BLAUE HORTENSIE (Rilke)
So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.
Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;
Verwaschnes wie an einer Kinderschürze,
nichtmehrgetragnes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.
das gedicht könnte hier enden und hätte dann zwar, wegen des fehlenden reims auf "geschieht", eine etwas ungewohnte, unabgeschlossene form, wäre aber, als leise klage um die vergänglichkeit alles irdischen, in sich durchaus stimmig; zudem wäre es einem geschickten versifikator, wie Rilke nicht zuletzt einer war, nicht schwergefallen einen auf "geschieht" sich reimenden vers einzufügen und so die formale ausgefülltheit zu erreichen die der inhaltlichen abgeschlossenheit entspräche. es folgt aber noch ein zweites terzett, das dem bis dahin statischen gedicht eine wendung gibt, mittels einer kurzen, rasch wieder verebbenden bewegung, vergleichbar der, die ein von einem zweig abfliegender vogel verursacht:
Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.
diese schlußstrophe macht das gedicht äußerlich zum sonett — ich sage mit bedacht äußerlich, denn im echten, mit recht so geheißenen sonett enthalten die beiden terzette die wendung, den abgesang, die zusammenfassung, die antithese oder den schluß — sie wirkt aber wie aufgesetzt, nur um die form zu erfüllen, wie ein überglied an einem sonst wohlgebauten körper. das gedicht, schon an sich nicht großartig, verliert dabei.
dabei weckt die erste strophe recht hohe erwartungen. der eingang "So wie das letzte Grün" stellt ungewohnterweise und dadurch äußerst wirkungsvoll den hintergrund vor den vordergrund und kehrt damit die perspektive um. tatsächlich hatte ich, der von gedichten meist nur wenige verse behält und meist die ersten, den anfang jahrelang als "So wie das letzte Blau" in erinnerung, die blätter waren mir die blütenblätter, und weiter wußte ich nicht. dann die überraschung, das befremdetsein, als ich es einmal wieder las; und vergaß es dann wieder, und wieder die überraschung — die die enttäuschung beim weiterlesen umso schmerzlicher macht. es hat nichts zu sagen, daß man das grün der hortensienblätter auch wahrnehmen kann: ich habe bei der wendung "letztes grün in farbentiegeln" meinen schulfarbkasten vor augen, und darin ist das letzte grün so verwaschen und vermischt wie bei Rilke das blau. aber gestehen wir Rilke seinen eindruck zu, er hat seine hortensie so gesehn, wer weiß wo und wann; jedenfalls bleiben die ersten beiden verse ein ungewöhnlicher, höchst effektvoller anfang, den die wendung von den dolden, die "ein Blau ... nur von ferne spiegeln" noch überbietet: denn so ist es, so sehen blaue hortensien aus kurz bevor sie verblühen, jeder kennt dieses blasse, uneinheitliche blau, wie das eines dunstigen sommerhimmels, das nun die zweite strophe genauer beschreibt, in schlichteren wendungen, die ein atemholen von den kühnen der ersten ermöglichen und gleichzeitig ihr nachklingen und ausschwingen. dann wirds dürftig. evoziert der vergleich mit alten briefpapieren eine ganze lebendige, vom hauch verflossener sehnsüchte und hoffnungen umduftete vergangenheit, den "schmelz der abgelebten dinge" (ich weiß, daß es bei Hofmannsthal "Schmelz der ungelebten Dinge" heißt), der ein reiz ist, so der mit einer verwaschenen kinderschürze nur den verschleiß, der ein grauen ist, kein altern eines lebendigen, das uns als ein abschnitt im großen kreislauf ehrwürdig erscheint, sondern das schäbigwerden eines von menschenhand gemachten, jenem kreislauf entsetzten gebrauchsgegenstands, der ihm erst nach seinem verfall wieder eingereiht zu werden die möglichkeit hat, wenn er dem zugriff der mortifizierenden menschenhand nicht mehr unterliegt. solange er ihm aber unterliegt, "geschieht nichts", "nichtmehrgetragen", nutzlos lungert er auf der wartebank bis er endgültig ausrangiert wird. das briefpapier hat oder enthält zumindest, als mit menschlichen