Gedichte über Blumen
DIE ROSE

(Nach einem Grimmschen Märchen)

 

"Sieh, als heut morgen beim Hahnenschrei

Ich, Holz zu lesen, ging in den Wald,

Kam ein schönes, fremdes Kind alsbald

Und trug mir das Holz herbei.

 

Mütterchen! Wie heißt das Kind?

Seine Wangen rosig, das Gesichtchen rund,

Sein Haar blondlockig, lächelnd der Mund,

Seine Augen wie Veilchen sind.

 

Mütterchen! Die Knospe hier

Gab mir das schöne, fremde Kind,

Sprechend: 'Wenn erschlossen zur Rose sind

Die Blätter, komm ich zu dir!'"

 

Verwundert schüttelt das Mütterlein

Ungläubig hin und her den Kopf;

Mit Wasser füllt es einen Topf

Und stellt die Knospe ein.

 

Und einst, als auf die nahen Höhn

Den Purpur warf das Morgenrot,

Da lag das Kind, geküßt vom Tod,

In seinem Bette, bleich und schön

 

Und sieh! Erblüht in voller Pracht

War aus der Knospe auch die Ros;

So wurden ihrer Hüllen los

Zwei Blumenseelen über Nacht.

Heinrich Leuthold