Georges Einsamkeit
Stefan George hat in seinem Leben viele Menschen geliebt und diesen Lieben in einer Vielzahl oft sehr leidenschaftlicher Liebesgedichte Ausdruck verliehen. Allerdings gibt es auch eine Anzahl Gedichte von ihm, die eine letzte, tiefe Einsamkeit zum Ausdruck bringen.
Aus Georges Schülerzeit wird überliefert, er sei verschlossen und dominant gewesen. Davon zeugen z. B. Gedichte wie Kindliches Königtum. Daß er als junger Mann auch noch extrem verletzlich und scheu gewesen sein muß, belegen z. B. folgende Verse aus Wo am letzten rastort reiter (Das Buch der hängenden Gärten):
Scheu weil seine hoheit bricht
Jede nähe macht ihn zittern
Mit zunehmendem Alter entwickelt sich George zum Machthaber, ja Usurpator; er wird vom leidenschaftlich (gegenüber Hugo von Hofmannsthal) oder scheu (bei Ida Coblenz) Werbenden zum „Fürst“, der „wählt und verschmäht“ (Vorspiel XII).
Aufschlußreich für seine innere Verfaßtheit ist der unglaubliche, in seiner schonungslosen Offenheit immer noch beklemmende Brief an Sabine Lepsius vom April 1905:
Bingen april 1905
Teuerste freundin: nach manchen unbestimmten wegen komm ich erst jezt wieder zu meinem sitz und geniesse dankend die innigkeit Ihres briefes dazwischen hör ich aber auch wieder den leisen vorwurf von mir persönlich so wenig zu erfahren.. Soll ich Ihnen noch einmal schriftlich und endgiltig bestätigen was Sie lange wissen? Warum soll ich meinen freunden von den gefährlichen abgründen berichten die alle meine fahrten begleiten? – und grad von den lezten besonders furchtbaren – indessen sie die freunde nichts können als in mitleidiger ferne hilflos dastehn... Giebt es für trostlosigkeiten überhaupt ein andres vorm schlimmsten rettendes als dass niemand sie weiss? Ich kann mein leben nicht leben es sei denn in der vollkommnen äusseren oberherrlichkeit. was ich darum streite und leide und blute dient keinem zu wissen. Aber alles geschieht ja auch für die freunde. Mich so zu sehen wie sie mich sahen ist ihr stärkster lebenstrost. so streit und duld und schweig ich für sie mit. Ich gehe immer und immer an den äussersten rändern – was ich hergebe ist das lezte mögliche ··· auch wo keiner es ahnt. [...]
Ihr freund Stefan
Wer so, und sei es aus innerer Notwendigkeit, der „oberherrlichkeit“ vor der liebe auf augenhöhe den Vorzug gibt, wird notwendig im letzten immer einsam bleiben. Mit anderen Worten: die Gründe für Georges letztliches Alleinbleiben sind sein Hang zur Absonderung und sein Machtmenschentum, also Eigenschaften, die in ihm angelegt sind, und nicht äußere Umstände.
Daß er sich dennoch auch zu öffnen und sogar hinzugeben vermochte, davon zeugen eine Reihe von Liebesgedichten vor allem an Gundolf, Boehringer und Morwitz. Aber das waren deutlich bis sehr viel jüngere Männer...
Nur zweimal in seinem Leben hat George um die Zuneigung von Menschen geworben, die ihm ebenbürtig, wesensgemäß waren oder hätten sein können – sowohl geistig wie altersmäßig –, und er ist beidemale damit gescheitert. Die Rede ist von Hugo von Hofmannsthal und Ida Coblenz.
