Konrad Weiß: Literarkritische und zeitkritische Aufsätze
Inhaltsübersicht
Der flämische Dichter Guido Gezelle
Ernst Barlach als Selbstbiograph
Lyrisches Wort von heute. Zu Gedichten von Albrecht Schaeffer
Regina Ullmann erzählt. „Vom Brote der Stillen“
Des Dichters Heimat. Rudolf Alexander Schröders traumhaftes Wanderbuch
Die Zeit und das Angesicht. Über Rudolf Kassner
Die Gesichter der Menschen. Zu Rudolf Kassners „Physiognomik“
Der Schriftsteller und der Sprachgeist. Über Theodor Haecker
Die Tränen der Dinge. Theodor Haecker und sein Vergil-Buch
Der stumme Geist des Dichters. Eine Stifter-Studie im Heute
Ins Netz gestellt am 15. November 2022
Diese Sammlung von Aufsätzen von Konrad Weiß basiert auf der 1970/71 von Ludo Verbeeck im Jahrbuch der Görres-Gesellschaft herausgegebenen Auswahl. Aus Urheberrechtsgründen wird die Einleitung von Ludo Verbeeck hier nicht wiedergegeben.
Der deutsche Weltsinn, der, was kein anderes Volk in gleicher Bedrängnis um sein Dasein getan hätte, auch in diesem Kriege seinen Willen wachhielt, die geschichtliche Schönheit der ganzen Welt in der Kunst in sich aufzunehmen, hat diesmal kaum etwas Schöneres gefunden, als die schöne Herzenswahrheit in den Gedichten des flämischen Sängers Guido Gezelle. Nicht leicht ist auch etwas so geeignet, in unseren Bildungs- und Gemütsbesitz einzugehen wie sie. Es braucht wohl nur gesagt zu werden und man wird es sofort empfinden — es wäre aber auch Zeit, dies immer bewußter zu erkennen —, daß der Lyrik unserer deutschen Klassiker etwas Wesentliches fehlt, der Herzenston der christlichen Wahrheit, das Element, das wir hinter der Freiheit der Bildung als notwendigen Ausdruck unseres Wesens zu suchen nicht aufhören können. In wie wenig deutscher Lyrik des neuen Zeitalters ist es uns zu wirklichem Besitz gegeben! Die romantische Dichtung wird uns durch das klassische Ideal versteckt und ist in ihrer freien Schwebung auch erst auf einer höheren Stufe der Zeiterfahrung zugänglich. Dann wären wir schon bald am Ende mit Berücksichtigung der mehr bruchstückartigen Teile älterer Dichtkunst, die in der natürlich und geschichtlich christlichen Seele zugleich fortleben, wenn nicht in Annette von Droste-Hülshoff die ganze Wärme dieses deutschen christlich-dichterischen Seelenelementes gesammelt aufgelebt wäre, vor allem in ihrem Geistlichen Jahr. Manches, vieles macht sich auch darin erst dem angestrengten Mitleben offenbar, denn die Droste ist im Ringen um Fülle der Wahrheit nicht selten hart, und ihr Wort klingt öfter noch vom Kampfe scharf als von der Erfüllung gütig. Auch sucht ihre Seele zu Natur und Gott noch verschiedene Wege. Sie muß die Mühe der Welterfahrung mit Heftigkeit beruhigen, eine vielgestaltige deutsche Seele. Da nehmen wir das kleine Bändchen Gedichte von Guido Gezelle zur Hand, das Rudolf Alexander Schröder aus dem Flämischen verdeutscht hat, und finden diesen natürlichen Herzenston der deutschen Dichtung, diesen Ton, der eben durch die christliche Welt- und Naturerfahrung zum Tönen kommt, so unverfälscht und in so einfacher Wahrheit des Weges durch die Natur zur göttlichen Weltordnung, wie wir meinen, ihn immer beim Horchen auf das christliche deutsche Herz gehört zu haben und doch keinen Namen zu nennen wissen.
Bin eine Blume,
Blüh vor deinen Augen,
Gewaltig Sonnenlicht,
Das ewig einer Art
Mich nichtiges Geschöpf
Läßt Lebensfülle saugen
Und nach dem Leben mir
Das ewige Leben spart.
Gezelle ist ein Dichter, dem das Wort im Anschauen der Dinge lebendig wird und von innerer Bewegung überfließend, was sein Auge sieht, durch sich darzubringen und so die Gabe des Lebens zu erfahren. „Wer kann da Korn anschaun“, „Wer kann da Wein anschaun und nicht gedenken“, „Wes Fleisch und Blut er eß und trink.“
Vor mehreren Jahren ist im Hochland (Septemberheft 1911) ein Aufsatz über den flämischen Dichter erschienen, der am 1. Mai des für die belgische Geschichte so entscheidenden und für die Zukunft des flämischen Volkes so ungünstigen Revolutionsjahres 1830 im schönen alten Brügge als Sohn eines Gärtners zur Welt kam. Von seinem stillen Lebenslauf, den er als katholischer Priester nach dichterischem Anfangserfolg, dann aber „von einer gar nicht flämisch gesinnten geistlichen Behörde“ an eine ungünstige Stelle zurückgesetzt, führte, bis ihm die letzten Jahre seines Lebens doch noch Anerkennung und Ruhm und die Liebe seines Volkes in reichstem Maße brachten, ist für die flämische Bewegung alles und nichts bemerkenswert. Denn er war keine Kämpfernatur, aber er war wie die Seele des flämischen Volkes, sie fand in ihm Worte, und er suchte ihre Worte. Mit unermüdlichem Eifer war er sprachwissenschaftlich für das Flamentum tätig; aber worin er unersetzbar ist, Natur- und Kulturlaut des flämischen Volkes, das ist sein dichterisches Werk. Gezelle ist reiner Lyriker; der Flame, der Priester und der gedämpfte Sinn des zurückgesetzten Mannes, der aber wohl in der Anlage schon eine überaus weiche Empfänglichkeit hatte, spricht in seiner Dichtung mit, mit alles aufgelöst in den rein-lyrischen Ausdruck der Empfindung, von der Natur durch die Seele für das Wesen seines Volkes nicht nur, sondern für das Gemüt der Menschheit und darum für die deutsche Seele erfahren. Gezelle bricht den Bann des flämischen Sprachbereichs, der wie eine Dialektsprache zu verkümmern und den Ausdruck für kulturelle, aus dem geschichtlichen Kampf lebende Empfindungen nicht mehr zu gestalten in Gefahr ist, zwar nicht äußerlich zunächst, denn seine Wirkung blieb auf sein Volk beschränkt, aber innerlich, denn er fand in seiner Sprache keine Schranke, sondern das natürlich geistige Mittel, den seelischen Ausdruck in volkssicherer Anschaulichkeit zu erfassen. Und daß er den Bann auch äußerlich zu brechen berufen ist als uns Deutschen nächstverwandter dichterischer Herzbruder, das kann das kleine Bändchen lehren, das uns der Krieg beschert hat. Gezelle starb gegen Ende des Jahres 1899.
Es ist zu wenig, was uns in dem schmalen Bändchen fürs Urteil geboten wird, aber genug, um die Liebe der Flamen zu verstehen, den dichterischen Wert zu erkennen und die eigene Anteilnahme bis zu dem Wunsche wachsen zu lassen, diesen Dichter in seinem ganzen Werk ins deutsche Gut und Blut einzuführen. Daß heute unter den Gebildeten das Verständnis für Lyrik und überhaupt die Neigung dazu so vielfach fehlt, ist zum Teil schon auch durch die Lyrik mitverschuldet, wenn auch unfreiwillig, indem allgemein bei fehlender religiöser Einmütigkeit, die durch nur von ungefähr stimmende religiöse Einfühlungen nicht ersetzt werden kann, auch die gleichgerichtete geschichtliche Reife, das heißt, das volle Gefühl für die uns zugeteilte Zeitlichkeit im Hinblick auf die ewig gültige, ewig gütige gleiche Wahrheit fehlt. Kein deutscher Dichter hat gerade diesen Kampf der Seele härter gefochten als die Droste. Hierin ist sie weiter und herber als der stille beschauliche Flame, und hierin liegt es auch, daß sie nicht nur Lyrikerin ist. Dafür hat Gezelles Dichtung eine sozusagen natürliche Reife; sie ist bewegt wie die Schöpfung im Winde und wird dann wieder von der Anschauung beruhigt, wie von dem Glück des siebenten Ruhetages. Das zeigt ausgesprochen sein berühmtes Gedicht:
O Rauschen von dem ranken Riet,
O wüßt ich doch dein traurig Lied,
Wenn Windeshauch vorüberfährt
Und beugend deine Halme sehrt.
Du neigest dich demütiglich,
Stehst auf, und wieder neigst du dich
Und singst gebeugt dein traurig Lied,
Das mir behagt, o rankes Riet.
[...]
Gott schuf den Strom, Gott schuf auch dich,
Gott sagte: „Weh!“ und Windchen schlich,
Und wehend Wankelwindchen flog
Und Halme hin und wieder bog,
Gott lauschte .. . und dein traurig Lied
Benagte Gott, o rauschend Riet.
Die Bewegung aus der Natur geht dem Dichter über in die Seele und ein in das Vertrauen auf die Beruhigung, mit der er in einem andern Gedicht, die schwere Resignation, die Martin Greif manchmal eignet, überwindend sprechen darf: „Mild und mächtiges Erbarmen.“ Oder der Schmerz, der in aller Naturliebe liegt, wird in der „Zwiesprache zwischen dem Engel und der betrübten Seele“ von dem unabwendlichen Reiz seliger Festlichkeit und Gewißheit überwältigt, so in dem „Das Tamburin“ betitelten Gedicht, das ganz besonders stark im Widerstreit von Bewegung und Ruhe auf- und abwogt. Andere Gedichte haben etwas von Volks- und Kalenderweisheit. Am vertrautesten mit sich selber ist der Dichter aber in den ganz naturanschaulichen Belauschungen der Vögel, in der Deutung der spukhaften Winterbotschaft des Raben oder in der so behaglichen Schilderung der Kuh in „Das Abend-Tuthorn“.
Ein leiser Humor und eine Wehmut, die ja oft bei naturhaften Dichtern zusammenklingen, zeigt die seelische Überlegenheit des Dichters über das Stoffliche, das denn auch mit bloßer sogenannter Heimatkunst gar nichts zu tun hat. Literaturgeschichtlich hängt das stärkere Aufkommen des Dialektischen in der Dichtung zum Teil mit dem Naturalismus zusammen. Beides, das Dialektische und der Naturalismus, sind für höhere Ausdrucksformen zu eng. Daß Gezelle der Übergang ins Religiöse, und zwar im gelösten Gefühl so voll gelang, zeigt, daß das Flämische mehr ist als ein Dialekt. Es hat noch die Fähigkeit der kulturellen Sprache und gibt außerdem dem Dichter die natürliche Anschaulichkeit, Echtheit und ungesuchte Wahrheit der doch einfacheren Volkssprache, die es dem Übersetzer nicht ganz leicht macht, die Kluft, die sich zwischen dem älteren Idiom und der deutschen, ins Abstraktere fortgebildeten Kultursprache [auftut], zu überbrücken. Schröder hat sich hier mit altertümlichen Worten geholfen und sich überhaupt seiner Aufgabe mit Liebe unterzogen, wenn auch die Ahnung bleibt, daß das Original manchmal voller und weniger spitzig klingt.
Unsere älteren deutschen, vorklassischen, religiös gestimmten Dichter, die uns noch am Herzen liegen, waren zum Teil noch etwas von der späten Mystik gespeist. Gezelle geht, wie man auch in den wenigen Proben erkennt, von der ganz natürlichen Wahrheit und Schönheit der Erde zum Gefühl der Übernatürlichkeit über. Wenn uns sonst das natürliche Erleben des Religiösen Unklarheit und Unentschiedenheit gebracht hat, so ist bei ihm ganz im Gegenteil tiefe Klarheit, verstärkt durch den vollen Naturton, der unserer heutigen Seele das Religiöse besonders nahe bringt. Dieser voll bewegte Naturton des Wortes im Herzen wie im Glauben ist es, in dem wir keinen besseren Dichter kennen und weswegen wir Gezelle bei uns aufzunehmen wünschen. Er verstärkt den deutschen Drang zur Wahrheit des Wortes.
Wer sich in Kunst und Dichtung statt eines tiefern geschichtlichen Sinnes und Ziels, das nie in einem Menschen erfüllbar ist, mit einem bloß allgemeinen stimmungsmäßigen, zeitlos menschlich erwählten Gefühl begnügen will, muß es sonderbar und unbegreiflich finden, daß, wie dies augenfällig in der Kunstgeschichte geschieht, nackte Jahreszahlen gesetzt werden können, um die Grenzscheide zwischen zwei zu ganz verschiedenen Verdichtungen strebenden Willensbewegungen des Geistes und Herzens zu markieren. Aber auch wer hinter dem Wechsel und dem Gesetz der „Gegennachahmung“, wie man es genannt hat, den geheimen planhaften Weg einer Sinnesführung und Seelenerfahrung sieht, wem Kunst die Öffnung und Innewerdung eines Weges aus der Zeit zur Ewigkeit ist, dessen Stationen für die zeitgleiche Menschheit der Dichter immer einmalig und gegen jede andere Generation irgendwie verschieden ausspricht, auch für diesen bleibt es merkwürdig und wird ihm mit der Scheu eines ohnmächtigen Zuschauens bewußt, daß Kunstgefühle scheinbar wesenhaft wechseln können wie Schicksale, vielleicht in der kurzen Spanne eines Jahres, daß die heutige stürmende Flut der Dichtung zurückgehen kann in eine sehnende oder vielleicht bloß willenlose Ebbe, beides als Gezeiten der Seele, daß sich so der Geist, der doch weht, wo er will, in den Menschen Zeit und Ort der Vertiefung oder Verflachung setzt. Es hat den Anschein, als seien wir heute wieder in einem solchen Wechsel der Gezeiten begriffen.
Zwar ist dies Wort zunächst zu groß für die kleinen Bewegungen. Wir haben in einem halben Leben schon eine Reihe Stilwandlungen erlebt, mehr kritisch fixiert (weshalb der Bequeme nur die Mode sah) als innerlich durchgearbeitet oder durcharbeitbar; kaum ist als letzte der Expressionismus in der Öffentlichkeit zur Geltung gekommen, und der religiöse Sinn und Wille, der nach Stetigkeit und Dauer verlangt, hat hier den Anlauf zum größern Ziele im Gegensatz zum stofflich niedern und engen Naturalismus und dem gehobenen, aber schwerelosen, unethischen Impressionismus erkannt. Man würde verstehen und wünschen, daß er ausgearbeitet würde aus den noch leerflächigen Instinktlinien in die Weltsicherheit einer neuen christlichen Form. Aber die Oberfläche ist wechselnder als der Strom der Tiefe. Eben in diesen heutigen Tagen, kaum nach dem Kriege, will die Welle wieder zurückschlagen; es zeigt sich da und dort die Abkehr von der, kurz gesprochen, massenethischen Form und starren Linienflucht des Expressionismus, von der absichtlichen Zeithaftigkeit, deutlich am meisten in der Revolutionslyrik, von dieser mehr graphischen und programmatischen als lyrischmusikalischen Kunst, zu einer reinern, in sich begriffenen Formung. Ob diese neue Bewegung wesenhaft wird oder nicht, ob sie zu den mehr als ein Menschenalter dauernden, durch die Generationen hin, durch ein Jahrhundert, durch Jahrhunderte mächtigen Grundtendenzen hinabreichen wird — jedenfalls und tatsächlich benennt sie ihr kleines Spiel mit dem großen Widerspiel der Kunst: es soll auf die, wohl erst mit wenig Recht, gotisch genannte expressionistische Richtung aus sich heraus nun ein Wille zur Abschließung, zum dinglich formalen Spiel mit entkernten Wesentlichkeiten, zum Begriff der Form, zu einer Art Klassik folgen. Geht damit also das dem Expressionismus immerhin innewohnende Trachten zu Gott und Welt, diese nie restlose Gleichung der Seele, eine Ichsucht als Weltflucht zugunsten eines frei gesetzten Maßes an schönen Weltfrüchten verloren? Es mag so scheinen, wenn man auch die sonstige Stimmung des herrschenden Volksgeistes – denn Lyrik bleibt in jedem Falle Spiegel der Zeitseele - vergleicht und in der Formaldemokratie, der respublica sybaritica, wie der alte Jörg sagte, der kernlosen Völkerbundsidee, im Pazifismus ein ähnliches Zweckspiei fühlt, Absicht und Begriff eines Ideals, das Keim und Kern der Erbschuld und des Kampfes in die Welt, aus dem der höhere Auftrag eines Volkes entsteht, ausbrechen zu können glaubt. So ist die augenblickliche Lage.
Indessen, uns trägt, wenn wir tief genug treiben, nur eine einzige, durch die heutige übermäßig betonte Absage an die Renaissance plötzlich vielen deutlich gewordene Grundströmung: der alles Geschehen kennzeichnende christliche Zeitstrom; es ist der gleiche Strom, der uns auch von den beiden größten deutschen Künstlergestalten den gotisch-barocken Grünewald gegenüber dem spätern, vom Willen zum Formbegriff erkälteten und dem deutsch-heidnischen Schicksal Tribut zollenden Dürer nahegebracht hat; Grünewald schaute und schuf im Nachgefühle des Jesaias und Johannes. Der hier waltende Gegensatz, wenn nur als ästhetisch gegen ethisch bezeichnet, drückt eine höhere christliche Weltform mit nichten aus, in der das menschliche aktive Wesen nur als der untere mitwirkende Teil einer unverbrüchlichen Gottestreue in der Zeit Zeugnis gibt. Die christliche Form lebt über jenen Gegensatz von Erleben und Gestalten hinaus zuinnerst von einem geschichtlichen Gefühl, das ihr so wesentlich ist wie die göttliche Menschwerdung. In diesem Sinne kann der Mensch nie mehr begrifflich und formal zeitlos sein (was er ja im Grunde auch in heidnischer Kunst nie war). Im christlichen Kunstwerk ist immer etwas dem Typischen und Humanistischen entgegenstrebendes anderes, immer etwas Neues und Drittes; es ist der geschichtliche Atem einer höhern Ordnung. Am Wort, an der Dichtung wirkt nicht nur der Mensch, es wirkt die Menschheit mit; aber beide nicht so, daß sie die in der Erlösung verankerte Spannung zwischen Schöpfung und Ende in einem allgemeinen anthropozentrischen Ideal oder auch in einem überzeitlich christlichen Formbegriff, der also neben der Kirche, wie viele zu wollen scheinen, noch eigens gelten würde, ausgleichen könnten. Denn die jeweilige Geschaffenheit in die Zeit ist für jede Seele durch ihre Mitmenschheit immer weiter in der Geschichte fort- und zum Ende geschoben. Dieser Formsinn der Geschichte ist aber durch ethische Stimmung allein nicht faßbar; er gründet und abgründet im Glauben.
Die Kunst und Dichtung der Gegenwart, so menscheifrig und geistfanatisch im Expressionismus sie immer war, ist willentlich kaum noch über das Ethische hinausgekommen — vielmehr darin gescheitert. Es war noch keine Fülle der Zeitseele. Die expressionistische Dichtung hat darum auch schon rein rhythmisch keinen vollen Atem, ist Schrei, aber nicht Ton. Es ist etwas Geheimnisvolles um diesen Ton der Wahrheit. Er gibt dem seelischen Bekenntnis die Fülle eines Volkes. Gerade die ethische Einstellung der expressionistischen Dichtung auf Brüder, Völker, Menschheit, Internationalität hat dieses Wesentliche, Stellvertretende des christlich-gesellschaftlichen (gotischen) Geistes nicht errungen. Gerade die heutige Zeiterfahrung mußte es lehren, daß das Ethische allein keine volle menschliche Form gibt und sich schließlich einem ziel- und regellosen Radikalismus nicht entwinden kann. Die wahre seelische Persönlichkeit entsteht nicht. Der Krampf mehr als Kampf der neuen Dichtung ist, oft auch thematisch ausgesprochen, scheinbar aus Gott geschöpftes Leiden für Menschheitsschicksal, meist aber nur Mühe bis zum grotesken Spiel um den schwindenden seelischen Ichpunkt, in Wortballungen, Gedankensprüngen, Bildspiegelungen immer neu von vorne begonnen. So sehr der Ansatz einer neuen Welt aus der letzten Aktivität der Empfindung versucht wird und sich aus der Wut des Gehirnes nährt, den Gedanken zur schöpferischen Schwere zu bringen — in einigen Zeitvollern wie bei Werfel dann wieder bis zum Sentimentalen pazifiziert, hierin allerdings zeithafter empfunden als der mythische Optimismus Momberts, gegen dessen geistig-sinnliche Kosmik auch die einfachere Bilderwelt Däublers mehr farbige Sättigung hat —, so ist doch diese von einem nach innen gekehrten Impressionismus herstammende Lichter- und Irrlichterwelt mehr Ende als Anfang einer Zeit. Und der von den modischen Expressionisten, mehr Empfinden als Persönlichkeiten, massenhaft versuchte Stil ist auch das nicht mehr, sondern nur noch das Geräusch des Zwischenakts, indes in der Zeit die Elemente einer neuen Welt aufgebaut werden. Kurt Pinthus, der Herausgeber der umfangreichen Anthologie „Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung“, in der die bekanntesten neuen Namen, darunter als schon ältere und beste Th. Däubler und Else Lasker-Schüler, beisammen sind, muß denn auch, die große Gebärde seines „Zuvor“-Wortes berichtigend, ebenda sagen: „Von den vielen, vielen Dichtungen dieser Generation werden fast alle mit den verebbenden Stürmen ihrer Epoche untergegangen sein. Statt einiger großer, leuchtender, wärmender Gestirne wird Nachlebenden ihre Menge wie die von unzähligen kleinen Sternen erschimmernde Milchstraße erscheinen, die fahlklärenden Glanz in wogende Nacht gießt.“ Was Wunder, wenn nun an einer neuen Wende ein zielloser Sturm und Menschheitsdrang wieder pietistisch oder artistisch Ruhe und Beschäftigung zu suchen sich anschickt.
Indes, wie ein Volk nie mehr am gleichen Punkte des Weges seiner Beladenheit steht, während der Charakter seiner Welt- und Zeitaufgabe gleichbleibt, so ist auch seine Dichtung jederzeit anders, aber das dichterische Bewußtsein, der innere Charakterlaut bleibt verwandt, sein Ton irgendwie kernhaft in innerster Brust ein gleicher. In diesem Sinne gibt es Dichter, die fast mehr Sprecher als Bildner, mehr wortvoll als symbolsuchend, mehr Stamm als Zweige sind, die ihren Sinn und Auftrag nicht erfüllt haben, wenn sie nicht dazu durchdrangen, Hüter des Erbgutes ihres Volkes zu werden, Dichter wie Kleist, Annette Droste, Friedrich Hebbel. Solche Dichter leben, in Hebbel allerdings absteigend, im unverbrüchlichen Wesen ihres Volksgeistes, der sich in ihnen oft weniger im runden Werk als im ganzen Drang der Stimme kundgibt, im Schlund der Zeit das Wort der Befreiung, Lösung und Erlösung zu finden. In ihnen schwingt Wort und Ton oft fast wie kaum berührt von den Schwankungen der Zeitseele, in unbeirrbarem Willen zur einen allmenschlichen Not und Aufgabe, und doch je persönlicher, desto zeithafter und volksechter. Mit Dehmel ist aus der Gegenwart der Dichter weggestorben, der in den irrsäligsten Lebenserprobungen diesen deutschen Charakterton nicht verlieren konnte. Dieser gleiche Ton, katholisch gefestigter in Wort und Rhythmus Chr. Flaskamps, der am wenigsten blendend (und darum oft erst spät im eigentlichen Wert erkannt) über Zeit und Formwendung eine sichere Richtung durchhält, ist dem engeren Expressionismus bis jetzt nicht zuteil geworden. Verdichtungen in solchem Wesen sind schon von Anfang innerhalb und tiefer als die bloßen Spiegelungen der Zeitseele. In ihnen lebt die kernige Ichgewißheit, die sich nun in Gott- und Weltgewißheit versucht.
Um die Art dieses Wortes und Tones, des ersten und letzten lyrischen Elementes — denn das Wesen der Lyrik ist im einfachsten und im tiefsten fleischwerdenden Sinne das Wort — zu verstehen und den heutigen lyrischen Drang zum Wort zu begreifen, muß man auf die im humanistischen Willen abgezirkte höchste Blüte der deutschen Dichtung, auf die idealistische Klassik zurückgehen. Was das Ohr — heute vielleicht so sehr wie nie auf den Zwiespalt des Geistes mit der irdischharten Wirklichkeit auf die Unmöglichkeit der gott- und dingfreien, reinen und bloß menschgeistigen Stimme hin geprüft — in jenen Dichtungen sowohl des in unerreichtem Maße geistsatten Goethe als auch des ethisch zielschärferen Schiller hört, ist nicht dieser Ton einer von höherm Hauche zutiefst erfüllten Zwiespaltseele, der sich bald schon dem Knechtschrei Brentanos aus der Tiefe entringen mußte. Jenen Dichtungen ist mehr wesentlich ein einheitlicher, ohne die verbundene Fülle der Ober- und Untertöne strahlender Klang, Schein und Licht und Ton — nicht frei zwischen Himmel und Erde, Tag und Nacht der Seele, sondern gesichert aus der Vernunft und dem Willen mehr als aus dem Glauben zur edeln Menschlichkeit. Der Weg der Erfahrung, den die Menschheit seither gehen mußte, ist ungeheuer, und es ist nur folgerichtig, daß auf diesem Wege der heute allgemein geweckte Passionsgedanke wieder als Stoff aus der Form der Erfahrung entstehen mußte. Das expressionistische Wort will sein wie eine ringende, schreiende seelische Vollbringung der Erfahrung, die sich der Mensch als Glied der selbstgerechtfertigten Gemeinschaft aufbürden mußte. Aber sie läßt sich nicht von einem Menschen mit eigener Kraft vollbringen, sie ist größer als jede vernünftige Form. Der dichterische Wille, innerhalb der Begriffe naiv und sentimentalisch und lebensnäher, zeithafter als diese, das in Ichform ausgesprochene fatalistische, agitatorische Massengefühl, treibend bis zur Revolution, gespeist durch die maßlose russische Seele, hat diese Erkenntnis der Ohnmacht nur beschleunigt.
