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Gedanken zur Geschichte

Es ist uns unmöglich, ein wissen darüber zu erlangen, ob die geschichte einen sinn und ein ziel hat, weil wir erstens selbst teil des geschehens sind, und durchaus nicht nur handelnder, sondern auch und vor allem leidender, und zweitens das was wir geschichte nennen, eine höchst unvollkommene fiktion ist, die von einem bruchteil des tatsächlich geschehenen, denn mehr umfaßt die sogenannte weltgeschichte nicht, uns eine grobe vorstellung liefert, die in den umrissen richtig sein mag, im einzelnen, wo einzelheiten überhaupt überliefert sind, fehler enthält, ohne daß meist zu überprüfen wäre, wo und wieviele. Wer einen sinn und ein ziel in der geschichte sieht, der tut dies, weil er glaubt: den umriß der aus den überlieferten "fakten" sich zeichnen läßt, malt er mit den farben seiner wünsche und ängste aus. Doch wenn man schon über sinn und ziel der geschichte keine aussage machen kann, so ist es immerhin möglich, in den großen zügen des geschehens wie den kleinen ereignissen des alltäglichen lebens eine folgerichtigkeit zu erkennen,im ganz kleinen, weil wir da noch den kausalen zusammenhang der abläufe verfolgen können, solange er nicht allzu verwickelt wird, im ganz großen, weil dort die vielfalt der ereignisse sich dem geistigen auge, das sie auf ihre grundtypen zurückführt, sie sondert oder zusammenstellt, ordnet und einheit und richtung gewinnt. Wir verstehen den tropfen der fällt und den strom der fließt; das spiel der wellen verstehen wir nicht.

Eine solche folgerichtigkeit findet sich auch, sicher zum leidwesen aller, denen, und mit recht, vor der zukunft graut, in der entwicklung, die die menschheit in den letzten 500 jahren seit der entdeckung amerikas, und besonders den letzten 150-200 jahren seit beginn der rapiden industrialisierung, durchgemacht hat, eine folgerichtigkeit, die im großen ganzen durchaus zwingende schlüsse auf die nahe zukunft erlaubt. Diese schlüsse sind weder erfreulich noch schmeichelhaft noch auch nur human, doch muß man im denken, wenn man vor seinem eigenen und dem urteil anderer denkender geister bestehen will, versuchen von den gefühlen abzusehen, die den gedanken, geheim oder offen, ihre wünsche oder befürchtungen als wahrheiten einzuschwärzen immer bemüht sind, und seinen folgerungen (die natürlich auf unbezweifelbaren, nachprüfbaren fakten beruhen müssen) die unerbittlichkeit eines schicksals zu geben. Diese unerbittlichkeit will ich in den folgenden betrachtungen anstreben.

Die ungeheure, immer zunehmende überbevölkerung, die gefahr einer auslöschung oder zumindest schweren schädigung der menschheit und allen übrigen lebens auf der erde durch einen atomkrieg, die wachsende verschmutzung, verödung und zerstörung der umwelt durch die ausdünstungen der zivilisation, die rasante industrialisierung, die mehr und mehr einem wettlauf auf leben und tod gleicht oder dem sinnlosen rasen einer von panik erfaßten viehherde, – das sind probleme, die zusammen entstanden sind und nur zusammen gelöst werden können, und jedenfalls nicht von menschen allein gelöst werden