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Eine alte Geschichte


ZWEITE VARIATION: DER EREMIT UND DIE CHIMÄRE

jedesmal wenn ich spätabends noch durch die menschenleeren straßen wandre, steigt in mir beim anblick erleuchteter fenster der gleiche wunsch auf: zu beobachten, was da drin vor sich geht; in das leben der namenlosen existenzen zu blicken, die da in ihren höhlen, einander unbekannt, sich bergen. ich meine nicht das leben der vielen, das im gleichen trott, mit dem gleichen stumpfsinn sich wiederholender verrichtungen abläuft, sondern das der außenseiter, der unglücklichen, der träumer. vielleicht sähe ich aber nichts, wenn ich solchen ins fenster schaun könnte, als einen mann der beim schein seiner lampe über ein buch gebeugt sitzt, oder eine frau die einen brief schreibt den sie nie abschickt. denn die am meisten zu erzählen vermöchten, sind oft die stillsten; ihre taten sind enttäuschte hoffnungen und ihr dasein eine folge von unerfüllten träumen. das sind die eremiten der großstadt, vom hasten der eintagsgeschöpfe umflattert wie der Heilige Antonius von den chimären die ihn versuchten, und einsamer als dieser, denn sie haben keinen gott, den sie anflehen könnten.

einen solchen eremiten lernte ich während meiner studienzeit — ich kann nicht sagen kennen, denn ich habe kaum je mit ihm geredet und war nie in seinem zimmer — lernte ich erraten, als ich zur untermiete neben ihm wohnte, im dritten stock eines nicht unschönen gründerzeithauses im süden von E., dessen besitzerin mit der vermietung möblierter zimmer ihren lebensunterhalt bestritt. ein unauffälliger, doch nicht unscheinbarer mann in den dreißigern, dunkel, mit weichen aber straffen zügen, die durch die von der nase zu den mundwinkeln verlaufenden falten, die aufeinandergepreßten lippen und die buschigen, herabgezogenen brauen mit tief in ihre höhlen gesunkenen augen abweisend wirkten; auch war er weder umgänglich noch besonders freundlich, mehr als einen knappen gruß habe ich selten von ihm gehört, wenn ich ihn ab und zu auf dem flur traf, und nur wenn ich selbst durch eine frage oder bemerkung ihn zum sprechen veranlaßte, bekam ich eine kurze antwort. ich hielt ihn anfangs für einen etwas angejahrten studenten, was zu glauben mich auch die in seinem zimmer herumliegenden bücher verleiteten, auf die ich manchmal, wenn die putzfrau da war, einen blick durch die halboffene tür werfen konnte; bis ich von ihm hörte, er arbeite als totengräber auf dem westfriedhof. doch erfuhr ich später von der zimmerwirtin, er sei früher ein sogar recht bekannter porträtist gewesen, male aber schon seit jahren nicht mehr. auch erzählte mir die putzfrau ganz angetan von dem bildnis einer schönen frau, das in seinem zimmer hänge, und lud mich sogar ein, es einmal, wenn sie dort putzte, zu besichtigen. doch konnte ich mich nicht dazu überwinden, ein fremdes zimmer während der abwesenheit seines bewohners zu betreten, und er selbst lud mich nie ein, noch hatte ich je den mut, ihn zu mir einzuladen. nichtsdestoweniger hatte ich eines tages gelegenheit das bildnis oder was davon übrig war zu betrachten. es lag eines morgens, als ich den abfall hinunterbrachte, in der mülltonne, zerschlitzt, zerrissen, zerknüllt, aber noch als gemälde kenntlich, und obwohl ich mir unziemliche neugier sonst nicht gestatte, konnte ich diesmal nicht widerstehn und klaubte — ich schäme mich es zu sagen — klaubte wie ein stadtstreicher brotrinden die reste des bildes aus der mülltonne (die zum glück in der toreinfahrt stand, so daß ich weder von der straße noch vom haus her ohne weiteres zu bemerken war) und setzte sie zusammen; aber die frau war wirklich sehr hübsch, obgleich mich ich weiß nicht was am ausdruck ihres gesichtes, ihrer augen abstieß. natürlich ließ ich die fetzen dann sofort wieder in den ascheneimer fallen. kurz danach erregte der fall des bekannten boxers S., der seine frau erschossen hatte, die öffentlichkeit; und wenig später erschoß sich auch mein sonderbarer nachbar. das sind die nackten tatsachen, wie sie jeder damals hat zur kenntnis nehmen können; meine eigenen vermutungen und beobachtungen gebe ich so wieder, wie sie in meinem gedächtnis haften.

da war vor allem das foto der ermordeten in den zeitungen, das dem porträt aus der mülltonne so ähnlich sah. nun kann ja ein porträt schlecht gemalt sein und zeitungsbilder sind meist recht unscharf; zudem gehören gerade die sehr hübschen frauen meist, wie unzweifelhaft auch diese, einem bestimmten typus an, der reichlich vertreten ist und infolgedessen bei oberflächlichem hinschaun oder ungenauer wiedergabe leicht verwechselt wird; jedoch fand ich den gleichen ausdruck von aschener leere, ja maligner nichtigkeit, der mich schon an den augen des gemäldes irritiert hatte, in dem foto wieder. daß mord und selbstmord so kurz nacheinander und mit gleichen waffen verübt wurden, legte einen zusammenhang ebenfalls nahe. was ihn zur gewißheit machte, war der zettel, den er hinterließ. "neben Ihr" wolle er begraben werden — für mich war sofort klar, wer "Sie" sein mußte. als ich an jenem tag nach hause kam, stand ein rettungswagen vor der tür und im flur empfing mich die vermieterin in heller aufregung und brabbelte irgendetwas von einem knall, einem fall, von blut und ihrem teppich. ich trat in sein zimmer, zum erstenmal. es herrschte keine unordnung, bis auf den fleck im teppich. die träger standen unschlüssig, offenbar in erwartung der polizei, bei der leiche, der notarzt saß am tisch und füllte den totenschein aus. an einer wand stand auf einem tischchen eine vase mit blumen, jungfer im grünen; daneben lag ein band gedichte, aus dem unübersehbar, viel zu groß für ein lesezeichen, ein zettel ragte. ich zog ihn heraus, da stand es: "neben Ihr". ich machte mir selbstverständlich zur pflicht, alles zu tun, um seinen letzten wunsch erfüllen zu helfen, was aber, wie sich herausstellte, gar nicht schwierig war. das grab war schon gegraben, von ihm selbst, und seine vorgesetzten, die ihn als fleißig, gewissenhaft, pünktlich geschätzt hatten, sahen keinen grund, ihm den platz neben Ihr zu verweigern, auf den jedenfalls ihr gatte und mörder am allerwenigsten anspruch erheben konnte. nach dem begräbnis kehrte ich, abgespannt von den ereignissen der letzten tage, in das totenstille haus zurück. aus seinem zimmer wehte mir eine eisige ruhe entgegen. noch wenige tage vor seinem tod hatte ich mich bei der wirtin beklagt, es sei in letzter zeit nachts immer so laut bei ihm, obwohl er allein sei, er rede, schimpfe, seufze, ob er vielleicht einen arzt brauche? sie wollte davon nichts wissen, fürchtete wohl auch die umstände, die ein kranker im haus ihr bereiten mochte. jetzt war die stille schlimmer als jüngst der lärm; ich beschloß in urlaub zu fahren.