Unsere ganze Zeit muß sich als Gegenbewegung gegen die idealistischphilosophische Weltanschauung erfahren, in der sich der menschliche Kreis gegen Gott und Ding in der Persönlichkeit abschloß. Aber das Ungestaltete lebt nicht. Dort war eine Welt gestaltet; hier blieb nur noch ein Ich. Das Ich und immer wieder das Ich ist Anfang und Mitte heutiger Dichtung. Das ist ein anderes Ich als das Ich der humanistischen, sich eine schöne Welt bis in die Nähe Gottes angliedernden Persönlichkeit. Das heutige Ich will näher zu Gott, daher die starke religiöse Spannung in der heutigen Dichtung. Aber wie die idealistische Dichtung, pantheistisch mit Gott verbunden und darum ohne den vollen Schuldkern von Mensch und Dingen und ohne die reiche Dinglichkeit, so erlebt auch der heutige Dichter ein Gottschicksal. Diese neue ohnmächtige Vergottung ist luziferischer ohne die bürgerliche Sättigung der idealistischen Humanität, aber die Krise in der Zeit, nachdem der klassizistische Scheinkreis zerbrach, ist wechselnder und kürzer. Die Kunst wird, wie die russische schon wesentlich war, „politischer“, das will sagen, mehr mit dem Schicksal der Seele in der Gemeinschaft beladen und dadurch weltanschaulich. So wurde die Dichtung im Expressionismus. Sollte nun wieder eine neue Wendung kommen in den Zirkel der gedachten, von dem christlichen Weltplan befreiten humanistischen Persönlichkeit? Oder da unsere Zeit hierzu den genauen Gegensatz bewiesen hat, zu einem formalen Spiel mit Dingen und Menschen, um den eigentümlichen Schuldcharakter der Zeit zu leugnen? Oder wird aus dem Expressionismus der leere Schrei: Ich bin! anschwellen zu dem Glaubenston einer großen Dichtung?
Schon vom Naturalismus an bis in die Gegenwart anschwellend, wollte sich ein der Seele unserer heutigen Menschheit eigener, seit Generationen nicht so unverborgen gehörter Laut aus der Vielfältigkeit der Dichtungen und Wortfügungen losringen, ein wandernder Ton zwischen Himmel und Welt, der, weniger odisch gebunden wie etwa bei Klopstock, weniger elegisch hingetragen wie bei Hölderlin, weniger dithyrambisch zerfallend wie bei Nietzsche, nomadischer und unrhythmischer in der Glaubenskraft der Stimme, der Stärke des Atems und Fülle des Gesichts Gesetz und Gliederung suchte. Die eigentlichste lyrische Form unserer Zeit wäre, so fühlt man, der Psalm, das unmittelbare, ringende Reden zwischen Gott und Knecht der Erde, oder auch das Selbstgespräch des ziellosen Wanderers, schhließlich die getragene Paränese des Menschen, der zum Nächsten sonst kein unmittelbares Band mehr findet. Mit der prärieweiten Monotonie Walt Whitmans, der ländlich pastoralen, lehrhaften Hymnik Claudels, der farbige Gesichte im Lebensgefühle sammelnden Prosodie Rimbauds wäre ohne Tiefe etwa der Umkreis angedeutet. Von den heutigen deutschen Dichtern sind der weniger lyrisch nachhallende als verstandesmäßig die Held- und Weltwanderung des himmlischen Zechers beschreibende Mombert, der mehr zu Sättigung als Schwere kommende, Bilder und Gesichte kometenhaft aufrollende Däubler, auch noch die aus blutalter Rasse unruhig zeit- und ziellose Else Lasker-Schüler von diesem Ton getroffen. Freilich, wie viel modische Empfindung, wie wenig Wahrheit, wenn man in dieser Weise Überblicke anstellt. Keiner dieser Dichter ist so voller Mensch wie der weniger zeithörige Dehmel, und auch Rilke hat eine kenntlichere religiöse, eine immerhin noch charakteristische christliche Seele voraus. Selbst Claudel eignet trotz der weiteren Weltstimmung und geistigen Rechenschaft und der mittelalterlichen Feinfühligkeit nicht Rilkes an Rodin erinnernder, wenn auch noch mehr verkümmerter gotischer Naturtrieb. Dieser genannte, religiöse, hymnische, und wo er am deutlichsten werden will, psalmodierende Ton erscheint wie die Ur- und Keimzelle einer neuen Dichtung. Aber angesichts der vielfach bloßen Ichgültigkeit, Bildhaftigkeit und Unverantwortlichkeit der neuen Rhythmen ist die Frage wohl berechtigt, ob hier wirklich schon der Odem einer neuen Dichtung weht, ob es möglich ist, neuen Geist in weltanschauliche Form zu gießen ohne die Geist- und Leibverarbeitung der christlichen Vergangenheit und der Lehre, die alle Symbolik der Worte und Gesichte aufschließt, oder ob es sich nicht viel mehr doch noch um Ausklänge oder Übergänge handelt, empfunden aus dem Zustande einer Menschheit, die den idealistisch begrifflichen Zusammenhalt verloren hatte und auch bei dem Kult der Natur, dieser von sozialen Gefühlen begleiteten Verkümmerung des höheren Geistes, hungrig geblieben war.
Stoffliche Grundlage all der neuen Bewegungen und Ziele, besonders deutlich für den technischen und psychischen Impressionismus, aber auch für den Expressionismus trotz seines gegensätzlichen Willens und darin gerade besonders kennbar, ist bis jetzt doch der Naturalismus geblieben, wenigstens in unserer deutschen Dichtung. Vergleicht man, da eben in einem Sammelbande „Das ausgewählte Werk“ von Arno Holz, dem sog. „Bahnbrecher der deutschen Moderne“, neu erschienen ist, seine aus dem Naturalismus hervorgegangene technische Weltfertigkeit, so ist bei allem Abstand und bei aller wählenden Beschränkung der Mittel doch, was z. B. den Mythossucher Mombert betrifft, die seelische oder besser nur geistige Haltung nicht so verschieden, daß eine mehr als geistig-phantastisch erlebte Welt, daß eine seelisch wiedererlebte Erde und Erdenhaft neu zu erkennen wäre. Angesichts eines solchen schwerelos optimistischen Mythosstrebens — das wäre auch gegen Ernst Michels in vielem feinsinniges Buch „Der Weg zum Mythos“ mit seiner Ausmündung auf Momberts Mythendichtung grundsätzlich einzuwenden — begreift man besonders deutlich den Unterschied zwischen einer bloß geistig gelösten Weltanschauung und einer seelenerfahrenen Religion. Die Weltanschauung des bloßen Geistes kann sich gegen den Naturalismus nicht behaupten. Und hier stoßen wir wieder auf jenes Dritte, das geschichtlich begründete Erlösungselement, in dem die christliche Dichtung lebt.
Es ist der Gedanke der Ebenbildlichkeit, der in der Zeit in Mensch und Menschheit wahr und wirklich werden will. Auf dem Weg von der deutschen Klassik bis heute, an dessen Ende sich die Dichtung als geraden Gegensatz erfuhr und dies heute mit einem revolutionären Widerwillen gegen Goethe ausspricht, hat nur die Romantik um dieses geschichtliche Wesen der Ebenbildlichkeit und der Schau der Dinge in ihr gerungen. Dem expressionistischen Ichgefühl und Massentrieb fehlt noch jeder Wille hiefür, der durch Werfels Bruderideal nicht ersetzt wird; und die neue, oft betonte Demut ist gerade ohne den Halt, der in jeder volkhaften, zeitstarken Willigkeit zu einer bestimmten, nicht nur zweck- oder stimmungsmäßigen Weltaufgabe dem einzelnen gegeben ist. So konnte auch die religiöse Betontheit der neuen Dichtung mangels der Einfügung in die bestehenden Gewalten sich nirgends sättigen und hat mit Vorliebe, wenn sie nicht jüdische geistige Selbstzerfleischung geblieben, bei Dichtern, die wie Max Pulver dem stofflichen Stimmungsreiz zugetan sind, der kernflüchtigen theosophischen Nebenkirchlichkeit gehuldigt. Von ältern fühlte sich auch Morgenstern dahin gezogen, während im Übergang zur neuen Form R. J. Sorge, zwar noch mehr geistig klärend als dichterisch verdinglichend, den Weg zur Kirche fand, und Hatzfeld ein ungebundenes Gottverhältnis anstrebt. Es gehört, wie aus der Anthologie von Pinthus besonders deutlich wird, zum Wesen der expressionistischen Dichtung, die Gemeinsamkeit des geistigen Schicksals in der Zeit festzuhalten. Aber ist nicht gerade diese Betonung der Gemeinsamkeit eine vollständige Täuschung? Persönlichkeiten entstehen nur durch Abtrennungen und durch eigene Seelenschicksale vor Gott und Welt. Das Gemeinsame der Zeitdichtung, die religiöse Spannung, ist heute zu allgemeinen Erfahrungen geworden; aber eine neue Form der Ebenbildlichkeit, ein Bau und Bild in der Zeit ist damit noch kaum oder sehr trümmerhaft entstanden.
Welches Geheimnis ist es doch um die Ebenbildlichkeit, daß sie sich nicht vor Gott verdichten kann ohne starke Dinglichkeit, ohne den göttlichen Odem nicht nur zu empfinden, sondern in Ding und Form der Zeit zu bannen. Es ist immer noch der idealistische Vernunftgedanke, der, das Ich zuerst setzend, den Weg zu Gott nicht als Empfang, sondern als Eigenwilligkeit bekennt. Wie in der Kriegsdichtung besonders sichtbar, hat dieses Wesentliche der expressionistischen Dichtung, der Aufbruch des Geistes zu Gott, keinen Halt gefunden. Die Dinge der Erde fliehen wie das Kriegsgrausen scharf, aber haltlos durch die Gedanken und die nirgends ankernden Rhythmen, die darum, oft nur Schrei, oft aber auch durch starke Atemlänge epische Schwere gewinnen wollen. Und doch ist ein weiteres Formelelement zum wirklichen Gewinn der neuen Dichtung geworden. Durchblickt man in der genannten Anthologie die Stoffe, nicht so, wie sie schlagwortartig Zeiterleben und Zeitwillen aussprechen, sondern als wirkliche Dinge der Erde, die zum Dichter gesprochen haben, so erkennt man hier und da ein neues, wirklich geisterlebteres Naturverhältnis. So will „der Baum“ als Bildgesicht Formsymbol und Seins- und Sinnesausdruck in jenem neuen Geiste werden, der nicht äußerlich typisch, sondern innerlich erfahren in jenes Seelenreich führt, wo der Baum der Erkenntnis und des Lebens wurzelt. In solch stilgemeinsamer Formfindung liegen, wie ähnlich bei der expressionistischen Malerei, die Ansätze zu einer wirklich höheren Kunstordnung, wie sie auch die christliche Kunst schon lange nicht mehr in sich wirksam fühlte. Hier wäre auch ein Gebiet, um eine christliche Kunstlehre neu zu befruchten.
Schließlich ist allerdings solche Formsymbolik und höhere oder niedere Ordnung nicht im Wert des einzelnen Werkes entscheidend; sie kündet vielleicht neue Zeiten, eine Zeitwende wie einst zum gotischen oder noch früher zum musivischen Stil, und kann unser neues Streben befruchten, wieder die kirchliche Fülle alter Zeiten auch kultürlich zu erlangen, wozu allerdings eine wieder ganz säkulare Weltabsicht, wenn nicht Weltmacht, der Kirche Mithilfe leisten müßte. Entscheidend aber ist der Ton der Wahrheit in der Dichtung, und daß er, wenn nicht größer, doch so rein sei wie in den Dichtungen etwa des flämischen Priesters Guido Gezelle. In ihm sprach Herz und Seele mit Gott aus Liebe zu den Dingen.
Man schreibt diesen Titel eines Referates nieder, um das neue Buch eines der heute bekanntesten Bildhauer Deutschlands, der aber auch schon mehrere dichterische Bücher geschrieben hat, zu charakterisieren. Dann liest man wieder den Titel des neuen Buches selber; er heißt „Ernst Barlach, ein selbsterzähltes Leben“. Nun kann einem Leser der Klang dieses letzteren Titels besonders ins Ohr fallen; man hört darin einen besinnlichen Takt der Worte und eine dichterische Stimmung. Man kommt schon in Klang und Wahl des Titels einer Wesensseite dieses Künstlers nahe.
Wer etwa schon eine kleine Reihe der Bücher von Barlach gelesen hat es sind da die Dramen „Die echten Sedemunds“, „Der tote Tag“, „Der arme Vetter“, „Die Sündflut“ — der findet auch vom Tonfall und von der Charakterart dieser Dichtungen die verwandten Züge in dem neuen Buche seiner selbstbiographischen Prosa. Es ist darin der Sprachklang des Plattdeutschen; Worte und Wendungen werden benützt und zeigen die Abstammung und einen harten gegenwärtigen, aber auch wieder einen patriarchalisch gerichteten Volksgeist. Eine harte und kantige, selbst eine derb skurrile Lebensempfindung mischt sich mit einem Sinn für Haus, Familie und Chronik. Das Harte und Hölzerne, das auch in Barlachs Plastiken ist, mischt sich wieder mit biblischen Stimmungen. Man versteht, daß im Anfang dieses selbsterzählten Lebens, wenn auch mit eigenwilligen und fragmentarischen Chronikworten, vom Großvater und von Pfarrhäusern die Rede ist. Aber noch ein weiteres kommt hinzu, das den Dichter und den Künstler Barlach bestimmt und verbindet und weder den einen noch den anderen zu einer fertigen Ruhe kommen läßt. Es ist das Gespensternde, etwas Unmäßiges oder Namenloses, das die Kinder hinter einer Wand erschreckt, das in dieser Lebenserzählung wiederholt geistert, das über den Holzblöcken Barlachs wie ein verhängter weiter Himmel schwebt und das auch als ein Unbekanntes hinter seinen Dichtungen steht.
Eine Stelle in dem Buche charakterisiert und symbolisiert, obgleich sie von etwas ganz anderem spricht, etwas von diesem Empfinden. Barlach ist in Paris; es ist Nacht und ein Elefant, ein Menagerietier, wird an ihm durch die leere Straße vorbeigeführt. „Da hob sich umgrenzte Verdichtung aus der über nichts seufzenden Späte, nahte und verschwamm zu meiner Linken, ein Ungetüm und Leisetreter, eine königlich gleitende Mächtigkeit auf demselben Steig mit mir, immer auf Sohlen der Leichtigkeit und Heiterkeit schleifend, schlürfend, schwebend. Gewalt — und doch dem Auge verhangen, dem Gefühl unoffenbart, das Ohr nur streichelnd und ihm entweichend.“ Und was will ihm dieser Nachteindruck noch bedeuten? Barlach meint, daß ihm so vielleicht der Eindruck Daumiers schemenhaft vorbeigestrichen sei, da er seine Kunst damals in Paris nicht mit Bewußtsein aufgenommen habe.
Das Buch geht nur bis zum Beginn des größeren künstlerischen Wirkens. Das letzte Kapitel heißt: „Ich finde freie Bahn“. Es sind die Jahre des Emporkommens in den Berliner Kunstkreisen, 1909 kommt dann der Künstleraufenthalt in der Villa Romana von Florenz, der Dichterkopf Däublers taucht herein. Die letzten Sätze beschäftigen sich mit der sterbenden Mutter in Güstrow. Die Familiengeschichte ist sonst mehr in Blickbildern der Erinnerung als in Zusammenhängen hereingenommen. Ernst Barlach ist am 2. Januar 1870 in einem Arzthause in Wedel in Holstein geboren. In die Knabenjahre mit den Brüdern, in mancherlei Unruhe und Ortswechsel drängt sich früh der Trieb zum Schreiben, dann der deutlichere und noch unruhigere zum zeichnerischen Fixieren. Gerade im Alltag, auf der Straße, im nahe sichtbaren und doch nicht greifbaren Leben setzt es an. Was diese Selbstbiographie eines Künstlers an Eigenart hat, ist nicht zuletzt dieses Bekanntwerden mit einem wesenlosen Drängen, bis sich mit dem Unterricht ein gebahnterer Weg in eine doch immer noch Ungewisse Zukunft findet. Die Praxis des Vaters bringt Lebensnähe, Unruhe und düstere Bilder des Augenblicks aus dem menschlichen Schicksal herein. Der Vater starb schon, als Barlach vierzehn Jahre erreicht hatte. Die künstlerische Richtung begann schülerhaft und stieß, wie Barlach sagt, „an die unterste Sprosse einer Leiter“. „Die schicksalhaft mir gehörige Zähigkeit, eine Art Fluch zum Wollen, dem ich untertan bin, im Verein mit der Länge der Jahre, nötigten mich unerbittlich auf zur zweiten, anderen und weiteren Sprosse.“
Für den Begriff der künstlerischen Form des Bildhauers Barlach ist noch besonders wichtig, was er über seinen Aufenthalt in Rußland, wo er 1905 mit seinem Bruder hinkam, sagt. Sein neuer Eindruck geht sofort in einen schönen Satz zusammen: sieh, das ist außen wie innen, das ist alles ohnemaßen wirklich. Und Barlach findet es dann überflüssig, sich gegen die Legende zu wenden, daß ihn Rußland zu seiner Art von Kunst erst fertig geprägt habe. „Rußland gab mir seine Gestalten, aber freilich und vermutlich bin ich nicht ohne Anteil an dem So-sein des endlichen Ausfalls, denn als ich zurückkehrte und die ersten beiden Bettler, diese Bettler, die mir Symbole für die menschliche Situation in ihrer Blöße zwischen Himmel und Erde waren, in Friedenau im alten Stübchen anlegte, drang der alte Zweifel zu: wird das nun auch endlich wirklich Plastik oder wieder Modellierarbeit? Restlich mußte doch nicht schlecht gekämpft werden und der Dumme mag glauben, daß die in Rußland gewonnene Form aus der reichen Hand beiläufig und trinkgeldmäßig in meine Arme gelegt sei.“
Es entspricht dem Sinne dieses Künstlerbuches, daß man es schön durch seine eigenen reflektierenden Worte charakterisieren kann. Der Text ist mit Zeichnungen durchsetzt. Ein großer Bilderteil orientiert, nach Jahren geordnet, über Barlachs bildhauerisches Werk. Das schön ausgestattete Buch ist bei Paul Cassirer in Berlin erschienen.
Das Bekanntwerden mit dem Schaffen eines Dichters kann sehr unsystematisch vor sich gehen. Albrecht Schaeffer ist ein nicht seltener Mitarbeiter in dieser Zeitung und vielleicht hat mancher wie ich nur eben in dem einen oder anderen dieser seiner Beiträge flüchtiger gelesen und dann und wann noch einen Blick in eines seiner früheren Bücher getan. Der Dichter ist ihm bisher wenig bekannt geblieben, obwohl sich schon ein stattlich angereihtes Werk mit seinen Titeln aufzählen läßt. Nun, nachdem Schaeffer unlängst einen eigentümlich schönen, vorösterlichen Aufsatz „Verwirklichung“ ebenfalls an dieser Stelle hatte, ist auch ein neues Bändchen „Gedichte“ von ihm erschienen; und wenn es einem in die Hände gerät, drängt es zur Beschäftigung.
Aus solcher bruchstückhafter Lektüre von Schaeffers Arbeiten hatte ich, wie man eben den Begriff oder das Gefühl von einem Menschen oder Werke zu bekommen pflegt, den Eindruck von etwas Bleichem. Nicht von etwas Bleichem im Sinne des trotz oft äußerer Buntheit Farblosen, wie es bei mittelmäßiger Dichtung ist, wo das Werk weder von Blut und Kreatur her farbig ist, noch auch in der geistigen Erglühung farbig werden kann; sondern von etwas Bleichem in einem weltanschaulichen Sinne, in welchem eben diese zwei letztgenannten Möglichkeiten der dichterischen und künstlerischen Farbigkeit stattfinden. Diese beiden Möglichkeiten des Kreaturfarbigen oder des im Gedankenlichte Angeglühten, wenn man zwischen ihnen eine solche scharfe Trennung machen will, wie sie zwar in Zeitgegensätzen, aber kaum heute im persönlichen Wesen stattfinden kann, sind die Gegensätze des „Gotischen“ und des „Antikischen“, oder was man für letzteres an geschichtlichen Zwischenstimmungen des ähnlich empfindenden Geistes einschieben will.
Wie also gesagt, erschien in Schaeffers schaffendem Wesen etwas Bleiches und zwar gerade in diesem letzteren Sinne mit der antikischen Erglühung, mit der Reflexion und mit der Sehnsucht, mit der ethischen Stärkung der Erfahrung und mit dem Willen zur Personifikation. Dieses Bleiche, wie es das Gefühl empfindet, läßt sich dann näher bestimmen, wenn man die Richtungen und Begriffe in Schaeffers Denken und Dichten näher zur Besinnung bringt, wenn man seine Liebe zur Antike und die Sehnsucht nach „Helena“ mit seinem dichterischen Wesen zusammenstellt und dann über das Persönliche hinaus die weltanschaulichen Unterschiede und den Logos des künstlerischen Verhaltens angeht. Jedoch, indem man das Bändchen der Gedichte vor sich hat, ist die stoffliche Spanne nicht so weit, dafür die persönliche Kernhaftigkeit um so stärker und die Erfahrung über das lyrische Wort und Wesen von heute wird bei der Lektüre auf eine selten schöne Art bereichert.
Ein handliches schönes Büchlein umfaßt diese Gedichte und das letzte Drittel bringt, nachdem zwei zyklische Teile vorausgegangen sind, eine Reihe loser Gedichte, welche noch über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren sich zurückerstrecken. Es hat wie bei Bildern so auch bei Gedichten Reiz, die Datierung zu ersehen, da sie seelisches Geschehen an Zahlen bindet und die Entstehung der Formen des lyrischen Sagens bis zu einem gewissen Grade in den Schritt der Erfahrung einstellt. Das Datum ist, könnte man sagen, der größte Gegensatz des Reimes; aber im Datum hat sich das Dokument eines freien Rhythmus festgelegt, innerhalb dessen der Dichter während Jahren durch sein eigenes Selbst gewandelt ist. Hier bei Schaeffer, wo Wandel in Erfahrung und Stehen in Besinnung oft geradezu takthaft deutlich wird und den Reim seelisch verortet, ist auch die Jahreszahl eine belebende Ergänzung, zudem daß man, wenn man Liebe zu dem Büchlein zu gewinnen beginnt, auch sonst das innere Menschliche und Zusammenhängliche durch die lyrischen Abteile hindurch erspürt.
Wenn man nun, wie ich mit dem Gefühl oder der Witterung für das Bleiche herzukommend, zuerst statt bei den Zyklen des Anfangs bei den später stehenden losen Gedichten zu lesen beginnt und auf das erste Gedicht mit früher Jahreszahl trifft, welches beginnt: „Bleich, o wie bleich, fahler Himmel ist dein Nacht-Bereich!“, so gerät man in jene Betroffenheit, mit welcher das eigene Gefühl sich eine Bestätigung gibt und doch zugleich die Forderung nach der Erkenntnis des fremderen Gesetzes erhebt. Es geht ein stilles Lauten durch dieses Gedicht, welches den Titel hat „Das Verlangen nach dem Monde“. Etwas, das zwischen Drohung und Tröstung steht, ist darin und sowohl mancher Zug des Inhaltes als diese Zwischenempfindung hat etwas von einem Holzschnitt, d. h. von einer graphischen Art des Sagens, welche doch durch die schwankende Schwere der Versanfänge wieder ins größer Schwebende gebracht wird. Wenn es dann wieder beginnt:
Vor, o tritt vor,
Seele Mond aus deinem Hüttentor!
Hoch die Ampel in der frommen Hand
Sanft erleuchte das erschrockne Land!,
so findet sich dieses Schwanken und Ruhen formhaft und inhaltlich zu gleicher Wort- und Gesichtswirkung zusammen. Nur daß die bildhafte Gesichtswirkung mit einer klassizistischen Neigung von stiller, räumlich sehr deutlicher Beschaulichkeit einen Vorzug erhält, der Holzschnitt gewissermaßen eigentlicheren Raum gewinnt und die Form des Sagens zu einer elegischen Ruhe hinschwingt.
Es ist ein gutes Gedicht, etwas balladisch weiterhin in seiner Aktivität und eine Reflexion, deren Männlichkeit diese Gedichtsammlung stark beherrscht, klingt mit Schlichtheit an. Wenn man aber Neigung hat, künstlerische Verhältnisse nicht so sehr als persönliche, sondern als weltanschauliche Geltungen zu betrachten, so macht man sich nochmals auf das Mondsinnige in diesem Nachtbereich aufmerksam, auf die eigentümliche Scheidungskraft dieser abscheinenden Himmelsscheibe für die Ruhe und Unruhe der Gedanken und auf das Luna-Silbrige, das hier mehr als die tätige Leuchte empfunden wird und nicht so sehr als ein stilles Gold an sich. Was damit für die Empfindung hier gesagt sein will? Zunächst im ganzen, daß der Lichtsinn kein stoffliches, sondern ebenfalls ein formendes Verhältnis zur Sageform des Menschlichen ist, genau wie bei Bildformen. Daß das Licht wie ein ergänzendes hinzutreten kann oder wie ein inneres bereitet ist; daß es wie ein Pol außerhalb liegt, oder daß es die ganze Inkarnation erfahren hat. Und für Schaeffer näherhin, daß er mit einem Lichtsinn reflektorisch kämpft, daß die Reflexion, die Aktivität für sie und das männliche Ertragen in ihrem Dienst mit charakterhafter Ausbildung diesen Dichtungen wesentlich ist, wie man dann weiterhin in den Worten für das Licht und für das heilige Feuer, in einer Neigung zu den ideellen götterhaften Personifikationen, in dem Bedürfnis auch für eine erzene Ruhe des Himmels es sich erläutern kann. Diese Art des Sagens, welche die Phantasie zu einer im Glanze erklingenden Außenschöpfung leidvoll spornt oder hymnisch beflügelt, geht dann aber auch leicht in den notwendigen Ursprung oder Urzwiespalt alles dichterischen Sagens über, wenn es allgemein werden will. Es wird dann zum Pathos gewendet, das heißt im ursprünglichen Sinne alles Vollkommenheitswillens zum Leiden, und es mündet damit in die schicksalhafte hölderlinische Elegie. Hölderlin spielt für Schaeffer als Vorklang keine geringe Rolle.
Bevor wir diesen Begriff des klassizistischen, übrigens mit romantischer Unruhe behafteten Sagens noch weiter verfolgen, wollen uns aber noch die Gedichte angelegen sein, die in verschiedener Wendung dem erstgenannten folgen. Das nächste Gedicht „Meeres-Abend“ erinnert an die norddeutsche Abstammung des in Oberbayern ansässigen Dichters; es hat ein eigentümliches Naturgefühl, in welchem sich der Abend an einer Verbildlichung durch die Schlange im Gras und den Windgott wie in Ermüdung verliert. Das folgende Gedicht „Marie“ hat das hölderlinische Bedürfnis der Melodie, aber gewendet in ein anderes Gefühl des Abschmelzens und Lallens im Schauen und im Worte. Dieses melodische Bedürfnis mit kurzen Verszeilen ganz in das bewegte lyrische Element hinübergesetzt, eignet dann überhaupt dem Zyklus „Die Marienlieder“, welche das mittlere Drittel des neuen Büchleins ausfüllen. Das zwischen innerem Empfinden und den Blicken in die Natur hin und her schlagende Gefühl, die kurzen Reime, in welchen dingliche Worte wie Kern- und Herzpunkte sich bemerklich machen, das Fassen und Lassen des Dinglichen, das sein besonderes Erleben etwa auch in den Gedichtstiteln „Keimgeister“ und „Keimmonat“ anzeigt, wird um das Weibliche, wie noch um eine weitere dichterische und religiöse Beherzung leicht geschart. Manchmal geschieht dies wie tändelnd und lustsinnig mit jenem Genuß am Lyrischen, welcher sagen will, um nichts zu sagen. Dabei kann gerade das Naturgefühl fast auch wie mit leisem Schrecken besonders nahe kommen, weiterhin das Lustsinnige mit dem Natursinnigen sich wie ein Zwiegespräch entfalten. Jedoch das Weibliche, das wie eine lyrische Belebung des Atems und ein dauerndes Gesicht ist:
Denn wie ich fahre die verschlungenen Bogen,
Die stillen Bogen-Tore stehn in dir
erfährt hier eine eigentliche Beglückung und lyrische Besinnung. Einige Gedichte scheinen in ihrem Tonfalle des Herzens auf ein Bekanntsein mit dem flämischen Priester-Dichter Guido Gezelle schließen zu lassen, von dessen Gedichten uns R. A. Schröder eine Reihe so schön eingedeutscht hat.
