VIERTE VARIATION: DER MÖRDER WIDER WILLEN SEINER LIEBE
in jeder stadt gibt es vereinsamte existenzen, die sich aus angst vor dem leben oder aus enttäuschung, oder beidem, in eine traumwelt zurückgezogen haben. gewöhnlich sind das scheue menschen, die alles vermeiden, wodurch sie aufmerksamkeit erregen könnten, weshalb denn auch wenig notiz von ihnen genommen wird, obwohl fast jeder, wenn er ein wenig überlegt, sich sagen muß, daß er von solch einem sonderling weiß, in der verwandtschaft, der nachbarschaft, unter den kollegen, aber nie einen gedanken auf ihn verwendet hat. vor einigen monaten jedoch war hier der fall eines dieser klausner, der in der vergessenheit gehaust und nur die lampe zum freund gehabt hatte, volle drei tage lang das stadtgespräch. ich genoß, da er mir oberflächlich, eigentlich nur vom sehen, bekannt war, während jener drei tage das zweifelhafte vergnügen, des öfteren nach ihm ausgefragt zu werden. dabei verdient die geschichte dieses mannes, wie sie damals an den tag kam, teilweise, wenn auch vielleicht ungewollt, durch ihn selbst, ein ernsteres interesse als das neugieriger quälgeister die ihre sensationslust befriedigen wollen. hierfür sorgten damals die zeitungen; für das schauerliche drama dieses daseins zeigten sie aber weder sinn noch verständnis, obwohl es offen einzusehn war, und auch, wenn man sich auf eine sachliche wiedergabe der ereignisse beschränkt hätte, nicht zu verkennen.
der mann hieß Hugo. klein von gestalt, dürr, dabei grobknochig, mit blondem schütteren haar und ebensolchem bärtchen, blaßblauen augen, schmalen lippen und scharfer nase, wäre er auch nicht aufgefallen, wenn er besser gekleidet gewesen wäre und sich besser gehalten hätte. er war lehrer; daß er bei robusteren kindern keinen leichten stand hatte läßt sich denken. im allgemeinen wußte er sich doch kollegen wie schüler durch pflichterfüllung ohne innere teilnahme und eine stumm-verbitterte scheinbare gelassenheit, die er sich als — freilich unvollkommenen — panzer zugelegt hatte, vom leibe zu halten. tieferer gefühle hätte man ihn kaum für fähig gehalten — und tat ihm bitter unrecht damit, wie sich herausstellte. er hatte geliebt und liebte immer noch, wiewohl insgeheim und im bild. ob er je freunde hatte, kann ich nicht sagen; damals hatte er nur bücher. er war ein leidenschaftlicher leser und das maß-, aber nicht wahllos, in jeder freien minute. und eines tages fing er an zu schreiben, die geschichte seiner gescheiterten liebe, so wie sie anfing,und wie sie in seiner vorstellung hätte zu ende gehn können, aber nicht zu ende gehn müssen, wenn er einmal mut gezeigt hätte. den aber hatte er nie besessen, weder mut noch selbstvertrauen.
die wahre geschichte begann damit, daß er während seines studiums eine frau kennenlernte, in die er sich verliebte ohne zu wagen es ihr zu gestehen. da die frau augen im kopf hatte, blieb ihr der zustand Hugos nicht verborgen; da sie, von ähnlicher wesensart wie er, nicht besonders hübsch, aber gut und beständig, ihm nicht abgeneigt war, führte sie verschiedene gelegenheiten herbei, die ihm ein geständnis hätten entlocken sollen; aber er blieb stumm und tumb und wie blöde und machte sich hinterher jedesmal heftige vorwürfe die nichts änderten. mehr konnte Dea, so hieß die frau, nicht tun; selber das erste wort zu sprechen war sie zu stolz und befürchtete auch, sie könne dadurch seinen stolz so verletzen oder ihn so verschrecken, daß er sich von ihr zurückzöge. schließlich ereignete sich gar nichts, ihr verhältnis, nicht aber Hugos liebe, kühlte ab, ohne je eins gewesen zu sein. ihre wege trennten sich, er vergaß sie nie, beide blieben allein. so war, wie sich aus tagebuchaufzeichnungen der frau ergab, der tatsächliche verlauf dieser bekanntschaft; in seinem roman jedoch ersparte Hugo seinem helden die rolle des schwächlings und erfand stattdessen einige unglückliche zufälle und tragische verwicklungen, die verhinderten, daß es zu einer erfüllung kam. die heldin war dadurch im innersten lebensnerv getroffen, siechte einige zeit dahin und starb; er zog sich, wie sein autor, völlig in ein leben der imagination und des andenkens zurück. so theatralisch und trivial das ausgedacht war, oder grade deswegen, wurde der roman, den Hugo, in seiner scheu selbst auf die möglichkeit des ruhms verzichtend, da er die gefahr barg, ihn mit lebendigen menschen in berührung zu bringen (was er so sehr fürchtete und so sehr wünschte), unter einem pseudonym veröffentlichte, zu einem erfolg. so kam er auch Dea vor augen, die, ahnungslos wer sein verfasser war, sich den band, der in allen buchhandlungen auslag, neugierig gemacht durch den klappentext, kaufte. wie erstaunt war sie, darin, von seite zu seite dessen gewisser werdend, ihre eigene geschichte zu finden; und wie bestürzt, als sie das ende vernahm, das ihr verhinderter liebhaber ihr zugedacht hatte! hier hielt sie endlich, auf dem seltsamsten umweg, seine liebeserklärung in händen, und zugleich ihr todesurteil. ihrem erschütterbaren, abergläubischen und nicht besonders hellen verstand stellte es sich jedenfalls so dar. sie las das buch nochmals, umso banger je mehr sie seinem ende sich näherte, und doch auch mit der lust die es bereitet sein eigenes schicksal zu erfahren, und sei es ein schreckliches. sie fing an, alles für wortwörtliche wahrheit zu halten, der sie verpflichtet sei zur wirklichkeit zu verhelfen; sie hatte nichts anderes mehr im sinn als treu und gewissenhaft all das zu tun, was der erfinder ihres vexierbildes diesem zu tun vorgeschrieben hatte. in ihrem sich steigernden wahn nahm sie die unvermeidlichen nachteile, die dies abgleiten in eine phantasiewelt für ihr tägliches leben mit sich brachte, den verlust ihrer stelle, ihrer menschlichen bindungen, ja die grübeleien, die sie die mahlzeiten versäumen und abmagern ließen, für die unglücksfälle des romans und wurde am ende tatsächlich krank. man brachte sie ins krankenhaus, und obwohl ihr im grunde nicht mehr fehlte als eine ausreichende ernährung und ein geregeltes leben, und die ärzte, nachdem sie hinter ihren wahn gekommen waren, ihr bestes taten um sie davon abzubringen, war sie doch schon zu sehr darin befangen als daß sie an ihr gesunden noch glauben konnte; so starb sie gleichsam an einem ungewollten fluch. ihre ärzte unterließen nicht, dem urheber ihres wahns bei Deas begräbnis ihr recht bitteres beileid auszusprechen; so erfuhr Hugo überhaupt erst von dem, was er angerichtet hatte. in maßlosem schmerz, zum erstenmal eine menschliche regung nicht nur empfindend sondern auch auslebend, stürzte er an ihr grab und feuchtete es mit unnützen tränen. alle erreichbaren exemplare seines unseligen romans ließ er einstampfen, rührte keinen stift mehr an, alle lust zu lesen war ihm vergangen, und nach einiger zeit starb er ihr an gebrochenem herzen nach, ohne die freuden der liebe erfahren zu haben.