können. Denn sie sind nicht vom menschen allein verursacht. Die menschen sind teil der natur und deren gesetzen unterworfen, und nur ihm rahmen dieser gesetze zu handeln fähig. Die genannten entwicklungen können also, so widernatürlich und sogar gegen die natur selbst sie uns vorkommen mögen, nicht im widerspruch zur natur erfolgt sein, sondern zumindest mit ihrer duldung. da wir den naturgesetzen unterliegen, können wir bei aller anstrengung, deren der wahnwitz heute fähig ist, der natur gar nichts anhaben, wir schädigen oder zerstören, durchaus im einklang mit ihnen, teile der belebten natur, die ihnen genauso unterliegen. Und dadurch letztlich auch und vor allem uns selbst. – Hier ist der ort, ein wort über den begriff "natur" zu sagen, dessen zweideutigkeit diese erörterungen unklar zu machen droht. Wir bezeichnen damit sowohl die zeugende macht als auch ihre manifestationen, und unter beidem stellen wir uns, dem system unserer sprache folgend, handelnde oder leidende wesen vor. Diese vorstellung ist nicht zu vermeiden, solange ich deutsch rede, es ist dies aber nicht schlimm, solange man sich ihres fiktiven charakters bewußt bleibt. Die zweideutigkeit des begriffs versuche ich im folgenden zu umgehen, indem ich, soweit möglich, für die manifestationen der macht "natur" das wort "umwelt" verwende. Nach dieser begriffsklärung lautete der obige satz also: wir können der natur, als unter ihren gesetzen stehend, nichts anhaben, wohl aber unserer umwelt, die, wie wir, eine manifestation dieser natur ist und genauso ihren gesetzen unterliegt. Wenn also die menschheit eine aller "naturgemäßheit" im landläufigen sinne spottende entwicklung im einklang mit den naturgesetzen durchläuft und dabei geradewegs auf den abgrund zuzusteuern scheint, muß man sich fragen, ob das nicht eine absicht der natur ist – man erlaube mir, da die sprache "natur" als wesen denkt, auch von "absichten" dieses wesens zu sprechen. Die absicht nämlich, die population "menschheit" zugrunde gehen zu lassen, vielleicht einen großteil aller anderen lebewesen mit ihr, und neue zu schaffen [anm. 10.1.2020: oder besser: entstehen zu lassen, denn ob es eine schaffende kraft gibt, ist durchaus nicht ausgemacht; es reicht ja, wenn bedingungen eintreten, die das entstehen erlauben. Wk], oder auch nicht. Auch die erde als unbelebter planet stände im einklang mit der natur. Viele indizien legen diese these nahe, und hat man sie einmal erfaßt, findet man immer noch mehr. Milder gefaßt lautete diese these, daß die art "mensch" ihren höhepunkt erreicht und überschritten hat und nun langsam zurückgeht. Die natur kann in katastrophen zu neuen erscheinungen gelangen oder in allmählichen übergängen. Optimistisch gewendet schließlich ergäbe sich der gedanke, daß die menschheit das gefährlichste stadium ihrer existenz durchläuft, das ohne hohe verluste für mensch und welt nicht abgehn wird, daß aber eine lange phase zivilisierten menschlichen lebens in einer beherrschten und vernünftig genutzten umwelt noch folgen kann. Damit dies einträte, dürfte aber der mensch nicht der bleiben, als der er sich bis jetzt gezeigt hat.