Unter den weiteren Einzelgedichten ist „Kairos“ das Gedicht, welches um das eigene Dasein des Schriftstellers oder Dichters geht. Das silberne und siderische Spiel der Ferne und die räumliche Nähe der Arbeitsbetrachtung, das Enge und das Offene sind bei diesem Berufe eigentümlich zusammengekittet; die spirituelle Vision wird hier und in anderen Gedichten stark. Aber auch die naturhafte Vision wird bald ruhevoll, bald auflohend gestaltet und hymnisch begeistert, so in „Stromabwärts“, „An den Hängen von V.“ u. a. Was aber eine eigentliche Stärke Schaeffers in seinen Gedichten ist und was mit dem Wort „Erlebnis“, wie man es früher gerne für Dichtung in einer weichlich gewordenen Art anwandte, am wenigsten sich deckt, das ist eine menschliche Innerlichkeit, welche sich wie eine Sicht für menschliches Wesen öffnet. In dem Gedicht „Stanzen für meinen Sohn“, der ein schlafendes Kind ist, steht die schöne Stelle: „und durch dich zieht die Stunde den weichen Schleier der Vergänglichkeit“. Und das Gedicht „Meiner Mutter“ endet damit, wie die eigene Seele zurück will „und ratlos die Falter-Schwinge um deinen kantigen Grabstein schlägt!“ So zwischen den Geheimnissen der Beobachtung und der reflexiven Bewegung betritt Schaeffer in diesen Gedichten am charakterisiertesten sein eigenes Bereich.
Damit kommen wir zu dem ersten Drittel des Büchleins, zu den größeren und schwereren Gedichten, die in eine Trilogie eingeteilt und zusammen die Saalborner Stanzen betitelt sind. Die einzelnen Teile dieser Trilogie sind benannt „Der Emmaus-Traum“, „Septemberblätter eines Tagebuchs“, und „Der Wanderer“. Der Wanderschritt und ein herbstliches Erntegefühl, in welchem dem Herzen ebenso gegeben wie genommen wird, sind darin wesentlich. Die Form der Stanzen selber ist wie eine in den Schritt des Sagens gebrachte Erfahrung. Das Bild- und Dinghafte kommt mit dem Endtakt des Reimes und der Flexion der Worte wie Beseelung herein, als ein hartes Plus vom Reime her, als eine kräftige Eigenschaft des Wanderhaften, nicht so sehr rhythmisch Freien, sondern sich in Reflexion Fortbefestigenden. Indem der stanzenhafte Gang wie eine notwendige Zeit fortdauert, öffnen sich die inneren Räume und Kammern der Worte und des Seelischen. Dieses lyrische Geschehen vollzieht sich in fester und kräftiger Natur des freien Landes, wo dem Gedanken gewissermaßen durch Aufschub infolge stärkender Beobachtung, durch Zerstreuung, durch einen Gegensatz eine Stärkung zukommt, ein Quidproquo, eine innere Dichtung durch Übernahme anderer trost- und schöpfungsgleicher Dingeindrücke. Jedoch ist in diesen Stanzen nicht die Natur als Grund und Echo die Hauptsache, sondern sie ist nur wie die Luft zwischen den Blicken, die nach innen gehen. Sie stärkt die Worte zu den Wegen innerer Erkenntnisse, sie verstärkt die innere Betroffenheit und die eigene seelische Befindung durch die Herkunft aus den Dingen; sie bildet die Schwelle für das Traumhafte, das dann in dem großen Gedicht des eigentlichen Emmaus-Traumes wie zu einem Gang und Hindurchwechsel durch innere Wahrheit wird. Der Sinn des Wechsels aber ist, daß die Seele, geteilt und wieder vereinigt, angehalten und wieder abgelöst, wie bei jedem großen Gang durch Bilder, in jene Erschütterung gerät, welche ihr eigen ist. Es ist persönliches Erleben und eine traumhafte Rechenschaft, und immer in bestimmte Folgerung fortgenötigt geht es in das Religiöse über, bis es zu der Szene des Brotbrechens am Tisch wird:
Er nahm das Brot und dankte, brach's in Händen
Und sah mich an. Da brach es allerenden!
Was das heutige lyrische Wort hauptsächlich von dem klassizistischen dichterischen Sagen trennt, das ist heute das Nichthaben der allgemeinen, in der Hypotheke des Ideellen stehenden Melodie. Die Lyrik ist dafür heute wörtlicher, worthafter, sie ist mehr Fraktur, gebrochen in dem Gang der persönlichen Aussage und mit den Dingen in und durch sich selber mehr distanziert. Sie ist nicht so sehr einheitlich für die Idee, sondern distanziert für das Innere. Sie ist in diesem Sinne ohne allgemeine Hypothese wahrhafter, je nachdem reflexiver, beschreibender, graphischer. Schaeffers Stanzen haben oft eine starke graphische Gewißheit der geistigen Erfahrung. Hier liegt dann aber auch der Anlaß zur „Waisenheit“, wie der Dichter in einer schönen Trilogie sagt, zum Ausgestreutsein in den Gedanken, zur Entlassenheit und Bleiche gegenüber dem göttlichen Spiegel. Hier gründet allerdings auch der starke Gemütston einer männlichen Treue des Sagens und Schreibens, den Schaeffer in seinen Stanzen und in seinem Emmaustraume in sich sammelte. Diese Treue ist auf das Menschliche oder seine Vollkommenheitssehnsucht herein und hinaus gewandt. Und dagegen nun könnte man in der Farbe der Dinge und in der lückenhaften Gelassenheit der Erde das Grundständige und das immer bildhaft Vorhandene stellen, wie es im mittelalterlichen Sinne war, wo der Mensch durch alles Außer- und Übermenschliche - so können wir es heute auffassen — realisiert war und nicht auf sich selber die Tendenz setzen und nicht sich zum Ziel und Werkzeug zugleich seines Sinnens nehmen konnte, und also auch nicht in diesem Zwiespalt bleich werden konnte und nicht die göttliche Personifikation wie eine eigene brauchte. Er brauchte, gleichnismäßig gesagt, auch nicht „Helena“ für ein Gefühl, welches konkretisierter und königlicher zugleich war.
Man wird sich bewußt bleiben, daß eine solche Trennung des lyrischen Sagens in zwei Möglichkeiten vielleicht allzu kühn ist oder jedenfalls noch ganz anderer Ergründung bedarf. Aber wenn heute für die bildende Kunst viel von Gotik und neuer Begreifung alter Bildsinnigkeiten gesprochen wurde, so kann auch für die Wortkunst eine solche Begreifung und Hinweisung versucht werden. Die Literaturgeschichte, als eine „Geschichte des Wortes“ und seiner Kreaturfähigkeit gegenüber den Abschwächungen in Bildung und Gedanken begriffen, würde von unserem Heute aus vielleicht eigentümliche Linien zu Spätgotik und Humanismus ziehen können, wozu auch der Kampf zwischen altsinniger und neusinniger Farbigkeit um die erbleichende Mitte des Wortgefühls zu verstehen ist. Das mag zwar alles sehr mystisch klingen, so lange es noch nicht als geschichtliche Erkenntnis realisiert ist. Aber solche Möglichkeiten zu bedenken, macht allein schon Freude. Und wenn man heutige Gedichte zum Anlaß solcher Bedenkungen nehmen kann — und Albrecht Schaeffer steht, mit Vorneigung zur Sehnsucht im Gedanklichen und auf diese Weise mit antikischem Geiste verhaftet, in diesen echten Phasen des heutigen lyrischen Wortes —, so spricht das schon genug für sie.
Kurz: ich wenigstens habe seit langem kein Buch in die Hand bekommen, das mich mehr angesprochen hätte als dieses Bändchen Gedichte.
Da liest man einen Satz von einer alten essenden und weinenden Magd. „Manche Menschen können so weinen; indem sie essen, weinen sie. Das sind die guten alten Volksseelen. Mit ihnen läßt sich noch reden und verhandeln.“ Das ist gesagt in der kleinen Geschichte „Das Telegramm“ mit dem feierlichen Nachtessen der alten Dame, die ihre Mahlzeit über der vernichteten Erwartung ihres alten Lebens hält. So sieht man schon, wie der Gesamttitel „Vom Brote der Stillen“ paßt, den Regina Ullmann ihren zwei schönen kleinen Bänden neuer Erzählungen gegeben hat. Und mit dem bitteren Tränensalze des Lebens paßt der Titel noch auf eine ganze weitere Reihe von ihren kleinen Prosa-Epen. Vor allem ist da noch die Erzählung „Von einem weinenden Kinde“; haltlos weint es die Nacht hindurch in dem kleinen Gebirgsbauernhause; und die Nacht ist durchrauscht vom Regen, der nur unterbrochen wird vom starken Winde und manchmal vom rauschenden Brunnen. Oder es weint das Lisabethli in der wie von Gottfried Keller betitelten Geschichte „Modewarengeschäft der Frau Laura Nägeli“, welche eine schweizerische Geschichte vom Heimweh ist. Oder die arme Frau weint in der Erzählung „Die Waage“ vor dem gerechten Krämer mit der unerbittlichen Rechtlichkeit, den, als einmal die Waage seines Sinnes schwankend wird, der Tod anrührt, furchtbar, „als würde er mit einem Ellenmaß gemessen und wüchse dabei immer noch“. Auch die Geschichte „Der verlorene Kreuzer“, in ihrer innerlichen Aufgeräumtheit eine der schlichtesten und schönsten, ist eine Geschichte wie von einer über einen Tag und eine Nacht ziehenden und alles aus seiner hellen Welt umstürzenden Tränenwolke. So ist dieses „Brot der Stillen“.
Und doch ist es gar nicht so. Denn bei Regina Ullmann ist auch ein Lebensvertrauen sozusagen wie eine unverbrüchliche Uhr; paradox gesagt, ein untröstliches Lebensvertrauen, das noch aus dem Untroste den Trost der Sicherheit und Richtigkeit findet. Und auch das ist noch nicht alles. Denn wie oft liegt auf diesen Erzählungen etwas von dem Golde, von dem sie sagt: „Ein Hahn krähte und das Gold lag auf dem Schrei“. Oder wenn ihr eine Gestalt wie ein geschwisterlicher Baum wird, der „geradezu zu prangen schien“.
Regina Ullmann ist eine Erzählerin, die einen Begriff von seltener Stilechtheit der Erzählung verkörpert. Ihre Bilder, wie Bild an Bild fortgeschrieben und im Gewebe feiner Reflexion unrückbar gehalten, sind gewissermaßen wandlos; sie beginnen wohl und hören auf und sind doch wie ohne Absicht ausgeschnitten. Darin haben sie besondere Ähnlichkeit mit moderner Bildkunst. Selber sind sie dann wieder wie starke Holzschnitte alter Art und mit Farben aufs richtigste koloriert. Sie haben die eigenste Richtigkeit der Erzählung, welche zum Schicksal eilen muß; aber dabei halten sie, gerade um den Leser zu spornen, ihn mit vielen Bildern zurück. Sie haben keine Eile und sind doch in der Unentrinnbarkeit alles Müssens. Dies ist aber bei ihnen am allerwenigsten ein stilistischer Effekt; es ist ein Stilgewissen wie eine Weltanschauung. Und was besonders wesentlich ist, das Innere der Erzählung und des Lebens selber ist wie zwischen Bildern und besprechenden Worten in einer Lücke still und noch weiter erhorchbar offen gelassen. Es wird gewissermaßen „besprochen“ oder beschwichtigt wie mit vorbeugenden Worten und Formeln; aber das vorgezeichnete Bild geht in seiner Richtigkeit weiter und das Leben findet seines Lebens Schicksal. Schwärmender gehen die Worte dann mit; aber sie sammeln sich auch wieder am liebsten bei alten, gebrauchten und geheiligten Dingen als eine stärkende alte Substanz. Dann ist es, als ob diese Erzählerin, wie man sagen könnte, zu einer alten Sakristei des einfachen Lebens hinwollte. Man könnte diesen Erzählungen auch einen solchen Titel geben.
Alsbald, wenn man Rudolf Alexander Schröders, des bremischen Dichters, Prosabuch „Der Wanderer und die Heimat“ zu lesen beginnt, ist man in den Bildern einer traumhaften Stimmung. Landschaft wechselt klar mit Landschaft und ist doch wieder schwankend und wie Sicht durch Sicht gezogen, als ob das Sichtbare und im wachen Leben Gesehene erst durch ein erinnerungsmäßiges Vertrauen fest und beständig werden dürfe. Der Traum ist gleich einem solchen Vertrauen zwischen den Dingen; und wie durch ein größeres Wachen erhält sich durch ihn eine stillere Wirklichkeit in einem Wechsel von unwirklicher Erwanderung.
Dies ist der sinnhafte Grundgang in diesem Heimatbuche, der nur leise von Reflexionen begleitet ist; gewissermaßen von der Vorsicht einer nur traumhaften Reflexion, welche allem Lauten ausweicht und auch die bekannten Menschen mehr verliert als findet, um dafür die sichtbaren Orte, das Haus, den Garten, die Stadt und das Heimatland in eine unstörbare Sicht hineinzugewinnen. Diese Sicht wird dann manchmal so deutlich wie eine besondere Art von Innigkeit. Das ist die Haltung von Schröders Buch, das leise ist, aber am Schluß zu einer schönen und großen dichterischen Vision sich öffnet. Und, charakteristischerweise, wo es lauter oder wie durch Vergessen des Traumes wirklicher wird, da verläßt es den persönlichen Zug der Zurückhaltung und wird ein großer, landschaftlicher Spiegel der Heimat an der Weser. Da ist es ein deutsches Bekenntnisbuch, abgemessen seinem Raume nach durch eine innere Ordnung von gefügten Bildern eines bürgerlichen Lebensraumes, aber ausgreifend in die Ordnung einer großen und am unbegrenzten Meere angrenzenden Landschaft und über sich schweifend mit dichterischer Gipfelung ins Ungrenzbare. Am Schluß steht aber, noch mehr als am Anfang, die Gestalt der Mutter, und die Augen lösen sich aus den inneren Bewegungen des Traumes mit dem Wasser der Tränen.
Der Wandersinn aber hat hier, wenn er nach der Heimat und dem deutschen Lande greift, bei dem bremischen Dichter Schröder, der zugleich als praktischer Künstler in der neueren Raumkunst und kunstgewerblichen Bewegung tätig beteiligt ist, noch eine eigentümliche weitere Begründung. Es entsteht etwas von einem Gegensatze dabei zu der bereinigten Häuslichkeit, der Seßhaftigkeit und dem bürgerlichen Austrage des Lebens und der gefestigten Grenzen zwischen Stadt und Land; Grenzen und Formen, die zugleich noch in der Mitte stehen zwischen einer älteren bürgerlichen Zeit und einer ungewisser an das Land sich anschließenden, im ungefesselteren Traume weiter harrenden Gegenwart. So bezeichnet der Typus dieses Dichters zugleich eine bestimmte, bürgerlich-geistige Erscheinung der Zeit und ist ein Beispiel, wie die dichterische Richtigkeit nicht nur aus dem persönlichen Wesen, sondern auch aus dem zeitsinnigen Zustande herkommt. Dichterisch ist hier ein zugleich sammelndes und verlassendes Wegschweben der geistigen Bewußtheit von der erworbenen Besitzrichtigkeit, welche ihre wohlbestellten Grenzen gemacht hat und welche hier etwa besonders in der Schilderung der Einrichtungsart der älteren Generation als Neigung mitspricht. Dies geschieht wohl nicht sehr absichtlich, aber es zeigt sich daraus, wenn man so sagen darf, ein ökonomisches Gemüt, welches sich in einem zunächst ähnlich gesinnten Geiste widerspiegelt und reinlich geordnet findet. Dann geht dies aber in ein traumhaftes Bedürfnis nach einer vertrauenden Ziellosigkeit fort, durchaus mehr in einem inneren als einem äußeren Traumsinn, der also auch in jedem Dasein noch mehr die innere Klarheit liebt und doch mit Beschleunigung zu anderem Sehen forttrachtet, je mehr die Nähe ihm als wohnlich gelebte Einrichtung und sinnige Ausrüstung lieb ist. Man wird das Buch gerade auch in dieser Weise zu lesen haben und dabei die Spanne fühlen, wie die Exaktheit der täglichen und kindlich älteren Dinge der Erinnerungen sich in ein größeres Wesen umsetzt. Das überwanderte Land der Kindheit und Heimat verliert sich aus dem nahen Blicke und wird innere Bewegung. Dazwischen aber, innerhalb der Spanne von den heimatlichen Stammplätzen und dem ungewisseren Horizont, ist die weitere dichterische Lebensarbeit des Schilderers verschwiegen. Er spricht nicht davon, weil das kleine Buch keine Rechenschaft ist über Ich und Heimat, sondern ein Aufheben der kleineren und größeren Heimat in den inneren Spiegel und dadurch ein Lösen des inneren Selbst noch ins Höhere.
Am wirklichsten wird dieser an sich selbst gegebene Bericht, wenn er, von der dinglich nahen Verständigung zwischen Gemüt und bewußterem Willen hinweggewandt, das Land an der Weser mit klarer Liebe erblickt, und wenn er - eigentümlich paßt dies zu dem Buche — von den ungewisseren Straßen der Menschen, seiner Lebensbegleiter und des verwirrteren Landes hinweg an jener glänzenden Wasserstraße Blick und Fahrt bestimmter beginnen läßt. Hier empfängt auch der Leser über den inneren, mehr horchenden Mitgang hinaus am meisten Anschauung. Hier hat auch der Dichter Schröder zwar nicht den Traum, aber doch die monologische und private Art des von Stück zu Stück geleiteten Fortträumens abgebrochen mit jener Art eines plötzlich durch Absicht wacheren Auges, welches man auch im Traume haben kann.
Der Dichter besinnt sich, daß er diesem Strome eine „Unbill“ wiedergutzumachen schuldig ist, „die Schiller unter allen von ihm besungenen Strömen gerade diesem Strome zugefügt“. Es ist unter den Flußepigrammen Schillers jenes, in welchem er die Weser selber bescheiden sagen läßt:
„Leider von mir ist gar nichts zu sagen; auch zu dem kleinsten
Epigramme, bedenkt, geb' ich der Muse nicht Stoff.“
Und Schröders Liebe spricht nun von dem Strome, der in seiner Heimatlandschaft ist, in der flachen Weite, die sich gewissermaßen für den Sinn eines Süddeutschen nicht zu- und nicht aufschließen kann. „Aber wenn eine Landschaft einmal überhaupt ihr Auge aufschlägt, was kann ihr dann Besseres zuteil werden als der möglichst weite, der möglichst unbehinderte Anblick des Himmels.“ Das Gesicht hebt sich zu einem perlmutternen weiten Himmelsrund und senkt sich wieder in die runde und ruhende, feierliche Ländlichkeit und bleibt im Gedanken an das Wasser gefangen, „die Unendlichkeit über ihm und unter ihm der eine, ewige, unwandelbare Himmel, wiedergeboren aus seiner eigenen Tiefe durch das Wunder der Spiegelung“. Auch an Goethe wird hier von Schröder, der so gern ein Verwalter klassischer Werte und Sinne ist, gedacht, und an das Wasser als eine geballte Schwebung und ein Gleichnis des Sinnes. Aber dann ist es wieder die nähere Heimat, eine besonnene Freude an der verbrüderten Naturgewalt des Meeres mit den hier in diesen Ländern Beheimateten, und es ist nicht zum wenigsten, was zu dieser dichterischen Gesinnung gehört, das deutsche Gefühl. Ein Eichenkranz, in die Fluten seines Stromes geworfen, will diesem Gefühle zur notwendigen dichterischen Handlung werden. Aber nicht, daß solche Gefühle nun überschwenglicher würden in den Worten statt in den Dingen; denn „der Wanderer war ein Sohn seiner Heimat und wußte dementsprechend an sich zu halten“.
Stilistisch ist das Buch wie ein Schulbeispiel in der Mischung der psychologisch allgemeineren und der dichterisch verfeinerten Traumelemente. Dichterisch wirkt besonders die Art, wie man jenen Selbsterhaltungstrieb des Traumes gerne mitspüren mag, jenes Dingliche, an das die schillernde Seifenblase des Träumers nicht anstoßen will und das dadurch um so deutlicher wird, jener Wechsel von Eingrenzung und Unbestimmtheit, jenes Ausweichen vor einem Redestehen. Tiefer wird es dann in jenem inneren, eine Abschneidung fürchtenden Trieb, welcher zurücksucht zu Jugend und Heimat, und die ganze geschäftige Art schließlich einer inneren Unruhe und auch Umständlichkeit der Absichten ohne Absicht, als nur um in Bewegung zu bleiben und mehr noch ein Suchender zu sein als ein Findender. Und dies geschieht nun in der sorgfältigen dichterisch-technischen Ausübung, welche Schröder auszeichnet. In dieser Sorgfältigkeit ersieht man besonders die Fluß- und Weidebilder, welche einen stillen Glanz haben; und sorgfältig, aber unverfremdbar geht der Appell des Traumes weiter, mehr an Bilder als an Gedanken, mit dem Nachtwind, der ohne Spur über die Ähren fortgeht und worin Bäume und Gestalten wie spurlos vorhanden bleiben und nachleuchten. Und dann wird die dichterische Vision aufgetan, in welcher vier Männer stehen mit einem begonnenen Gewebe, „Erzengeln gleich vor dem Beginn einer neuen Schöpfung“.
Warum — da doch über das persönlich und einfach deutsch Inhaltliche hinaus ein solches Buch nicht als eine komplexive Sache zu bezeichnen ist, sondern als eine dichterische Begnügung im eigenen feinen Sinne — warum sucht man es doch zugleich gerne auch als den Gradmesser einer bestimmten gegenwärtigen Substanz? Nämlich diese Frage nach der dichterischen und geistigen Substanz muß heute besonders gestellt werden, wo der bürgerliche Geist weitum seine Kräfte verloren hat und seine literarischen Äußerungen um so mehr noch verschönlicht, je mehr er sie in ein bloßes Ramschgeschäft hinübergesetzt hat. Auf das echte, bürgerlich abgestammte und geistig angewandte Dasein gesehen — auch ohne die weitere weltanschauliche Komplizierung —, verkörpert sich in einem Schriftsteller und Dichter wie Schröder ein substanzieller Bürgergeist. Ein geistig pfleglicher Werkbegriff hat sich mit den Idealismen der klassischen Tradition bei ihm verbunden. Das ist eine noch bestimmte geistig-bürgerliche Erscheinung in diesen Tagen der charakterlichen Unkenntlichkeiten und eine Heimat oder Stadt, die eine solche abgemessene Erscheinung noch in sich hat, darf man dazu beglückwünschen. Es bewahrt sich damit noch ein Maßstab guter Werte. Und in dieser Hinsicht darf man auch noch besonders von diesem kleinen dichterischen Heimatbuche Schröders sagen: Es hat nichts Mißbrauchtes.
Nichts als dieser Name „Görres“ steht unter dem Titel des machtvollen politischen Traktates „Europa und die Revolution“, den Görres im Jahre 1821 auf der Höhe seines männlichen Lebens wie einen Block und Denkstein in die Bewegung der Zeit hineingesetzt hat. Ohne Vornamen und ohne einen eigenen Titel spricht das Geschlecht wie ein Ruf des Individuums, und in dieser entfesselten, nur durch sich selbst gebundenen Gestalt steht der bürgerliche Mensch in Görres auf dem Boden des neuen Zeitalters. Es rang eine ungeheure Klarheit über chaotischer Erde, der menschliche Gedanke und seine Gestalt wurde im Abfall überlieferter Gewalten heller und in seine einzelnen Schranken gefaßt, im Kampf um das leib- und geisteigene Recht; und doch ist der Weg des Görres, besonders an diesem genannten politischen Punkte, aber auch in jedem anderen Denkmal seiner hämmernden Sprache, mit der er seinen lebendigen Hindurchgang durch das deutsche geistige und nationale Schicksal manchmal fast (oder wirklich) von Jahr zu Jahr bezeichnete, aufgehalten wie von einem Steine, der in ihm selber war, aufgetürmt wie in einer Versteinerung; und was er lösend aussprach, blieb als Monument von düsterer Drohung liegen auf dem Wege des neuen deutschen Menschen, wie Sphinxe mit den Rätseln des Daseins in ihrer Brust, von denen er in seiner späten „Christlichen Mystik“ bei Gelegenheit des ägyptischen Einsiedlerlebens spricht. Oder — da das Religiöse in ihm immer mächtiger und gewitternder wurde — mit dem Charakter seiner Prophetie wie ein verhülltes Haupt über seiner Heimat, in welches hinein alle Geschichte nur als die „Fortsetzung jener Seelenwanderung in der Natur“ sich vollzog, durch die ein Geschehen in stetem Wechsel von Ausgang aus dem Zentrum und Rückgang in dasselbe sich bewegt; auch zu dieser Bezeichnung der Natur des Görres sind eigene Ausdrücke von ihm verwendet, die er prägt, als sein Geist über dem Geheimnisse des alten Nillandes brütend ruht. Die beste und weiteste Anschauung seines handelnden Denkens kann man aber in seinem anderen, ebenfalls von seinem Erleben hergegebenen Ausdrucke finden, in der Kraft einer bloßen Zweiteilung des moralischen Odems, in einem Einatmen, mit dem er alle Dinge in ihren Sinn zurücknahm, und in einem Ausatmen, mit dem er Dingliches und Menschliches in die Geschichte fortschickte. Görres schreibt den Stil des atmenden Wortes, nicht nur des naturhaft atmenden, in dem wir heute wieder lyrischen Rhythmus finden, sondern des im gebrochenen Rhythmus der geschichtlichen Anhalte verdoppelt strömenden Satzes und Gegensatzes, durch den der bürgerliche Mensch seines Daseins bewußt wurde.
