Gedichte über Blumen
DIE NELKE

O Nelke, die noch gestern

Im Kreise schöner Schwestern,

Gepflegt von Gärtners Hand,

Als stille Knospe stand!

 

Schon aus der Knospe brachen

Die Schimmer und versprachen,

Es werd aus dir entblühn

Des Gartens Königin.

 

Du konntest kaum erwarten

Zu prangen in dem Garten,

Und drängtest dich mit Macht

Hervor in einer Nacht.

 

Da borst die zarte Hülle

Von deines Stolzes Fülle;

O Blumenkönigin,

Dein Diadem ist hin.

 

Denn wenn nicht noch von Baste

Ein Bändchen dich umfaßte,

So hing dein stolzes Laub

Herab in niedern Staub.

 

Was willst du nun bei Schwestern,

Die deinem Stolze lästern?

O schätze dich beglückt,

Daß ich dich abgepflückt.

 

Und laß zu stillem Zeichen

Dich jenem Kinde reichen,

Dem eitles Stutzerlob

Zu früh den Busen hob.

Friedrich Rückert