment zur geplanten zweiten ausgabe von Borchardts Swinburne von 1926.
15. Erste auflage von Borchardts Swinburne: 1919. "Englische Dichter" mit 11 gedichten von Swinburne, wahrscheinlich den gleichen wie in Swinburne, erschien dann 1936.
16. D. h. öffentlich repräsentiert wird Borchardts beschäftigung mit Swinburne erst in diesen jahren, wobei der Swinburne von 1919 auch noch eine bibliophile ausgabe war. (Kat. 188: 600 ex.) das gedicht An den Heros erschien erst 1924 in den Vermischten Gedichten, damit war Borchardt wie mit so vielem eigenen also zu spät auf den plan getreten: die zeit für dergleichen war einstweilen vorbei, ich meine nicht die zeit dergleichen aufzunehmen (die ist für wenige immer), sondern die zeit zu wirken. Die war 1900ff., mit George und Kassner aber auch Otto Hauser und konsorten.
17. Damals war ja auch für Borchardt selbst die zeit, in der Swinburne noch eine wirkung auf ihn ausübte, längst vorbei (vergleiche den brief an Hofmannsthal vom 5.8.1912 (im briefwechsel 73, Kat. 180))
18. Die darstellung dieser fakten soll darauf abzielen, am verhältnis Borchardt/Swinburne, am urteil jenes über diesen, an der (geheimen) geschichte der beschäftigung mit Swinburne und ihres verspäteten öffentlichen niederschlags für Borchardt typisches herauszuarbeiten.
19. Zu verweisen ist gelegentlich auf die mindestens ebenso große bedeutung Rossettis für Borchardt, auf dessen überspannten Rossetti-aufsatz, und zu begründen, warum dies verhältnis hier nicht mit abgehandelt werden kann (raum, methodische gründe), schließlich vielleicht auch warum Borchardt von Rossetti nur 2 sonette übersetzt hat. Vermutungsweise.
20. Methodisch scheint festzustehen, daß ich An den Heros, die übersetzungen und die aufsätze getrennt voneinander behandeln muß, die jugendgedichte können, wohl am anfang, gestreift werden; fraglich ist noch die reihenfolge und vor allem: wie setze ich ein? denn das legt ton, folge und ziel des ganzen fest.
21. Nachtrag zu 2.: das auffällige vorkommen von gedichten aus quatränen (rubai) sowohl bei Swinburne als bei Borchardt. Vermutlich hat Swinburne die form (des einzelnen rubai) bei Fitzgerald kennengelernt, Borchardt bei Swinburne, obwohl er sie natürlich auch bei Lagarde, Rückert, Platen oder Hammer-Purgstall hat finden können. Die form der zum langen gedicht miteinander verschränkten hat er mit sicherheit von Swinburne.
22. Borchardts bemerkung zum Durant (in Gedichte p. 568f.), "der Weg der Menschheit" scheine ihm "in allen seinen Stücken durch ihn weiterzudichten" läßt sich in gewissem sinne auch auf seine jugendgedichte – vor allem die frühesten – anwenden. Man findet darin deutsche romantik und englische romantik, englisches praeraffaelitentum und deutschen ästhetizismus, unauflöslich vereint, nicht einmal zu etwas "neuem", aber zu etwas anderem, noch nicht dagewesenen.
23. Die strophe der Bacchischen Epiphanie ist eine vereinfachung der strophe des Garden of Proserpine, mit verlängertem versmaß (+1) und vereinfachtem reimschema. Ihr herzstück ist genau das gleiche wie das der verschiedenen formen in der Masque of Queen Bersabe, nämlich 3 oder mehr vierhebige trochäen (bei Swinburne auch Jamben) plus ein dreihebiger trochäus (oder jambus). Auch Madonna mia (gleiches schema wie Garden of Proserpine), ebenso Ex-Voto, Summer in Auvergne, Autumn in Cornwall (siehe aber auch Novalis Lied der Toten (Kraft 171f).