Wildwuchs. Eine Geschichte, in der Menschen allenfalls am Rande vorkommen.
Wenn man auf einer wanderung durch eine der vielen fichtenplantagen kommt, dann sieht man: um sich herum braunschwarze stämme, darüber braunschwarze äste mit trockenen, braunen nadeln daran, und ganz oben dunkelgrüne wipfel vor dem grauen, blauen oder weißen himmel. Und am boden: polster von braunen nadeln, vielleicht hier und da etwas moos oder eine schüttere jungfichte, im herbst gelegentlich ein paar pilze. Sonst nichts, kaum je ist ein tier zu hören oder zu sehen.
Kommt man aber an einer der stellen vorbei, die durch Kyrill in mitleidenschaft gezogen und anschließend sich selbst überlassen wurden, dann sieht man in der regel einen gesunden jungen mischwald mit viel unterholz, dickichten, einzelnen lichtungen, allen denkbaren tönen von grün, und im herbst in einem wahren farbenrausch prangend.
Nördlich des zeltplatzes auf der Gathe ist ein solches stück jungwald. Dort war bis vor acht jahren ein alter, schlagreifer, aber bereits durch Kyrill beträchtlich in mitleidenschaft gezogener fichtenbestand. Ein eher untypischer fichtenbestand, mit einem anteil an unterholz vor allem am südlichen rand, meist jungfichten und junge lärchen in unterschiedlichen altern und größen, sowie kleineren lichten, gras- oder farnbewachsenen flächen. Im sommer 2011, nachdem über mehrere jahre bei fast jedem wintersturm ein paar stämme umgefallen waren, entschloß ich mich zögernd und schweren herzens, den bestand schlagen zu lassen.
Nach der fällung sieht das waldstück zunächst aus wie ein schlachtfeld aus dem stellungskrieg des ersten weltkriegs. Zerwühlt, mit tiefen radspuren, die der harvester in den feuchten, teilweise matschigen boden gefurcht hat. Vorhandenes buschwerk vom harvester überrollt, ein paar junge laubbäume umgefahren. Alles voller totholz von den gefällten stämmen. Das drüsige springkraut, das bereits nach Kyrill die fläche im innern des waldstücks, die damals fast vollständig umgefallen war, weitgehend besiedelt hatte, ist noch da und gedeiht in den folgenden jahren noch prächtiger als zuvor, flächendeckend. Nach und nach breitet es sich fast überall in der gegend entlang der ufer von bächen und flüssen aus. Aber in meinem wald verschwindet es nach und nach, wie man gleich sehn wird.
Da der revierförster mir bereits unmittelbar nach Kyrill gesagt hatte: „man muß nur geduld haben“, und nachdem mich mehrere vorträge, gehalten auf begehungen von waldflächen, die nach Kyrill nicht wieder aufgeforstet worden waren, von dem konzept der naturverjüngung überzeugt hatten, beschloß ich, es mit dieser methode zu versuchen.
Ich tat also nichts und wartete ab.
Aber noch nach vier jahren, 2015, wuchsen auf meinem waldstück, abgesehen von diversen flecken mit jungfichten und jungen lärchen, die schon vorher dort waren, viel niedrigem buschwerk und einigen verstreuten jungen birken und vogelbeerbäumen, vorwiegend springkraut, brombeeren und adlerfarn, und ich dachte manchmal darüber nach, doch mit fichten wiederaufzuforsten. Ich hatte bereits mehrmals während dieser zeit eimerweise bucheckern oder eicheln ausgestreut oder eingesät, ohne sichtbares ergebnis.
Danach jedoch änderte sich die vegetation von jahr zu jahr merklich und immer schneller. Überall schossen nun birken in die höhe, immer mehr ebereschen waren zu sehen, holunder, ahorn. Die jungen fichten und lärchen legten nun deutlich an höhe zu. Dazwischen gab es auch einige vereinzelte buchen und eichen, von denen ich jedes jahr mehr fand. Von außen her besiedeln nun jungbäume nach und nach die freifläche im innern, so daß heute nur noch ein kleineres stück gänzlich unbestockt ist, eine lichtung, von gras, farn, himbeeren und brombeeren bewachsen, die nach und nach das springkraut verdrängt haben.
Jetzt, 2019, kann man schon wieder von einem wald – oder wäldchen – sprechen. Und während in den fichtenplantagen rundum wie überall in der gegend seit dem sommer 2018 immer mehr braune stellen zu sehen sind, wo bäume wegen der trockenheit und des daraus resultierenden borkenkäferbefalls abgestorben sind, kann ich auf meinen waldstücken keinen einzigen kranken baum entdecken. Dafür eine artenvielfalt, die es dort vorher nicht gab, mit reichlich nahrung zu fast jeder jahreszeit vor allem für vögel und insekten.
Man könnte diese art der waldwirtschaft (die eigentlich gar kein wirtschaften ist) naturschutz durch unterlassen nennen. Oder auch aufforstung durch nichtstun. Jedenfalls scheint es zu funktionieren, wie auch viele andere flächen beweisen, auf denen nach Kyrill nicht eingegriffen worden ist und die jetzt gesunde, artenreiche jungwälder sind.
Und wie die geschichte weitergeht, werden in dreißig oder vierzig jahren meine kinder erzählen können.
Geschrieben Dezember 2019