gedanken und gefühlen seiner bestimmung nach verbunden, sei es nun beschrieben oder nicht, geschichte, die kinderschürze hat nur eine gewisse dauer. deshalb tut der vergleich mit ihr der hortensie unrecht: ihr verblühn ist ein abschnitt auf dem weg zu weiterem, das nichtmehrgetragenwerden der kinderschürze ist eine unterbrechung ohne sinn. die dritte strophe schreibt der hortensie eine dürftigkeit zu, die ihr auch im verblühn nicht eignet, ihr letzter vers, funktional der schluß aus allem vorangegangenen, hat deshalb gar nichts mit ihr zu tun. auf ein freudloses kinderdasein und kindertod, an welche die wendung von der verwaschnen, nichtmehrgetragnen schürze denken laßt, passen die begriffe "kleines Leben" und "Kürze", im zusammenhang mit der hortensie sind begriffe wie klein oder groß, kurz oder lang gegenstandslos, das leben der blume spielt in andern räumen und zeiten als den unsern. nur daß es vergeht wie das unsre ist überhaupt vergleichbar, doch wie mir scheint hat der satz von des "kleinen Lebens Kürze" sich bei Rilke gar nicht im gedanken an die verblühende hortensie eingestellt, sondern erst aufgrund des vergleichs dieser mit einer verwaschenen kinderschürze. das wort "klein" legt das nahe, weil es ohne das voraufgegangene "Kind" gar keinen sinn hier hätte, die "Kinderschürze" wiederum wäre für den vergleich mit der hortensie nicht nötig gewesen, die der köchin hätte es auch getan, aber ihr leben ist weder klein noch offenbar kurz... was als aussage über den gegenstand des gedichts auftritt ist so nur eine assoziation, die sich an ein mit ihm verglichenes heftet. trotz alledem hat das gedicht bis hierhin noch eine gewisse einheitlichkeit; und es wäre, wenn man von Rilke nicht fordern will was ihm nie lag: logische schlüssigkeit, sich also zufrieden gibt mit gut beschriebenen wahrnehmungen, die einst wahrgenommenes evozieren, auch wenn es nicht unbedingt mit ihnen zusammenhängt, bis hierhin immerhin akzeptabel, obschon es einen belegten geschmack hinterläßt. es gibt solche, und ein gedicht muß nicht schlecht sein, weil einem schlecht davon wird.
erst die letzte strophe, der versuch, dem elend grauer vergänglichkeit einen frohen tupfer aufzumalen, läßt das gedicht, das so vielversprechend anfing, ganz mißglückt sein. ich verglich ihren eindruck auf mich vorhin mit der bewegung, die ein von einem zweig auffliegender vogel verursacht, d. h. es kommt nicht etwas hinzu, sondern dem gedicht wird etwas weggenommen: die ruhe, die mit dem verblühn und lautlosen vergehn doch versöhnt. daß jetzt etwas geschieht, wirkt, das "Doch plötzlich" unterstreicht es, künstlich, gewollt und aufgesetzt. und was geschieht denn? "das Blau scheint sich zu verneuen". wie das? ich erinnere mich, daß an hortensien die einen dolden schon abwelken, während andere noch im frischesten — soweit man bei hortensien von frischen farben sprechen kann — blau aufblicken. wie also "plötzlich" und "verneuen"? in Wahrheit "verneut" sich nichts, schon gar nicht plötzlich, sondern das eine entfaltet sich während das andere einzieht; die ganze strophe ist frucht falschen sehens, aber hebt nichtsdestoweniger die wehmut über des "kleinen Lebens Kürze" der dritten auf, indem sie dem anblick des vergehens den des blühns vorschiebt, der jedoch hier, im gedicht, wahrhaftig nicht freut, sondern die mühsame einheit der ersten drei strophen zunichte macht. das sich freuende blau macht beim leser die enttäuschung komplett. beispiel für die verscherzte möglichkeit eines stimmigen und daher befriedigenden gedichts aufgrund nicht durchgehaltener anfangstonlage.
************************
AN EINE GEISSBLATTRANKE (Platen)
Zwischen Fichtenbäumen in der Öde
Find ich, teure Blüte, dich so spat?
Rauhe Lüfte hauchen schnöde,
Da sich eilig schon der Winter naht.
Dicht auf Bergen lagen Nebelstreifen,
Hinter denen längst die Sonne schlief,
Als noch übers Feld zu schweifen
Mich ein inniges Verlangen rief.
