Gedichte über Blumen

NACHWORT

ein garten ist ein stück vermenschlichte natur, ist natur, durch kunst verändert oder veredelt, ist im glücksfall ein kunstwerk in der alten, technischen bedeutung des wortes. faßt man die natur als buch auf, sei es im sinne des mittelalters, dem die dinge eine spirituelle, über sie selbst hinausweisende bedeutung hatten, sei es nach der art der romantik, der sie eine das weltgeheimnis enthaltende chiffernschrift darstellten, die nur ihren eingeweihten und lieblingen lesbar ist, sei es im wissenschaftlichen, den eigenschaften der dinge und den gesetzen, denen sie unterliegen und deren manifestation sie sind, nachforschenden sinne, oder einfach in dem, daß wir menschliche eigenschaften, gefühle und verhältnisse in der natur präfiguriert, abgebildet oder gespiegelt finden, dann ist ein garten die vereinigung einzelner seiten dieses buches, vom menschen ausgesucht, gesammelt, mit anmerkungen und ergänzungen versehen oder überschrieben, geordnet und gebunden. dann ist der garten auch ein buch, und der kundige vermag in seinen gewächsen, ihrer auswahl und gruppierung als in einem beseelten auszug aus dem buch der natur zu lesen, und vor allem vermag er einblick zu nehmen in die seele dessen, der ihn angelegt hat.

wenn aber ein garten ein buch ist, warum sollte nicht ein buch ein garten sein können? ein lesegarten, den man im geiste und mit dem geistigen auge durchwandelt, dessen blumen menschliche dinge bezeichnen, dessen beete kapitel des menschlichen wesens und fühlens darstellen, und der in seiner gesamtheit ein - wenn auch skizzenhaftes - bild menschlichen lebens ist. denn gedichte über blumen behandeln selten die blume als blume (und wenn sie das tun, dann ist die blume immer mit den augen der seele gesehen und in der sprache der seele beschrieben), sie behandeln sie als symbol, botschaft oder entsprechung; und nur ausnahmsweise wie in Goethes Metamorphose der Pflanzen auch als Erkenntnisobjekt.

mit dieser vorstellung eines blumengartens des menschlichen durchforstete ich die deutschsprachige literatur vom fünfzehnten jahrhundert bis zur jüngsten vergangenheit. übersetzungen fremdsprachiger gedichte wurden nicht berücksichtigt, weil wirklich gelungene übersetzungen selten sind, weil vieles bisher garnicht zu übersetzen versucht worden und teilweise auch unübersetzbar ist, und weil das buch sonst zu umfangreich geworden wäre. unter den verfassern waren die poetae minores und epigonen aller zeiten übermäßig vertreten, wovon nach der aussonderung alles dessen, was nur sentimentaler erguß oder formübung ist, alles geschmäcklerischen, süßlichen oder gefälligen, in der hier vorgelegten auswahl nichts mehr zu spüren ist. für derlei schwächen ist ein themenbereich innerhalb der lyrik wie dieser, der, obwohl gerade die blume die zartesten wie die glühendsten wie die schmerzlichsten gefühle stark und rein auszudrücken und zu übermitteln vermag, doch auch an poesiealbum und altjüngferliche seufzer des entzückens denken läßt, besonders anfällig; und man muß daher schon strenge maßstäbe anlegen, um eine solche stilhöhe, geschlossenheit und reinheit zu erreichen wie Borchardt in seinem Ewigen Vorrat Deutscher Poesie, der in dieser hinsicht als vorbildlich gelten kann. allerdings sind in die vorliegende blumenlese auch kleinere bis mittelmäßige, jedoch keinesfalls schwache gedichte aufgenommen, sofern sie durch ihre stellung innerhalb der literaturgeschichte, als bindeglied, vorläufer, ergänzung, oder innerhalb dieses buches, als weitere facette eines themas, vervollständigung eines kapitels bzw. zyklus', ihren besonderen wert bekamen. wie überall macht auch hier erst das ganze das bild, und nicht alles einzelne ist vollkommen.