In die siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts fällt eine beträchtliche Zahl von den Geburtsjahren der romantischen Geister, und diese Ereignung läßt, ganz im romantischen Glauben an eine gefügte Zeitordnung, nachdenken über den Wechsel, in dem Generationen gesät werden, und über die Bedeutung, die diesem Wechsel und Eintritt von formhaft menschlichen Ab- und Einschließungen gegenüber der humanistischen Zentralidee vom einheitlichen Geiste zukommt. Denn kaum scheint der Kreis einer vernünftigen Ökonomie menschheitlichen Bewußtseins geschlossen, so erhebt sich aus einer Dekade eine Phalanx von Kämpfern, die sich in Bewegung setzen und ihn in der Quere durchschneiden, indem sie ihre Tribute nicht an das Geistige, sondern in die Waage der Geschichte leisten wollen, die sie aus der Vergangenheit ohne Aufenthalt an einem utopischen Mittelpunkt in die Zukunft zu tragen bereit sind. Sie setzen sich gegen jede abschließende Reflexion von bloßem geistigen Besitz in Bewegung, und auch wenn sie wie Görres aus dem revolutionären Zustand in den Willen zur Beharrung übergehen, bleiben sie unfügsam gegenüber einem restlos purifizierten Begriffe. Sie haben für sich den Begriff einer Kreatur der Geschichte gewählt und sich mit dem Element einer Bestimmung verbunden, das ritterlich ist oder dichterisch, und durch das sie eine Rüstung haben oder eine naturhafte Verdingung; sie sind dadurch gegen die Aufzehrung und Entkernung im Geiste gefeit wie jegliches Stück des einmal Gewesenen oder der Natur, das jedes, auch sein eigentliches Leben in einem geschaffen ruhenden Geheimnis außer dem Geiste hat. Solche Menschen geben ihrem Charakter nicht den typischen Inhalt eines durch Allgemeinkonsens gebilligten Menschheitsextraktes, sondern sie gestalten ihn durch den Rhythmus eines von seinem Ursprung und durch Vertrauen in seine rechtfertigende Folge bedingten Weges.
Man muß den Stil Görres mit diesem Hinblick auf den Rhythmus eines menschlich gedanklichen Weges lesen, den er in sich selber kämpfend mit seinen Schritten und einholend die Schritte der Zeitgenossen, ausgreifend nach den Knotenpunkten der ganzen Menschheit beschreitet. Es ist der Stil des in aller Wiederkehr einmalig Vorhandenen, im Kreis der Schöpfung neu Geschaffenen durch Zufall, dem es ausgeliefert wird; das große Gesetz, das nicht ein Wissen des Gedanklichen, sondern ein Recht des Zufallenden will. Man müßte einmal Stilformen wie die des Görres mit ihrer rein innerlichen Brechung und Bindung der Töne und Worte vergleichen mit den Inhalten, mit denen sie sich kämpfend vermählen; man würde vielleicht finden, daß vor allem der Kampf um ein Recht, nicht um die Idee des Rechts, sondern um die Einmaligkeit des rechthabenden und rechtfertigenden Daseins zu diesen Inhalten gehört, das Recht, das einem gläubig errungenen Zufall oder dem geschichtlichen Ordale wie einem ritterlichen Turnier unterworfen wird. Man würde mit diesen Gedanken bald auf Luther kommen und auf die schwerwiegende Bedeutung, die sein Kampf um Rechtfertigung für die schicksalhafte Prägung auch einer Sprache als Daseinsmittel eines Volkes gehabt hat. Man könnte an den stärksten dichtenden Romantiker Heinrich von Kleist denken und an die stilistische Fassung seines „Michael Kohlhaas“. Vielleicht ließe sich der Gedanke fruchtbar machen als Rhythmus von Sprachverhältnissen, wie man in der Kunstgeschichte die Rhythmik von Raumverhältnissen betrachtet. Bei Kleist kommt der höhere Glanz seiner Dramen hinzu, der das Gehackte und Schlackige des Rechtskampfes flammend erhebt und das Gesetz der Worte in eine metallene Aureole bringt; bei Görres weht der Sturm der Geschichte über dem dröhnenden Wurf der Worte, der Geschichte, die in ihrer reinen Höhe einen ewigen und gleichen Ton darüber hinziehen läßt.
Aber der erste Anlaß bleibt, der dem Stil seine nur im lauten Hingang des Wortes erklärende Form gibt. Es ist ein Stil, der die Elemente schichtend umwirft, die von der Zeit und Erfahrung an den Weg gebracht werden, der in nichts die schöne Zäsur der neutralen klassizistischen Geistwaltung im logischen Abklang der Worte zu empfinden scheint, bei dem sich nicht die schöne Empfindung über den schönen Gedanken legt; sondern der die geistige Mittlerschaft in eigener Verantwortung brechend, rollend und widerrollend, Zeiten und Menschen wie Pflanzen und Tiere, Erde, Steine und kreatürliche Kräfte in unmittelbare Berührung zusammenbringt; kurz der, um das Chaos zu lichten, es erst heranschafft und dem Gefühl der Kreatur ihr Geschehen vorausschickt. Es ist dies das große Gesetz, eine Kraft dadurch zu klären, daß man sie verdichtet, ein Element zu überwinden, indem man es elementar gegen die schöne Oberfläche herausholt und zu einem Sinne willig macht wie eine Skulptur, einen Weg in die Zeit zu werfen, indem man ihn in die Erde tritt, das Unebene noch unebener zu machen, die Kanten zu stärken, jedes dingliche und menschliche und zeitliche Wesen durch seine Silhouette zu schärfen und zu bedrängen, es dadurch in seine Organik und noch weiter zu zwingen, bis das Hintergründige der Welt zwischen den gespannten und gebrochenen Umrissen hervorscheint und die Farben frei zu quellen beginnen; den Bau gegen alle materialen Gesetze wie in seinen ganz und überall durchbrochenen Zufall zu schichten und in diesem letzten körperlichen Anhalt den funktionellen Dienst zu erfinden, welchen durchstrahlend die Lichtlinien verklären und in dem die Stücke des korrespondierenden Himmels alles durchwalten; es ist das große Gesetz der Gotik. In dem Stile des Görres wird es auf ähnliche Weise deutlich wie bei seinem romantischen Geistgenossen Friedrich Schlegel. Es wird noch deutlicher als bei dem letzteren, weil Görres, der in der Natur schwerer oder wenigstens leibhaftiger Bedachte und naturwissenschaftlich stärker Beanlagte, als ein Chemiker und Physiker auch die Naturhälfte oder die politische Tatsachenhälfte der gotischen Kreatur noch deutlicher in sich trug und mit geistiger Alchymie operierte, während Schlegel mehr in der Anschauung ruhend blieb.
Das Auge verweilt gern auf einer Summe von Tatsachen, wenn man zwischen ihnen ein geheimes Ereignen ahnt; und also auch auf der Dekade der siebziger Jahre. Rings um das Geburtsjahr des Görres sind Romantiker geboren: 1770 Hölderlin, dessen Geist unbehaust verwaiste, 1772 Novalis, 1772 auch Fr. Schlegel, in dem Programm und Erfahrung ähnlich dem Görres ihren Wechsel woben, 1773 Wackenroder und Tieck, 1775 Schelling, 1776 der Maler der romantischen Natur Runge, 1777 Kleist, der die Rüstung ablegte wie ein zum Opfer bestimmter Achill, 1778 Brentano; und Görres ist 1776 geboren. Das Leben des Görres, dauernd bis 1848, erstreckt sich über die Zeitspanne, mit der man die Dauer der deutschen Romantik zu bezeichnen pflegt, die in den Beginn ihres Bewußtseins das Datum der französischen Revolution bekam und der zu ihrem Ende trotz weiter reichender romantischer Gesinnungsträger das Jahr der deutschen Revolution 1848 gesetzt wird. Zum Problem der Romantik gehört die Farbe, das Erleben innerer Bedingtheiten und ihrer freien Folgen, die sich für die Bevorzugung aller geschichtlichen und zeithaften Wesenheiten gegenüber der räumlich plastischen, klassizistischen Anschauungsweise ergeben. Damit ist auch ihre Stellung in dem neu erwachenden bürgerlichen Problem angewiesen, wo sie im Individuellen und durch die Geschichte Bestimmten die ihr entsprechende Wahrheit findet. Indem sich die Romantik gegen den plastischen Begriff auswirkte, war ihr das Wesen der mittelalterlichen Skulptur noch nicht nahe gerückt. Dem Görres aber, der unter den Romantikern nicht dichterisch tätig war, möchte man in seiner geistigen und sprachlichen Form das skulpturale Wesen zusprechen, mit dem der romantisch bürgerliche Mensch die Spannungen und Furchungen seines Daseins empfand. Geistiges und körperhaftes, Geschichte und Natur waren wie Materialien, die von dem Marke des Menschen dieser Art abgestoßen, eingesogen und verwandelt wurden. So schuf er an der Zeit, sie verwandelnd in sein eigenes Element. Görres war der deutsche Mensch, der sich von dem Suchen des gesellschaftlichen Symbols durch die äußere Revolution zu dem inneren Akte der Transsubstantiation in einer religiösen Analogie durchrang. Das heißt: hiermit war dle Revolution aufgehoben und in das Herz des einzelnen verlegt. Freilich es blieb das Tragische des deutschen und des zum Letzten entschlossenen Menschen in ihm: „Lebend in der Zukunft oder der Vergangenheit, darum nie in der Gegenwart heimisch.“
Sinn und Geist scheinen sich heute mit und in den äußeren Dingen fortzubewegen wie vor einem Spiegel von unbekannten Formen, in welchem eine fordernde Prädestination wohnt, deren Kraft wirksam scheint vor jeder Deutung. Man bewegt sich darauf zu mit einer „fixen Idee“ und harrt auf Erfüllungen. Sinnlose Zeichen und dazwischen irrend das menschliche Gesicht, das scheint mit einer immanenten Notwendigkeit das geistige Formbild der Gegenwart vor der spiegelnden Forderung einer Zukunft, welche zugleich wie Blendung und Tilgung ist. Die Zukunft ist dabei ein aus der Gegenwart zunehmendes Gleichnis, welches das Ich und sein Angesicht zugleich löscht und gestaltet. Denken-wollen und Erfahren-müssen begegnen sich in diesem blinden und bewußten Geschehen, worin die dritte Funktion eines logischen Apriorismus ausgeschaltet wird, welche als eine allgemeine Sicherung am Anfang stehen wollte. Ein unmittelbarer verschränktes und heute jedoch durchaus nicht im engeren christlichen Verstande angerufenes „verbum caro“ ist darüber hinweggeschritten und die denkenden Empfindungen liegen nicht mehr für den glücklich Beliebenden am Anfang, sondern sie bannen und beeilen den instinktiv Fortwollenden auf ein Ende. Es ist nicht eine Zeit des Raumes, sondern eine Zeit der Zeit, und es geschieht darin eine rastlose Flucht aus sich, die zugleich in sich geht. Es geschieht darin der Kampf des „Einzelnen“, nicht um seinen Typus und dessen Verglichenheit, sondern um seine „Zahl“, nicht um ein Ebenbild, sondern um seine Ereignung und um sein verwandelbares Innbild.
Worte, wie sie hier gebraucht sind, um von dem geistigen Zustand der Gegenwart zu reden, findet man bei Rudolf Kassner. Man findet sie mit vielen anderen Begriffen in diesem Sinne, Begriffen aber, die alle mehr ein Moment und sein Umschlag, ein Halt und seine Bewegung, ein Bewußtes und seine aus anderem Bewußtsein getrennte Umkehr, paradox und bildhaft zugleich ein kommender Abgrund und seine Einzelung sind; die also mehr einzel- und zeithafte Aktionen sind als raumhafte Bestände; Begriffe, die nicht rationale Beschlußkräfte sind. Man teilt sie nicht mit, sondern sie erkennen sich in der Verwandtschaft der Imaginationen, welche die Kunst und die Dichtung erzeugen. Diese Imaginationen sind in der Zeit und gerade heute immer einzelner geworden, zugleich menschenloser und menschhafter. Und so versteht man, daß eine Gleichung eintritt zwischen dem inneren Kern oder Abgrund, der wie eine eigene Zahl ist, und dem äußeren Gesicht.
Man versteht den Begriff „Physiognomik“, der Kassners Schaffen beherrscht, und welcher keine Wissenschaft sein will, aber zu einem Mittelpunkt und Blickpunkt wird. Physiognomik ist das aufgelöste Gleichnis und die Bewußtseinsstellung eines neuen Zeitalters, in welchem sich das Werk immer mehr mit dem „Ich“ identifiziert hat als mit einer jenseitigen Konfrontation; und vor allem: in welchem das Ich immer mehr zum eigenen Teil geworden ist als zum humanistischen Anteil. Und nun mit einem großen Sprunge: in welchem das Ich immer mehr die fortgetragene „Sohnschaft“ in sich erfährt als die ursprüngliche „Vaterschaft“. Hier mündet Rudolf Kassner, selbst auf dem Umwege über den Begriff des „Narziß“, auf dieser literarischen Fährte in die religiöse Grundspur der europäisch-christlichen Geschichte und gerade unseres Zeitalters. Und so darf er sagen: „Unser Zeitalter gehört dem Skeptiker noch weniger als dem großen Gläubigen. Wenn wir den Physiognomiker also irgendwo placieren müssen, so ist er auf dem Wege vom Skeptiker zum Gläubigen zu suchen; er ist der Mystiker der ganzen geschaffenen Welt.“
Darin, in dieser kosmischen Zerteilung durch den eigenen Weg, in dieser theologielosen Theologie ist zugleich Spannung und ein grenzenloses Zentrum. Es ist der Halt und die Haltlosigkeit des durch die Geschichte fließenden Dramas, eines Dramas zwischen „Glück“ (als Zugehörigkeit) und „Zahl“. In welchem Sinne das Wort Goethes herangeholt ist: „Auf Glück kommt es nicht an, es handelt sich nur um das Dasein und die wahre Beschaffenheit der Dinge.“ Und hiervon nimmt dann Kassner wieder den Weg zu seiner überscharfen Prägung: „Einem einzigen Wesen ist es gelungen oder sollte es gelingen, ein einziges Wesen war dazu ausersehen, nicht nur das Glück, sondern auch die Zahl zu tilgen: der Gottmensch. Man muß sogar sagen, daß dies, wenn wir alles erwägen, dessen tiefster Sinn sei: die Tilgung der Zahl.“ Diese Schlingung des „Knotens der Antinomien von Sein und Denken“ in sich selber, diese Wandlung durch Imagination ist unser heutiges Schicksal und eine „eminent deutsche Geistesbetätigung“.
Nach dem letzten kleinen Buche von Rudolf Kassner, welches den Titel hatte „Narziß oder Mythos der Einbildungskraft“ und in welchem neben dem Titelessay besonders der kleine Beitrag „Erinnerungen an Rainer Maria Rilke wegen seiner eigentümlich in die heutige dichterische Leere hineinblitztenden denkerischen Bedeutung Nennung verlangt, ist jetzt ein neues größeres Werk „Das physiognomische Weltbild“ von ihm erschienen. Zur Lektüre von Kassners Büchern gehört eine ungewöhnliche dichterische und künstlerische Erfahrung. Man wird heute kaum etwas Ähnliches finden, was in so enge Fühlung zu treten versteht mit den künstlerischen Wesensmomenten, an der Schwelle, wo sie die Form des Werkes verlieren und zur Bedeutung des enthüllten Menschlichen selber sich umwenden. Essayartig zusammengewachsen — das letzte Werk noch mehr zur dichten Einheit geworden als das frühere — wickeln sie sich auf zu einer vom Gehirne begriffenen Seelengeschichte oder zu einer in den Zeiten begreifbaren Geschichte des künstlerischen Herzens. Auch das gehört zu Kassners schaffendem Denken, daß die allgemeine Reflexion, so dicht sie gewoben ist, zurücktritt hinter der Deutung des Beispielhaften. An den Beispielen der Dichtungen und Künste wird die starke monologische Diskussion, welche eine philosophische Zeitförmigkeit hat, vollends bildhaft fließend, so an der Antike und am Mittelalter, da „Maria sich im Spiegel sah oder in der Raumwelt der Seelen“, an Shakespeares „Hamlet“, „die erste Persönlichkeit im menschlichen und nicht mehr im theologischen Sinne“, an Pascal, an Goethes „Wilhelm Meister“, an van Gogh, an Dostojewsky und Gogol, an der scharfen Wendung gegen Rousseau, an vielen andern aus verschiedensten Kulturkreisen.
Zwar ist auch das Physiognomische, und gerade dieses, obgleich es zwischen allen Grenzen in seinen eigenen Grenzen schwebt, nicht in das interpretierende Wort einzufassen, geschweige die Spur der Geschichte; – kurz das „verbum caro“ im christlichen Sinne gelingt nicht durch sich selber und die Spur der Geschichte ist wie eine große immerwährende Lücke, welche kein einzelner Mensch ausfüllen kann; — aber Kassner gelingt doch ein großer Ablauf der Menschformen, so wie sie sich von einem allgemeinen Logos auf ein persönlicheres Wort und wortgewordenes Dasein hinüberfinden oder hinüberverlieren. Und es gelingt ihm eine merkwürdige Durchsichtigkeit durch die Geschichte. Zwar ist Hegelscher Geist trotz allem nicht fern und der Einschnitt des Gottmenschen ist mehr Beispiel des Denkens als Maß und Mitte der Geschichte. Aber von dem Sinn eines Maßes, das zugleich ein Unmaß ist, geht ein reflexiver Schauer in den Geist über, der diesen immerfort an den Beispielen ins Besondere zwingt und - das ist das Künstlerische — der ihn auch zu einer Philosophie oder einfach zu einem Sinne zwingt, der keine Rhetorik und kein Neutrum ist. Kassners Schaffen gehört daher vom Worte her zu den Kunsterscheinungen unserer Zeit. Und diese Erscheinung ist manchmal von einer erstaunlichen Feinheit und – weil das Wort von der „Reife“ nicht gelten kann, da es vor der größern Wahrheit gleichgültig ist — von einer bei aller diskutierenden Selbstbehauptung seltenen Kampfhaltung gegen das „Eitle“, wozu mit anderem auch seine Worte über den liberalen Geist gehören. Nicht umsonst deutet Kassner auch auf den Sinn der Pilatus-Frage nach der Wahrheit und auf die nie endende Erschütterung durch sie.
Daß in unserer Zeit die Maske als eine sonderbare Formwahl in der Kunst neu angetroffen wird, das ist ein sichtbarer Beweis für den neuen Sinn des Physiognomischen. Denn die Maske hat sowohl die stärkste materialistische Leere wie die gebundenste immaterielle Spannung. Die Kunst brachte diese zugleich von Gesicht und „Idee“ abgelöste und in sich selbst mit einer gewissen Dämonie versachlichte Begegnung. Aber die Zeichen für dieses besondere bildhafte Verhältnis des Geistes von heute, für diesen Einhalt zwischen der menschlichen Ich-Wahl und der saugenden Spiegelkraft der Zeit als eines verändernden Geschichtskontinuums, welche den humanistischen Menschen aus seiner „Vollendung“ entschält und zu seinem wirkichen Ich entblößt hat, reichen noch viel weiter. Tatsächlich würde man sie in der ganzen wesentlichen Kunst von heute finden können, wo nicht Stoff und Raum entscheiden, sondern worin Hintergrund und Accidens (um es etwas schwierig zu bezeichnen) oder Tiefe und Fläche wieder ineinanderfallen. Wer davon nichts begriffen hat, der hat vom Sinn heutiger Kunst, von ihrem in sich begegnenden Gesichte, von ihrem Bild im Schweißtuche, wie man es mit christlicher Wendung zur Passion sagen könnte, noch wenig begriffen.
Aber — um gar nicht so weit zu gehen — der Betrachter des Buchwesens hat in den letzten Jahren die Mode feststellen können, daß, mit Hilfe der Photographie, Gesichte und auch Hände gesammelt, abgebildet und als physiognomische Dokumente besprochen wurden. Auch Mode ist ja kein Ungefähr, wenn auch wohl das Wenigste darüber wie bei Max Picard in seinem „Menschengesicht“ auf menschlichere Intimität und anschauliche geistige Deutung im Zeitgefühl hinausgelangt ist. Bei Kassner ist nicht so sehr das Gesicht Ausgang seines Denkens, so vielfache und oft ausgezeichn«e physiognomische Deutungen gerade in seinem letzten Buche er über einzelne und besonders auch Rassenphysiognomie eingeflochten hat. Sondern bei ihm scheint die Physiognomik immer mehr als eine Folge aus Denken und Geschichte oder muß doch mit letzterer aus der Notwendigkeit und inneren Grenze der Erfahrung heraus korrespondieren. Dieser Zwang vergrößert das Werk über seine persönliche Leistung.
Von hier aus geht der Weg in die größten Dinge des sich selbst erfahren Geistes und die Frage ließe sich etwa so stellen: wie verhält sich die „Idee“ zu dem eingeborenen Worte? Wie verhält sich das Bild zum Worte, wie der „Einzelne“ zu aller Vaterschaft der Schöpfung, indem diese durch die Mutterschaft der Geschichte geht? Kurz: Kassner bewegt sich bald literarisch frei, bald mit großen treffenden Gedanken an der Peripherie der religiösen Welt in ihrer christlichen Form, das heißt in der Form, welche dem Einzelnen am nächsten geht, wenn er in die eigene Verlassenheit kommt. Die Ohnmacht des Geistes landet dann, ähnlich wie das Vertrauen jenes biblischen Hauptmanns bei dem Ausrufe „tantum dic verbo“ („sprich nur ein Wort“). Gewalt durch „Ohnmacht des Geistes“ ist heute ein Fundwort und eine Sehnsucht der Zeit wie nach einem ganz reinen Gesichte. Ein solches Gesicht ist wie von sich selber durchstrichen (auch davon spricht übrigens Kassner) und man könnte dazu Corinth als Beispiel nennen.
In diesem Sinne aber müßte Kassners Stellung zum Mittelalter noch anders werden; denn das Mittelalter ist nicht nur der Spiegel, sondern auch der durchdrungene Spiegel. Und wenn man sagen kann, daß in dieser ganzen Richtung unserer Zeit nach „Physiognomik“, nach Erkenntnis des Gesichtes ein Bekenntnis von Leiden stecke fast wie ein Bedürfnis (Kassner spricht auch vom Leiden), so muß man dazu sagen, daß der ganze mittelalterliche Bildsinn im letzten Grunde durch ein Leiden, nicht durch den Raum, sondern durch den Tod gegangen ist.
Dies ist das Problem, über welches wir nachzudenken haben, das Problem des Verhältnisses des „Einzelnen“ zu „Allen“. In der Geschichte vollzieht sich seine „Wortwerdung“ und dabei ist Geist und Kunst nicht neutral. Es gehört in den Zusammenhang, daß Kassner auch über die Probleme der politischen Kollektive nachdenkt und über den Gegensatz, in welchem sie als Bolschewismus und Faschismus zur Manifestation dieses Zeitalters geworden ist. Die Geschichte erst bricht die Paradoxien der Nähe von Tiefe und Fläche und gibt dem „Einzelnen“ jenen Raum, der nicht mehr künstlich ist.
Das Nachspüren nach dem Sinn und den Sinnformen der menschlichen Gesichter ist ein sonderbares Faktum in unseren Tagen. Dieses manchmal fast tierische Nachwittern nach den Begegnungsmerkmalen von Geist und Herz, die sich in den Gesichtsformen anzeigen und befestigt haben, weist auf eine starke Zerrüttung der naiven menschlichen und bürgerlichen Verhältnisse. In den witternden Versuchen, das Innerste im Äußersten ohne weiteren Zweck aufzuschließen und die Zeit der Menschen in durchsichtigen physiognomischen Spiegeln abzulesen, in dieser peinlich geschärften Adhärenz der Augen, um auf eine blasse gehirnliche, eigentlich unaktive Beschaulichkeit und Interpretationssicherheit zu kommen, offenbart sich eine allseitige Zerspaltung geschichtlicher Substanzgemeinschaft. Zeitlich gesehen erkennt man auch hierin, daß die klassisch fundierte, liberal-humane Koordinierung der Gesellschaft in eine abgründige Vereinzelung aufgehoben ist, wie auch in dem physiognomischen Schrifttum sich Abneigungen gegen das Liberale aussprechen und das übliche Humane durch den Zeitenwechsel hin seziert wird. Enger bürgerlich gesehen stellt sich die Physiognomik in den Gegensatz zwischen einzelhaftem Subjekt und Kollektive. Deutlicher: Der Mensch steht nicht mehr als plastisch umrundete Form des Persönlichkeitsbegriffes in der geschichtlichen Mitte, sondern sein Gesicht wird als eine blasse und dabei scharf umrissene Silhouette gesehen, welche in der heutigen Schicksalskluft zwischen Persönlichkeit und Masse vor dieser dunklen und wandstarren Massenform dahingeistert. Das Gesicht [korrigiert aus Gericht] ist vergleichsweise eine aus dem natürlichen Kosmos gerissene und nun im Zwielicht einer rätselhaften stummen Gegenwart dahingleitende Mondform.
Mancher erwartet wohl bei Büchern über Physiognomik eine leichte Lektüre. Man glaubt ja gewöhnlich, daß ein Gesicht leicht abzulesen sei, wie auch der allgemeine Glaube ist, daß von künstlerischen Dingen etwa besonders die Bildkunst leicht abzulesen und zu verstehen sei. Die wenigsten fühlen, daß Bildformen zu fassen sind als geformte Weltanschauung; und daß auch die Menschengesichter als geformte Welt und schauhafte Konkretion gefaßt werden können, das ist zwar zu einem Teil ziemlich selbstverständlich und kann doch in den Begründungen sehr sonderbar werden. Darüber zu reden ist zugleich leicht und sehr schwer, und gerne wird hier auch mit einer Leichtmacherei gearbeitet, die das Publikum und den Literaten hinreichend befriedigt. Der „Mann der Routine“ drängt sich vor, wo das tiefer erkennende Auge sprechen soll, und — „wieviele (Routiniers) gibt es heute nicht, gibt es überhaupt noch etwas anderes?“ fragt Rudolf Kassner. Es ist dieser österreichische Schriftsteller, dessen Schrifttum auf eine seltene Weise in sich zusammenhängend weiter und auf das physiognomische Thema zu gelaufen ist und der jetzt wieder (nach seinem letzten Buche über „Das physiognomische Weltbild“) ein neues Buch geschrieben hat, das diesmal auf den einfachen Titel und Inhalt gestellt ist „Physiognomik“.
Einfach bedeutet hier allerdings nicht gerade leicht, denn Kassner ist kein Publikumsliterat; und wenn er in seinen Gedanken und Motiven Routine hat, dann nicht die Routine einer eitlen Ästhetik, sondern das zwiefältige Geschick der Selbstverstrickung ins Paradoxe, gewissermaßen die Geschicklichkeit des Geistes, sich selber fangen zu müssen und dann an den schwierigeren Wahrheiten konkreter zu werden. Damit hängt eine Geistesart dieses Schreibenden zusammen, die den bequemeren Leser je nachdem abschrecken kann, daß Kassner nämlich manchmal lange und mit Umständlichkeit sich gewissermaßen seine geistigen Fesseln zurechtlegt und überhaupt seine eigene Weltanschauung mit dialektischem Absonderungsdrang herstellt, dann aber wieder charakteristische religiöse und gerade auch christliche Dinge mit sehr feiner und ursprünglicher Eigentümlichkeit zu sagen weiß. Kassner betont die ungemeine Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, von den Dingen seines Themas „so zu reden, daß sie dem gemeinen Hausverstand ganz eingehen“. Immerhin hat dies sein neues Buch, das auch mit 45 Bildnissen von historischen Persönlichkeiten bis zur Gegenwart versehen ist, große Partien von sehr viel Anschaulichkeit; es bringt im zweiten Teil zunehmend auch die praktischen Erklärungen, und hierbei auch die feinsten Früchte seines physiognomischen Sinnes. Es ist auch wahrschinlich am geeignetsten, in den Zeitsinn des „Physiognomischen“ einzuführen, und ist dabei selbst ein Stück denkerische Zeitform.