Da verriet dich dein Geruch dem Wandrer,
Deine Weiße, die dich blendend schmückt:
Wohl mir, daß vor mir kein andrer
Dich gesehn und dich mir weggepflückt!
Wolltest du mit deinem Dufte warten,
Bis ich käm an diesen stillen Ort?
Blühtest ohne Beet und Garten
Hier im Wald bis in den Winter fort?
bis hierher ist das gedicht deskriptiv und rhetorisch und wäre, wenn ein ebensolcher schluß folgte, anständig aber konventionell. allein die schlußstrophe hebt es, indem sie menschliches zu der blume in beziehung setzt, in den bereich der Großen Poesie:
Wert ist wohl die spät gefundne Blume,
Daß ein Jüngling in sein Lied sie mischt,
Sie vergleichend einem Ruhme,
Der noch wächst, da schon so viel erlischt.
die ersten vier strophen arbeiten nicht ersichtlich auf die letzte hin, diese kommt vielmehr, ein unerwartetes resumée aus dem vorangegangenen ziehend, ganz überraschend und gibt gleichwohl dem gedicht einen harmonischen schluß, indem das ende auf den anfang zurückweist, einen kreis schließend, wo man ein melancholisches verhallen ins offene erwartete. die ersten vier strophen sind ein produkt der gelegenheit, die fünfte eines des kairos, ein begnadeter einfall, der rückstrahlend das gedicht mit dem glanz einer stolzen, als gewißheit hingestellten hoffnung übergießt, der spirituellen form jenen glanzes, der von der geißblattblüte ausgeht. in seinem licht nimmt, was nur die blume zu evozieren schien, bedeutung an, und man liest das gedicht von vorn.
da findet man dann die erste strophe schon in genauster entsprechung zur letzten, rein äußerlich durch das in dem: "spät gefundne" wiederaufgenommene "Find ich ... spat?" und das dem "Da sich eilig schon der Winter naht" antwortende "da schon so viel erlischt". hat man vielleicht bei dem ausdruck "Rauhe lüfte hauchen" gestutzt, wird man durch die zweite strophe beruhigt: bei feucht-kaltem nebelwetter mag die luft rauh genannt werden, auch wenn sie nicht stark weht. immerhin scheint mir "Kalte lüfte hauchen" besser, obschon Platens version die vorzüge der klanglichen schönheit und der lautmalerei besitzt. die zweite strophe ist, nach dem in medias res-einsatz der ersten, rekapitulation und führt, ohne selbst weitere aufmerksamkeit zu beanspruchen, zur dritten über, die mit den ansprachen an die blume fortfährt. hier zuerst entdeckt sich dem bewundernden leser, der den schluß schon kennt, wie Platen beim anblick der blendenden weiße der blüte vor dem hintergrund des sterbenden jahrs das strahlen eines ruhms aufleuchten mußte, der, oder dessen hoffnung, dem dichter offenbar trost für entgangenes und verlorenes bietet. die vierte strophe mit ihren rhetorischen fragen bildet den aufschub, der die überraschende lösung der letzten erst recht wirkungsvoll macht. daß nach ihr eine wende eintreten muß, ist offensichtlich, denn ein verfolg der richtung ist nicht möglich, da ja die fragen keine antwort verlangen. die wendung zu sich selbst, zum menschen hin, gibt dem gedicht tiefe und eröffnet ihm eine zusätzliche dimension, denn nicht nur stellt der vergleich eine ideelle beziehung her und damit gedanklichen raum: sondern dahinter schimmert auch noch, im bilde des erloschenen sommers, die vergangene jugend des dichters, des lesers auf, mit wer weiß welchen und wieviel funden, verlusten, verheißungen und enttäuschungen, für die der ruhm, selbst wenn er wächst, nur schwachen, aber in der "Öde" herzlich begrüßten ersatz bietet. das wort "wächst" übrigens ist es, das den vergleich ein wenig hinken läßt und uns dadurch ein leises, in der halb resignativen stimmung der letzten strophe, des letzten verses vor allem, willkommenes lächeln ermöglicht. denn das geißblatt, das im spätherbst eine letzte blüte öffnet, wächst hier in einem anderen sinne als der ruhm: es dauert an der stelle wo es steht bis über den winter aus; der ruhm aber verbreitet sich.