diese anthologie hat eine organische, lebendige ordnung, bei der bis auf wenige ausnahmen jedes gedicht zum vorhergehenden und nachfolgenden in genauer beziehung steht. ansätze zu einer solchen ordnung ergaben sich schon beim sammeln und sichten halb von selbst, indem viele der gedichte sich bestimmten hauptthemen zuweisen ließen. daraus resultierte schließlich eine reihenfolge der gedichte, die den verlauf des bewußten lebens von der jugend bis zum alter spiegelt: das erwachen des berauschenden und bezaubernden, aber auch traurig stimmenden gefühls für die schönheit der dinge mit dem verlassen der kindheit, vielleicht gleichzeitig mit der ersten liebessehnsucht; dann die starke und jugendlich-unbedingte liebe, die begeistert, aber auch leiden macht und das bewußtsein für die vergänglichkeit gerade des kostbarsten schärft; die erfahrung dieser vergänglichkeit, auch die des todes oder seine bange ahnung, die trauer darüber. die erinnerung an verlorenes glück, überstandenes leid stellt sich ein; der gereifte geist wendet sich auf der suche nach trost und halt der dichtung zu, der religion, der resignativen oder hoffenden betrachtung. alle früheren stufen dauern nach dem eintritt der folgenden an, geläutert und vertieft, auch ist die folge der stufen und ihre vollständigkeit nicht zwingend; doch habe ich versucht die plausibelste zu finden. demgemäß durchwandelt der leser nach dem eintritt in den lesegarten zunächst eine gruppe von gedichten, die die blume als blume und ihre schönheit zum hauptthema haben; diese sind, da sich ein inhaltlicher zusammenhang zwanglos nicht herstellen ließ, nach blütezeiten geordnet, während sonst überall eine innere, inhaltliche ordnung nach möglichkeit befolgt ist. dann folgen liebesgedichte, locker unterteilt in solche, die die frau als blume, die blume im vergleich mit der frau, die blume als schmuck der frau, die blume als symbol für die liebe, die blume als liebesbotin oder -zeichen zum thema haben. dann gedichte über vergänglichkeit und tod und trauergedichte, dann gedichte der erinnerung. schließlich eine große gruppe von "betrachtenden" gedichten, innerhalb derer sich als hauptthemen die blume als verkörperung paradiesischer vollkommenheit im gegensatz zum menschen, dichter und blume, religion und blume, mensch und blume, und die blume als trost herausheben. am ausgang des gartens stehen drei gedichte der weltabkehr und erholung von der welt; den abschluß bilden zwei schlichte grußgedichte.

manche gedichte, wie die auf veilchen, rosen oder sträuße, die am busen der geliebten zu verwelken bestimmt sind, und innerhalb derer man fast eine genealogie aufstellen könnte, sind zu vielen anderen in beziehung zu setzen, andere dagegen, wie vor allem die gedichte Borchardts, Loerkes und Konrad Weißens, fallen aus dem rahmen. der leser wird, wie ich hoffe, selbst die möglichkeiten anderer zuordnung entdecken und sich so sein eigenes buch, seinen eigenen lesegarten schaffen.

im einzelnen, innerhalb der hauptgruppen, bin ich beim aufbau der anthologie nach den prinzipien von übereinstimmung und kontrast vorgegangen und habe auch hier immer versucht, gedichte zu kleinen zyklen zusammenzustellen, statt sie einfach aneinanderzureihen, etwa indem ich eine folge von liebesgedichten in gedichte über liebesanfang und -hoffnung, erfüllung, liebesende und enttäuschung unterteilte. überhaupt war ich darauf bedacht, den glücklichen, freudigen, hellen gedichten über ein thema die traurigen folgen zu lassen, oder den traurigen tröstliche, und die ganze sammlung endet nach soviel auf und ab, wie man es sich für sein leben erhofft: tröstlich, resignativ-versöhnlich.

in bestimmten epochen und stilrichtungen, wie der frühen Goethezeit, der anakreontik und dem biedermeier, finden sich zahlreiche gedichte zum thema, in anderen, wie dem barock und dem expressionismus, wenige oder gar keine; der leser möge es also nicht meinen vorlieben und abneigungen anlasten, wenn halbe jahrhunderte und einzelne illustre namen kaum oder gar nicht vertreten sind. im barock etwa ist die blume ein beliebtes versatzstück, vor allem um bildhaft die vorzüge der geliebten zu schildern, es gibt aber nur wenige gedichte, die die blume zum thema haben. das sind in der hauptsache solche, in denen frau und blume miteinander verglichen werden, oder gedichte über sträuße oder blumen, die der geliebten zugedacht sind oder an ihrem busen verwelken, dies übrigens ein bis in die Goethezeit und vor allem in der anakreontik höchst beliebter topos. ebenso kommen blumen in expressionistischen gedichten zwar öfter vor, aber sie sind auch dort meist requisit, nicht hauptsache. so stammt ein großer teil der hier versammelten gedichte aus der zeit zwischen 1770 und 1850; die danach entstandenen gedichte über blumen stammen vorwiegend von dichtern, die noch in der mit dem expressionismus abreißenden tradition stehen, also den zwischen 1870 und 1880 geborenen: denen mit neuem, ganz eigenem, aber die tradition noch nicht in frage stellenden ton, wie Borchardt, George, Hofmannsthal, Rilke, Konrad Weiß, und den vielen durchaus beachtlichen, anständigen epigonen, wie Hesse, Schröder, Weinheber. in der nachkriegsdichtung schließlich ist von blumen nicht mehr viel die rede.