Die weltbevölkerung steigt bekanntlich seit soviel jahrhunderten, wie man sie überhaupt rechnerisch hat erfassen können, exponentiell an und hat sich ihrem wachstum entsprechend über die ganze erde verbreitet oder, aus kritischer sicht, sie wie ein schimmel oder ein krebsgeschwür überzogen. Das deutet auf günstige lebensbedingungen oder auf eine besondere anpassungsfähigkeit und robustheit des menschen; auf jeden fall ist daran nichts besonderes, auch andere lebewesen, wie mücken oder grünalgen, vermehren sich unter günstigen bedingungen in kurzer zeit ins unermeßliche – und schrumpfen, sobald sie durch ihre übermäßige vermehrung diese günstigen bedingungen vernichtet haben, oder die bedingungen sich durch äußere einflüsse ändern, wieder auf einen rest zusammen. Ganze zweige des tier- und pflanzenreichs hatten vor millionen jahren schon ihre höchste blüte erreicht und sind dann ausgestorben, wie die saurier, die baumfarne, die schachtelhalmwälder. Warum sollte es bei den menschen anders sein? Es wäre dummheit und hybris, wollte man die starke vermehrung der menschen besonders seit dem anfange des neunzehnten jahrhunderts mit den zivilisatorischen, hygienischen, medizinischen errungenschaften jener zeit begründen, der zugegeben erfolgreichen eindämmung und ausrottung mancher krankheiten, der senkung der kindersterblichkeit, der steigerung der nahrungsmittelproduktion. Jede der erfindungen des neunzehnten jahrhunderts wäre auch früher möglich gewesen, ja manche waren längst gemacht und wurden nur nicht praktisch angewendet. Warum nicht? vielleicht weil man sie nicht brauchte oder nicht für nötig hielt. Seit dem beginn der industriealisierung jedenfalls hielt man auf einmal alles, was möglich war, auch für nötig, und alles für nötig, woran einer verdienen konnte, [auch wenn viele dabei verelendeten.] warum das gerade in der zeit um 1800 anfing, kann ich nicht sagen, aber die tatsache, daß der beginn dieser plötzlichen betriebsamkeit genau mit dem zeitpunkt zusammenfiel, da die kurve der bevölkerung, die bisher, nach der art von exponentialkurven, lange zeit sehr sehr langsam, fast geradlinig angestiegen war, ihre steile wendung nach oben zu nehmen sich anschickte, ist zu auffällig, als daß dazwischen kein zusammenhang bestände. Man kann nicht behaupten: die bevölkerungsexplosion bedingte den technischen fortschritt; ebensowenig: der technische fortschritt bedingte die bevölkerungsexplosion; aber beides ist ohne einander nicht zu denken und nur zusammen zu betrachten. Die wachsende weltbevölkerung entwickelt die mittel, die ihr wachstum fördern, indem sie es ihr erleichtern, ihre grundbedürfnisse: nahrung, kleidung, wärme, zu befriedigen. Da aber die ressourcen, die die technischen mittel leichter zugänglich machen, nicht unerschöpflich sind, kann dies gegenseitige hochschaukeln nicht unendlich weiter gehn, sondern die menschheit gelangt eines tages an den punkt, da die ressourcen nicht mehr für alle reichen (der auf manchen gebieten und in manchen gebieten längst erreicht ist, z. B. bei der nahrungsmittelproduktion in den armen ländern). Mit anderen worten, die menschheit, die im einklang mit den naturgesetzen sich eine zeitlang sehr stark vermehren konnte, wird eines tages von eben denselben naturgesetzen am weiteren wachstum gehindert und zum schrumpfen gezwungen oder zum aussterben. Diese feststellung gilt unbedingt, es sei denn, daß es den menschen gelänge, auch auf andern planeten fuß zu fassen, wovon ich hier absehn will, oder daß ihm das glückt, was ich in meiner dritten these formuliert habe, nämlich vernünftig zu werden und sich auf der erde zu bescheiden – in jeder hinsicht. Das erforderte aber ein so hohes maß an selbstdisziplin und auch selbstverleugnung, daß man die wesen, die sie aufbrächten, eigentlich nicht mehr als menschen im jetzigen sinne bezeichnen könnte. Die zeichen sprechen jedoch dagegen, und die rapide dezimierung oder gar auslöschung nach einer ebenso rapiden vermehrung scheint mir das wahrscheinlichere zu sein. Daß wir der phase eines solchen umschlags nahe sind, ist an zahlreichen