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Versuch einer Deutung des Gedichtes Nachtlied von Konrad Weiß

NACHTLIED

Leicht wallt Gewölke vor dem Mond hin,
weißen Atem haucht die Nacht aus,
leise flüstern die Blätter dem Wind nach,
die Seele tritt aus ihrem dunklen Bild heraus.

 

Frage ist auf Frage Antwort nur,
schied die letzte, zittert noch der Mund,
stößt die Seele jäh auf den verborgnen Grund,
nächtens weckt die Mutter auf ihr Kind.

Das Nachtlied ist im Sommer 1914 entstanden, es ist, soweit man weiß, das erste Gedicht von Konrad Weiß, das er im Alter von 34 Jahren geschrieben hat, also als er seine Lebensmitte bereits überschritten hatte, und es ist auch das erste Gedicht seines 1918 erschienenen ersten Gedichtbands Tantum dic verbo.

Und bereits in diesem ersten Gedicht von Konrad Weiß klingt das Thema an, das als ein Hauptthema einen großen Teil der Gedichte und Schriften von Konrad Weiß durchzieht: der Gegensatz von Anschauung und Erfahrung, bei Konrad Weiß oft, aber nicht immer mit den Begriffen Bild und Wort bezeichnet. In landläufiger Sprache ausgedrückt, könnte man die Anschauung, das Bild, der vita contemplativa zuordnen, die Erfahrung, das Wort der vita activa, der Geschichte. Im Nachtlied wird der Übergang von der Anschauung zur Erfahrung beschworen, vom passiven Zuschauen zum aktiven Leben (und Leiden am Leben).

Hervorgegangen ist das Nachtlied wie zufällig aus den Entwürfe und Notizen zum Nachtgespräch zu Dreien, in dem es ebenfalls, unter anderem, um Anschauung und Erfahrung, Bild und Wort geht. Hier die Passage ganz am Ende der Notizen zum Nachtgespräch zu Dreien (nach der Transskription von Veit Roßkopf), in denen das Nachtlied, fast schon wie in der später veröffentlichten Form, enthalten ist (die Hervorhebungen in kursiver Schrift stammen von mir):

135 a) Frage ist auf Frage Antwort nur (Jede hat ein Zittern
um den Mund) Schied die letzte zittert (nicht) der Mund

(werden alle Stimmen um uns stumm) Nächtens weckt die Mutter
auf ihr Kind
// Harmen: Wenn ich verloren bin / ich weiß warum
halt ein / bot ein ../ Wände weiß und stumm / daß ich die Schuld
nicht zu laut beklage / bin ich verloren, ich weiß warum / weiß
vor Gott zu nehmen stets / er hat den Lohn schon voraus verzehrt
b) Melchior: Es wird das Licht zur Sonderung der Dinge / und dann
erstirbt der Laut in Ohnmacht hin / und es erscheint das Zei-
chen / bis das Wort erscheint, der Logos / dazwischen ist das Zei-
chen / Der Stoff zieht das Blut und die Schöpfung wallt über
Wer staut das ewig fließende Meer, den wallenden See / der
Mensch hat keine Grenze mehr in sich / das Zeichen wird er selber
c) Harmen will ein Pfand der Gewißheit / Melchior darauf nur
eine dunkle kurze Rede dann: Der Pflug muß so tief fortge-
führt werden, als er angesetzt ist / das ist das Pfand
Praesepe: Leicht (zieht) wallt Gewölke vor dem Mond hin
Weiße (Gewand für) Schleier (tauscht) wirft die Nacht aus.
Leise flüstern die Blätter dem Wind nach
Die Seele tritt aus ihrem dunklen Bild heraus

Der volle Titel des Nachtgesprächs zu Dreien lautet: Nachtgespräch zu Dreien über das Geheimnis der Kuppel und die Trägheit. Von der „Kuppel“ ist im Nachtlied nicht die Rede, von der Trägheit implizit schon. „Trägheit“ meint bei Konrad Weiß das Verharren in der Anschauung, die untätige vita contemplativa, das nicht zum Leben kommen, die acedia. Eine andere Formel dafür, die in den Tagebüchern und Studienbüchern von Konrad Weiß aus diesen Jahren häufig benutzt wird, ist der „faule Knecht“, der sein Pfund vergräbt, statt mit ihm zu wuchern, ein Zustand, an dem Konrad Weiß wohl sein Leben lang gelitten hat.

„Wer nur im Bilde lebt, lebt nicht“ heißt es an einer Stelle des fertiggestellten Teils des Nachtgesprächs zu dreien. Konrad Weiß war sich der Gefahr, die sein Hang zur Kontemplation, zur Grübelei, zur – „Trägheit“ mit sich brachte, sehr bewußt.

Bezeichnenderweise vollzieht sich der Übergang von der Anschauung zur Erfahrung, von der vita contemplativa zur vita activa, im Nachtlied nicht aus eigener Kraft (dazu ist das Beharrungsvermögen der „Trägheit“ wohl zu groß), sondern durch einen Anstoß von außen, eine „Erweckung“, und zwar durch die Mutter.