Hugo von Hofmannsthal
Im Dezember 1891 lernt er in Wien Hugo von Hofmannsthal kennen, nicht per Zufall, sondern weil er ihn, nachdem er Gedichte von ihm gelesen hatte, gezielt gesucht und gefunden hat. Die Bekanntschaft kulminiert von Seiten Georges Anfang Januar 1892 in einem Brief an Hofmannsthal, in dem er sich diesem rückhaltlos öffnet, so rückhaltlos, daß es einem heute noch beim Lesen peinlich ist. Er schreibt von seiner Sehnsucht nach einem ihm verwandten „wesen“, einem „zwillingsbruder“, den er in Hofmannsthal gefunden zu haben meint, und trägt ihm unverhüllt seine Liebe an:
Schon lange im leben sehnte ich mich nach jenem wesen von einer verachtenden durchdringenden und überfeinen verstandeskraft die alles verzeiht begreift würdigt und die mit mir über die dinge und die erscheinungen hinflöge ・und sonderbar dies wesen sollte trotzdem etwas von einem nebelüberzug haben und unter einem zwang des gewissen romantischen aufputzes von adel und ehre stehen von dem es sich nicht ganz lösen kann ähnlich wie Johannes in Rosmersholm.
Jenes wesen hätte mir neue triebe und hoffnungen gegeben (denn was ich nach Halgabal noch schreiben soll ist mir unfasslich) und mich im weg aufgehalten der schnurgrad zum nichts führt. O den satz den ich gestern schrieb — nein ich nenne ihn nicht denn für den andern ist daran zu viel papier tinte federn während er für mich siedendes quellendes stoffloses blut bedeutet ....
Diesen übermenschen habe ich rastlos gesucht niemals gefunden grad so wie jenes Andre unentdeckbare im all..
Das aber raten Sie aus meinen büchern
Die grosse seelische krise drohte
Und endlich! wie? ja? ein hoffen - ein ahnen – ein zucken – ein schwanken – o mein zwillingsbruder –
Hofmannsthal muß diesen Brief als unsittlichen Antrag mißverstanden haben; jedenfalls hat er sich offenbar von der Leidenschaftlichkeit und Vehemenz des Briefes vollkommen überrumpelt gefühlt. Es kommt zur schriftlichen Androhung einer Duellforderung von seiten des gekränkten George, und schließlich zu einer zaghaften und reichlich nichtssagenden Entschuldigung Hofmannsthals. Der erboste Vater Hofmannsthals (dieser ist zu der Zeit noch minderjährig) verbietet George bei einem Treffen daraufhin den Umgang mit seinem Sohn. Danach ist bis zum Sommer 1892 erst einmal Funkstille.
Diese Abweisung hat George tief verletzt, in seinem Stolz und seiner Liebe. Trotzdem versucht er noch jahrelang, Hofmannsthal wenigstens als Dichter der Blätter für die Kunst zu halten.
Von den Menschen, die ihm auf seiner Suche nach dem „gefährten” (Rhein im Siebenten Ring, siehe weiter unten) bis dahin begegnet waren, hätte Hofmannsthal der einzige sein können, zu dem ein Verhältnis auf Augenhöhe möglich gewesen wäre. Allerdings mit sehr ungleichem Kräfteverhältnis: George der Machtmensch, Hofmannsthal extrem einfühlsam und extrem schwach und schwankend. George hat den schwachen, weichen, ganz und gar nicht herrischen Hofmannsthal durch seine brüske Art vor den Kopf gestoßen und dadurch dauerhaft verschreckt.
Ida Coblenz
Kurze Zeit nach der gescheiterten Annäherung an Hofmannsthal lernt George in Bingen Ida Coblenz kennen, und es entwickelt sich eine Seelenfreundschaft, deren dichterischen Niederschlag eine große Anzahl meist eher verhaltener, resignativer Liebesgedichte vor allem in den Sängen eines fahrenden Spielmanns, im Buch der hängenden Gärten und im Jahr der Seele bilden. George fühlte sich von Ida Coblenz verstanden und wahrgenommen; daß von seiner Seite mehr als nur die Seelenfreundschaft intendiert war, legen die an sie gerichteten Liebesgedichte unmißverständlich nahe. Die Haltung von Ida Coblenz hingegen ist ganz entgegengesetzt. Sie äußert sie, Jahrzehnte später, in dieser Passage aus einem Brief vom Juli 1935 an Sabine Lepsius:
Unsere Zusammenkünfte waren für mich etwas durchaus besonderes, aber es graute mir schon stundenlang vorher vor seinem Händedruck. Es war etwas Greisenhaftes in seiner Leiblichkeit [...]. Das hielt ihn mir fern, so nah mir seine Kunst war.
