Der Ausflug ans Meer
Wieder mal hatte ich den ganzen abend damit vergrübelt, wie man erinnerungen so schildern könne, daß beim leser genau die bilder evoziert werden, die man von damals im gedächtnis behalten hat, genau die empfindungen und gedanken, mit denen man das damals erlebt hat. Wie üblich mit dem einzigen ergebnis, daß ich mißmutig und frustriert zu bett ging, wo ich weiter diese art gedanken wälzte. Als ich endlich einschlief, muß es schon tief in der nacht gewesen sein.
Als ich erwachte, war es draußen schon hell, so hell, daß ich daraus folgerte, es müsse gutes wetter sein. Tatsächlich; als ich die rollläden hochzog, beschien schon eine zwar niedrig stehende, aber strahlende wintersonne teile des gartens. Ich beschloß, einen ausflug ans meer zu unternehmen; frühstückte, machte mich fertig und fuhr zum bahnhof.
Im zug saßen außer mir nur wenige reisende, und ich machte es mir bequem, während er gen norden rollte. Nach einiger zeit kam es mir, je weiter ich fuhr, zunehmend so vor, daß die orte, die der zug passierte, die leute, die ich auf den bahnsteigen und in den straßen sah, etwas gestriges hatten. Die kleidung der menschen nach der mode von vor 10, 20, 30 jahren, ebenso die autos die modelle von damals. Und gleichzeitig wurde allmählich das licht immer fahler, wie vor einem gewitter, jedoch ohne daß der himmel sich bewölkte.
Wieder einige zeit später merkte ich, daß ich nicht mehr in einem schnellzug saß, sondern in einem alten bummelzug mit diesellok, der an jedem dorfbahnhof anhielt. Ich konnte mich aber gar nicht erinneren, umgestiegen zu sein. Auch war es auf einmal sommer, jedenfalls warm, wenn auch die sonne nicht mehr schien. Seltsam. Am späten nachmittag hielt der zug an einem unkrautüberwucherten bahnsteig auf freiem feld, mit einem aus ziegelsteinen gemauerten halb verfallenen wartehäuschen.
Der schaffner stieg aus und rief: alles aussteigen, der zug endet hier. Ich stieg also aus, offenbar war ich der einzige fahrgast. "Stellshagen" stand auf dem ortsschild auf dem bahnsteig. Nie gehört. Die gegend war sehr flach, viele wiesen, ein paar bäume, von einer ansiedlung war nichts zu sehen. In der ferne hörte man das meer rauschen. Was mich am meisten befremdete: man sah gar keine farben, nur schwarz, weiß und grau. Zumindest die wiesen hätten doch grün oder wenigstens gelb sein müssen. Ich schaute mich suchend um: weit und breit kein mensch – doch, da, auf der anderen seite des bahnsteigs ein halbwüchsiger mit halblangem haar und schlaghose, der auf einem abstellgleis balancierte. Wie aus der zeit gefallen sah er aus.
Ich ging auf ihn zu und fragte, ob er wisse, warum der zug denn nicht weiterfahre, ich hätte eigentlich bis Klütz fahren wollen. Welcher zug?, fragte er mich erstaunt. Ich drehte mich um: da stand in der tat kein zug mehr; ich hatte ihn aber gar nicht wegfahren hören. Na ja, vielleicht war ich einen moment in gedanken versunken gewesen, das wäre kein wunder angesichts dieser häufung von seltsamkeiten.
Ich fragte weiter, ob er mir denn sagen könne, wann der nächste zug nach Klütz komme, oder wie ich sonst dorthin gelangen könne. Hier fährt schon lange kein zug mehr, antwortete er, die strecke ist seit jahren stillgelegt. Während er so sprach, gingen mir vage ein paar erinnerungsfetzen durch den kopf. Er schaute mich prüfend an. Ich schaute prüfend zurück, und nach und nach wurde die erinnerung deutlicher, auch die landschaft kam mir langsam etwas bekannter vor: ja, ostsee sommer 1969 – ich vor fünfzig jahren.
Ich: du bist das... Aber wie kann das sein?
Er: du wolltest doch so gern die vergangenheit zurückholen. Jetzt hat die vergangenheit dich zurückgeholt.
Ich: aber warum ist denn hier alles grau in grau?
Weil deine erinnerung an mich und an damals so blaß ist, war die antwort.
Und auch äußerst bruchstückhaft, mußte ich mir eingestehen. Denn zum horizont hin, in alle richtungen, zerfloß die ohnehin recht einförmige landschaft mit dem himmelsrand in ein diffuses grau; ich hätte nicht einmal sagen können, in welcher richtung Klütz lag.
Aber vielleicht würde meine erinnerung deutlicher, wenn ich weiterginge? ich fragte ihn nach der richtung. Er zeigte sie mir, und fügte hinzu: es sind nur drei oder vier kilometer. Aber du wirst Klütz trotzdem nicht erreichen, und wenn du (inzwischen fing es an zu dämmern) die ganze nacht gehst.
