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Eine alte Geschichte


FÜNFTE VARIATION: SIE SCHREIBT IHM, STATT ZU STERBEN, EINEN BRIEF

in meiner nachbarschaft wohnt seit kurzem ein jungverheiratetes, aber nicht mehr ganz junges paar, das ich öfter, wenn ich am schreibtisch sitze, an meinem fenster vorbeiturteln sehe. er ist ein recht mickriges männchen, blond mit bärtchen, schlottrig, schüchtern und unbeholfen, und Sie raten nicht falsch, wenn Sie ihn für einen lehrer halten, und Sie raten richtig, wenn Sie auf deutsch und erdkunde tippen; sie ein starkes, rotbackig-stülpnasiges mädchen mit brille (trägt er natürlich auch, horn), gutmütig und nicht unsensibel, und Sie liegen richtig, wenn Sie auf lehrerin tippen, und nicht falsch, wenn Sie sagen: grundschule; allerdings führt sie seit ihrer heirat nur noch den haushalt. und so köstlich das vergnügen ist, das ich empfinde wenn ich sie morgens oder mittags in der haustür einander abschmatzen sehe daß die brillengläser klirren, es ist nichts gegen meine heiterkeit, als ich ihre geschichte erfuhr.

Hugo und Dea hatten sich während ihres studiums kennengelernt und öfter, da er gefallen fand an ihrem pausbäckigen lachen und sie am dünnen glanz seiner wässrigen blicke, zarte gespräche über Rilkes gedichte oder Goethes liebesleben geführt. zu mehr kam es nicht, obwohl sich beide das wünschten, selbst als Dea, seine schüchternheit wohl bemerkend, einige ungeschickte versuche unternahm ihn zu einer liebeserklärung zu ermutigen. so stieß einmal im kino ganz zufällig ihr linkes knie an sein rechtes knie, und sie vergaß, ganz in den film vertieft, es zurückzuziehen, und er, ganz in den film vertieft, schien es nicht zu bemerken, jedenfalls hielt er sein knie still. als er sie bis zu ihrer tür gebracht hatte und ihr die hand drückte, länger als nötig, schimmerten seine augen schmachtender als sonst, und er neigte sich ohne es zu wissen ein wenig zu ihr hin, aber als sie ihm den kopf entgegenstreckte, fiel das licht der laterne voll auf ihr gesicht, und das spiegelbild seines eigenen in ihren blitzenden brillengläsern raubte ihm den mut. ähnliches wiederholte sich, und da Hugo sich stets unfähig zeigte,seine zittrigen gefühle herauszustammeln, und Deas möglichkeiten, ihn zur äußerung dessen zu bewegen was sie längst wußte, erschöpft waren, sie auch fürchtete, daß eine erklärung von ihrer seite seinen stolz verletzen und ihn verscheuchen würde, schlich sich schließlich vorzeitige enttäuschung in dies verhältnis das keines war ein, und es kühlte ab. bald verließen beide die universität, ihre wege trennten sich, aber nie hörte Hugo auf sie heimlich zu lieben, und sie vergaß ihn ebenfalls nicht, und beide blieben allein.

Hugo, der immer viel gelesen hatte, entwickelte sich nun zum bücherwurm, ja bibliomanen, ernährte sich nur noch vom staub alter wälzer und sah mehr und mehr danach aus. beinahe täglich sah man ihn durch die bibliothek kriechen und stöße von büchern, schwerer als er selbst, nach hause schleppen. wenn man es hinter einem regal auffällig rascheln hörte oder bei der verbuchung sich eine schlange bildete, konnte man sicher sein, daß Hugo die ursache war. endlich verfiel er darauf, selber ein buch zu schreiben, das ihm einen platz im pantheon der literaten erringen würde. als stoff wählte er seine mißglückte liaison, doch da ihm schien, eine wahrheitsgetreue schilderung seiner hasenfüßigkeit habe zu geringen kunstwert, baute er in seinen roman stattdessen einige schicksalhafte verkettungen ein, die ein zueinanderkommen der liebenden verhinderten, und ließ ihn mit dem tod der heldin an gebrochenem herzen enden. den liebhaber bestimmte er zum untröstlichen, aber durchaus lebenstüchtigen benetzer ihres grabes, tränenweise. der roman war so schlecht, daß er ein erfolg wurde, und gelangte schließlich auch Dea zwischen die finger. sie konnte erst nicht glauben, daß ihr Hugo der verfasser sein sollte — es könnte ja ein namensvetter gewesen sein — doch beruhigte sie was das betraf der inhalt des buches, und rief gleichzeitig die entrüstung darüber hervor, daß er nichts besseres mit ihr anzufangen wußte als sie schon sterben zu lassen. entschlossen schreitet sie zum schreibtisch und schreibt ihm einen brief: narr der du bist! willst du deine zeit weiter mit romaneschreiben verplempern? wir werden schließlich nicht jünger, und ich jedenfalls gedenke nicht so zu enden wie deine heldin! deine Dea. Hugo erschrak als er den brief bekam, und als er ihn gelesen hatte, erblaßte er, errötete, erblaßte wieder, zauderte einen tag, dann strich er eine woche lang abend für abend um das haus herum, in dem sie wohnte, ohne sich entschließen zu können zu ihr zu gehn. sie beobachtete mit wonne wie er in dem netz zappelte das sie ausgeworfen hatte. endlich, weil sie doch auch fürchtete, er könne seinen letzten rest von mut verlieren, wenn sie ihm nicht zu hilfe käme, richtete sie es so ein, daß er ihr vor dem haus begegnen mußte. er spürte seinen herzschlag aussetzen und verlor fast die besinnung vor freude und angst; zitternd sank er in ihre ausgebreiteten arme. sie drückte ihn an ihre warme brust, und alles alles war gut.