einzelheiten abzulesen. Längst hat ja die umwelt, ihrem gesetz folgend wie wir unserem, und beide innerhalb der möglichkeiten der natur, auf die überflutung mit menschen, auf die ausbeutung all ihrer schätze, auf die besudelung des gesamten globus, zu reagieren begonnen, und ihr wirksamstes mittel, der bedrohung, die von uns ausgeht, zu entgegnen, ist, die waffen, mit denen wir sie verletzen, gegen uns selbst zu kehren. Wir vergiften, indem wir luft, erde und wasser vergiften, letztlich auch uns selbst, wir schädigen, indem wir tiere und pflanzen ausrotten, die scheinbar nicht "nützlich" sind, letztlich, wie sich oft herausstellt, auch uns selbst: wir vergewaltigen unsere welt nicht ungestraft. Aber auch von innen her, innerhalb der menschheit selbst, bekämpft die natur die schrankenlose vermehrung der menschen. Die selbstdezimierung, die zwei weltkriege, die ermordung von millionen, von halben völkern im dritten reich, in Stalins Rußland, in Kambodscha und zahllose kleinere kriege und gewalttaten bewirkt haben und noch bewirken, kann man nur so erklären. Krieg und mord sind menschliche verhaltensweisen, die immer dann und dort gern geübt werden, wenn und wo es unter menschen raumstreitigkeiten, nahrungsstreitigkeiten, erotische streitigkeiten gibt. Und es ist nur folgerichtig, daß die zahl solcher streitigkeiten und ihrer opfer mit der zahl der menschen zunimmt: kraß gesagt, wenn die menschen sich wie die fliegen vermehren, werden sie auch wie die fliegen totgeschlagen. Das ungeheure der grausamkeiten dieses jahrhunderts liegt nicht in ihrer art, sondern nur in ihrer zahl. Daß maschinell gemordet wird und in großem stil, ist einer lage, in der menschen hauptsächlich als massen auftreten, nur angemessen. Gesteigerte und scheinbar "unmenschliche" grausamkeit stellt sich übrigens auch bei vielen tierarten ein, wenn zu viele exemplare auf zu engem raum gehalten werden; jeder aquarianer, der einmal zu viele revierbesitzende fische in einem zu kleinen becken gehalten hat, weiß das, jeder hühnerhalter weiß es, dem einmal seine hühner der schwächsten henne unter ihnen die gedärme aus dem leib gerissen haben. Die scheinbar unmenschliche grausamkeit ist der plötzliche ausbruch lange unterdrückter aggressionen, und aggressionen sind menschlich. Mit welcher ohnmächtigen wut erfüllt einen manchmal das warten in der autoschlange, das gedränge in der stadt; kann man diese wut nicht an jemand oder etwas auslassen, richtet sie sich schließlich, unbewußt, gegen einen selbst. Das unterdrücken der triebe, "guter" wie "schlechter", fordert seinen preis und ihr ausleben auch, und beidesmal arbeitet es den absichten der natur in die hand.

Die radikalste und wirkungsvollste, brutalste und endgültigste lösung für alle probleme von mensch und erde und zwischen mensch und erde wäre der totale atomkrieg. Doch gibt es auch lösungen, die beiden, dem menschen wie der erde und allem was sonst auf ihr lebt, noch eine chance lassen. Die natur hat subtilere mittel als die nackte gewalt. Die menschen konnten verschiedene krankheiten fast oder ganz ausrotten, aber neue tauchen auf. Krebskrankheiten, herz- und kreislaufkrankheiten fordern immer mehr und immer jüngere opfer, und aids scheint das heute werden zu wollen, was im mittelalter die pest war. Vom menschlichen standpunkt aus gesehen ist das schrecklich, beängstigend, vom standpunkt eines wesens aus gesehn, das das wohl der erde als eines komplexen, aus dem gleichgewicht geratenen organismenverbands im auge hat, wäre ein radikaler sieges- und vernichtungszug einer krankheit wie aids unbedingt zu begrüßen; und vielleicht wäre er das auch vom menschlichen standpunkt aus, wenn man einmal nur mit dem verstand urteilt. Denn die natur hilft sich selbst, und wenn nicht auf die eine, dann auf die andere weise. So kann es, so wird es nicht weitergehen, und von allen möglichen und denkbaren arten, sehr viele menschen zu töten, scheint aids noch die "humanste" zu sein. Dem atomtod, langsamer oder schneller vergiftung oder dem hungertod ist sie jedenfalls vorzuziehen.

Geschrieben ca. 1985.