Erläuterungen und Anmerkungen zu dem Gedicht Eines Morgens Schnee von Konrad Weiß
Eines Morgens Schnee ist das letzte Gedicht von Konrad Weiß, ein Gedicht voller Trauer, Trostlosigkeit, Resignation, voll des Gefühls der Vergeblichkeit und der Hoffnungslosigkeit, ein Gedicht, das trotzdem etwas Tröstliches ausstrahlt. Ein Gedicht des Abschieds, genauer: des Abschieds vom Leben.
Eines Morgens Schnee
Was man gelebt, was immer mehr geblieben,
stets mehr gelesen, um so dunkler nur,
was man im Lichte schon wie aufgeschrieben
vorfand und ging auf unstörbarer Spur,
was man mit Sinn erreicht, was man mit Lieben
doch nie vollbringen konnte, — deine Flur
wird dir, du Mensch von Ernte niemals satt,
mit eines Morgens Schnee ein reinstes Blatt.
Es ist kein Trost; und nun der Sonne Scheinen
teilt alles nur noch weiter vor dir aus,
so spurlos steht die Zeit, du willst sie einen
gleich einer Träne dort am letzten Strauß,
du horchst auf einen Laut, nun hörst du keinen,
der Schnee macht nur ein regungsloses Haus, —
geh fort, und wie es dir im Busen klopft,
fühlst du den Schnee, der kalt vom Baume tropft.
Du fühlst nicht Nähe mehr, nur noch dies Pochen,
das dir die kalte Wange seltsam näßt,
das Land scheint dir so weit und ganz zerbrochen,
die weißen Berge gleich dem schweren Rest
von einem Himmel, den du nie besprochen,
und der, je mehr du sprichst, dich werden läßt
gleich einer Spur, die sich aus ihm verlor,
und die du kennst, wenn dir im Herzen fror.
So geh nun fort, und was umsonst bestritten
du Tag und Nacht, was schon im Licht verdorrt,
was du gelebt, was du dir selbst inmitten
gelöst, du Mensch, im stets zerbrochnen Wort,
auf dunkler Spur mit unhörbaren Schritten
gewinnt die Zeit ihr Licht, geh mit ihr fort,
noch blüht zur stillen Nacht die Spur so frisch
wie alle Ernte auf dem Ladentisch.
Zur Entstehung
Am 17. Oktober 1939 fuhr Konrad Weiß nach Brannenburg im Alpenvorland, um seine Freunde Karl Caspar und Maria Caspar-Filser zu besuchen und bei ihnen ein paar Tage Urlaub zu machen. Wie man seinem Tagebuch entnehmen kann, herrschte fast die ganze Zeit über trübes Regenwetter; am 24. und 26. Oktober werden Schneefälle erwähnt, aber erst in der Nacht zu Samstag, dem 28. Oktober, dem Tag seiner Abreise, fällt Schnee, der auch liegenbleibt. Im Tagebuch heißt es dazu: „ganz weiße Schneelandschaft“ sowie: „Samstag gegen nach 11 Uhr Abfahrt, es hatte schon am Abend die ganze Gegend eingeschneit... dazu Gedicht“. Dieser Schneefall in der Nacht zum 28. Oktober 1939 war also der unmittelbare Anlaß zur Entstehung des Gedichtes.
Die Tochter des Ehepaars Caspar, Felicitas Köster-Caspar, schreibt über die Entstehung des Gedichtes rückblickend folgendes:
„Oktober 1939 war eine Zeit in der man in Deutschland immer rigoroser von der übrigen Welt abgeschnitten wurde. lch wollte mehr über Kunst und Literatur im Ausland erfahren. Deshalb und um meine Kenntnisse in Fremdsprachen nicht ganz zu vergessen, übersetzte ich für mich mehrere Artikel aus der »Revue Verve«, eine bedeutende französische Kunst- und Kulturzeitschrift, die 1937 erstmals in Paris erschienen war. Mein Vater Karl Caspar hatte verschiedene Hefte davon aus München mitgebracht, die damals von einem mutigen Buchhändler für vertrauenswürdige Kunden in einem Hinterzimmer bereitgehalten wurden.
