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Eine alte Geschichte


THEMA: HUGIDEO

wenig nördlich von Basel schiebt sich ein ausläufer des Schwarzwaldes bis an den Rhein heran, der hier sonst durch flaches land fließt und von ihm nur in der ferne begleitet wird, und fällt als steiler, zerklüfteter kalkfelsen in ihn ab. nach dem nächstgelegenen dorf heißt dieser fels der Klotz von Istein. im jahr 450, als in jener gegend diesseits des Rheins die alamannen siedelten, jenseits die gallier, und es zwar den klotz, aber noch nicht das dorf gab nach dem er heute benannt ist, kam eines tages ein mann rheinabwärts gewandert, noch jung; blond doch kein Alamanne, und mit einer toga bekleidet, den, nach haltung und miene zu urteilen, ein schwerer kummer bedrücken mußte. er machte beim Klotz von Istein halt und beschloß, da er sich den platz angeschaut und für tauglich befunden hatte, hier zu bleiben. nachdem er sich vergewissert hatte, daß von den umwohnenden niemand anspruch auf ihn erhob, baute Hugideo, so hieß der mann, sich in den fels hinein, dessen weicher kalk hacke und meißel wenig widerstand leistete, eine klause. als er fertig war, ging er nach Augst, damals Augusta Rauracorum genannt, einer der vielen römischen garnisonsstädte am Rhein, die die aufgabe hatten, die germanen in schach zu halten. bald darauf kehrte er mit fisch-, jagd-und hausgerät beladen wieder; auf dem kopf aber trug er eine schneeweiße marmorbüste, die eine jugendliche römerin darstellte, mit locker geflochtenem üppigen haar, edlen und offenen zügen voll anmut und einem reif um die stirn. dafür höhlte er in einer kluft der steilwand eine nische, die nur von dem von außen nicht zugänglichen hinterausgang seiner klause aus über eine zugbrücke, die er sich aus tannenstämmen gezimmert hatte, zu erreichen war. unter der nische glättete er die felswand sorgfältig, daß niemand hoch konnte, und stellte das marmorbild darein, und betrachtete es oft lange, und manchmal rollten ihm dabei tränen über die wangen. so lebte er eine zeit vor sich hin. außer von der jagd und vom fischfang ernährte er sich von den erzeugnissen seines gartens, den er am südende des Klotzes in einem geschützten und sonnigen Winkel, nah am Rheinufer, angelegt hatte. sonst hatte er nichts zu tun als die toten zu begraben, die der Rhein hier, in der kleinen bucht, die der Klotz von Istein begrenzte, oft an land spülte; beim fischen ertrunkene oder im streit erschlagene, die die wogen mitgerissen hatten und die niemals weiter trieben und auch nirgendwo vorher strandeten. der fischer Nebi, Hugideos nachbar, klopfte manchen morgen bei ihm an: es sei wieder einer unter die erde zu bringen; und sie begruben die leiche gemeinsam. sonst wurde er von keinem menschen behelligt, und ob die welt draußen in aufruhr war oder ob friede herrschte, davon wußte er nichts.

im frühjahr darauf wehte es wie von ehernen schwingen über das land; und Nebi kam zu Hugideo herauf, schon im fieber von aufbruch und kampflust, und erzählte ihm, Attila wolle gegen die Römer zu feld ziehen, die Alamannen hätten sich ihm angeschlossen. der zug verspreche reiche beute, er selbst gehe auch mit; ob nicht auch Hugideo... "ich bleibe hier" war alles, was dieser zur antwort gab. eine abteilung Alamannen, die ihn zum mitziehen aufforderten, fertigte er ebenso ab; und als sie gewalt zu brauchen sich anschickten, schwang er sich auf die nische neben die marmorbüste, zog die zugbrücke hoch und verteidigte sich mannhaft zwei tage lang mit steinen, die er aus dem fels herausbrach, bis die Alamannen die lust und geduld verloren und den seltsamen klausner in ruhe ließen. er lebte sein einsames leben fort; in seine abgelegene klause drang kein laut von dem waffengeklirr das die länder durchrasselte, und von der schlacht auf den katalaunischen feldern, Attilas niederlage, Theoderichs tod und des Aëtius sieg sah und hörte er nichts.