Denn, um es nochmals zu verdeutlichen, „Physiognomik“ ist keine zunächst praktische Angelegenheit, sondern, wenn man auch nicht sagen will, eine Weltanschauung, so doch ein weltanschaulicher Zustand. Es verrät sich darin sowohl ein seelischer Drang, wie ein seelischer Mangel, beides bezeichnend für unsere soziologische Geisteshaltung; und dies ist so weit von Weltanschauung weg, wie das Soziologische nicht den höheren Sinn der seelischen Menschheitsgeschichte ersetzen kann. Um gleich noch schärfer auf eine Kritik hinzulenken‚ ist der physiognomische Trieb eine gewisse Entblößung des menschlichen Gesichtes, eine Abirrung von der dienenden Kraft der menschlichen Kräfte und Gesichter in der Geschichte und ein Aufmerksammachen auf das nackte Gesicht und seinen entblößten, vom Zwecke losen Ausdruck allein, worin zu einem Teile sicher etwas von einer rat- und tatlosen Selbstbezichtigung der Gegenwart steckt. Kassner sagt es auch einmal so: „Vielleicht hat das Physiognomische, der physiognomische Gedanke darum so leicht von unserem Geiste Besitz ergreifen können, weil dem Menschen das Definieren heute schwerer fällt als zu anderen Zeiten.“ Dies scheint zugleich ein Vorzug oder ein notwendiges Mangelgefühl, daß wir ärmer an äußerer Definition und auch ratloser gegenüber den tieferen Wesenheiten geworden sind; die Geheimnisse des Geistes kommen uns damit durchaus wieder näher, wenn auch nur mit einer Mischung von dunkler vitaler Mühe und blitzartigen Lichtern in der Befragung der Gesichter. Auch ist sicher der physiognomische Gedanke eine generationelle Abkehr und Gegenwendung gegen die Generation des Darwinismus. Trotzdem ist hier auch eine Neugier entfesselt, die nicht fruchtbar werden kann, wenn sie nicht mit geschichtlichem Geiste gesättigt wird oder wenn sie aus der rein menschlichen Sphäre nicht in stärkere Ordnungen übertritt. Der Mensch wird nicht wertvoll im Vergleich mit anderen Menschen, sondern erst durch das Tertium oder das Gleichnis der Geschichte, durch welche seine „Einbildungskraft“ (die bei Kassner die Kraft ist, welche Sinn und Gestalt zusammenknüpft), oder sein Bild von sich selber erst den erdienten Wert erhält . Man ist erstaunt, aber es hat dann seine Richtigkeit, wenn man bald zu Anfang bei Kassner liest, wie er von dem physiognomischen Thema auf die Psychoanalyse übergreift. Hier kommt verstärkt eine erotische Problematik dieses ganzen Komplexes zum Vorschein. Hier zeigt sich auch das starke Ringen Kassners für die reine Einbildungskraft seines „Narziß“ (wie ein früheres Buch von ihm geheißen hat), für die in geistigen Einmaligkeiten erkennende Spiegelung des Sinnes und Geistes gegenüber der anonymen psydioanalytischen Trübheit. Er sagt, daß „die Physiognomik‚ indem sie ven dem Unterschied zwischen Sinn und Ursachen ausgeht und ihn festhält, eine Gegenbewegung, einen Gegenzug zur Psychoanalyse bedeute“. Kassner dringt auf Wahrheit gegenüber der bloßen, nur sich selbst befriedigenden seelischen Relation und urteilt von daher auch: „Das Objekt der Psychoanalyse ist in die Lüge eingefatscht wie der Säugling in die Windeln.“ Dementgegen strebt Kassner auf den Sinn der „Ebenbildschaft“ zu oder auf die geschichtlichen Physiognomien, welche man als geschichtliche Kreaturformen der Ebenbildschaft oder wenigstens als Reste davon bezeichnen kann. Über solche Reste geht er allerdings nicht zu einem geschichtlichen Aufbau hinaus, aber hier hat er ausgezeichnete, wenn auch mehr psychologische als geschichtliche Analysen gegeben. Und hier gibt er, auch in praktischen Hinweisen auf Bildnisse und auf Leistung von Künstlern, eine Reihe Beispiele, wie man zu schärferen Erkenntnissen kommen kann, hinweg auch über das, was man als die Unzucht der Vermenschlichung und der ästhetischen Seelenpflege bezeichnen könnte. Manches hiezu, was auf künstlerische Dinge von heute weiterführt, ist von ihm mit einer Nacktheit gesagt, welche, da mehr vom Gehirn als von größerem Geiste erkannt, abstoßen möchte, welche aber gegenüber jener Sterilität des Ästhetisch-Seelischen doch die Empfindlichkeit eines wirklichen Glaubens bekundet.
Die fruchtbarste Auseinandersetzung mit Kassners Buch, mit seinem physiognomischen Denken und dem „Narzißmus“ überhaupt, müßte sein die Frage nach dem Wesen der Geschichte. Kassner bringt hier auch wertvolle Merkmale bei über Antike, Renaissance, Gegenwart, über Sinn und Werden der Vereinzelung, über menschliche Typen, Rassenunterschiede, über das Wesen des Komischen etwa, das ja mit dem Physiognomischen besonders zu zu tun hat, und anderes. Aber die Frage nach der Relation des Einzelnen zur Kollektive bleibt voran stehen. Und einen noch entscheidenderen Hinweis darauf, daß die Geschichte hier nicht ihre geschlechterhafte Fruchtbarkeit entfaltet, sondern sphinxhaft in sich stehen bleibt, bedeutet das Titelbild des Buches, ein Jünglingskopf des Leonardo, in jener Art der gestaltlichen Durchdringung und Wiederaufhebung aller allgemeinen Züge, welche man hermaphroditisch nennen darf. Dies ist ein verborgener Sinn in der Renaissance, welcher alle Gestaltung in sich zurückbezieht und damit eine starke animalische Glorie gewinnt, aber einen ganzen Abbruch der Form gegen die dienende Wechselwirkung von Natur und Geschichte will und anzeigt. Wenn schon Kassners Buch teilweise schwierig ist, so wären die Fragen, die sich hieran knüpfen ließen und aus dem Mittelpunkt des Buches in andere Reiche fortführten, noch schwieriger. Es handelt sich darum, ob und welche andere Formen des „Maßes“ das Christentum durch seine Zeit hin und etwa heute noch in die Welt eingesetzt hat, welche physiognomisch nicht zu messen sind und nicht dem Schönheitsbegriffe einer vollkommenen menschlichen Identifikation in sich selbst unterliegen können. Das Christentum hat kunstwesentlich und so auch in den Gesichtern nicht die primäre und naturvitale, spiegelhafte Ideenschönheit, sondern eine geschichtliche und restaurative Schönheit. Sein Kunstsinn kann deshalb auch nie pantheistisch werden, da die All-Einheit sich hier nie in schönen Analogien vollenden läßt, sondern immer in einer größeren Wirklichkeit gebrochen ist. Indem Kassner auch gegen Pantheismus kämpft, zeigt er zugleich doch auch wieder eine Problematik seines physiognomischen Denkens und spiegelnden Einbildens.
Solche Gedankenansätze werden hinreichen, um einen Begriff von der Schwierigkeit, aber nicht zuletzt auch der gedanklichen Größe der Themen zu geben, die hier unter dem einfachen Thema „Physiognomik“ angeschnitten sind. Dazu kommen aber nun — trotzdem sich mancher an der Aphoristik und an gedanklichen Bizarrerien wohl auch höchlich stoßen kann — noch die weiteren Werte, die den Leser mehr in fruchtbare Anschauung setzen. Kassner versteht das im Geiste zur Gewöhnlichkeit oder zur Routine Gewordene wieder in Fremdland zu verwandeln, so daß Sinn und Sinne wieder einen Abstand des Forschens gewinnen. Von starker Anregung sind da seine häufig wiederkehrenden Einmerkungen über deutsche und christliche Dinge. Beispiel sei dafür etwa ein Satz Kassners, den er in der Erörterung der Verschiedenheit von Frontal- und Profilgesicht über die Heiligen aussagt: „Heilige reifen vom Auge her oder durch das Auge, und der Eigensinn, der zuweilen im Profil vorkommt, ist meist nur das noch Undurchsichtige in ihnen.“ Man wird für solch schöne Bemerkungen auch manches sonst Sonderbare hinnehmen. Hinsichtlich des deutschen Wesens wird von der ihm „insbesondere eigentümlichen Spaltung zwischen Oben und Unten“ gesprochen, wofür auf Kant hingewiesen wird, dessen Gesicht auch ein Übergangsgesicht zum 19. Jahrhundert sei. Ein anderer Satz von Schärfe heißt: „Bauern und Deutsche sind hinterhältig, vielmehr ihr Eigensinn kommt meist einer gewissen Hinterhältigkeit gleich.“ Allgemeiner physiognomisch ist der Hinweis: „Die Hand ist in gewisser Hinsicht seelischer, das Gesicht geistiger, imaginativer.“ Zu den bestimmten Hinweisen gehört auch manches eigenartig Treffende über die Konfessionen. In den weiten Umkreis des physiognomischen Themas fällt dann wieder das, was über die Sinnform der Schlange gesagt wird. Auch zur Philosophie der Sprache findet man Beiträge.
Dann aber das noch, was den meisten die Hauptsache sein wird, die eigentlichen physiognomischen Deutungen Kassners an Gesichtern von Homer bis zu Ivar Kreuger (!) und Stefan George mit den betreffenden Abbildungen. Wenn es bei Homer heißt: „Homers, des Sehers Leiden ist ein Leiden des Gesichts,“ so muß man dazu den Sinn von Leiden im Zusammenhang nehmen. Tizians „Papst Paul III.“ und von Velasquez der „Papst Innocenz X.“ werden bildhaft gegeneinander besprochen. Wertvolle Beobachtungen ergeben sich besonders auch zu Michelangelo. Dann eignet sich Breughel für diese soziologische Auffassung als ein Gestalter des „Kollektivgesichts der Menschheit“. Hierzu, wo das Bild heftig und stumm zugleich wird, ließe sich noch vieles weiter sagen zu dem von Kassner glänzend Aufgerissenen. Es muß genügen, noch zu nennen Voltaire, Gesicht einer Rückbildung und „Alraune der Vernunftwelt“, der „unwahnsinnigste Mensch aller Zeiten“; Lavater; Kardinal Manning; Schopenhauer; Rilke; Rodin; Richard Strauß; van Gogh. Van Goghs Gesichter, das „sind die Gesichter an der Grenze von Mensch und Ich“. Manches führt zu dem Formsinn von Marc und zu Picasso, an dessen allerdings ganz entgegengesetzte Zerklitterung des menschlichen Gesichtes man ebenfalls als Zeiterscheinung denken kann. Dem Gesichte Kleists dürfte Kassner am wenigsten gerecht werden. Dieser Kopf, wie ein eigentümlicher fleischseeliger Globus, ist weniger einer Interpretation zugänglich, welche ihre Stärke in der Ergründung von Einzelpartien findet.
Wenn man bei Kassner oft mehr zu einer fruchtbaren Gegenhaltung als zu einer eigentlichen Zustimmung veranlaßt wird, so kommt doch aus den Beispielen seine ganz originale Fähigkeit, welche auch wieder das übrige sinnhaft stärkt. Kassners Denken, in manchem noch in der impressiven Welt des Entwicklungssinnes tätig und auch der eigentlichen Geschichte gegenüber noch in einer Ambiguität des Gehirnes bleibend, hat doch selber ganz außergewöhnlich eine formsinnige Gegenwartsstruktur. Das heißt: er ist nicht neutral begrifflich, sondern man muß es großenteils so verstehen, wie man auch die Stoff- und Formwahlen der Kunstsinne in den Zeiten und besonders heute verstehen muß. Die Gesichter haben mit dem ganzen Dasein der Menschen und mit allen Kreaturformen angefangen, sich gegenseitig neu zu befragen und zu deuten.
Beim Lesen des Vortrags über „Wahrheit und Leben“ von Theodor Haecker, der nun als eine kleine und feine, aber gedankenbeladene Schrift gedruckt vorliegt, stößt man zum Schluß, wo sich Haecker noch einen kleinen Aufenthalt zum Zwecke einer liebhaberischen Sprachstudie gönnt, auf ein Zitat von Nietzsche. Man fühlt, welchen freudigen Wert Haecker bei diesem Zitate für sein eigenes erkennendes Wollen empfindet, und man könnte fast aus diesem Aufenthalt am Schlusse nochmals den ganzen Inhalt seines Vortrags über die Wahrheit und das Leben aufbauen. Friedrich Nietzsches Satz an dieser Stelle heißt aber: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.“ Haecker betont die aus dem Munde Nietzsches mit schrecklicher Schärfe klingende Wahrheit dieses Satzes und konstatiert wiederholt in seinem eigenen Sinne, daß die Sprache, wenn man ihr die Grammatik raube, faule und verende. „C'est par la tête, que le poisson pourrit, oder drastischer: Am Fisch stinkt zuerst der Kopf.“
Wenn in jenem Zitat das geistige Drama aufgezeichnet ist, in welchem Haecker mitstreitet, so meldet sich in dieser sprichwörtlichen Wendung die Schärfe des Satirikers Haecker. Und wenn in der ganzen Schrift „Wahrheit und Leben“ die eifervolle Liebe eines katholisch gewordenen Laien zum Gloriosen des Glaubens ein Zeugnis gibt, wie es heute jedenfalls in dieser katechetisch bestimmten und doch wieder rhetorisch und logisch jagenden Sprache und Absicht ungewöhnlich ist, so findet man in der gleichzeitig erschienenen anderen Schrift „Dialog über Christentum und Kultur“ auch etwas von dem Angreifenden und „Ausfälligen“, das zum Logischen gerne gehört und das den außerzeitlich Gerichteten doch aufs schnellste in die Zeit und auf die von ihm darin beliebten Punkte zurückbringt. Das sind die zwei formal deutlichen Seiten des Schriftstellers Haecker, die in einer selten deutlichen Bedingung des Geistigen auch mit seinem inhaltlichen Schaffen zusammenhängen. Haecker ist übrigens ein gebürtiger Schwabe und die panlogische oder „integrale“ Ader des Schwaben ist also auf diese Weise auch ihm mitgegeben.
Was diesen Schwaben mit der Zeitform zusammenbringt — obgleich er zu dem Begriff der Zeitform von seiner Statuierung der überzeitlichen Werte her im allgemeinen weniger geneigt ist —, das ist eben diese Schätzung des klärenden und bauenden Elements, welches den Schriftsteller ausmacht. Nun zielt allerdings Haecker nicht so sehr auf die freie Schwebung dieses Elements, sondern auf die gesetzliche Bindung, nicht so sehr auf die Kreatur des Wortes als auf die Struktur der Sprache. Aber auch in diesem Ziele ist heute Zeitgemäßheit und ein Stück von einer inneren Plansinnigkeit, welche macht, daß jede Zeit ihre eigene und nicht wiederholbare Eigenform hat. Welche auch macht, daß sich das menschliche Wesen an die Sprache wendet wie an ein offenbarendes Geheimnis für die zeitliche Eigenbestimmung und, mystischer gesagt, wie an einen Leib, aus dem sich das Geheimnis der Menschwerdung des „Logos“ immer wieder neugebären kann. An diesem Geheimnis rätselt auch Haecker mit bald hohen und bald scharfen Worten, und sein Schaffen gehört damit verdeutlicht in einen Zeitsinn, der heute, nach Ablauf der historisch gewohnten Formen des sprechenden und denkenden Sich-Erfahrens, unmittelbarer aus dem Wort und aus der Sprache eine tiefere Not und Kraft der seelischen Menschwerdung neu erfahren will. Es ist das Wesentlichste aller Dichtung, daß in ihr dieses worthafte Erfahren wird und west (und wenn sich der Berliner Döblin als Angehöriger der Preußischen Dichterakademie gegen diese Innewerdung im Worte und gegen das „Orphische“ wendet, so ist die also manifestierte Abneigung eines flachen, aber um so lauteren Plakatgeistes gegen das Tiefere der dichterischen und schriftstellerischen Leistung ja auch ein Zeichen der Zeit).
Mit diesem Wesenden und Wesentlichen von Dichtung und Sprachgeist im Verhältnis zur Wahrheit, im besondern auch innerhalb der so zeitgemäßen Verhältnisfrage von Christentum und Kultur ringt Haecker apologetisch oder leichter dialogisierend in seinen neuen Schriften; und diese Aufgabe, die ihm damit zu einem spezifischen Schriftstellertum geworden ist, wurde ihm wohl auch durch seine Tätigkeit als Übersetzer von Newman und Kierkegaard ins Bewußtsein gelegt. Nun schreibt er Gedanken zu einem Magnifikat der Wahrheit, welche zugleich ein Magnifikat der Sprache sind; er kennt aber auch neben der „Gnade“, die im Worte ist, nicht minder die „ruhelose Dialektik“, das „in lebendigem Gleichgewichte beharrende Für und Wider eines Wortes in der Sprache“.
Und hier nun allerdings, in der Entscheidung gegen dieses Gleichgewicht, muß auch die Waage und das Übergewicht des Künstlerischen gegen das Begriffliche entstehen. Hier meldet sich das Dichterische als ein ferneres Echo und doch als eine nähere Wirklichkeit gegen die mittlerische und festgestellte Begrifflichkeit der Sprache. Hier entsteht eine Spanne für die Wortwerdung der Wahrheit und hier wird auch eine lebendigere Gültigkeit spürbar gegen die reine Fertigkeit des Sprachgeistes, welche in der Grammatik gesichert ist.
Denn, um wieder auf jenes Wort Nietzsches von der Gesichertheit des Göttlichen durch die Grammatik zurückzukommen, so könnte man von der eigenen kleineren und von der größeren geschichtlichen Erfahrung her gewichtige Einwendungen dagegen machen. Man kann erfahren, daß der Gott verlassende Mensch gerade die Grammatik als ein Regulativ aufstellt das ihm die gesellschaftliche Zusammenhaltung und ein Verständigungsmittel frei vom Göttlichen verbürgen soll. Man hat dies in literarischen Fortschrittsbewegungen erfahren können und man kann die Beobachtung machen, daß ein Politiker etwa leichten Herzens bereit ist, höhere Werte preiszugeben, aber an der Grammatik mit Pedanterie festhält. Ja — um hier ein größeres Gesetz zu erkennen — so ließe sich bis zu einem gewissen Grade nachweisen, daß in dem Maße, als der Mensch und ein Zeitalter das innere göttliche Element der Geschichte und der Menschenwelt verläßt, das Formhafte und Formale des Sprachgeistes eine Geltung bekommt, welche das ursprünglichere Kreaturgefühl ersetzt und wie eine eigene kulturbildende Kraft erscheint. Man denkt dabei an Renaissance und Humanismus und man kann — da man in der bildenden Kunst oft deutlicher sieht als in der Sprachkunst — vielleicht die künstlerische Geschichte des letzten Jahrhunderts bis zur Gegenwart unter diesem Gegensatz der formalen und klassizistischen Sicherung gegen den tieferen elementlichen Aufbruch des wahreren Abhängigkeits- und Kulturgefühls begreifen. Gerade auch die Richtung der neueren deutschen Kunst wäre in diesem Sinne aussagekräftig. Sie hat nicht mehr die klassizistische Grammatik, welche zuerst dem Gesellschaftsgeiste dient, aber sie findet Spur und Echo der Natur, welche zuerst im göttlichen und menschlichen Einzelgeiste spricht und antwortet, mit neuen Bedingungen. Sind dies dann auch Gesetze? Jedenfalls sind sie zugleich tiefer verankert und freier schwebend als die Gesetze der Grammatik und der rein mittelhaften gesellschaftlichen Verständigung.
Aber Theodor Haecker wird auch dieser freieren Anschauung gerecht, d. h. man liest und fühlt, wie heftig er nach dieser anderen und unbekannteren Spur des Wortes strebt, während er auf das Denken-Sprechen und auf das gebundene Gesetz hinweist. Er hat die Liebe zum Geheimnis des freien Echos und kämpft dafür, zugleich die Religion, die große Philosophie und die Katholizität als Innerstbestimmungen postulierend und dann in Kritik und Satire für das lyrisch und geistig Freie fechtend und ausfallend. Und diese Freiheit einer zwar gebundenen und doch aus sich selber wirkenden Spur kann nicht auszeichnender gegeben werden als in dem einfachen Augustinus-Worte, das Haecker ebenfalls heranholt und als „nahezu die Definition des Schriftstellers“ in seinen eigenen Gedankenkreis hineinversetzt. „Nun aber sagt Augustinus, er gehöre zu denen, qui proficiendo sribunt et scribendo proficiunt.“ Diese Wechselwirkung zwischen der inneren und äußeren Nützung, dieser Aus- und Eintrag, wodurch eines im anderen fortschreitet, ist auch zwischen dem Bewußten und Unbewußten geteilt, welches beides den Sinn des Sprachgeistes ausmacht. »Darum muß immer wieder einer selig-unselig das Risiko auf sich nehmen, in das noch nicht gebändigte Element der Sprache unterzutauchen, ihre heiligen Wasser zu rühren.“
Was noch Weiteres und Vieles zu sagen wäre über Haeckers neue Schriften, angefangen von ihrer sprachlichen Form bis zu ihren kritik- und geistkräftigen Inhalten — z. B. über jenes schöne, von seinem verehrten Kierkegaard aufgenommene und im Sublimen gefundene Wort: „Geist ist Wiederholung“ oder über den weltanschaulichen Begriff des Humors —, das Nützliche daran ist immer die Wirkung eines Schriftstellers, der in sinem eigenen Elemente schreitet und das Stoffliche erst nötig hat, wenn der Geist dafür bereit ist. Dies ist auch bei der Schärfe des Satirikers ein Bereitsein, das stets mit seinem Radius nach einem ganzen Bereiche strebt. Ein stark logischer Charakter bricht wieder seine Begriffe, um einer höheren geistigen Ökonomie zu dienen, und ein apologetisches Tun für den Geist weist immer auch mit dem Pathos für reine Formen — ist dies nicht ein Erbteil der Schwaben? — auf die Sprache der Dinge.
Die Hinaufsteigerung des neutralen Logos zu einer absoluten Geltung (es ist der babylonische Turm des bürgerlichen Jahrhunderts, der heute einfällt) steht im nächsten Zusammenhang mit der Herabwürdigung der Sprache, bzw. richtiger der Sinnheit des Wortes, wie man dies als praktisch rechthaberische Bloßstellung durchaus charakteristisch in Arthur Schopenhauers Ausführungen über Schriftstellerei und Stil vorfindet. Man konnte diese Ausführungen und ihre Gültigkeit immer wieder empfohlen hören aus dem liberalen Zustand unseres Bildungswissens heraus, das die Sprache nur als ein formales Dienstmittel kennt und zwischen Wort und Sprache auch insofern keinen Unterschied weiß, als ihm die Sprache der Allgemeinausdruck und also dem Teilausdruck des Wortes übergeordnet ist. Mit Vergessen dessen, daß im Christentum durch Beziehung auf die wirkliche Menschwerdung des Logos die Teilheit mehr wird als das Ganze, sowie nun auch jeder erfahrene Zeitpunkt in der „Fülle der Zeit“ seinen Grund bekommit Vergessen auch dessen, daß das Christentum wie aus einer Ohnmacht oder einer Negation seine Kreaturförmigkeit gewinnt, und daß es deshalb nicht partnerisch gleich mit der rein und bloß positiven Gesellschaftsform Seite an Seite treten kann — mit solchen entscheidenden Vergeßlichkeiten und Auslassungen einigte sich das spezifisch Religiöse mit dem logisch Weltanschaulichen auf dem Boden einer grammatikalischen Neutralität, welche ähnlich ist wie eine politisch neutrale, human optimistische Spannungslosigkeit. In der Mischung des liberalen Idealismus mit charakterhafter Hartnäckigkeit ist der ältere wenigere Teil dieser Gesinnung heute kaum mehr vorhanden — vielleicht daß er noch als ein Stück des älteren konservativen Erbes betrachtet wird —; aber materialistischer besorgt hofft der gute Europäer und internationale Bürger jetzt noch mehr auf ein Pantheon der Zukunft, um darin das bis zu seinem gottlosen Gegenteil entzündete Wort und Herz des einzelnen Schicksals neutralisiert zu sehen. Grund genug, um in der augenblicklichen Lage, wenn man über das „Wort“ und über den Sinn der Sprache reden hört, dabei mehr empfinden zu müssen als eine unverbindliche schriftstellerische Vergnügung. Denn selbst die Sprachverwirrung ist heute besser als diese babylonische Einheit.
Theodor Haecker, ein Schriftsteller, der sich auf dem Gebiet des Kontroversen, des Orthodoxen und Apologetischen, des Satirischen und Dichterischen Ansehen verschafft hat, — Ansehen, das auf dem verhältnismäßig engen Gebiet um so entscheidender wirkt, als er innerhalb des religiösdichterischen Bereichs gewissermaßen bei der Waffe bleibt, insofern ein scharfer Gegensatz zu mancher libertin katholischen Bewegung von heute – zitiert in seinem Buche „Dialog über Christentum und Kultur“ ein Wort von Augustinus. „Nun aber sagt Augustinus, er gehöre zu denen, qui proficiendo scribunt et scribendo proficiunt.“ Haecker bezeichnet den ersten Teil des Satzes als nahezu die Definition des Schriftstellers, „also eines Menschen, dessen fortschreitende Kurve geistiger Erkenntnis gezeichnet wird in den Charakteren der Schrift.“ (Hier möchte man gleich, um noch näher zu der geschichtlichen Kreatürlichkeit des Wortes, zu dem „nahtlosen Gewande“ um einen doch stets gewandelten Leib des Daseins hinzukommen, beifügen, daß das Wachstum nicht bloß als ein persönliches, sondern auch und erst recht als ein geschichtliches verstanden werden kann, als ein Teil aller verwirklichten Zeichenschaft, welche als Gegenteil der Natur um einen innergeschichtlichen Plan entsteht, und durch eine geschichtliche Graphologie oder Semiotik zu erfassen wäre.) Haecker fährt dann in dem Augustinusworte fort: „Der zweite Teil vollends, der in einer Wechselwirkung steht zum ersten: scribendo proficere, er meint, was ich mit der Liebesehe zwischen der Sprache und dem Geist des Schriftstellers meine. Hier ist das innigste Verhältnis zwischen Sprache und Mensch.“
Man vergleiche dazu, daß besonders diese letztere Definition für Schopenhauer etwa einen Schriftsteller zweiten Grades bedeuten würde und daß Schopenhauer auch mit einer praktischen und charakterhaften Bloßstellung dieses inneren Vorgangs niederschreibt: „Die Feder ist dem Denken, was der Stock dem Gehen: aber der leichteste Gang ist ohne Stock und das vollkommenste Denken geht ohne Feder vor sich. Erst wenn man anfängt alt zu werden, bedient man sich gern des Stockes und gern der Feder.“ Man empfindet, daß hier verschiedene Sprachen gesprochen und auch als Verwirklichung gemeint werden und daß die Kreatur des sich in einer unmittelbaren Notwendigkeit eines blinderen Weges fortbildenden Wortes durch den liberal-bürgerlichen Charakter aus der jenseitigeren Zeichenschaft abgetrennt wird, wie denn überhaupt der Charakter als Mit- und Gegenbewegung zur humanischen Formalisierung die Materialien des Seins in bloße Brauchbarkeit gesetzt hat und sich selber in den Worten gegenüber ihrem anteilhaften Echo rechtlich versteift. Damit ist nun allerdings über die bloße antithetische Abneigung hinaus ein ganzes deutsches Schicksal angerührt. das im Anschluß an die neue deutsche Malerei leichter begreiflich zu machen wäre, als in der Dichtung; nämlich in der Wendung gegen das klassizistische sowie das charakterhafte Epigonentum, welches die wesentliche neue Kunst genommen hat.