Ich: wieso nicht?
Er: weil du dich nicht an Klütz erinnerst. Denk doch mal nach!
Ich versuchte mich zu erinnern. Da war ein buch, das ich las, Exodus von Leon Uris, in einem raum mit vielen büchern, dann ein stück straße mit einer bushaltestelle und zwei halbstarken, die mich belästigten, schließlich eine szene am strand mit einer cousine, die ich belästigte... Mehr nicht. Das sollte alles sein, was von einem langen sommerurlaub geblieben war? Es konnte nicht sein. Denn wenn es so wäre, würde ich nie etwas von meinem leben erzählen können.
Er, als ob er meine gedanken gelesen hätte: wenn du erzählen willst, mußt du lügen können...
Ich bedachte das bei mir. Dann: ich glaube dir nicht. Bestimmt kommt alles wieder zurück, wenn ich nur weitergehe. Ich wandte mich also zum gehen, in die angewiesene richtung. Nach ein paar hundert metern über feldwege erreichte ich eine landstraße, der ich folgte. Inzwischen war es schon fast ganz dunkel, eine mondlose nacht begann, auch waren trotz des eben noch fast wolkenlosen himmels keine sterne sichtbar. Nur das graue band der straße diente mir als wegweiser. Ich ging tastend weiter. Plötzlich sah ich in einiger entfernung ein helles rechteck: ein erleuchtetes fenster. Ich war erleichtert. Vielleicht konnte ich dort ein taxi bestellen, oder wenigstens etwas zu essen und trinken bekommen und dann weitergehen. Ich ging darauf zu; die umrisse des hauses konnte ich wegen der dunkelheit kaum erkennen, nur das eine erleuchtete fenster, ebenerdig, sah ich in aller deutlichkeit.
Ich stellte mich ein wenig auf die zehenspitzen und schaute hinein. Drinnen ein kleiner junge, der vor einem mit kerzen hell erleuchteten weihnachtsbaum stand, daneben ein weihnachtlich geschmückter tisch, der rest des zimmers war in dämmer getaucht. Aber es war doch sommer. Oder vielmehr, hier war es gerade noch sommer gewesen, obwohl ich heute morgen im winter losgefahren war. Mir wurde immer unheimlicher zumute. Und der kleine junge bewegte sich überhaupt nicht, stand nur still vor dem erleuchteten weihnachtsbaum, auf dem jetzt langsam eine kerze nach der anderen erlosch. Als die letzte kerze erloschen war und ich mich plötzlich in völliger dunkelheit befand, ging mir auf: das kind war ja ich! aber warum nur der kleine junge? warum nicht auch meine eltern, und warum erkannte ich das haus nicht, und warum überhaupt sah ich dies unbekannte haus mit dem bekannten zimmer hier, hunderte kilometer von meiner heimatstadt entfernt? dann dämmerte mir, daß das bild, das ich gerade gesehen hatte, dieser vom fenster umrahmte ausschnitt, den ich in voller deutlichkeit und im festlichen glanz des kerzenlichtes vor augen gehabt hatte, keine erinnerung an einen erlebten weihnachtsabend war, sondern nur die erinnerung an ein bild in einem der fotoalben meiner eltern, weihnachten 1959. Also noch nicht einmal daran, nicht einmal an ein weihnachtsfest, an dem ich doch einmal teilgenommen hatte, konnte ich mich erinnern. Nichts davon war geblieben, nur ein foto in einem alten album, das unzweifelhaft mich als kleinen jungen zeigte, aber in meinem kopf keine assoziationen weckte. Wie wollte ich dann jemals etwas von dem schildern, was ich erlebt hatte, wenn alles, was mir geblieben war, ein paar unzusammenhängende erinnerungsfetzen und ein haufen pseudoerinnerungen waren.
Blieb so wenig vom eigenen leben übrig, ein paar echte aber ungenaue erinnerungen, und ein paar genaue erinnerungen an fotos, die man sich so fest eingeprägt hat, daß man sie schließlich für eigene erinnerungen hält? ich war jetzt nicht mehr verwundert oder befremdet, sondern niedergeschlagen, und überlegte, was ich nun machen sollte; irgendwo mußte ich schließlich die nacht verbringen. In der richtung, aus der ich gekommen war, war die nacht etwas weniger schwarz; also wandte ich mich dorthin. Nach einer zeit erreichte ich tatsächlich den verlassenen bahnsteig und legte mich auf die bank im wartehäuschen. Kalt war es ja nicht. Ich schloß die augen. Die finsternis wurde davon nicht tiefer. Und es gelang mir wohl nach einiger zeit einzuschlafen.
Ein vertrautes geräusch weckte mich, das gekläff des nachbarhundes. Ich schlug die augen auf. Was für ein bedrückender traum das gewesen war. Ich warf die bettdecke hoch, wie wenn ich die reste davon abschütteln wollte, stand auf und zog die rollläden hoch. Draußen war es heller tag.
Geschrieben Januar 2020