Und im September 1936 heißt es, ebenfalls an Sabine Lepsius gerichtet:
Nicht einmal aus reinster Opferbereitschaft hätte ich seine Lippen ertragen können. [...] Keinesfalls war da Prüderie ausschlaggebend [...] George war mir gerade da [im Körperlichen] und nur da erschreckend fremd und – verzeihen Sie meine Offenheit – abstoßend.
Die nicht offen erklärte Liebe zu Ida Coblenz endet mit der Hinwendung von Ida Coblenz zu dem von George verabscheuten Richard Dehmel und Georges enttäuschter Abwendung. Wäre sie erklärt worden, hätte sie, das lassen die zitierten Briefstellen an Sabine Lepsius vermuten, mit einer Zurückweisung Georges durch Ida Coblenz geendet.
Ida Coblenz war vielleicht die einzige Frau in Stefan Georges Leben, zu der ein Liebesverhältnis sich hätte entwickeln können. In dem Prosatext Ein letzter Brief, der später in Tage und Taten erschien, beklagt George sich bitter, sie habe das eine erlösende Wort nicht gefunden:
EIN LEZTER BRIEF
Du kannst ohne liebe lächeln · doch ich kann nur hassen. Viele menschen mag deine leichte anmut befriedigen · ich kann sie nicht in tausch nehmen für das wort das du hättest finden müssen und das mich hätte retten können. Du redetest einen ganzen sommer lang von den wolgeformten wolken von den rätselhaften geräuschen der wälder und den klängen der ländlichen flöte · aber für das eine wort bist du stumm geblieben. Was ist all deine schönheit all deine begeisterung wenn du dessen unkundig bist? nicht ein wort · minder als ein hauch · eine berührung! du hast gesehen dass ich tag und nacht darauf wartete. Ich konnte es nicht sagen · ich konnte es nur in träumen ahnen · auch hätte ich es nicht sagen dürfen · da du es hättest finden müssen. So träume und handle auf deine weise – uns ist nichts mehr gemeinsam: wenn du mir nahe kommst so muss ich dich hassen und wenn ferne bist du mir fremd.
Liebe zu jüngeren Männern
Nach diesen beiden gescheiterten Beziehungen zu Ebenbürtigen und Gleichaltrigen sind es für den Rest von Georges Leben nur noch jüngere Männer, zu denen er intime Beziehungen sucht und findet. Es sind Meister-Schüler- oder Meister-Jünger-Beziehungen, keine Liebesverhältnisse von gleich zu gleich und auf Augenhöhe: Gundolf ist 12 Jahre jünger; Boehringer 16 Jahre jünger; Morwitz 19 Jahre jünger; Kommerell 34 Jahre jünger. Vom geistigen Format her kann ihm von den jüngeren Geliebten keiner mehr das Wasser reichen, obwohl viele große Begabungen unter ihnen waren. Bezeichnenderweise wenden sich gerade die beiden seiner jüngeren Freunde, die ihm ebenbürtig hätten sein oder werden können: Gundolf und Kommerell, mit zunehmender Reife und Selbst-Werdung von ihm ab. So bleibt George innerlich einsam.
Gedichte über die Einsamkeit
Den Schmerz über seine Einsamkeit hat George in einer Anzahl von Gedichten zum Ausdruck gebracht, die allesamt nach der Zeit entstanden sind, als er noch die scheue und verhaltene Freundschaft zu Ida Coblenz pflegte. Übrigens sind einige Fotos, die während dieser Zeit entstanden sind, die einzigen, auf denen in Georges Gesicht so etwas wie ein Lächeln zu sehen ist.