Dabei versuchte ich auch ein Gedicht von Paul Claudel zu übersetzen, das er als Franzose in englischer Sprache nach dem Chinesischen verfertigt hatte und in der »Revue Verve« Nr. 3 zusammen mit einem längeren Aufsatz als Handschriftfaksimile abgedruckt worden war. Das Gedicht hatte den Titel Old Silly, fing lyrisch an mit einer feinen Naturbetrachtung und endete mit Sterling und Ladentisch.[1] Gerade da, wo die Zeilen problematisch wurden, waren sie wörtlich ins Deutsche nicht übersetzbar.
Zu dieser Zeit weilten Konrad Weiß und seine Frau auf Besuch bei uns in Brannenburg. Als ich mich mit der Übersetzung des letzten Teils jenes Gedichtes von Claudel abquälte, kritisierte ich wütend: »Was soll das, zuerst so lyrisch und dann zum Schluß der Ladentisch?« Konrad Weiß, der sich sichtlich über meinen Ärger amüsierte, sagte zu mir: »Um dieses Gedicht ins Deutsche zu übertragen, muß man Dichter sein; wieso stört dich der Ladentisch?« »Gut‚ dann mach du ein eigenes Gedicht, das ganz anders, aber ebenso lyrisch ist und das auch auf Ladentisch endet«, erwiderte ich ihm lachend.
In der Nacht vor seiner Abreise aus Brannenburg und der Rückkehr nach München war für die Jahreszeit sehr früh Schnee über das herbstliche Tal hereingebrochen. Am Morgen schrieb Konrad Weiß die ersten Verse zu seinem Gedicht Eines Morgens Schnee. Der Gang von unserem Haus zum Bahnhof unter Bäumen, von denen in blasser Sonne der Schnee herabtropfte, brachte weitere Gedanken zu diesem Gedicht, welche er dann in München zu zwei weiteren Strophen verarbeitete.
Vor der Abreise widmete Konrad Weiß einen Gedichtband Sinnreich der Erde mit der ersten Strophe aus Eines Morgens Schnee meinen Eltern, und mir den gleichen Band in den er die zweite Strophe hineinschrieb, deren siebenter und achter Vers lautete: „Doch blüht zur stillen Nacht die Spur so frisch, wie alle Ernte auf dem Ladentisch“. Aber statt „doch“ schrieb er „noch blüht zur stillen Nacht die Spur so frisch, wie alle Ernte auf dem Ladentisch“. Diesen Satz setzte er dann in München im erweiterten Gedicht am Ende der vierten Strophe, so daß auch in dieser Fassung der Ladentisch am Ende steht.
Wir hatten ihn kurz vor seinem Tod in München besucht. Er lag auf seinem Kanapee in seinem Studierzimmer. Als die Siegesmeldungen über Frankreich aus dem Radio ertönten, sprang er auf, lief erregt hin und her und rief: »Ach wenn man doch schon gestorben wär!«
Eines Morgens Schnee wurde sein letztes Gedicht. Am vierten Januar 1940 starb Konrad Weiß.“
[Zitiert nach: Felicitas Köster-Caspar. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen. Ausstellungskatalog 1997. Den Hinweis auf diesen Bericht verdanke ich Norbert Hummelt.]
Konrad Weiß erwähnt die Lektüre der Zeitschrift Verve ebenfalls, im Tagebucheintrag vom Mittwoch, 18. Oktober 1939: »Die Zeitschrift gestern Abend „Verve“«. Der Schlußvers des Gedichtes mit der Wendung von der „Ernte auf dem Ladentisch“ ist also der Tatsache geschuldet, daß Konrad Weiß der damals 22jährigen Felicitas beweisen wollte, wie ein Dichter auch unter Verwendung eines so prosaischen Wortes Dichtung machen kann.