Man muß verstehen, daß infolge der konfessionellen Spaltung der Deutschen die inneren Wege der Kreatürlichkeit verschieden geworden sind; und während der protestantische Mensch die charakterhafte Richtung stärker eingeschlagen und dagegen nun auch, wie man sehen kann, die kreatürliche Neuförmigkeit stärker zu spüren begonnen hat, will der katholische Mensch seinen Gnadenbegriff weniger in das Wort der Zeit hinüberwiegen lassen. Es ist bei ihm die Betonung des Objektiven und die Furcht gegen das Subjektive, obwohl man sagen kann, daß das Objektive weitum nur noch ein liberal-bürgerlicher Erhaltungsbegriff ist, der sich mit dem katholischen Sinn in keiner Weise decken kann; und obwohl im Mittelalter das Subjektive, wie man mit Dvorak z. B. und noch anders als er sagen kann, entscheidende Bedeutung hat. Die katholische Klarheit — und so auch bei Haecker — nimmt gerne eine defensive Haltung an, und indem man die genannten Büchlein Haeckers und darin im besonderen auch das Kapitel: „Der katholische Schriftsteller und der Sprachgeist“ liest, muß man sich diese Tatsache vor Augen halten. Es ist für den Katholiken ein Ringen mit sich selber, bis er das kreatürliche Wort — abgesehen wohl von der in sich unbeirrbaren dichterischen Empfindung — und seine zeitliche und geschichtliche, immer wieder andere Entlassenheit aus dem ewigen Kern anzuerkennen und ihre notwendige persönliche und auch fließende Proportion zu der christlichen Angulation zu beurteilen weiß. Bis er selber die richtige Geltung des teilhaften kreatürlichen Wortes innerhalb der christlichen Sprache zu behaupten weiß. Der Begriff der Sprache und das Gloriose des von ihr erfaßten Wahrheitsgehalts wehrt sich gegen das Wort, dessen Entstehen selbständiger und dessen Bestand gegen die Wahrheit doch nur in der Ordnung einer Farbe ist.
Das Thema der Sprache und des Wortes ist denn auch ein Hauptinhalt bei Haecker, es ist ein Lebenstext für ihn geworden, und in dem Rahmen der Zeit, in dem es heute steht, sieht man seine Wichtigkeit. Was Haecker selbst mit Heftigkeit, mit der Getriebenheit zum Dialogischen, und mit dem gestachelten Hin- und Widergang in ihm selber zwischen Bekenntnis und Kritik denkt, und schreibt, ist nicht Willkür. Er bleibt als ein bestimmtes Gewissen der Sprache in der kirchlichen Angulation haften, und was man als charakteristisch sagen kann, ist vielleicht, daß es ihm manchmal schwer wird, die Proportion der kreatürlichen Freiheit und so das Wort zu der Angulation der Notwendigkeit und der definierenden Sprache immer in der Waage spielen zu lassen. In engerer Betrachtung gehört Haeckers Denken jetzt auch wesentlich in die katholische Literaturbewegung; es ist nicht daraus entstanden, denn Haecker kam als Außenseiter; es hat den früheren Gegensatz zwischen einer „klassizistischen“ Neutralisierung und einer „gotischen“ Realisierung in dieser Bewegung nicht mitgemacht; aber nun ringt es, während sich die Bewegung vielfach, was man auch sonst von geistig-künstlerischen Entscheidungen der älteren Generation sagen kann, aus Unfruchtbarkeit in der kreatürlichen und geschichtlichen Erkenntnis vom Wort zur Sprache, von der Besonderung zur Allgemeinheit, von der neutralisierten Lebensform dann zur politischen Konfession wendet, – nun ringt es mit einer eigentlicheren katholischen Verschärfung. Dazu bringt Haecker ein wohl durch die Beschäftigung mit Kierkegaard und Newman verstärktes, aber schon in der Abstammung vorgebildetes persönliches Apologetentum mit, das seinen Menschen nicht bloß vom Programm her (obwohl er dies als Konvertit auch tut) urteilen läßt, sondern das diesen eigenen Menschen noch selbstkräftig und streitsam innerhalb des Programms stellt, als Dialogisierenden, als Satiriker, kurz als einen Mittätigen, der Wirkung auf sich lenkt und der also — wenn dieses Verhalten etwa das Gegenteil des naturhaften Wortes ist — doch auf diese Weise sein Zeugnis für zwischen Zeit und Natur entstandene Kreatürlichkeit gibt.
Zu den Thesen über die Sprache, zu ihrer Wahrheit, Schönheit, Würde und schaffenden wie eingeborenen Wirklichkeit, wie sie Haecker unter anderem ausspricht, darf man allerdings noch eine entscheidende hinzustellen, im Hinblick gerade auf die Kreatur des Wortes gegenüber der Sprache. Die Kunst hat wie die Natur eine Entfernungskraft vom Göttlichen, so nämlich, daß das Entfernteste das am meisten Geschaffene ist, bzw. gegenüber der ersten Schöpfung in der sekundären Neuschöpfung des Christentums das am meisten verwirklichte sein muß. Das ist das Geheimnis gewissermaßen der früheren christlichen „Raumlosigkeit“, der nicht in eine logische, sondern aktive Ration gerückten Daseinsnähe oder »Fläche“. Die Sprache hat nicht wie das Wort diese gleiche wirkliche Entfernungskraft und weite Angulation oder hinwiederum kardinale Kindschaft. Sie neigt dazu, die zusammenschießende Form ihrer teilsinnigen Wesenheiten immer in einer allgemeinen Schönheit aufzuhalten und nach einem ökonomischen Zweck damit zu verfahren. Hier liegt eine stete Gefahr der Neutralisierung durch die Sprache gegenüber eben dieser Entfernungskraft des Wortes. Es ist auch wie etwas Gesetzhaftes in der Geschichte, daß der Glanz der geformten Verhältnisse in dem Augenblick am deutlichsten wird, wo der Weg des Werdenden verloren geht, so im Beginn der Renaissance. Und so ist es wohl auch mit der Sprache. Wenn Haecker in der Schrift „Wahrheit und Leben“ einen Satz von Nietzsche zitiert, der heißt: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben“, so wäre der blitzartigen Eindringlichkeit dieses Wortes gegenüber doch die andere Erfahrung noch mehr zu betrachten, daß sich auf die Dauer das allgemein Menschliche mehr verhärtet als das Persönliche und daß sich die Grammatik ohne Glauben behauptet, während das Wort auch des Gottlosen noch von seiner Bedingung zehrt. Für Haecker ist das Verhältnis von Subjekt und Prädikat mit der Kopula wie ein gläubiger Weg zu Gott. Dieses schöne Grundverhältnis bleibt, auch wenn man einschiebt, daß die Kopula sei wie die Zeit und daß der Mensch mit ihr eine Kreatur bleibe, die sogar im Bereich der Gnade noch die Macht habe, noch im geordneten Wesen der Form zu ihrem Teil das Grundverhältnis zu bestimmen oder auszuwiegen. Doch wer Haeckers Schriften liest, dem werden auch häufig solche Bildwirklichkeiten, selbst in prinzipieller Beziehung begegnen, mit denen er an die Gleichnisse rührt, von denen die Sprache ihre Substanz nimmt.
Das letzte des kreatürlichen Wortes ist die Bildwirklichkeit, die von ihm selber so gebrochen wie neugebildet ist; und je mehr ihm diese „Entfernung“ gelingt, ohne in die humanische Artistik oder in die charakterhafte Brauchbarkeit zu verfallen, desto mehr stellt sich mit ihm wieder jener mittelalterliche Bilderraum her, der nicht eine Erfüllung ist, sondern eine fordernde Lücke bleibt für die ewige Gegenwart. Dann hätten wir die Umkehrung erlebt, daß der Mensch nicht spricht, sondern mit seinen eigenen Worten gesprochen wird; von dem ewigen Ingrund her, welcher das Kreatürliche mit Worten erschaffen hat und in Tagen vor der im weiteren dienenden, aber gegenüber den Schöpfungstagen tagelosen Sprache.
Vor zwei Jahren hat Deutschland den 2000. Geburtstag des lateinischen Dichters Vergil mitgefeiert. Man muß seinem inneren Ohre diese Gedenkzahl vorsprechen, um in eine Zeit völligster Verlierungen aller Erfüllung, wie wir sie haben, die Tragweite eines dichterischen Geistes hineinzuhören, welcher, ahnungshaft und mit reinen Maßen der Tätigkeit sich zu einer größeren Sinnkraft und Zukunft fortbietend, der „Fülle der Zeit“ nahe stand. Dieses Fortbieten aus den Maßen reiner, mit Sinn und Inhalten verglichener Tätigkeit — wie anders ruft heute unsere Natur nach den Erfüllungen — ist klassisch. Bei uns Heutigen ist auch in den Verlusten an Ganzheit und Erfüllung die Natur rufender; die Dinge selber sind – wo immer sie das geistige Kunstgewerbe nicht zerredet und leer beschwichtigt hat — lauthafter und die Trümmerschaft unserer Tage ist, wo sie sich wirklich bekennt, noch immer eine christliche Geschichte. Vergils Dichtung und ihr auf Zukunft wartender, aus Gegenwart und Vergangenheit sich aufbereitender Sinn hat eine koloniale Stärke. Vergil geht mit seinem Aeneas nach Rom (Haecker weist gerade sehr auf diesen Unterschied gegen die Heimkunft des Odysseus); und die Aeneis, die nach zweitausend Jahren noch immer zu den Völkern und auch zu den Deutschen kommt, hat eine koloniale In-sich-Stellung und eine dem Maße des reinen und tätigen Geistes folgende Ausweitung. Sie ist ein Ankerplatz der Geschichte im Umschlag zwischen Geist und Religion.
Aber mußte nicht der reine Begriff des klassischen Geistes ein Fremdkörper werden, je mehr das Christentum ein Indigenat geworden ist? Und ist nicht — und dies nun auch gegen Haeckers klassische Stabilierung eingewendet und fortgesetzt — das ganze Geschehen, welches von dem Termine „nach Christus“ gerechnet wird, eben der Zwiespalt gewesen zwischen der Macht des reinen und kolonialen Geistes und dem wachsenden Rechte des Indigenats, wobei der Geist von seiner vorbereitenden Reinheit immer humanistisch abfällig wird und dagegen das Indigenat bei aller Zertrümmertheit in sich selber mit Hilfe der mütterlichen Kirche seinen unverlöschlich gewordenen Charakter des Christentums nicht mehr abschwören kann? Hat nicht, wenn Haecker in seinem Buchtitel unter dem Namen Vergil hinschreibt „Vater des Abendlandes“, die Kirche eine andere Rechtsfortsetzung stärker gemacht, in welcher das Fleisch des Wortes in die persönlichen und nationalen Kreaturen stärker umgesetzt ist als nach einer gewissermaßen doch mehr philologischen Verbindlichkeit? Solche Zwiespalte etwa stellen sich ein bei der Lektüre des neuen Buches von Theodor Haecker, und solche Gedanken etwa einer staunenden Nähe und doch Fremdheit, die auch von Haecker bald einmütig und bald gegensätzlich, bald kritisch und bald mit dithyrambischen Sätzen gesteigert werden, bilden sich am inneren Gehöre vor der Tragweite des Gedächtnisdatums Vergils.
Es geht über einen einsinnigen Begriff von Kultur hinweg, indem man so denkt; es geht um den Zwiespalt der Geschichte, der, immer wieder gegen den humanistischen Bereich gerichtet, das Vollkommene nur kennt durch das Unvollkommene und an dessen Kraft immer das mitwiegt, was man mit Vergils Wort „Die Tränen der Dinge“ heißen darf. Aber auch bei Haecker handelt es sich durchaus zuletzt um dieses Größere; ja es wird bei ihm in Einmütigkeit und Gegensatz hervorgerufen, und daß ein im Vergleich zu seinen kritischen Gängen aus dem Gefühle her wesentliches Kapitel mit „Tränen“ überschrieben ist, womit er das Vergilische „sunt lacrimae rerum“ über den ästhetischen Mittelpunkt seiner Gedanken hinaus zum schwereren Ende heranholt, das macht sein Buch, das er um Vergil apologetisch und gegenüber üblen Literatenreizen mannhaft geschrieben hat, in allem liebenswert. Die Kapitel „Fatum“ und „Tränen“ sind darin die absichtslos bewegtesten.
Josef Hofmiller hat in der Zeitschrift „Corona“ festgestellt, daß „die Würde des geistigen Deutschland im Vergiljahre nicht durch die Philologen, sondern durch die Unzünftigen gewahrt“ wurde. „Sie glaubten noch, daß Vergil unsterblich ist, und bekannten sich zu ihm als dem vornehmsten Ahnen europäischer Bildung.“ Von katholischer Seite her hat Theodor Haecker diesen unzünftigen Beitrag geleistet mit einem hohen und gewissermaßen selbst theologischen Willen, mit der Freude an dem Ruhm von Geist und Sprache und auch mit der intensiven Hartnäckigkeit, welche diesen Schriftsteller ausmacht. Eine stille oder laute Heftigkeit ist auch daraus mitzuerklären, daß ein literarischer Streiter seiner Art oft nicht bei seinem weltanschaulichen Umkreis die zeitgeübte Erfahrung oder den angewandten Glauben in den notwendigen Geistesdingen und damit nicht die Resonanz vorfindet, welche das Tun weiterträgt und sänftigt, wie sie es fruchtbar macht. Die Arbeit kann dadurch einsam werden und sie stärkt sich abgetrennt in ihren Begriffen, sie findet in den dialektischen Konsequenzen der Schönheit ihre eigene hohe Lust, sie kommt gern auf die Bedenkung einer vorgebildeten humanitas ohne die nähere Geschichte zurück, sie macht auch Angriffe auf Menschen, als ob sie selber nicht unter Menschen wäre. Haeckers Buch hat solche Merkmale eines in seiner einsamen Stille Schaffenden, wo der Gedanke eifriger und das Gehör zugleich empfindlicher wird. Dies kommt der geschärften Konzentration auf sein Thema, auf die Frömmigkeit des Aeneas und des Vergil, auf das von Besiegten gegründete siegreiche Rom und auf dieses ganze von ihm geliebte lateinische Innenbereich der Menschheit zustatten; und es macht auch erklärlich, daß der scharfe Logiker der Angriffe und Ausfälle unmittelbar in die Gegenwart hinein bedarf. Sie gehören, gerade weil sie von einem einzeln Fechtenden geleistet werden, in den Charakter dieses katholischen Vergil-Buches.
Indes – ohne sonst solche deutlichen Worte verhindern zu wollen — will doch ein persönlich empfundener Gegensatz hier vom Herzen geredet sein, der dann aber auch ein sachlicher ist in Hinsicht auf den sprachlichen Form- oder Geschichtssinn des Buches. Haecker wendet sich mit unmäßiger Schärfe gegen eine Versübersetzung von Rudolf Alexander Schröder, welch letzterer zusammen mit Rudolf Borchardt in der genannten „Korona“ besonders wertvolle Vergil-Beiträge geliefert hat und welcher als VergilÜbersetzer Werke schuf. Mir ist Schröder zuerst als Übersetzer des feinen flämischen Dichters Gezelle lieb geworden, und der Umstand, daß der feine und vielseitige Mensch auch dafür Gefühl hat, zeigt, wie wenig er eng ist. Im vorliegenden Falle zitiert Haecker den Vergil-Vers von „unverlierbarem Klang“: „Infandum, regina, iubes renovare dolorem“. Und dagegen stellt er die Übersetzung Schröders: „Unauskündbaren Schmerz, o Königin, heißt du verneuen.“ Haecker bemerkt unter anderen schärferen Wendungen dagegen, daß hier „künstlich durch ungewöhnliche Wörter statt künstlerisch mit gewöhnlichen“ gearbeitet werde; und er betont besonders, wie einfach und schön etwa das Wort „infandum“ durch „unsagbar“ zu übersetzen sei. Man würde nun hierzu, abgesehen von Schröders Verdiensten, bloß im Blick auf die objektive Sache Beifall geben können, — wenn es eine solche mehr oder weniger luftlose, objektive und geschichtslose Sachlage für den Übersetzer wie für den Dichter gäbe. Haecker betont oft mit einem inneren Jubel, und er hat hierbei seine schönsten Wirkungen in der Wahrheit, die Gloria der Sprache. Aber das darf nicht die kreatürlichere Wahrheit hindern, daß im Bereich nicht des Ideellen oder auch des scheinbar objektiv und gewöhnlich Vorhandenen, sondern des geschichtlich Wirklichen die dichterischen Möglichkeiten der Sprache liegen. Das gloriose Licht der Sprache muß immer erst durch das Medium unseres Blutes und unserer persönlichen Sinnesfarbe gehen und es muß ebenso, wie es ja die Malerei zeigt, durch eine jeweils andere farbige Heraldik der Zeit gehen, welche es dabei sichtbar macht. Wir möchten wohl sagen: „tantum dic verbo“, „sprich nur mit einem Worte“; aber wir müssen statt dessen viele Wörter sagen, und vielleicht schließen dann gerade diese vielen Wörter das eine aus, um deswillen sie gesagt sind. Und so ist schließlich der Logos auch und gerade im Künstlerischen nicht als ästhetisches Maß erkennbar, sondern als geschichtliche Wirklichkeit, nicht durch das eine richtige Wort, sondern durch den menschlichen und zeitlichen Erwartungsstand, der ihm umgebaut ist, oder durch Zweige der Worte, die wie eine Palmsonntagstraße ihm unterlegt sind. Es gibt hier keine reine Gleichung und dies ist es auch, warum die wirkliche christliche Form immer von der auf Ausgleich von Natur und Geist bedachten klassischen verschieden sein wird.
Was Haecker von der „adventistischen Humanität“ sagt, „die als Anfang und als Ziel den Logos hat“, was er von der westlichen Humanität (Racine) lobt und von der Humanität der „schwebenden Mitte“, das würde man wohl in dem Sinne verschieben müssen, in welchem etwa die mittelalterliche Figur keine schwebende Mitte war, sondern nur eine assistente Form zu einer anderen schwebenden Mitte. Aber für Vergil muß das sicher gelten, und es ist das hohe Thema des Buches. Vergil, „der das Maß der Kreatur und des Menschen weder feige unterboten noch frevelhaft überschritten hat“, „er hat wenige Jahre vor der Fülle der Zeit das vorgesehene Maß des Heidentums bis an den Rand gefüllt, ohne daß auch nur ein Tropfen tantalischen Giftes aufschäumend diesen köstlichen Kelch überflutet hätte, er hat einen Augenblick vor der Fülle der Zeit das Maß des Guten im antiken Heidentum, wie andere das Maß seines Bösen vollgemacht, an der Schwelle der Fülle der Zeit, nach der es auch der Kreatur, dem Menschen, gegeben wurde, maßlos sein zu können, ohne das Maß der Kreatur zu verletzen, ohne in die Hybris zu fallen ...“ Und gegen Schluß des Buches wird nochmals diesem Vergil, dem die Vorsehung seinen Ort gegeben habe in der Adventsstimmung des Heidentums, in eminentem Sinne vor Christus die anima naturaliter christiana zugeschrieben, diesem Vergil, dessen Seele geliebt worden sei wie die keines anderen großen Dichters. Gegen Schluß wird auch, da von Vergil und den Deutschen besonders die Rede ist, der Begriff des Imperiums gebracht, von der imperialen Sprache Vergils gesprochen, das problematische Wesen des Deutschen gegen den Staat, gegen den Begriff des Werkes und gegen die Geschichte hin berührt. „Aachen (und der Stuhl Karls des Großen) ist für das Fatum der Deutschen mehr als Weimar.“
Man würde diesen Ausspruch nach der ganzen sonstigen, gewissermaßen mehr humanistisch präparativen als historisch rezeptiven Form von Haeckers Denken und Sagen nicht so erwartet haben. Aber das ist wieder das bei aller apologetisch-humanitären Absicht plötzlich doch für ein bloßes und dinglich heilig gewordenes geschichtliches Moment Offene im deutschen Sinne, wodurch uns ein anderes Tun lieb wird und woran sich Deutsche erkennen. Je mehr wir uns ideell versteifen, um so mehr kann uns doch wieder das Beweisstück einer historischen Zeit, durch welche wir gegangen und geworden sind, wie ein historisches Zaubermaterial ergreifen und in unser gärendes Gefühl fortziehen. Hier verständigen wir uns nicht in einer präparativen Bildung, sondern erkennen uns in den Stücken einer Gewesenheit, welche durch die Geschichte mehr an sich haben als bloß ein humanes Ganzes. Immer wieder kreist das Gefühl der Deutschen, heimatloser als bei anderen Völkern, um solche geschichtlichen Heimaten.
Der Deutsche hat – und durch unser klassizistiscnes Erbe ist dies äußerst verstärkt worden — das Bedürfnis, den Bildungssinn mit der Religion eng zusammenzubinden. Dies zum Vergil-Jahr für hingegebene Leser getan und nachgetragen zu haben, ist aus einer größeren katholischen Tendenz heraus Haeckers Liebe und Arbeit geworden. Haecker hat dabei den im christlichen Kulturdenken oft anzutreffenden neutralen Klassizismus aufs positivste überboten. Am meisten geschieht dies da, wo die Idee offen bleibt, weil die Wirklichkeit immer um eine Träne verschieden ist von der Idee. Denn die Geschichte ist zuletzt keine Humanitätsform, sondern eine Pietàform.
Die Sprache, die sich aus einer dunklen Unsagbarkeit losgerungen hat, um mit den Menschen geschichtlich zu werden und innerhalb ihrer Gemeinschaften die Bewegungen und Spannungen im worthaften Ereignis anzuzeigen, diese wirkliche Sprache behält eine Art Stummheit, einen stummen Geist, der nicht sparsam aus Mangel, sondern aus Fülle, nicht beredt vor sich, sondern wie schweigsam mit den Dingen über der sozialen Verwahrlosung waltet. Diese Sprache kann nicht zum reinen Mitteilungsmittel herabgewürdigt werden. Sie muß ein infandum in sich weitertragen, das ein Dunkel sein kann, eine dunkle Klarheit, oder eine klare Spannung, innerhalb welcher nicht gesprochen wird, sondern welche, durch die Worte hergestellt, die Menschen an die Stellen rückt, an denen sie ihre Bedeutung haben.
Durch unsere demokratische Wahllosigkeit innerhalb aller Werte findet man heute dieses Verhältnis von Worten und Menschen aufs äußerste zerstört und durch das bare Menschliche, welches keine bestimmten Proportionen zum infandum mehr kennt, vernichtet. Man kann Gott und das Gemeine mit der gleichen empfinderischen Genußleichtigkeit zusammensagen und das Gesetz oder der Gemeinplatz des Menschlichen vermag sich der Worte aller höheren Gesetze zu bedienen, ohne mehr etwas von den Graden ihrer in der Geschichte offenbar gewordenen Würdigkeiten übrigzulassen. Der Geist einer notwendigen Stummheit ist aus diesem Zustand einer gesellschaftlichen Wortvermischung gewichen und dabei ist es auch so, daß das Religiöse noch viel eher dieser geschwinden Vermischung unterliegen kann als das Politische, da dieses, indem es den Menschen bestimmte Plätze und Spannungen anweist, immer noch Grade von historischer Würdigkeit und von naturmäßiger Bestimmung bedeuten kann oder anstrebt. Die demokratische Zielrichtung aber, alles zu einem gleichen menschlichen Neutrum zu vermitteln, muß solche im Vergleich zum Menschlichen „außenwendigen“, tieferen und älteren Rechte, Notwendigkeiten und Herkünfte hassen.
Was aber das anfangs Gesagte heißen soll, daß die Sprache das worthafte Ereignis einer Gemeinschaft anzeige und daß sie, wie sich weiter sagen läßt, einen trennenden Sinn gegenüber der künstlich gemachten Einheit von Begriffen und Menschen verwirkliche, um dies zu erklären, genügt ein einziger Hinweis auf die Dichtungen Adalbert Stifters und im besonderen auf seinen „Witiko“. Wie sonderbar, daß in unserer Zeit der beredten Verwahrlosung gerade dieser Dichter erst seine eigentliche Auferstehung findet, der den stummen Geist des Dichters nicht in der Form des Dunkels und des im Echo fortgetragenen infandum, aber in der Form der klaren Spannung besessen hat, und zwar so besessen hat, wie keiner der sonst zeitgenössisch mit ihm menschliche Geschichte Erzählenden. Stifter hat damit jenen Teil der Romantik. der aus dem sprachlichen Echo des Schöpfungslebens in die restaurative Gefügtheit des Weltsinnes übergeht — dieser Übergang war der Romantik immer angelegen —, am wesentlichsten verwirklicht.