Vorspiel zum Teppich des Lebens XXI und XXII
Zuerst explizit benannt wird die eigene Einsamkeit des Dichters im Vorspiel zum Teppich des Lebens, und zwar in den Gedichten XXI und XXII. Anders als in den vorangegangenen Gedichtbüchern, die allesamt eine Vielzahl von Gedichten an Gefährten, Freunde, Geliebte enthalten, also Gedichte, die an ein reales Du gerichtet sind, hält George zunächst, und zwar über 24 gleich aufgebaute vierstrophige Gedichte, Zwiesprache mit seinem imaginären „Engel“, der ihm ab jetzt den lang ersehnten und stets entbehrten „gefährten” ersetzt, und mehr noch, zu dem er vertrauensvoll aufsehen kann. Vom Siebenten Ring an ist es dann der vergöttlichte Maximin, der George dazu verhilft, sein Bedürfnis nach Verehrung und Anbetung zu stillen; der Einsamkeit zu entkommen, dazu verhilft ihm sein Gott nicht. Noch im drittletzten Gedicht seines letzten Gedichtbuchs Das neue Reich steht die Wendung „nach anbetungen brünstig”: in dem wunderbaren Lied Das Licht.
XXI
Solang noch farbenrauch den berg verklärte
Fand ich auf meinem zuge leicht die fährte
Und manche stimme kannt ich im geheg ·
Nun ist es stumm auf grauem abendsteg.
Nun schreitet niemand der für kurze strecke
Desselben ganges in mir hoffnung wecke
Mit noch so kleinem troste mir begehr ·
So ganz im dunkel wallt kein wandrer mehr.
Und mit des endes ton – dem lied der grille –
Geht auch erinnrung sterben in der stille.
Ein fahler dunst um kalte wälder braut
Verwischt die pfade ohne licht und laut.
Ein grabesodem steigt aus feuchtem bühle
Wo alle schlummern müssen · doch ich fühle
DEIN wehen noch das wieder glut entfacht
Und deine grosse liebe die noch wacht.
Der Dichter, da ihn auf seinem Weg der Abend ereilt, ist von seinen Gefährten verlassen: „So ganz im dunkel wallt kein wandrer mehr”. Nur sein (imaginärer) Engel bleibt mit ihm wach...
XXII
So werd ich immer harren und verschmachten
Die sonne steigt noch · meine fahrt wird schlimm.
»Gepeinigt wärest du von gleichem trachten
Auch wenn ich heut dir sagte: komm und nimm!
Denn du gedeihst in kämpfen die dir ziemen
Du weisst dass stets ein linder balsam fliesst
Von meinem munde auf die blutigen striemen
Doch ist dir niemand der sie dauernd schliesst«
Und die verehrend an mein knie getastet
Und die ich lenke mit dem fingerzeig
Und deren haupt an meiner brust gerastet?
»Die jünger lieben doch sind schwach und feig«
So ring ich bis ans end allein? so weil ich
Niemals versenkt im arm der treue? sprich!
»Du machst dass ich vor mitleid zittre · freilich
Ist keiner der dir bleibt · nur du und ich«
Das Gedicht liefert die Begründung Georges, warum er trotz der Verehrung durch seine Jünger allein ist: „Die jünger lieben doch sind schwach und feig”. Hinzu kommt, daß ein Jünger per Definition kein ebenbürtiger Partner, kein „gefährte” sein kann. Allerdings konnte zur Zeit der Entstehung des Teppich des Lebens, also vor 1900, von Jüngern Georges noch gar nicht die Rede sein; zu jener Zeit war der „George-Kreis“ eher ein loser Zirkel gleichaltriger Freunde. Das XII. Gedicht des Vorspiels ist also eher als pessimistische Vorausahnung aufzufassen. Indem es auf die neutestamentliche Geschichte von der Verlassenheit Christi im Garten Gethsemane, die Feigheit der Jünger und das dreimalige Krähen des Hahns anspielt, stellt George zudem sein eigenes Erleben in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang und enthebt es dem rein privaten Bereich individuellen Leidens.
SUEDLICHER STRAND: BUCHT
Lang zog ich auf und ab dieselben küsten ·
Von stolzen städten eine perlenschnur ·
Hier oder dort den hochzeit-tisch zu rüsten ...
Ein fremdling geht hinaus zur flur.
So oft ich weile auf denselben brücken ·
Nicht weiser – nur vergrämter jedesmal ·
Lass ich von alter hoffnung mich berücken
Umgleit ich harrend manch portal.
Wenn hoch im saale sich die paare drehn
Im bunten schmuck mit blumen um die schläfen:
Folg ich den ärmsten wandlern in den häfen ..
So sehr ist qual allein zu gehn.