In dieser ersten, aus zwei Strophen bestehenden Fassung lautete das Gedicht also wie folgt:
Was man gelebt, was immer mehr geblieben,
stets mehr gelesen, um so dunkler nur,
was man im Lichte schon wie aufgeschrieben
vorfand und ging auf unstörbarer Spur,
was man mit Sinn erreicht, was man mit Lieben
doch nie vollbringen konnte, — deine Flur
wird dir, du Mensch von Ernte niemals satt,
mit eines Morgens Schnee ein reinstes Blatt.
Diese Strophe steht im Widmungsexemplar von Das Sinnreich der Erde, das kurz zuvor im Insel-Verlag erschienen war, für Karl Caspar und Maria Caspar-Filser; die andere Strophe, mit den ursprünglichen Schlußversen, im Widmungsexemplar des gleichen Gedichtbuches für Felicitas Caspar:
Es ist kein Trost; und nun der Sonne Scheinen
teilt alles nur noch weiter vor dir aus,
so spurlos steht die Zeit, du willst sie einen
gleich einer Träne dort am letzten Strauß,
du horchst auf einen Laut, nun hörst du keinen,
der Schnee macht nur ein regungsloses Haus.
Doch blüht zur stillen Nacht die Spur so frisch
wie alle Ernte auf dem Ladentisch.
Wäre es bei diesen beiden Strophen geblieben, hätte man ein Gedicht des Abschieds von Brannenburg und den Caspars, aber nicht unbedingt des Abschieds vom Leben. Erst durch die Erweiterung um zwei Strophen, die Konrad Weiß gleich nach seiner Rückkunft nach München vornahm und am 30. Oktober fertigstellte, wird daraus ein Gedicht des Abschieds vom Leben.
Strophe 1
Das Gedicht beginnt mit einem Rückblick auf das eigene Leben. Es wird als umso undurchschaubarer, rätselhafter („dunkler nur“) empfunden, je mehr man darüber nachdenkt („stets mehr gelesen“). Die Ausdrücke „gelesen“ und „aufgeschrieben“ und die Rede von der Spur weisen auf die auch sonst häufig geäußerte Auffassung von Weiß hin, nach der das eigene Leben einer vorgezeichneten Spur oder Bahn, einer Vor-Schrift folgt, die man, sie lesend, nachschreibt. Nach dieser Auffassung hat also das Leben ein vorgegebenes Ziel; verallgemeinert ausgedrückt: die Geschichte folgt einem Plan, der aber für den Menschen nicht erkennbar ist. Hier wie auch sonst ist das Denken von Konrad Weiß nicht kausal, sondern final, teleologisch.[2]
Der Gedankengang hinter den Versen 5 und 6 ist, daß der Mensch der „unstörbaren Spur“ nie ganz folgen kann, das ihm vor-geschriebene Leben immer nur ansatz- oder teilweise nach-leben, nach-schreiben kann, er bleibt immer hinter dem, was möglich wäre, zurück. Das gilt sowohl für den geistigen Bereich („Sinn“) wie auch für den emotionalen („Lieben“). Weiß benutzt für diesen Sachverhalt häufig Worte wie „zerbrochen“, wie in Strophe 4 in der Wendung „im stets zerbrochnen Wort“, oder auch „gestückt“. So gibt es im Konradin von Hohenstaufen und im Gedicht Geist über Wassern die Wendung: „in die Zeit gestückt“ mit Bezug auf das eigene Leben.
Der Mensch kann also im irdischen Leben nie das vollbringen, was ihm, nach der Auffassung von Weiß, im Geschichtsplan eigentlich zugedacht ist, und ist immer getrieben, auf der Suche nach leiblicher oder geistiger Speise, und nie gesättigt, immer unerfüllt. Er ist „von Ernte niemals satt“; der menschliche Hunger, ob leiblich oder geistig, ist unstillbar, und der Mangel eine Grundsituation des menschlichen Lebens. „Hunger“ und „Mangel“ sind zentrale Begriffe bei Konrad Weiß, der Mensch ist ein Mangelwesen. (Um diese Tantalus-Situation geht es auch in der gleichnamigen Prosaschrift Tantalus.)