Laut einem Eintrag im Tagebuch vom 22.10.1917 repräsentiert, ja „ist“ die Mutter die Geschichte:

Mutter, von ihr gehen in des Vaters Schutz. d. i. aus Ge-
schichte in Natur. das ist nun auch eine Umkehrung gegen früher.
Zuerst Mutter bei unerlöster Geschichte die Natur vor der
Verschränkung, jetzt erlöst aus Verschränkung ist die
Mutter Geschichte und Vater wird Natur. So ist die
Mutter das Gebliebene, vom Heidentum und
Christentum und in ihr im gebliebenen, ist
die Erlösung empfangen. So auch in dieser Zeit
die Natur in Geschichte übergehend (Rodin
von Natur zur Gotik, Die Mutter ist Schuld,
daß jedes Schlages Wucht weiter reicht, aber jetzt
reicht auch meines Schlages Wucht weiter als eigene
Kraft

 

Das Gedicht beginnt mit der Evokation dreier assoziativ aneinandergereihter, nächtlicher Naturbilder; dann folgt in Vers 4 der ersten Strophe unvermittelt die Aussage, daß die Seele, die man sich bis hierher in selbstvergessene Anschauung dieser Naturbilder versunken denken darf, „aus ihrem dunklen Bild heraus“ tritt: eine Metapher für den Übergang von der Anschauung zur Erfahrung. Die Sphäre des Bildes wird verlassen.

In der letzten Strophe des Gedichtes „Klage über der Schöpfung“ formuliert Konrad Weiß es ähnlich, eher noch deutlicher:

So wird der Sinn, je mehr er sich selber sucht,
aus dunkler Haft die Seele geführt zur Welt

Die zweite Strophe enthält – folgerichtig – keine Bilder mehr, sondern Aussagen, die Tätigkeiten bezeichnen: der Bereich der Erfahrung, des aktiven Lebens. Frage, Antwort, Mund: das sind Begriffe aus der Sphäre des Wortes, und das Wort meint bei Konrad Weiß immer den Bereich der Erfahrung, der Geschichte. Man könnte auch sagen: das Nachtlied ist ein Gedicht über das Verlassen eines vorgeschichtlichen Raumes und den Eintritt in die Geschichte.

Das Wort Seele stellt die Verbindung zwischen beiden Strophen her: in der 1. Strophe löst sie sich aus dem Bereich der Anschauung, aus dem Verweilen „im Bilde“; in der 2. Strophe „stößt“ sie, als Erfahrende, „auf den verborgenen Grund“. Was der „verborgene Grund“ sein könnte, dazu gibt z. B. der letzte Absatz des Essays Zum geschichtlichen Gethsemane einen Hinweis. Dort heißt es:

So entsteht der Raum der Zeit in der Seele. Darin geht der einzelne Mensch hin, und indem er an jeglichem Orte das Maß seiner eigenen Entfernung erfahren muß, kommt er zum tiefen Grunde seiner Innewerdung. Er bildet den Weg zum geschichtlichen Gethsemane.

Ziemlich zu Beginn von Zum geschichtlichen Gethsemane erläutert Konrad Weiß, wie und warum das Geschehen im Garten Gethsemane, das er auch „Fülle der Zeit“ nennt, der Beginn einer „geschichtlichen Weltform“ ist, und auch hier geht es um Übergang vom ungeschichtlichen Dasein (der Anschauung) zum geschichtlichen, zur Erfahrung:

Der stille Gedanke, daß die Menschwerdung in der „Fülle der Zeit“ eingetreten eben diese Menschwerdung aus der Fülle der Geburten und natürlichen Ereignisse heraus zu einer geschichtlichen Weltform, zu der entscheidenden geschichtlichen Grundform machte, daß sie die Geschichte in zwei Hälften und Zeiten teilte und selber als drittes Element, wichtiger, erfüllender als alle logischen Fundamente und Scheidemittel der Wissenschaften, eine organische Dreiheit über Natur und Geist in der Welt und Menschheit herstellte, an der alles geschichtliche Geschehen als ein plantragendes gemessen werden muß, da es durch den Grad seines Anteils an dieser organischen Planung seine eigene Beseeltheit, das Maß seiner Entfernung, die Kraft seiner natürlich-übernatürlichen Wahrheit und Weiterschickung wirklich und durch diese innere unausweichliche Begrenzung verbürgt erhält, dieser Gedanke ist der lebendige Kern jeglichen Kulturbegriffs.

Das Nachtlied evoziert genau so einen Übergang aus ungeschichtlicher Zeit (der Anschauung) zu geschichtlicher Zeit: Erfahrung. Der Übergang zur Erfahrung ist gleichzeitig der Eintritt in die Geschichte: Geschichte ist der Bereich der Erfahrung; der Bereich der Anschauung ist die wandellose Dauer.

Der letzte Vers wiederholt noch einmal die Aussage des Gedichtes in nuce: die Mutter „weckt [...] ihr Kind“ und bewirkt so den Übergang vom schlafenden (Traum-)Leben zum wachen Leben. Man könnte auch sagen: sie stößt es ins Leben, in die Erfahrung, in die Geschichte. Bezeichnenderweise, wie oben angedeutet, geschieht der Überganz zum aktiven Leben, der Eintritt in die Geschichte, nicht aus eigenem Antrieb, sondern als eine Erweckung aus dem Schlaf, dem Traum, zum Leben.

Die Neigung, sich den Schwierigkeiten und Zumutungen des Lebens zu entziehen, indem man die Haltung des bloßen Betrachters einnimmt, ist nicht gerade selten. Aber immer wird man, wenn man dies tut, feststellen, daß, wer Leiden durch Rückzug zu vermeiden sucht, sich nur neues Leiden schafft, gemäß Kafkas Satz: „Du kannst dich zurückhalten von den Leiden der Welt, das ist dir freigestellt und entspricht deiner Natur, aber vielleicht ist gerade dieses Zurückhalten das einzige Leid, das du vermeiden könntest.“ Und da entpuppt sich dann die christliche Grundhaltung der Akzeptanz des Leidens als eine von jeder Glaubensrichtung ganz unabhängige allgemein-menschliche Haltung.

Nach früheren Notizen ausformuliert im September 2022