Ein resignatives Gedicht über die „qual allein zu gehn“. Deutlicher und offener kann man es kaum ausdrücken, wie schwer die Einsamkeit auf einem lasten kann. Dieses Gedicht steht wie die beiden folgenden, Rhein und Fenster wo ich einst mit dir, im Siebenten Ring.
RHEIN
Blüht am hange nicht die rebe?
Wars ein schein nicht der verklärte?
Warst es du nicht mein gefährte
Den ich suche seit ich lebe?
Jagt vom flusse feuchter schwaden
Duft des haines licht der lande?
Dichter brodem wirst du laden ·
Folg ich dir nur spur im sande?
»Dich zu ehren dir zu dienen
Seid geopfert frühere prächte ·
Seid vergessen tag und nächte!«
Summt beharrlich lied der bienen.
Weite runde wo sich mische
Ferne hoffnung glück der stunde!
Nur noch droben in der nische
Zeigt der Heilige alte wunde ...
Noch einmal ein Aufflackern der Hoffnung, den „gefährte[n], Den ich suche seit ich lebe“ zu finden. Hier wie in manchen anderen seiner (vor allem späteren) Gedichte kleidet George seine Aussagen in Frageform und gibt ihnen dadurch etwas Unbestimmtes, Schwebendes. Einen logischen Zusammenhang zwischen den Versen darf man in diesem Gedicht nicht suchen. Eher ist das Gedicht eine Bilderfolge, deren einzelne Bilder noch nicht einmal assoziativ zusammenhängen: sie stehen weitgehend unverbunden nebeneinander.
Fenster wo ich einst mit dir
Abends in die landschaft sah
Sind nun hell mit fremdem licht.
Pfad noch läuft vom tor wo du
Standest ohne umzuschaun
Dann ins tal hinunterbogst.
Bei der kehr warf nochmals auf
Mond dein bleiches angesicht ..
Doch es war zu spät zum ruf.
Dunkel – schweigen – starre luft
Sinkt wie damals um das haus.
Alle freude nahmst du mit.
Ein Gedicht der Abkehr und der Enttäuschung: im Rückblick die resignierende Einsicht: du hättest es gewesen sein können, warst es aber nicht... Unter der Angeredeten darf man sich Ida Coblenz vorstellen.
SEELIED
Wenn an der kimm in sachtem fall
Eintaucht der feurig rote ball:
Dann halt ich auf der düne rast
Ob sich mir zeigt ein lieber gast.
Zu dieser stund ists öd daheim ·
Die blume welkt im salzigen feim.
Im lezten haus beim fremden weib
Tritt nie wer unter zum verbleib.
Mit gliedern blank mit augen klar
Kommt nun ein kind mit goldnem haar ·
Es tanzt und singt auf seiner bahn
Und schwindet hinterm grossen kahn.
Ich schau ihm vor · ich schau ihm nach
Wenn es auch niemals mit mir sprach
Und ich ihm nie ein wort gewusst:
Sein kurzer anblick bringt mir lust.
Mein herd ist gut · mein dach ist dicht ·
Doch eine freude wohnt dort nicht.
Die netze hab ich all geflickt
Und küch und kammer sind beschickt.
So sitz ich · wart ich auf dem strand
Die schläfe pocht in meiner hand:
Was hat mein ganzer tag gefrommt
Wenn heut das blonde kind nicht kommt.
Dieses Rollengedicht steht im Abschnitt Das Lied in Das neue Reich. Sprecherin ist eine einsame Frau, deren einzige Freude der Anblick eines „blonde[n] kind[es]“ auf dessen regelmäßigen Strandwanderungen ist. Es wird berichtet, George habe bei einem seiner Aufenthalte in Heidelberg vom Fenster seines Zimmers aus Ausschau nach schönen Knaben gehalten...
Verwey schreibt in seinem Buch Mein Verhältnis zu Stefan George über die Einsamkeit Georges: „Nicht als Los, ihm durch die Umstände auferlegt, sondern als Schicksal, aus eingeborener Anlage.“ Als er George sein Gedicht Der Einsame vorlegt, bemerkt dieser dazu: „Das bin ich“. Dem ist nichts weiter hinzuzufügen.
September 2022