Etwas ganz ähnliches sagt z. B. die 1. Strophe des Gedichtes Am Bergsee im Regen, nur daß dort nicht von Spur und Ernte die Rede ist, sondern von Jagd und Speise:
Immer wie die Schwalben nach der gleichen
Speise dunkel hinter dem Erreichen
bleibt der Sinnende zurück alleiner,
selber in der Jagd und Ort ihm keiner.
Dieses Leben, die „Flur“, auf der man nie soviel „erntet“, daß aller Hunger gestillt wäre, dieses immer unbefriedigte Verlangen, dies „immer ... in der Richtung eines Mangels“ fortziehen (Konradin von Hohenstaufen), wird nun mit dem Sterben, so wie der Schnee über Nacht die Landschaft einförmig und unkenntlich macht, wie ausgelöscht, es verschwindet „spurlos“ (2,3).
Schnee als Bild für ein Leichentuch bezeichnet ein Ende, aber „reinstes Blatt“ steht eher für Neuanfang, vielleicht auch für engelhafte Reinheit. Vers 8 ist also durchaus ambivalent. Der unmittelbar folgende Satz „Es ist kein Trost“ deutet allerdings eher darauf, daß, wie der Schnee die Landschaft gleichförmig und unkenntlich macht, so der Tod das Leben wie nie gewesen, auf Trauer um die Vergeblichkeit des Lebens. Der Schnee macht „ein reinstes Blatt“, auf dem keine Spur mehr sichtbar, der man folgen, keine Schrift, die man lesen könnte. Kein Sinn, keine Richtung, kein Wort, Leere.
Hier wie auch sonst bei Konrad Weiß ist die Verquickung von Konkretem (der beschneiten Landschaft) und Abstraktem (der Betrachtung des eigenen Lebenslaufs) ein auffälliges und bestimmendes sprachliches Mittel, das gegenseitige Sich-Erhellen (oder auch Verdunkeln) von Bildern der äußeren Welt und seelischen oder geistigen Zuständen.
Strophe 2
Der Wendung „ein reinstes Blatt“, die in anderm Zusammenhang etwas Positives bedeuten könnte, wie Neuanfang, hier aber Tod bedeutet, das Auslöschen eines ganzen Menschenlebens, folgt zu Beginn der zweiten Strophe, lautlich und vom Tonfall her daran anklingend, die Folgerung daraus, die zentrale Aussage des Gedichtes: „Es ist kein Trost“. Die Strophen 2 und 3 führen nun aus, warum kein Trost ist; Strophe 4 zieht die Konsequenz daraus ("So geh nun fort").
Die Sonne, die die Schneelandschaft bescheint und dadurch noch weiter erscheinen lässt, macht sie noch trostloser. Ergänzt wird dieser visuelle Eindruck der Weite und Leere – der gleichförmig weißen Landschaft – um den temporalen Aspekt: die Zeit steht „spurlos“, und den akustischen: man hört keinen Laut.
Spurlos, lautlos, regungslos: es gibt keine Bewegung, keine Geräusche, also kein Leben, keine Geschichte. Diese Verse evozieren keine Eindrücke, sondern die Abwesenheit von Eindrücken, Todesstarre.
Erklärungsbedürftig ist der Ausdruck „die Zeit, du willst sie einen“. In Konradin von Hohenstaufen und in dem Gedicht Geist über Wassern gibt es, wie oben erwähnt, die Wendung: „in die Zeit gestückt“ mit Bezug auf das menschliche Leben, das also etwas unzusammenhängendes, „trümmerhaftes“ wäre, um einen anderen öfter verwendeten Ausdruck von Konrad Weiß zu benutzen, etwas, das zu „einen“ wäre. Die „gestückte“ Zeit ist die des eigenen Lebens, die Geschichte. Gegensatz der Zeit ist die Ewigkeit. Dann wäre 'die Zeit einen' also der Versuch, dem Leben eine Abgeschlossenheit, Rundheit zu geben, die es im Leben nicht hat – ein Paradox. Im Tantalus ist an einer Stelle die Rede von der „Zeit, die man nur in Teilen begreift“.
