ERSTE VARIATION: NIGELLA
ich arbeite als putzfrau und sehe in manche behausung, manches leben. unter anderm putze ich seit jahren einmal die woche ein haus im süden der stadt, an einer der ausfallstraßen, dessen besitzerin, eine ehemalige sängerin, zimmer vermietet, hauptsächlich an studenten. bis vor einiger zeit wohnte dort, in einer mansarde im dritten stock, auch ein, wie man mir sagte, noch nicht alter, aber vergrämt und verbraucht aussehender mann (ich selbst hab ihn nie gesehn), der als totengräber und hilfsgärtner auf dem westfriedhof arbeitete. umgang soll er keinen gehabt und selten sein zimmer verlassen haben, außer um zur arbeit zu gehn und besorgungen zu machen, und ein scheuer und finsterer mann gewesen sein. Sie haben sicher von dem mordfall gelesen, der im sommer schlagzeilen machte, von dem boxer, der seine frau erschossen hat. danach war es, daß ich mir zum erstenmal gedanken machte über herrn Hugo; aber ein paar tage später war er schon tot. das bild von der frau des boxers, das damals durch alle zeitungen ging, sah nämlich dem bild so ähnlich, das in herrn Hugos zimmer hing, nur daß sie auf diesem jünger war. ein gemälde; es stellte eine frau mit schönen, klaren zügen, dunklen augen, vollem haar dar; ich habe es oft bewundert. die hausbesitzerin sagte mir auch eines tages, herr Hugo sei nicht immer totengräber gewesen, früher war er mal ein erfolgreicher porträtmaler, aber seit er hier wohne, habe er keinen pinsel mehr angerührt. über dem bild hing ein lämpchen, davor stand ein ziemlich verschlissener sessel, neben ihm ein beistelltisch, auf dem immer einige bücher lagen. in der woche bevor der mord geschah hing das bild nicht mehr da, als ich zum putzen kam; stattdessen stand ein strauß blumen in einer schwarzen vase auf dem beistelltisch, der an die wand gerückt war, unter die stelle, wo es sonst hing. jungfer im grünen; daneben lag ein buch aufgeschlagen, darin dick angestrichen die verse:
Siehe, ich schenke
Dir mein Herz, das Eine nicht will: sie will mich
Herzlos. Herzgeschenke sind Namen: Deiner,
Düstrer Schoß voll Folter und Irrsinn, heißt "Unglückliche Liebe".
die vermieterin, als ich sie fragte, wo denn das schöne bild geblieben sei, wußte von nichts; doch habe sich am vortag der student, der neben herrn Hugo wohnt, bei ihr beschwert, es sei nachts seit einigen tagen immer so laut bei ihm. er gehe hin und her, rede mit sich selbst, schimpfe laut, stöhne ab und zu auf und sei offenbar nicht mehr ganz richtig im kopf. ich sagte mir: komische leute gibts; aber stutzig wurde ich erst, als ich dann das foto von der frau in der zeitung sah, die der besoffene boxer, ihr mann, erschossen hatte. ich hätte schwören können, daß es dieselbe sei wie auf herrn Hugos porträt. ich ging auch zu ihrem begräbnis auf den westfriedhof; es waren zuviele schaulustige da, man sah nur wenig. ich hab nur von weitem mitbekommen, wie der sarg in das frischgeschaufelte grab runtergelassen wurde; daneben war noch ein zweites offenes grab. als ich das nächstemal zum putzen kam, war die hauswirtin, die sängerin, ganz verstört: sowas in ihrem haus, das würde ihr noch die mieter vertreiben, schließlieh wär sie drauf angewiesen. herr Hugo hatte sich erschossen, sie war ganz böse auf ihn; und kein mensch weiß, wo er die pistole herhatte. er hinterließ nur einen zettel, er wolle neben Ihr begraben werden, neben Ihr, sonst nichts. das wurde er dann auch, neben Ihr. angehörige hatte er anscheinend keine. den erlös für seine bücher und sonstigen sachen steckte sich die vermieterin ein, als entschädigung für den ärger, wie sie sagte.