eines tages kehrte der fischer Nebi zurück. er hatte eine hand weniger, doch um den leib einen gürtel voller goldmünzen und an der seite ein schwert mit goldenem heft. die schlacht zwar hätten sie verloren, viele auch ihr leben, doch die übrigen hätten — er klopfte sich an den gürtel — reiche beute gemacht; seine genossen befänden sich noch auf dem rückweg, einige gallische städte, die noch zu plündern und zu verwüsten seien, hielten sie auf.

tags darauf stieg Hugideo zu seiner marmorbüste hinüber, nach etlichen tagen, die er meist auf streifzügen durch den schwarzwald verbracht hatte, um sich für den winter mit holz und fellen einzudecken, zum erstenmal. er fand sie vom eisenhaltigen wasser, das aus dem kalkfelsen tropfte, rostfleckig und nahm sie von ihrem sockel, um sie auf der niedrigen mauer, die die nische umgab, zu reinigen. als er sie danach prüfend musterte, schien sie ihm seinen blick zu erwidern, und leise angezogen küßte er ihre stirne. doch beim säubern unbemerkt ein wenig nach außen gerutscht, so daß sie gerade auf der kippe stand, verlor die büste jetzt durch den kuß das gleichgewicht und stürzte in den Rhein, ohne jedoch an der klippe, die sie wohl streifte, zu zerschellen. Hugideo schaute ihr gedankenvoll nach; dann lächelte er wehmütig, stieg zum Rhein hinunter und grub seitwärts von den andern gräbern ein grab. wieder in seiner klause kam ihm ein vers in den sinn, in der sprache, die sie ihn einst gelehrt hatten:

Te spectem, suprema mihi cum venerit hora,

te teneam moriens deficiente manu...

da stieg er nochmals zum Rhein hinab und grub ein zweites grab neben dem ersten.

in der folgenden nacht rötete feuerschein den himmel über der gegend von Augst. so hatten die heimkehrenden Alamannen einen umweg gemacht, um ihren linksrheinischen nachbarn einen besuch abzustatten. frühmorgens holte Nebi ihn ab, es gebe viel zu tun, die reichen hochmütigen Augster hätten eins aufs haupt bekommen. am strand lag eine frauenleiche in weißem gewand, das naß am körper klebte und seine jugendlich straffen formen durchscheinen ließ. ihre edlen und offenen züge umrahmte locker geflochtenes, jetzt triefendes haar, das ein goldener reif umspannte. doch trug ihr schönes gesicht noch im tod einen ausdruck von gram und verachtung. unter der linken brust klaffte eine schmale wunde, wie von einem dolchstoß. Hugideo, mit augen, die nichts anderes mehr wahrnahmen, ließ den verblüfften Nebi stehen und trug die leiche in seine behausung, wo er sie sich gegenübersetzte, sie und sich mit efeu bekränzte und ihr mit dunklem wein zutrank. um mitternacht bestattete er sie.

am morgen danach barg er, als sei nichts gewesen, mit Nebi die noch immer antreibenden, teils gräßlich verstümmelten leichen und beerdigte sie. bei manchen, die er zu kennen schien, seufzte er auf oder wischte sich die augen. bei einem leichnam in rüstung und schmuck eines zenturionen der 22. legion, dessen gesicht die narbe eines axthiebs entstellte, verzog jedoch ein höhnisches lächeln Hugideos miene. er nahm den zweischneidigen dolch an sich, der dem toten im gürtel steckte, und betrachtete seinen mit onyx eingelegten griff, in den ein bildnis gegraben war, das die legende: fortes adiuvat ipsa Venus umrahmte. dann steckte er ihn ein. "diesen nicht", sagte er zu Nebi, und sie ruderten ihn ein stück weit stromabwärts und warfen ihn in die fluten. — "das neben ihr ist für mich" sagte er noch bevor er wieder zu seiner klause hinaufstieg. Nebi zuckte nur mit den achseln und wandte sich ebenfalls heimwärts.

als er am folgenden tag Hugideo abholen wollte, fand er ihn aufrecht sitzend, stolz lächelnd, den dolch des zenturionen im herzen. er begrub ihn neben ihr. auf die gräber wälzte er steine, gegen die tiere. ihre gebeine müssen längst staub sein.

(Victor von Scheffel nacherzählt)