Auch im ersten Absatz der kleinen Schrift Über das Wesen der Dichtung ist von der Zeit, in die wir „herausgebrochen sind“, die Rede:
„Was zwischen Sehen und Hören nicht aufgeht, das ist unser Dasein auf der Erde. Wir suchen es im Sinne durch Worte und Bilder. Wie aber unsere Erde dazwischen steht und also am Sinne hängt und offenbar wird gleich einem dunklen Kerne in einer ewigen Geschichte — also zwischen Bild und Wort steht die Zeit unseres Daseins auf der Erde –, und wie nun dieses Dasein einem Mangel gleich wird an seinem Sinne, durch den wir in die Zeit herausgebrochen sind, — und wie viel wir herausgebrochen sind, so viel beschwert uns und bedeutet uns dieser Mangel an einer harrenden und zwischen Bild und Wort verglichenen, ewigen Gleiche – also sind wir in einer bewegten Maßgabe zwischen Bild und Wort für unsere Zeit auf der Erde. Bild der gespiegelten Schöpfung, durch unser Wort in Bewegung, das ist unser Dasein im Sinne und die Erde ist dadurch wie unter einem Wasser. Zwischen Gesicht und Ohr fließt wie zwischen Himmel und Erde aus ewiger Zeit ein Wasser.“
Rätselhaft ist die Wendung „gleich einer Träne dort am letzten Strauß“. Es gibt weitere Bilder im Werk von Konrad Weiß, die einen auffallend ähnlichen "visuellen Umriß" haben, zum Beispiel am Beginn von Largiris: „Perle Tau nun hängend hier im Netz“ als Bild für die Welt. Oder zu Beginn des Nachtgespräch zu dreien, dort ist vom „Tropfen, der aus der Schale gefallen ist“ die Rede, als Vergleich für den „Abendstern gleich hinter dem runden Bug der Mondsichel“. Aber eine Erklärung bieten diese Ähnlichkeiten natürlich nicht.
Der Zweizeiler, der die Strophe abschließt, beginnt mit der – in der vierten Strophe noch zweimal wiederholten – Aufforderung: „geh fort“. Hier wird also zum erstenmal die Wendung vom Leben weg vollzogen. Daß bei dieser Wendung das Herz klopft, im Takt zu dem schmelzenden Schnee, der vom Baum tropft, läßt darauf schließen, daß der Abschied vom Leben mit Angst verbunden ist, ähnlich wie bei Jesus auf dem Ölberg – eine Grundsituation des verlassenen und verlorenen Menschen, die Konrad Weiß immer wieder beschäftigt hat. Das Bild vom „Schnee, der kalt vom Baume tropft“ taucht übrigens auch im Tagebucheintrag vom 28. Oktober 1939 auf:
"Bei Abschied noch das Weihnachtliche der Schneelandschaft, die von nassem Schnee tropfenden Bäume... wie man eine Bewegung z. B. Fuhrwerk im Schneeland stärker sieht.."
Strophe 3
Der Übergang zur zweiten Hälfte des Gedichtes ist sehr deutlich gekennzeichnet durch das „fühlst du“ – „Du fühlst“, mit dem die zweite Strophe endet und die dritte beginnt; das wirkt wie ein Scharnier, eine Angel. Die dritte Strophe nimmt Wendungen der zweiten auf, führt sie fort, wandelt sie ab. Die vierte ist bis in wörtliche Wiederholungen hinein ein Gegenstück der ersten. Durch dieses Verfahren gewinnt das Gedicht eine besondere Dichte und Geschlossenheit. Konrad Weiß nähert sich dem, was er sagen will, indem er es mit immer variierten Bildern und Worten sozusagen einkreist, wie auch sonst oft.