Was diese Art der romantischen Gefügtheit bedeutet, welche für das letzte Jahrhundert eine Art neuer Gotik war, das kann man leicht im Vergleich mit sonst einem größeren Erzähler seiner Zeit ermessen. Die Rührung der Empfindsamkeit oder auch eines ethisch stärkeren Gemütes, welche wie in der Bildkunst so in der Wortkunst des letzten Jahrhunderts gerne antikische Züge und die Epik eines aus allgemein menschlichen Motiven gespeisten Raisonnements annimmt und dann in generelle Charakterformen des Historismus oder eine bürgerlich typische Wirkung sich verlegt – die beiden Hauptmöglichkeiten unserer nachhumanistischen Form und Beredtheit —, gerade dies gibt es bei Stifter nicht. Die Sprache seiner Redenden bezieht sich auf nichts von den Begriffen der bloß allgemeinen oder, was dasselbe nur in der Umkehr ist, der bloß individuellen Innerlichkeit; sie hat hierin, so beredt sie sonst ist, eine stumme Haltung. Wohl hat sie nicht selten ein Wort, welches für den Lesenden wie ein Brennglas ist, als ob, während er in das Herz der Figur blickt, ihm selbst der heiße Punkt aus der Linse ins Herz gestoßen würde. Aber das Wort dient doch nicht dazu, ein individuelles Menschen-Ich mit Neugier herzuzeigen, was doch immer ein leichtes Verderben hat, sondern nur einen Punkt kenntlich zu machen, eine Ansicht, eine nach außen gewendete Form eines Wortes oder einer Handlung wie eine Zeremonie vom Menschen. Man sieht eine Eigenschaft, die von Stummheit umgeben ist, einen Teil, der mit der übrigen Stummheit ein viel größeres Ganzes bildet. Es bleibt aber ein Teil, ein „Weniger“ als das auch beste Menschliche, ein Augenblick, der aber Wirklichkeit und Dauer hat. Und dieser Augenblick wirkt künstlerisch nicht aus der Gedachtheit oder Eitelkeit des Menschlichen sondern rein wie aus dem bloßen Gesichte.
Und so entsteht bei Stifter der Mensch aus seinen Teilen und die Gesellschaft der Begegnungen aus ihren Teilen und, indem also gleich wie in der Natur so bei den Menschen alles in die Teile oder in das „Auswendige“ gelegt ist, entsteht der innerliche stille Raum, der wie Spannung ist und doch mit der üblichen Pathetik einer absichtlichen tragischen Spannung nichts zu tun hat, und der immer größer wird. Dieser Raum wird schließlich zur Gefügtheit der Geschichte; — nicht zu jener humanisierten Geschichte, in welcher der dramatische Begriff auf Typen und Charaktere gesammelt ist, wodurch der eigentlichste, feinste und göttliche Sinn der Geschichte aufhört; sondern zu einer Geschichte, welche sich nur im accidens, in dem gläubigsten Sinne des Zufalls aus einer inneren Notwendigkeit her offenbart. Und diese Notwendigkeit ist so, als ob sie rein menschlich gar nicht vorhanden wäre. Solche Menschen sind keine Charaktere, sondern als Teile dieser göttlichen Stille zugleich mehr und weniger. Es sind Menschenteile der Menschheit, jeder in seinem eigenen Zustand gefunden und nicht im bar Menschlichen, jeder auch an sich und oft mit einer sonderen Kühnheit wichtiger als die Menschheit; keiner, wie gesagt, ein „Charakter“, sondern ohne Selbstbehauptung und doch in einem zwingenden Ordnungsmaße für sich „berechtigt“. Eine solche Gerechtigkeit, welche nicht im Menschen liegt, sondern wie im „Auswendigen“ zwischen den Menschen, ist der eigentliche geheime und offene Sinn dieser dichterischen Welt. Mit dieser Gerechtigkeit, die auch in keinem Schicksalsbegriff besteht, sondern sich mit Vertrauen aus der nächsten Folge der Dinge weiterordnet, geht der Dichter der Natur, gerade dieser beschauliche Naturfreund, in die Geschichte über, ein Freund des Mittelalters, in welchem auch die Teile vor dem Ganzen waren und jede geordnete Bestimmung eine Proportion hatte zu einer stillen Raumgewalt und zu einem stummen Geiste.
Es ist heute allen gemein, das Göttliche sehr menschlich zu machen; aber es klingt schon unlieber, wenn man in bestimmterer Form sagt, daß Stifter, dem das „Göttliche“ in der allgemeinen Form nicht eben wichtig war, ein Dichter gewesen sei, der, wie kaum ein anderer, jedenfalls heute, das Begreifen der göttlichen Tugenden, des Sinnes von Glauben, Hoffen und Lieben, im literarischen Tun verwirklicht habe. Man pflegt solche Dinge lieber allgemein auszudrücken, um nichts bekennen zu müssen. Aber man wird damit dieser „Hoffnungsform“ des Schreibens, in welcher sich eben der ansonst unfruchtbare Sinn der Ordnung erfüllt, kaum gerecht werden, dieser manchmal fast wie eine naive blasphemische Sonderbarkeit anmutenden Zuversicht des Sagens und Begegnens, welche langehin wie eine kindliehe Einfachheit sein kann und doch immer wie ein aus größerer Geschichte geschnittenes Stück ist. Die Qualität der dichterischen Erfüllung geht dabei wie aus einer Quantität hervor, eben aus einer Art von dinglich-menschlicher Meßbarkeit und Außenwendigkeit, welche doch nicht gemessen werden kann, außer an ihrer Umfassung einer inneren stillen Gewalt. Es ist darin eine Art von Dauersinn, eine Art von Zeit wie ein erstellter Plan, der, indem er unzerpflückt von einer humanistischen Kausalität und wie in gleichen Schritten waltet, doch wie eine Erschütterung wirkt, und zwar wie eine solche, die als ein Paradoxes ganz aus der Ordnung folgt. Schon in dieser Gewißheit der geschriebenen Dauer ist ein Sinn von großer offener Stummheit und dabei etwas, als ob man die Notwendigkeit einer Barmherzigkeit erlebe.
Die Dichtungsform Stifters ist eine reine Verschiebungsfolge von Bild und Wort. Dies ist ihre spätromantische Art und zugleich ihre eigentliche Erzählerfähigkeit der reinen Mitteilung. Indem nichts in der Leidenschaft begründet wird, sondern in ihrem „Auswendigen“ sich verlegt, entsteht die Theaterlosigkeit, während bei anderen ein gewissermaßen dramatisches Abfangen zwischen Bild und Wort zu vermitteln pflegt. Das Gesicht des Lesers bekommt bei Stifter sein erstes Tun, und die Worte, die er hört, bilden dazu die Intervalle. Das Tun des Dichters ist gewissermaßen stumm und unsichtbar dazwischen gestellt und trennt diese beiden menschlichen Sinne. So ist jene Ordnung hergestellt, welche sich weder auf das Allgemeine noch auf das Individuelle bezieht, sondern wie eine reine Verhaltungsform zu wirken scheint, aber, indem sie weder einem humanistischen Begriff, noch seiner Vermenschlichung dient, eine andere Weltanschauung ist. Sie baut ein stummes Gesetz, an welchem die Sinne wie Teile sind; und indem sie sich wie in einer fortwährenden Empfängnis des Lesers miteinander teilen, bilden und erfahren wie ein Mehr, ein Vorgebot höherer Ordnung gegen das Menschliche. Zuletzt ins Stoffliche gewendet, ist es ja auch kein Zufall, daß Stifter eine nationale Aufgabe gesehen hat. Das Mittelalterliche, das Ritterliche, das Nationale und bestimmt Landschaftliche war ihm ebenfalls dies Notwendig-Außenwendige, dies Vorgebot für eine stummere und größere Wirklichkeit eines nicht leer Religiösen, sondern des Christlichen in seinem bestimmten deutschen Leben. Auch das Nationale ist ja gegenüber der allvernünftigen Beredtheit des „rein Menschlichen“ zu einer stummeren Rolle im Kultursinne verurteilt und muß immer wieder warten, bis seine außenwendige Würdigkeit gegenüber den gemeinen Fertigkeiten des baren Geistes wieder durchkommt.
Die schmucklose, aber unter einem fortwährenden Glanze liegende Aussagekraft Stifters, in welcher sich jener Wechsel von Bild und Wort vollzieht, trennt ihn allerdings vom Heute und von einer auch heutigen, im deutschen Sinne möglichen und gegebenen Form, ähnlich wie auch die bildliche Romantik von der Gegenwart getrennt ist. Heute ist die Bild- und Wortform der Kreatur gebrochener, aber im Echo schwingender; (— ich nenne statt anderer Beispiele einen Maler, nämlich van Gogh —); zwischen Blick und Ohr, zwischen dem Außen und Innen, zwischen Bekenntnis und Schicksal vollzieht sich ein heftiger Kampf des Werdens und die stille Raumgewalt des Seins und der Geschichte ist in dem Sturm der Einzelteile auseinandergelegt. Der stumme Geist hat die festen Intervalle wie mit Glocken erfüllt und das infandum verlangt nicht nach den stillen Erschütterungen der älteren Geschichte, sondern es ruft nach einem gegenwärtigen „Vollbracht“. Dies ist unsere andere Lage gegenüber dem Dichter des alten, in stiller Nachsättigung noch beharrlichen Österreich. Aber daß er doch gerade uns Deutschen im Heute nahekommt, das zeigt, daß hier nicht bloß ein Erzähler war, sondern der Dichter eines Schicksals, dessen Ordnung über dem stofflichen Inhalt weiterschreitet. Wir kennen heute nicht die bereinigte Form, aber wir hören den Schritt, wir fühlen das Gesetz des stummen und notwendigen Geistes und daß es sich künftig nicht um das Menschliche handelt, sondern um das Vorgebot einer Kreatur, welche dagegen eine festere Bestimmung wie eine notwendige Außenwendigkeit und Rüstung an sich nimmt. Der Sinn unseres mittelalterlichen Menschen, der nicht „Mensch“, sondern Deutscher und Christ war, ist nicht anders.
Die Stummheit bei Stifter ist eine solche, als ob der Lesende immerfort erfahre, daß die Dinge und auch die Geschehnisse zwischen den Menschen ein Bedürfnis haben, in einem reinen und „unbeschriebenen“ Sinne vor dem göttlichen Angesicht zu liegen. Auf diese Weise sind sie gegenüber dem Menschlichen neugierlos und in einer integralen Ergänzung. Das ist nicht ethisch, sondern das ist eine Form, welche zwischen Dingen und Menschen eine Distanz einschiebt. Es ist ein weltanschaulicher Ehrbegriff, welchen das bloß Menschliche nicht kennt.
Schon die Vorstellung, wie vor rund tausend Jahren die ersten eigenen Dichterstimmen, die wir kennen, in die deutschen Gaue erklungen sind, möchte uns Heutige selbst mit der Lust einer dichterischen Morgenfrühe überkommen. Wer dazu noch den Harz kennt und an den blauen Ernst der Höhen zurückdenkt, womit er in das westliche Land heraus schattet, wer hier nun Gandersheim an der Gande weiß und also den Ort, wo Hrotsvit, die erste deutsche Dichterin, ihr einbezirktes Leben gehabt hat, der mag davon eine so lebhafte Lust empfinden wie von dem schönsten deutschen Naturbild mit Wald und Fluß und Feldern, wenn der Wind hindurchgeht mit vielen beflügelten Stimmen. Die erste weibliche Stimme der deutschen Dichtung mußte wohl wie ein Laut der Natur selber sein, der aber zugleich wie eine Glocke die schwingende Erwartung einer langen Zukunft in sich trug.
So mag man es sich vorstellen; aber die Tatsachen der Geschichte befinden sich doch nur halb auf dem Weg einer solchen naturmäßigen Vorstellung. Die Menschen kommen aus der Natur, und besonders die Deutschen, aber sie treten sofort mit der Sprache und mit einem Zeitwesen, das schon auf sie wartet wie eine andere Hälfte ihres ersten Daseins, in eine Bestimmung der Geschichte. Und gerade auch die Deutschen sind am stärksten sofort in die Geschichte getreten wie in ein Erbe, das ihre eigene Natur bedrängen mußte, bis diese rank und blank in der neuen Zeitensonne stand.
Es mußten gewiß schöne und kräftige Naturen sein, die im Umbruch der Formen zum deutschen Sinne und in der fremden Sprache des Latein auch dichterisch den eigenen Ausdruck fanden. Wenn sie in den Maßen des vorhandenen Sprachdenkens, in welchem sie geschult wurden, plötzlich die rhythmische Regung der eigenen Zunge zu spüren vermochten, und dann, obwohl das Wort selbst noch nicht deutsch war, doch seine Bewegung, vom urlauthaften Triebe gespeist, ihnen nun eine ungeahnte Fülle zu spüren gab, so daß also ihre deutsche Anlage vom Rhythmus her eher und größer gespeist wurde als vom Worte her, dann war gewissermaßen der deutsche Geist in die eigene Landschaft getreten. Eine neue Sprache des Rhythmus lief neben der älteren Sprache der Verständigung her, zu der das Latein gebraucht war, und fand dann noch der runenhaften Stoßkraft des deutschen Stabreims für die eigene Natur neue Wege.
Hrotsvit, die erste deutsche Dichterin, war im späteren Mittelalter ganz vergessen. So hatte das Wort, daß Bücher und damit auch die Dichter ihre Schicksale haben, auch schon bei ihr Geltung bekommen, allerdings im Zusammenhang mit dem geschichtslosen Sinne des Mittelalters, das zwar in allen seinen Formen die geschichtliche Prägung immer stärker empfing, jedoch einen freien Geist der Geschichte selber damit ausschied. Mit den Humanisten aber war dieser Geist lebhaft erwacht. Und nicht allein die Antike hatte davon den Gewinn, sondern auch dem Anfang des Mittelalters wurden, während es selber zu Ende ging, Auferstehungen zuteil.
Der Humanist Konrad Celtis war der Wiederentdecker der ersten deutschen Dichterin Hrotsvit. In der Münchener Staatsbibliothek befindet sich heute die einzige erhaltene Handschrift ihrer Werke, die aus dem 11. Jahrhundert stammt und die sich in der Klosterbibliothek von St. Emmeram in Regensburg erhalten hatte. Dort fand sie Celtis 1494 auf, der sie dann auch in einer Ausgabe, Nürnberg 1501, veröffentlichte. Der Titelholzschnitt seines Buches, auf dem die Nonne Hrotsvit, von ihrer Äbtissin Gerbirg beschützt, dem Kaiser Otto I. ihre Dichtungen überreicht, wird mit anderen Schnitten Albrecht Dürer zugeschrieben. So erhielt Hrotsvit Aufsehen bei den Nürnberger großen Geistern durch Celtis, und Charitas Pirkheimer dankte ihm, daß er die Gedichte eines schwachen Weibes ans Licht gebracht und den Stand einer armen Nonne nicht verachtet habe. Celtis aber schrieb an Kaiser Maximilian von seiner Überraschung, als das Werk einer germanischen Jungfrau, die in lateinischer Sprache und in Versen dichtete, vor ihm gelegen habe. „Wie konnte der hell glänzende Stern der deutschen Dichtung so lange hinter den Wolken der Mißachtung verborgen bleiben. Unglaublich ist es, daß ein Mädchen von zartem Alter, in einem rauhen Vaterlande und während der dunklen Barbarei erzogen, solche Dinge schrieb.“ Alsbald wurde nun der Ruhm Hrotsvits während der humanistischen Periode allgemein, eine Menge Nachdichtungen entstanden nach dem Vorbild ihrer dramatischen Stücke, sie wurde als die christliche Sappho und mit anderen Lobesworten bezeichnet und in Versen gepriesen. Im letzten Jahrhundert hat man sich neuerdings der Beschäftigung mit ihrem Werke zugewandt, unter ihre Verehrer sind besonders auch die Franzosen gegangen, und auch die Gegenwart hat ihrem Andenken neue Liebe bewiesen.
Was war es indes mit dem „rauhen Vaterlande“ und mit der „dunklen Barbarei“, während welcher Hrotsvit lebte und schrieb? Hrotsvits Leben begann, wie man es annähernd nach Angaben in ihren Schriften errechnet hat, 935 oder also vor tausend Jahren; das ist gegen Ende der Regierungszeit Heinrichs I., des ersten Herrschers aus dem Sachsenhause, welcher 936 starb. Wie war es nun in jener Zeit? Der König Heinrich war selbst des Lesens und Schreibens nicht kundig; aber seine Gemahlin Mathilde, die ihn in Quedlinburg begrub, war im Kloster Herford erzogen worden, wo sie die feine Ausbildung erhalten hatte, wie sie für die Töchter der Fürsten und Adeligen üblich war. Mathilde hatte neben Quedlinburg auch das Kloster Nordhausen gegründet, wo sie gerne weilte. Und während Quedlinburg zugleich ein fürstlicher Treffpunkt und Aufenthalt der sächsischen Herrscherinnen war, also Mathildens selber, die noch bis 968 lebte, dann der Gemahlinnen ihres großen Sohnes Otto, nämlich der englischen Edith und später der burgundischen Adelheid, sowie weiterhin der griechischen Prinzessin Theophano, der Gemahlin Ottos II., während also hier ein Mittelpunkt hoher sächsischer Kultur war, hatten gerade auch die Frauenklöster, darunter noch Gernrode, als eine Art kulturvolle Außenposten von Hof und Stifterfamilien eine ähnliche schöne Bedeutung. Der große Otto selbst war noch ohne gelehrte Bildung, die er erst später, so wie er sie förderte, auch für sich selber teilweise nachholte. Aber Otto II. war literarisch gebildet; und nach dem Niedergang der karolingischen Renaissance war nun im 10. Jahrhundert, in dessen zweiter Hälfte, die neue ottonische Renaissance, wie man diese Periode zu nennen pflegt, in voller Blüte. In dieser Zeit also lebte Hrotsvit, die Dichterin, als Nonne in Gandersheim. Man nimmt an, daß sie um das Jahr 1000, als die Zeit der Ottonen ebenfalls zu Ende ging, gestorben sei.
Hrotsvit als eine „arme Nonne“ zu bezeichnen, mag wohl auch mehr als die Redeweise einer höflichen Demut gelten. Wie die ersten Äbtissinnen der Klöster fürstlichen Geblütes waren, so stammten auch die Insassinnen aus den Geschlechtern des Landes; und Hrotsvit war demnach von einem niedersächsischen Edelgeschlecht entstammt. „Arm“ kann aber vor allem nicht in dem Sinne eines kümmerlichen Geisteswesens gelten. Denn die ganze Haltung und alle Elemente in ihrer Dichtung zeigen, daß, so unbedingt und fest die junge Sächsin den Stand der Nonne ergriff, ebenso frisch, unmittelbar, ja von einer reizenden Selbstsicherheit und dann auch wieder Verbindlichkeit ihre Beziehungen zum Dichterischen nach Vergangenheit und Gegenwart und ebenso zu ihrer gelehrten und höfischen Umwelt waren. Schreibt sie doch selbst in der Vorrede zu ihren Dramen: falls es niemand gefallen würde, „mich selbst freut es doch, was ich gemacht habe.“
Von ihrer ersten Lehrerin Riccardis weg kam sie in den Unterricht ihrer Gönnerin, die noch jünger war als sie, der Äbtissin Gerbirg, einer kaiserlichen Nichte. Diese Gerbirg war eine Tochter Herzog Heinrichs des Zänkers von Bayern, des Bruders von Kaiser Otto, mit dem er früher rivalisiert hatte, wobei er von der gemeinsamen Mutter Mathilde unterstützt wurde, bis dann die Aussöhnung erfolgte. Die Schwester aber der Äbtissin Gerbirg war jene Herzogin Hedwig von Schwaben auf dem Hohentwiel, welche mit ihrem literarischen Streben der ganzen deutschen Lesewelt durch Scheffels romanhafte Einkleidung in seinem „Ekkehard“ bekannt ist. Es sind das alles, trotz der kämpfereichen Zeit, keine Tatsachen für ein armes, dunkles und barbarisches Leben. Im Gegenteil scheint es erstaunlich, wie schnell sich Kultur in ihren Ausdrucksformen zu sättigen versteht, und daß das, was erst noch schwer um Ausdruck ringt, doch schon die Formen einer feinen seelischen Taktik und Dialektik besitzen kann. Ein Beispiel ist in den gleichen Jahren der sächsische Mönch Widukind von Corvey, vermutlich ein Nachfahre aus der Familie des großen Herzogs. Dieser Corveyer schrieb als erster die sächsische Geschichte. Er ringt darin noch schwer und blockhaft um die darstellerische Gestalt. Aber er hat sein Werk der Frau Mathild, des Kaisers Otto Tochter, gewidmet, welche Äbtissin in Quedlinburg wurde. Sie war zur Zeit der Widmung zwölf Jahre alt, und die Widmung ist keineswegs plump, sondern von einer fast barocken, religiösen und höfischen Zärtlichkeit und Ergebenheit.
In dem Sinne einer solchen Zeithaltung zur eigenen Gegenwart zeigen auch die dichterischen Stoffe Hrotsvits einen bestimmten Fortgang. Während sie zuerst kirchliche Inhalte und Legenden in acht Stücken dichtete, worauf dann, sicherlich als innerlich ausgreifendstes und reichstes Tun, ihre sechs kleinen Dramen folgten, beschrieb sie auf Gerbirgs Geheiß noch in einer Dichtung die Taten Ottos, als eine Familiendichtung für das Kaiserhaus, und in einer weiteren Dichtung die Entstehung des Klosters Gandersheim. Diese zweite Dichtung steht mit der ersten insofern auch in Beziehung, als Gandersheim eine Stiftung des sächsischen Herzogsgeschlechts ist und die ottonische Geschichte also nach ihrer Herkunft hin ergänzt wird. Der sächsische Herzog Ludolf war der Gründer Gandersheims, wobei seine Gemahlin Oda die treibende Kraft war. Seine Tochter Hathumod war auch die erste Äbtissin. Und auch Otto II. hat noch seine Tochter Sophie hierher geschickt, so daß also der Ort ganz in die größeren geschichtlichen Verhältnisse eingestellt erscheint, in denen das Reich wuchs und lebte. Man hat Hrotsvit auch die erste deutsche Heimatdichterin genannt. Ihre Gandersheimer Geschichte ist der Natur nach, wo sie das Wunder der Gründung beschreibt, von einer starken Anschaulichkeit. Aber man wird nicht übersehen, daß der geschichtliche Zeitgeist es ist, der die Natur am Harze durch sie in die Dichtung gehoben hat.
Der größte Ruhm der Dichterin Hrotsvit aber sind ihre Dramendichtungen. Die älteste deutsche Dichterin ist zugleich die älteste Dramendichterin im christlichen Abendlande. Man weist darauf hin, daß, so wie in ihrer Legende „Theophilus“ schon die Elemente des Faustproblems gegeben seien, so Hrotsvit auch in ihrem Drama „Calimachus“ Motive von Shakespeares „Romeo und Julia“ vorweggenommen habe. Zwischen solchen Hinweisen und der Tatsache, daß sie, um die sittliche Schädlichkeit des zu ihrer Zeit viel gelesenen Terenz wettzumachen, ihre Dramen um die Themen von Jungfräulichkeit, Bekehrungen und Marterszenen gedichtet hat, scheint zunächst eine weite Kluft zu bestehen. Hrotsvit hat damit den späteren Beurteilern Rätsel aufgegeben über ihre Natur und über den Sinn dramatischer Dichtung überhaupt. Man möchte aber geradezu sagen, nicht bei ihr liege der naive Begriff des Dramatischen, den man teilweise ihr zuschreibt. Sie bewährte vielmehr auch in dem, was man bedenklich findet, nämlich das Heikle mancher Stoffe, oder was man tadeln will, besonders mit den Einsätzen scholastischer Gedankenspiele, die sie über Zahlen und Musik in ihrer „Buhlerin Thais“ sowie in dem letzten Stück „Sapientia“ gemacht hat, eine unglaubliche Fähigkeit, vom Stofflichen frei zu bleiben und eine auch tragische Sinneskraft zu gewinnen.
Die Dichterin Hrotsvit ist eine deutsche Natur trotz des Lateins ihrer Sprache, und gerade auch mit der sonderbar echten Angemessenheit ihrer weiblichen Motive. Sie hat und bedeutet in sich ganz jenen reinsten dichterischen Begriff der Natur, der, selber schwer zu bestimmen, doch das eigentlichste dramatische Wesen bestimmt. Es ist jene spielende Freiheit, die im männlichen Wesen der Geschichte dichterisch eine kühne und lose und immer im letzten unvergänglich schöne Rolle zu spielen hat. Damit hat Hrotsvit auch über Motive hinaus etwas herrlich Shakespearisches vorbedeutet, während sie sicher in ihrer persönlichen Art mit Annette von Droste als Stammesgenossin Ähnlichkeit hat. Hrotsvit steht im Beginn deutscher Dichtung als der „starke Klang“ von Gandersheim, wie sie selbst die Bedeutung ihres Namens angegeben hat.
Hrotsvit hat ihrer Natur nach etwas Erstaunliches und in ihrer stärksten Auswirkung, im Sinne ihrer Dramendichtung etwas Rätselhaftes an sich. Dies Erstaunliche und dies Rätselhafte wächst mit dem näheren Hinsehen.
Zwar zeigt ihre Natur die überraschende Frische eines jungen deutschen Geistes nicht aus dem ersten Quell der Wahrnehmung in Sprache und Ausdruck, sondern aus der prismatischen Rückstrahlung, aus dem durchsichtigen Zeitgefüge der frühen christlich-deutschen Geistesformen. Diese Rückstrahlung aber ist so vielseitig und einheitlich zugleich, daß der Quell ihres Geistes von selbst zu schimmern beginnt und das lebendige Wesen ihrer Natur von ihm durchpulst wird wie von den Hauchen und dem schönen Blute einer ganz eigenen Bestimmung. Wir erhalten dieses starke Gefühl ihrer naturmäßigen Bestimmung und echten Kraft also nicht aus der unmittelbaren Natur, sondern eingebaut gleichsam in eine hohe Raumzelle der Zeit. Aber gerade dies gibt sowohl dem ganzen geistigen Bau- und Raumbilde ihrer Zeitgenossenschaft eine starke Schlüssigkeit, wie es anderseits ihre eigene Wesenheit mit auferwachter geistiger Kernlust und doch gesammelten Zügen hervortreten läßt und auf jene leibliche edle Haltung vorausdeutet, die wir später in den weiblichen Reliefgestalten der hohen romanischen Zeit, so in Quedlinburg und Gernrode sehen können, wo sie in der figürlichen, auf einer sonderbaren Wachgrenze stehenden Schönheit, in der stummen und beredten Erfüllung eines mit festen Zielen im ganzen Bau der Zeit beschlossenen Daseins erscheinen. Dort sind diese Figuren dann auf dem Grund der Steine festgelegt, eingefaltet in Gewänder wie in Sinnkräfte, stehend, ohne eigentlich zu stehen, aber im Andrang zu einem inneren Wesen noch aufrechter befestigt, mit Augen, die in einer geöffneten Mitte sind von Ein- und Ausblick, und ebenso mit Mündern, die stumm sind, weil gleichsam horchend gegen die eigenen Worte, um unverloren und bereit zu bleiben für den Empfang eines größeren Sagens.
