Ich wuchs und wußte nichts und nahm
der Erde Bittres in mich heim
und süßte es in langem Blühn
zu eignem Gold, zu eignem Grün
und hegte in mir eignen Seim.
Gesumm war um mich und Geläut
und sagte "dort" und sagte "hier",
und ich war weit hinaus verstreut
und doch daheim in mir.
Da kommt ein Wesen, das das Blau
des Himmels um den Leib getan hat
und Augen wie ein Enzian hat;
auch saß an ihnen etwas Tau
von sonderbar beseeltem Licht.
Es sprach und lächelte im Gehen
und bog sich auf mich, nicht so schlicht,
doch inniger als ich von Rehen
gewohnt es bin, und riß mich ab
und hob mich auf an seinen Mund...
O daß es solche Wesen gab,
das wußt ich nicht — so freundlich und
so fremd, als ob sich eine Welt
auf mich herabbog mit dem Rand
der Lippen, der durchdringend süßen,
daß ich sogleich den Tod verstand
und Gott, und auch, daß ich bestellt
von allen Schwestern bin, zu grüßen
ein Leben andrer Art, in welches
ich jetzt hinübersterben muß,
jetzt im Erzittern eines Kelches
von eines Menschenmundes Kuß.
Was sind denn Wege in der Luft,
was aus Jahrzehnten her ein Duft,
von dem das Herz beklommen wird —
ein Ton, der anhebt irgendwo
und irgendwo vernommen wird?
Und was ist das mit ihm Gemeinte?
Was das Getrennte, das Vereinte,
was das Lebendige, das Tote?
Ist jenes nicht sein selber froh
und dieses, so wie ich, ein Bote?
Jetzt nicht für Mücke, nicht für Biene,
bin ich mehr süß durch das was mein ist, —
nur süß noch durch das mir Geliehne.
Wie Todes Lust und Todes Pein ist
dies zwischen Einem so und zwischen
dem Anderen zu sein als Drittes,
das ihr Verstehn und ihr Verein ist.
Die Hände, die das Leben mischen,
die taten dies, und ich, ich litt es.
Ich habe nur noch diesen Sinn,
wenn in den Blättern ihres Briefes
ich Welkendes begraben bin:
aus tiefem Herzen in ein tiefes
Herz einzusenken eine Spur
von übertragenem Begegnen,
zwar Zeichen eines Zeichens nur
und doch ein zauberstarkes Segnen;
die unscheinbare erste Handlung,
die erst durch Nachbegehung wahr wird,
doch dann vielleicht in der Verwandlung
des Anderen ein ganzes Jahr wird.
Kaum öffnet' er den Brief, da sah
die Zeichen er, durch die ich heute
für ihn den liebsten Mund bedeute,
und alles ist ihm wahr und da.
Max Kommerell
Max Kommerell, Monolog der von einer jungen Frau gebrochenen und geküssten Schlüsselblume vor dem Tod zwischen weißen Briefblättern, 1934 gedichtet und in der Corona als Einzeldruck erschienen.