„Du fühlst nicht Nähe mehr“ und „das Land scheint dir so weit“ wiederholen abwandelnd das „der Sonne Scheinen / teilt alles nur noch weiter vor dir aus“ der zweiten Strophe. Und das Bild von der „Träne dort am letzten Strauß“ führt, kombiniert mit dem klopfenden Herzen und dem „Schnee, der kalt vom Baume tropft“ aus Strophe 2 zu der Wendung „nur noch dies Pochen, / das dir die kalte Wange seltsam näßt“ in Strophe 3.
Die Stimmung von Einsamkeit, Verlassenheit und Angst wird in der zweiten Hälfte der Strophe noch intensiviert und ins Metaphysische gesteigert, zum Ausdruck einer sozusagen existentiellen Verlorenheit. Statt der vorgezeichneten Spur des eigenen Lebens, der man blind folgt, ist hier die Rede von einer Spur, die wie der Mensch selbst „sich aus [dem Himmel] verlor“. Die Wendung vom „Himmel, den du nie besprochen“ variiert, ins Negative gekehrt, das „was man mit Sinn erreicht“ aus der ersten Strophe und wird in der vierten Strophe wieder aufgenommen in den Versen „was du dir selbst inmitten / gelöst, du Mensch, im stets zerbrochnen Wort“. In Konradin von Hohenstaufen heißt es an einer Stelle: „Und immer stellt der Sinn dem Himmel nach“. Immer geht es um die Unmöglichkeit einer eigentlichen Erkenntnis und die Einsicht, „daß das Wort, durch das alles gesagt werden könne, selber nicht zu sagen möglich sei, und dem Menschen nichts übrig bliebe, als durch Dinge und Bilder zu sprechen“, um aus einem Brief von Konrad Weiß an Hans Hennecke vom 6. Juli 1939 zu zitieren.
Strophe 4
Die vierte Strophe ist das Gegenstück zur ersten, fast ein Spiegelbild. Sie nimmt Wendungen der ersten wieder auf und wandelt sie ab; so bilden die erste und vierte Strophe eine Klammer, die dem Gedicht Geschlossenheit verleiht – nicht nur formal. Die Anklänge an die erste Strophe betreffen teilweise nur den Tonfall, teilweise die Syntax, teilweise sind es wörtliche Wiederholungen:
1,1 Was man gelebt – 4,1 So geh nun fort (Tonfall)
1,1 Was man gelebt – 4,3 was du gelebt
1,2 dunkler nur – 4,5 dunkler Spur
1,5 was man mit Sinn erreicht – 4,3-4 was du dir selbst .. gelöst
1,7 von Ernte niemals satt – 4,8 wie alle Ernte auf dem Ladentisch
In der ersten Strophe ist es Morgen, und obwohl das Gedicht Eines Morgens Schnee heißt, ist es in der vierten Strophe Abend. In der ersten Strophe bezeichnet die „Spur“ den Weg des Lebens, in der vierten führt die Spur aus dem Leben hinaus. Diese Spur „blüht“, d. h. sie leuchtet so verlockend, wie die „Ernte“, von der der Mensch, solang er lebt, „niemals satt“ wird. Warum, dazu gleich.
"So geh nun fort" klingt im Tonfall an an „Was man gelebt“, nimmt aber auch das „geh fort“ vom Ende der zweiten Strophe wieder auf, und entsprechend ist die Stimmung in der ersten Hälfte der vierten Strophe eine der Vergeblichkeit, Trauer und Resignation, davon legt die Wortwahl beredtes Zeugnis ab: „umsonst“, „verdorrt“, „zerbrochnen“.