daß die am meisten besungene blume die rose ist, war nicht anders zu erwarten, ebenso daß den thematisch umfangreichsten teil mit etwa 40 titeln die liebesgedichte bilden. nicht an sich ungewöhnlich ist die kontinuität der themen, formen, wendungen, die sich in der vielzahl der bewußten oder unbewußten variationen, imitationen, parodien, kontrafakturen, weiterentwicklungen früherer gedichte kundtut; aber es überrascht doch, beim vergleichenden lesen immer wieder auf beweise zu stoßen, wie sehr dichtung von dichtung inspiriert ist. so sind offenbar die gedichte Blumen pflückend und Ich wollt ein Sträußlein binden von Goethes Gefunden und Im Vorübergehn angeregt, von diesen wiederum ist eines eine variation des andern. Goethes gedicht Das Veilchen bekommt einen anderen stellenwert, wenn man es zusammen mit den zahlreichen gedichten seiner zeitgenossen, vorgänger wie nachfolger, auf veilchen liest. Arnim und Brentano machen aus Overbecks verspieltem Der Knabe an ein Veilchen ein kurzes, schlichtes lied. eine überraschende kontrafaktur des themas von der für die geliebte gebrochenen blume ist Kommerells anmutiger Monolog. sein So will es die Rose liest sich wie eine Parodie auf Rückerts Blume der Ergebung; die dreiheit von blume, sonne und wind in beiden gedichten legt das nahe; vielleicht schöpfen beide aber auch, unabhängig voneinander, aus dem schatz überlieferter topoi. gleich viermal vertreten ist Die Rose blüht, einmal in der originalfassung von Christian Weise, die Arnim und Brentano in Des Knaben Wunderhorn aufnahmen, und die bereits die ambivalenz zwischen liebes- und geistlichem lied aufweist, sodann in drei fassungen Brentanos: als liebesgedicht, als dessen erweiterung und schließlich in einer selbstimitation als geistliches lied.

die einzelnen kapitel sind durch leere seiten voneinander abgesetzt, tragen aber keine überschriften, weil sie, genau wie die abschnitte des menschlichen lebens, bruchlos ineinander übergehen. so können auch durchaus gedichte zwei oder mehreren kapiteln zuzuordnen sein. ich verweise noch einmal auf die offenheit, veränderbarkeit der anthologie. verfassernamen fehlen im text, um dem leser zu ermöglichen, sich den gedichten unvoreingenommen zu nähern, ohne falsche erwartungen.** der berühmte name verschließt oft den blick dafür, wie mittelmäßig manches von seinem träger verfaßte ist, während man exzellente einzelleistungen von kleineren und unbekannten autoren achtlos zu überlesen geneigt ist. doch bleibt die hauptsache das gedicht selbst, nicht der name, unter dem es veröffentlicht wurde; und diese hauptsache soll hier unverstellt zur wirkung kommen können. in den registern am ende des buches finden sich alphabetisch alle gedichte mit ihren dichtern und alle dichter mit ihren gedichten aufgelistet. auf quellenangaben habe ich verzichtet, da die autoren der meisten gedichte in zahlreichen ausgaben und in jeder größeren bibliothek greifbar, und auch ausgaben der weniger bekannten für interessierte leser unschwer zu ermitteln sind.

 

Essen, im Sommer 1987

Der Herausgeber


 

** aus urheberrechtlichen gründen konnte der verzicht auf die verfassernamen bei den einzelnen gedichten, wie in der privaten fassung dieser anthologie, leider nicht beibehalten werden. (august 2005)