In der zweiten Hälfte ändert sich jedoch Tonfall und Stimmung auf subtile Weise. „auf dunkler Spur ... gewinnt die Zeit ihr Licht“: das ist ein ganz unerhörtes Bild. Aber wenn dann im folgenden Vers von der „stillen Nacht“ die Rede ist, drängt sich der Gedanke an Weihnachten geradezu auf, das Fest des Lichtes, der Geburt des Erlösers, gleichzeitig der Tag kurz nach der Wintersonnenwende. „auf dunkler Spur ... gewinnt die Zeit ihr Licht“ würde dann bedeuten: Jesus, das Licht der Welt, wurde geboren. Und „geh mit ihr fort“ wäre dann nicht mehr der Ausdruck resignativen Abschiednehmens vom Leben, sondern Ausdruck des Einverstandenseins mit dem Weg zum Licht, von der Zeit in die Ewigkeit. Wenn man, wie Konrad Weiß, gläubiger Christ ist. So ließen sich auch so deutlich positiv besetzte Worte wie „blüht“ und „frisch“ erklären. Diese positive Wendung zum Schluß des Gedichtes würde dann auch das Tröstliche erklären, das dieses Gedicht trotz der Behauptung „Es ist kein Trost“ zu Beginn von Strophe 2 ausstrahlt.
Für diese Deutung spricht die zweimalige Erwähnung von Weihnachten im Zusammenhang mit der Schneelandschaft im Tagebucheintrag vom Samstag, dem 28. Oktober 1939: „Abschied, sonnig, aber ganz weiße Schneelandschaft, Weihnacht sonnig“ und zwei Abschnitte später dann: „Bei Abschied noch das Weihnachtliche der Schneelandschaft“. Offenbar hat die verschneite Landschaft in Konrad Weiß den Gedanken an Weihnachten geweckt. Daß das Gedicht nicht zu Weihnachten, sondern vom 28. bis 30. Oktober geschrieben wurde, will also in diesem Zusammenhang nichts heißen.
Im April 2019
Wilfried Käding
[1] Claudels Gedicht Old Silly ist weder bemerkenswert, noch hat es abgesehen von der Verwendung des Wortes "counter" resp. "Ladentisch" irgendetwas mit Eines Morgens Schnee zu tun. Die Verse, auf die sich Felicitas Köster-Caspar bezieht, lauten:
Sea on its counter
For one pound sterling
Pays all glittering
1000000 counters!
Claudel spielt hier offensichtlich mit der Mehrdeutigkeit von counter, das, unter anderem, sowohl Ladentisch als auch Jeton, Spielmarke oder Zählkugel bedeuten kann.
[2] Die Auffassung von der Geschichte als Verwirklichung eines göttlichen Heilsplans hat weitreichende philosophische Implikationen, die zu verfolgen hier zu weit führen würde. Nur soviel dazu: der Mensch hat nach dieser Auffassung die Freiheit, sein Leben zu akzeptieren, die jedem vorgegebene Spur zu verfolgen, seine Vor-Schrift nachschreibend zu erfüllen, seine Geschichte zu er-fahren. Dann lebt er. Er kann sich dem aber verweigern und in der Anschauung verharren, das Leben nur betrachten. Einen solchen Menschen nennt Konrad Weiß „fauler Knecht“; gemeint ist der faule Knecht der Bibel, der sein Pfund vergräbt, statt damit zu wuchern. Diese Verweigerung führt zur acedia, zu Schwermut und Trägheit. Dieses Problem des faulen Knechtes, als den er sich lange Zeit selber empfand, hat Konrad Weiß, der genau diese Neigung zu Schwermut und Trägheit, zum Zuschauen statt Handeln, selber hatte und schwer mit ihr gekämpft hat – die Tagebücher, aber auch viele seiner Gedichte und Prosaschriften legen Zeugnis davon ab – fast sein ganzes Leben lang beschäftigt. Er hat für diesen Typ Mensch auch die Bezeichnung „epimetheisch“ verwendet, und für das Erfüllen des Geschichtsplans, das Nachschreiben der Vor-Schrift benutzt er im Traktat Der christliche Epimetheus den Terminus „Nachvorwegnahme“. (Das Wort wird viermal im chr. Epimetheus gebraucht und taucht außerdem bereits in Kriegsbuch 5 p. 56 vom 5.9.16 und Kriegsbuch 8 p. 32 vom 30.1.17 auf.)