Gewiß ist die Gestalt der Hrotsvit nicht ganz in diesem strengen Stile gebunden und schlüssig. Sie hat noch ein lebendigeres und unerwartet aus der angestammten Natur funkelndes Zwielicht und Morgenlicht. Und damit gehört sie noch ganz in die frühe deutsche Zeit, wo die Naturen noch funkeln und blitzen gleichsam von Erdreich und Wasser und noch nicht gleich dem Steine fest geworden sind mit ihren geschichtlichen Sinnen. Aber diese Freiheit ist bei der deutschen Natur wohl immer gewesen, auch wenn sie im Stil der Zeiten strenger verschlossen und versperrt erscheint. Und Hrotsrit hat diese größere oder eigenwilligere Deutlichkeit der Natur, die auf eine längere und lebendigere Gewähr eines Wesens hinweist. Es ist darin eine weibliche unvermittelte Kraft, in welcher wohl ein Urweistum unseres deutschen Wesens unversieglich fortlebt. Denn auch, was zur Strenge der Zeitformen des Mittelalters bestimmt, hat doch innerhalb immer wieder eine liebliche Losigkeit und die um so bewegteren Sinnigkeiten, an denen die alte deutsche Zeit so reich geblieben ist. Eine solche Sinnesart der Eigenwilligkeit ist das innerste, edelste und unfaßlichste Band der Zeiten. Ein Quell der Natur fließt so durch die Geschichte und holt sie in sich zurück. Und er behält gleichsam gegen alle Worte und Formen die ungesagte Freiheit eines musikalischen Blitzes. Und also ist Hrotsvit mit der reinen Natur, die wir an ihr wahrnehmen, mehr als eine erste deutsche Dichterin. Sie ist ein funkelndes Geschöpf und eine erste Schöpferin aus dem unversieglichen Wasser unseres Wesens.
Wenn wir also die frühen deutschen Menschen erschließen müssen aus dem Prisma eines geistigen Gefüges, wenn also die gewordenen Formen oder die zeitlichen Gegebenheiten deutlicher — deutlicher nämlich nicht durch sich, sondern durch bestimmte Geisteshaltungen — und also dieser Natur anschaulich zuvorgegeben sind, so sind wir doch vielleicht gerade noch mehr imstande, die innere eigene Natur darin zu rücken, bewegungsmäßig zu fühlen und zu lockern. Und von dieser lockeren, losgerückten, im ersten Sein zu allem Dasein gezückten und ihrer selbst nun mächtigen Natur ist Hrotsvit das erste Bild.
Rätselhafter noch als die Natur, die doch zuletzt hinter ihrer eigenen Gewißheit von keiner fremden Einsprache mehr weiß, ist der Sinn von Hrotsvits Dramendichtung. Man möchte ihn mit einem klaren und nur in kleinen festen Maßen dastehenden Bau vergleichen, der aber innerlich hell und tief nachhallt und aus räumlichen Nähen ein Echo weckt, das weit über seine sichtbaren Maße weht. Und dieser Sinn ist wohl heute noch nicht erschöpft. Nicht gemeint ist hiermit der Sinn als bloßer Inhalt. Denn der Inhalt ihrer Dramen an sich, in deren sämtlichen die Reinheit, die Rettung der Jungfräulichkeit oder die mit Verstandesspielen in einem sonderbaren Jubel der geistigen Geborgenheit oder ebenso Unverberglichkeit begleitete Marter von Frauen um ihres ergriffenen Glaubens willen der wörtliche Gegenstand ist, dieser Inhalt scheint, wenigstens nach dem einfachen Begriffe, eben aus einem nonnenhaften christlichen Wesen und Bekenntnis zu entspringen. Aber dies kann als barer Inhalt doch nur für den gelten, der glaubt, daß die Inhalte in der Welt des Geistes und Glaubens bereit lägen und nach Willkür und stofflichem Zusagen von einer dichterischen Anlage in einen gestalteten Effekt umgesetzt würden. Wenn man aber fühlt und ahnt, daß Inhalte gleich Sinnen und Formwahlen in den Zeiten sind und daß sie als Wort und Geschichte aus einem geistigen Bau herausdringen, den sie eben damit ermessen und erbauen, dann wird man der einmütigen Unbedingtheit dieser Drameninhalte Hrotsvits noch etwas anderes anerkennen wollen. Man muß also jedenfalls zusehen, ob die nonnenhaften Motive im persönlichen Anliegen beschlossen bleiben oder in einen geschichtlichen Sinn weiterreichen.
Nun zeigen die Stoffwahlen in Hrotsvits Dramen, die in die Zeit noch des Apostels Johannes, dann in die Periode des Diokletian, Konstantin und Julian des Abtrünnigen und in das Einsiedlerleben des 4. Jahrhunderts in der ägyptischen Wüste zurückverlegt sind, zunächst wohl einfach, wie sich der junge deutsche Geist in den altchristlichen Zeiten behaust hat, wobei es immerhin schon merkwürdig ist, daß der Stoff des alten Mönchslebens als eines sonderbaren Zwischenreiches auch noch die neueren russischen und französischen Dichter beschäftigt hat. Weiter sodann lassen die Dramen Hrotsvits an einzelnem erkennen, und darauf hat man gerne hingewiesen, daß die erste deutsche Dichterin doch ihrer sächsischen Gegenwart unwillkürliches Kind blieb, in der Art, wie sie die spätrömischen Verhältnisse mit den ihr gegenwärtigen Vorstellungen verknüpft und etwa von Grafen und von Burgen spricht. Noch mehr aber wirkt sich die kräftige Gegenwart um sie wohl darin aus, daß aus den einfachen und großen Verhältnissen, eine wiewohl auch in Teilen hauptsächlich des Dialogs sehr wendige und lebendige, so doch kräftig vereinfachte und auf Geschehen gerichtete äußere Anlage in ihre Dramatik eingeht. Entscheidend jedoch ist, und zwar sowohl für die junge Deutsche, wie noch mehr für den Sinn dieser jungen deutschen Dramatik, daß und inwiefern bestimmte Eigenschaften oder Geisteshaltungen ganz von sich aus die innere Spannweite des dramatischen Geschehens in der Anlage schon bestimmen, also nicht eigentlich sich entwickeln lassen, sondern sofort bewegen und in sich stürzen.
Man fühlt davon zunächst, wie sehr bestimmte Eigenschaften, nämlich Vertrauen und Treue, Absage gegen Verrat und Mißgunst, mehr noch ein unverwirrbarer Sinn oder kurz sonderbare Sinnesgewißheiten in der Natur des Geistes dem Herzen Hrotsvits wichtig sind, und wie sie diese mit Rechts- und Siegesgefühlen in die Worte der Figuren verteilt. Man fühlt überhaupt eine Lust des „Rechtsverfahrens“ im Sinne, das ihrer Dramatik wesentlich ist und Bewegung und Spaltung bringt. Auch ihre Laune ist am meisten Laune in Gefahr und Rechtsverfahren. Dies ist wohl ein sonderbar dramatischer Eigen- und Ursinn. Und als Zusammenfassung dieser Eigenschaften kann eine Sinnesgewißheit bezeichnet werden, die sich gegen alles ursprungslos Vereinbarliche in Begriffen und Lebensformen richtet. Diese Sinnesgewißheit wird selbst nicht in Frage gestellt. Leben und Tod, auch Gut und Böse sind nicht als Fragen an das Schicksal gestellt, sondern stehen unter diesen Gewißheiten und werden entschieden, als ob man das Dasein wie einen blitzenden Kristall in der Hand hätte. Größe und Blitzgewalt der Sinneskräfte beladen und befreien die Spannung. Diese Welt in ihrer reinen Gegenwart ist noch härter, als was sich nach einem alten Schicksalsbegriff von ihr ausmachen läßt. Was in diese blitzende Gewißheit einbegegnet und darin gespalten und erkannt wird, das ist doch wieder geborgen und sicher in einer wandellosen Gleiche. Diese ist nah und fern wie ein ewiger Zwischengrund, das ist ein Jenseits und doch eine stete Innehaltung.
So sind die Dramen Hrotsvits bestimmt. Gut und Bös in den Dramen um die Einsiedlerinnen Maria und Thais bringen allerdings noch einen zweiten, das ist einen von der Beschlossenheit der Geschichte zu der unschlüssigeren Natur erweiterten Inhalt. Aber auch hier wird die Entscheidung aus der Sinnesgewißheit geführt, welche starke Umschläge braucht, und nicht aus einer seelischen Entwicklung, welche lebenswahrscheinlich im generalen Sinne, aber immer zweifelhaft nach der Gewißheit der wirklichen Bestimmung ist. Oder es wird durch die schärfere Wendung der Erkenntnis ebenfalls eine Größenordnung herangerückt gegenüber dem vereinbarlichen Empfinden, welches zu einer nicht vorentschiedenen Natur hin geht und mit ihr aus der Geschichte allmählich ausfällt. Eine solche Sinnesart ist also wie die Freude an den farbigen und edlen Steinen, welche den starken Sinn der Gesschichte bedeuten und mit welchen sich das frühe Mittelalter reich geziert hat. Wie weit ist dies alles weg von einem Sinne, in welchem die farblose Idee den Vorrang gewonnen hat und die Geschichte dann in Beispiele des bloß Menschlichen sich umsetzt.
Diese allgemeine Feststellung nun gibt noch Anlaß zu einem längeren Gedankengang. Gewißheit und Vertrauen, oder wo überhaupt eine seelische Unzerbrechlichkeit die Führung hat, bilden also die nächsten und eigentlichen Inhalte von Hrotsvits Dramen. So wenig die Dichtung demnach die alten Christenzeiten in der Art einer historisch inszenierten Malerei beschreiben kann, weil Geisteshaltungen etwas anderes sind als geschichtliche Illustrationen, ebensowenig sind diese Eigenschaften zu verwechseln mit religiösen Gesinnungsformen in schematischen Absichten. So möchten sie nämlich dem bloß stofflichen Betrachter erscheinen. Diese Eigenschaften sind hier benützt gleich Steinen im Anstoß oder noch mehr Widerhalt oder gleich instinktiven Dispositionen, und damit führen sie auf geschichtliche Wirkung. Damit sind sie auch mehr, als was man mit dem Begriff von Charakter zu verbinden pflegt. Sie geben vielmehr selbst, und zwar wie aus einem notwendigen Widersatz den vorbestimmten Anlaß, um das Wesen des Menschen im Formwesen der Geschichte zu Brechungen zu zwingen und in Brechungen zu erkennen. Diese Eigenschaften sind also nicht solche von Charaktermitspielern einer stofflichen Gegebenheit, sondern, während sie ihre eigene geschichtliche Statik erhalten, spalten sie zugleich das geschichtliche Dasein auf bis zu einem gegengeschichtlichen Grade und Grunde, bis zu einem „Eigensinn“, welcher mit dem Sieg der Ohnmacht eine blitzartige Ewigkeit in die zeitliche Härte zu bringen weiß, so in dem „Calimachus“, den man mit „Romeo und Julia“ verglichen hat, und welcher anderseits das Motiv überbietend um den Verlust des reinen Willens den Zusammenhang aller tragischen Wahrheit fühlt und umwendet; so auf duldendere Weise in „Fall und Buße Marias“. Diese Haltungen haben eine erstvorhandene Form wie die unverbrüchlichen Flächigkeiten alten Bildsinnes. Sie haben anscheinend eine abrupte, von der Welt abgerissene Starrheit, um noch zu ihrem gegebenen Augenblick ganz tätig zu sein. Und die seelischen Wendungen sind wie Schildhaltungen, zugleich mit der Freude an der schnellen Verkehrung eines Bildes eben durch diese Schildhaltungen. Diese Haltungen scheinen bloß innerhalb eines Augenblickes wirksam und haben doch ganz etwas Aus- und Übergreifendes. Damit beschließen sie einen Dramensinn, der nicht auf Schicksalsform verpflichtet ist, wenn man mit dieser gleichsam einen Naturbann erkennen will. Es ist der helle Geist des geschichtlichen Dramas, der mit Haltung und Wendung einen zeitlichen Augenblick in sich vollzieht, der in die Offenbarung des Augenblicks wie in eine bloße Methode eingestellt ist, aus welcher aber die Erschütterung der greifbaren Welt herausspringt und bis zu dem gespaltenen Kern der Natur zurückreicht. So empfinden wir ja wohl auch Sinn und Kern des Dramas bei Shakespeare.
Damit aber bedeuten diese Haltungen und Eigenschaften nicht bloß positive Züge natürlicher menschlicher Anlegung, sondern, wie man sagen kann, dispositive Reichweiten, innerhalb welcher die Brechungen, Bewährungen, Umschläge stattfinden, innerhalb welcher das dramatische Geschehen eintritt oder als eine Folge aus notwendigen Widersätzen nacherholt wird, Es ist ein Welt- und Ursinn des Gefährlichen in solcher Dramatik, die nicht herausgebaut ist zuerst aus dem persönlichen Schicksal, sondern aus den dispositiven Verhältnissen der Geschichte. Je mehr man sich die geschichtlichen Sinnkräfte aneignet, desto weniger ist das Leben lösbar ohne Tragik. Aber das ist gerade der Sinn des größeren Lebens. Und dem Sinn des Gefährlichen entspricht auch der Sinn des Wunders. Je stärker nämlich die Reichweiten des Sinnes sind, das heißt auch, je stärker sie gewissermaßen der Vernunft zu widersprechen vermögen, um so stärker kann auch Brechung und Umschlag sein.
Und so ist auch ein plötzliches Fallen in den Tod oder die ebenso plötzliche Erscheinung des Auferstandenen, so sind alle Wendungen des Sinnes gleich Wendungen einer blinderen Gewißheit, und alles Unbeirrte wie Verirrte, und auch das Verlieren der reinen Seele und das Darnach-Laufen wie um eine einzige Angelegenheit des lebendigen Weges, alle diese Motive sind nicht mit dem Verstande selbst zu ersehen, sondern mehr mit einem Erstaunen des Verstandes, daß er sich in seinem Eigensten, in der geistigen Lebensgewißheit selber zu überholen weiß; und was noch mehr ist, daß der Grad dieses Überholens nicht ein irres Spiel ist, sondern bestimmt wird eben durch das blinde Vertrauen des schwächsten Lebens. Dieses hat gleich einer prästabilierten Gewißheit und fast wie eine ungeheuerliche Freude noch das Übergewicht über die Katastrophe, und indem es sich selber zu bestätigen weiß, wird es der Sinn einer weltanschaulichen Untrüglichkeit.
Alle diese Motive stehen nun umher wie um eine innere Anwartschaft. Und der Sinn dieses Dramas kann sich nicht anders sättigen, weder aus dem dunklen Schicksalsbegriff, noch aus der stofflichen Wahrheit der Geschichte, sondern allein aus der Stärke und Reichweite dieser inneren Anwartschaft, aus dieser Aufzehrung der Natur in den Widersatz einer blinderen Schönheit. Shakespeares Cordelia ist die Verwandte und große Nachkommin eines solchen anwartschaftlichen Dramensinnes.
Wir setzen also einen Unterschied voraus zwischen einer aus dem Natürlich-Menschlichen angelegten Positivität und einer dispositiven Reichweite, welche nicht zuerst das Menschliche betrifft, sondern mit diesem gespalten und zu ihm gleichsam blind aus einer anderen Bestimmung zuvorgegeben ist, in welche sich dann das Menschliche einbezogen zeigt. Es tritt gleichsam in eine prästabilierte Gewißheit, welche im Drama unterbrochen und dadurch noch gewisser wird. Es ist eine höhere Sinnesmacht im Grunde und sie ist aufgerichtet in der Zeit, vor welcher der Mensch in seinem zweiten Grunde geht. Der positive Begriff nämlich gebraucht den Menschen beispielmäßig in der Geschichte, wobei er ins Typische, wie man sagt, erhöht und in die eigene Mitte gestellt wird. Der umgekehrte Sinngang, — umgekehrt insofern, als der Sinngang vor dem Begriffe des Menschen waltet — der dispositive Sinn also bewegt das jedeinzelne Leben, das nun nicht typisch wird, das nicht in die moralisch vermittelnde Überlegung und Exposition hinausgesetzt wird, um davon her eine entscheidende Rolle zu haben, sondern das im großen Spiel der Sinnkraft mit der Zeit zu einem entscheidenden Werkzeug wird. Es verdichtet sich als Schauwerk am Zeitgang und wird nicht zum Lehrgeist einer zeitlosen Idee. Oder auch: diese Gewißheit stellt, statt ein Geschehen aus dem organischen Wachstum, wie man wiederum sagt, zu entwickeln, es planhaft und ohnmächtig in widerspiegelnder Weise — das ist im eigenoder ohnmächtigen Austausch mit seinem Sinngrunde — zwischen die Mächte der Geschichte zur eigenen Innewerdung und Erkundung. Und die so am meisten erkundete Figur vollzieht ein Zeugnis in der Geschichte aus dem „Worte“ ihrer Natur, als ob der Mensch gar nicht zur Einheit geschaffen sei, als ob er einem reinen und rätselhaften Sinnesablauf dienen müsse, und als ob alle Geschichte, immer wie ein Sinngrund ruhend, nur dem Worte des Augenblicks die Kräfte mitteile, welche sein Leben sind. So geschieht es am meisten in Calderons „Richter von Zalamea“. Das „Wort“ wird wie zum Tode der Natur geboren aus dem Zudrang der Geschichte. Es muß etwas von der ersten Furcht erregt werden, daß kein vernünftiges Schicksal herrschen kann. Aus dieser Furcht ist auch der Sieg im Herzen möglich, der um so strahlender wird, je weniger er sich der eigenen Sinnkraft fähig weiß. Und das Letzte all dieser Aufhellung ist eine Integrität, an die das Leben angeschlossen ist mitten in der Geschichte. Es ist auch wie im Mittelalter die Figur am Stein oder an ihrem Gewände.
Und nun läßt sich ein letzes Innenverhältnis allen dramatischen Sinnes denken. Es lebt die Unverbrüchlichkeit eines sonderbar weiblichen Sinnes im geschichtlichen Dramabegriff, das heißt darin, daß eine Trennung im Menschlichen stattfand, daß Zeugnis und Aktion getrennt sind wie eine Figur vor ihrem Sinngrunde, daß der bewußtere Begriff in dem blinderen erhöht, also nicht bloß paarig ist wie Mann und Weib, daß nun alles Spiel beginnt, als ob ein Mann aus der Gewißheit ausgeschieden sei, deren Grund im Weibe rätselhaft wartet und als Erkenntnis versagt, und als ob doch das sterbende „Wort“ innerhalb einer Sinnmacht ruhen bleibe, welche gleich ist einem unbesiegbaren Weibe. Erst in dieser Zweiteilung aktiven Geschehens durch ein gleichsam kontemplatives, das aber auch der Ansporn des aktiven bis zur heiteren und lockeren Dialektik im Gegentriebe ist, daraus wird die geschichtliche Substanz gebildet, die gegen den allgemeinen Begriff des Schicksals in einer hellen Freiheit steht, und deren Sinn doch unerkenntlich dahingeht wie ein wankender Fluß ins Unendliche vor der großen Sonne.
Und nochmals aus dem anschauenden Gefühl heraus eine vielleicht etwas seltsame Überlegung und Folgerung. Wenn wir so im Hin- und Widergang der Gedanken den Sinn des Weibes im Drama, das Spiel um ein holdes Geschöpf und den tragischen Begriff betrachten, der immer mit einem weiblichen Mitgeschick Hand in Hand geht und also nicht an sich zu bestehen scheint, so mögen wir sagen, daß mit der Art seines weiblichen Sinnes einem Drama seine weltanschauliche Bedeutung zugemessen sei. Mit welcher Art das Weib den Inhalt eines Dramas bildet, nicht stofflich bildet, sondern in innerster Betroffenheit und spiegelhafter Blindheit auffängt und miterleidet, das gibt den Inhalt einer Welt, welche eine deutliche geschichtliche Abfolge hat. Man möchte wohl eine Geschichte der Menschen zwischen Gott und der Erde schreiben rein nach dem Sinnspiel, womit das Weib in dieser Geschichte erscheint, das heißt gleichsam, womit eine Integrität des Sinnes in blinder Ahnung aller Zerstörung erhalten bleibt. Und diese Geschichte erscheint wie ein unausweichlicher Instinkt der menschlichen Welt im innersten Wesen des Dramas. Die rein und ohnmächtig zwischen Ahnung und Zuversicht schwebende Seele Cordelias oder dann wieder des Käthchens von Heilbronn beschließen eine Spanne geschichtlicher „Innigkeit“ oder gegenüber der Natur rechenschaftsloser Mittlerschaft, gegen welche sich die Opfer der beleidigten Moral wie mit einem Neid an der Geschichte zu der unglücklichen Natur verkehren, bei Lessing oder Schiller, und gegen deren exklusive und geschichtliche Sinnform der Schluß des „Faust“ auf eine inklusiv bereinigte Symbolik aus dem Natürlichen hintrachtet. Mit dieser Symbolik sucht der zum Allgemeinen entwickelte Geist aus der grundsätzlichen und einzelnen Tragik aller Geschichte sozusagen in die Einsicht und in die Gunst eines Naturproblems hinwegzukommen. Aber so oder so bleibt die innere Anwartschaft eines weiblichen Sinnes in der Geschichte bestehen. Und indem also Hrotsvit nur und allein als Inhalt ihrer kleinen Dramen das weibliche Sinnwesen besitzt, hat sie, obzwar in der naiven Form, in der sie zu schaffen hatte, mit dem ihr als einer Nonne Nächsten, mit dem Gelübde als einer vor die Natur gesetzten Sinnschaft, doch die eindeutig große Tatsache vorgelegt, mit welcher das Drama nach der Antike beginnt. Es ist die eine Tatsache, daß der weibliche Sinn sich selber, allein und noch blinder, ins Spiel all der kommenden Leiden mit tragischer Beschlossenheit gesetzt hat. Die Bestimmung darin stammt wie aus dem Instinkt der Geschichte selber. Und in der Tat hat nach dem dunklen Empfinden der Antike der Instinkt eine helle Richtung genommen.
Man überschaut die Frauengestalten Hrotsvits. Da ist im „Gallikan“, schon mit dem Namen für die meisten folgenden gekennzeichnet, Konstantia, die Tochter des Kaisers Konstantin, die, ihren Freier ausschlagend, es mit blindem Vertrauen von der Zukunft erwartet, wie ihr Gelübde sich neben dem Gang der Reichsgeschäfte erhalten werde. Als Bewegung und Haltung ist jene Klugheit eingesetzt, die sich nur über die nächsten Schritte gewiß wird und das weitere mit dem Glück der Kühnheit als ein Recht an dem großen und guten Zufall für sich herausfordert. In »Dulcitius“ sind die drei Jungfrauen Agape, Chionia und Irene, die sich ihrer Standhaftigkeit zum Opfer bringen, von einer fast losen Neugier und von einem heiteren inneren Getümmel beherrscht, das in der Nähe der Leibes- und Todesgefahr die sichere Behendigkeit des Sinnes noch zunehmen läßt. Eine jungfräuliche Art des Märchengefühls ist in dieser kummerlosen Laune. „Drusiana und Calimachus“ ist jenes Stück, in welchem am meisten das Leben und der Tod um Starkmut und Ohnmacht des Weibes in Anwartschaft gestellt sind. Das eigentlichste Dasein wird zur innersten Alleinheit im Weibe, und dieses Gefühl, das durch den Tod geht wie durch eine Geburt der Bewahrung und das sogar auch unter dem Schutz der Schlange — der verletzbare Sinn der Geschichte im Schutze der sie umringenden Natur —, wird nun rein in sich beschlossen und gesättigt. Es hat die Kluft und Grenze zwischen Wesen und Walten, zwischen der Schlange und dem Auferstandenen zu Ende erfahren und führt nun seinerseits die Spur und Kraft allen dramatischen Wirkens zu Ende durch Gericht und Gebet. Und diesem weiblichen Sinne ist auch der Apostel Johannes, der philosophische Evangelist des „Wortes“ in der Geschichte, zugesellt. Dieses Stück Hrotsvits ist bei aller Knappheit voll von unausschöpfbaren Elementen. Die weiteren Stücke, die „Buße Marias“ und „Thais“ zeigen in Sünde und Gnade das verlassene weibliche Geschöpf als die Einzelzelle der menschlichen Zeit. So wie diese Stoffe der Reclusen und Einsiedlerinnen um 400 den Sinn verschiedenster Geister auch noch in späteren Zeiten ansprechen, weisen sie wohl auf eine innerste Sinneskammer, wie sie in jener Zeit des Umbruchs sich aufgetan hat, und welche gegen die laufende Geschichte den Begriff der harrenden Naturzelle immer bedeuten sollte. Das letzte Stück „Sapientia“, der Mutter mit ihren Töchtern Fides, Spes und Caritas ist ein Sinnspiel um die Tatsache, daß die Gedanken, ihrer Unschreckbarkeit gewiß und hingegeben, sich um das Sein des Lebens wie um eine fremde Sache scheinbar nicht mehr kümmern. Angesichts des Todes verantwortet sich Sapientia vor dem Richter mit Zahlenspielen. Dies weibliche Rätselstellen ist eine andere Art von sphinxhafter Form, welche sagen will, daß ein erfülltes Wesen des Geistes mit dem Leben nur noch in einer prästabilierten Wanderung zusammengeht. Dies ist der Ausdruck einer geradezu unglaublichen reifen Sinnschaft in der Geschichte, wobei sich doch eine kindliche Fröhlichkeit von Reife nichts zu wissen macht.
Diese Frauen sind so in sich beschlossen, als ob sie [die?] reine Sinnschaft wie ein Gesicht sei, in welchem sie selber ihr Gesicht haben. Sie haben es wie einen Instinkt, in welchem ihre Natur glücklich ist, behaust zu sein und zu wohnen. Sie gleichen damit einem Bild von der Welt und Erde, das nicht von sich wissend ist, sondern von der Anschauung, nämlich daß es in einer Anschauung grundgelegt ist und den Grund nur erkennt, je mehr es selber den Grad der Anschauung in sich beschlossen trägt; oder einfach, je mehr es in seine eigene Angeschautheit gesetzt ist und darin ausharrt. Denn damit wendet ein Bild auch jeden Blick dem Gleichnis zu, daß es ohne Wanken vor seinem bestimmten Leben ausharrt. Das Bild also weiß sich selber von dem Grunde getrennt in einem Vorgebot, worin seine Ausgesetztheit in der Geschichte wahr bleibt. Das Weib wohnt in dieser komparativischen Kraft; es trägt den Schild der Geschichte über dem Sinngrund der Erde. So erhält es in reinem Vertrauen den Schöpfungssinn. Die Geschichte aber braucht, wie sie im Drama zeigt, diese seltsame Beschwörung aus einem Sinne, der gleich ist dem Bilde eines unschreckbaren wie gleichsam blinden Weibes.
Dem Vorrang aber der Sinnesform, welche, entsprechend wie sich das Selbst einem untrüglichen Gleichnis anvertraut, damit ebenso eine Blindheit, Auslieferung und Verlassenheit sein kann und ist und sie der Geschichte vor einem Begriff des Geistes vorgehörig ist, entspricht auch Rang und Art der figürlichen Form. Es ist in allem eine Beschlossenheit gegenüber der Natur oder eine Form von Vorgeboten gleich Einsatz- oder Rechtskräften oder gleich Ansprüchen aus dem blinderen Maße des Vertrauens, und diese geben den Abstand der Figuren. Sind sie nicht merkwürdig, diese Frauen und Jungfrauen ohne Ritter oder Helfer, das heißt ohne eigentliche Mitspieler und also rein für sich ausgelieferte Geschöpfe? Sind sie nicht in einer sonderbaren Innenzelle der Zeit? Man muß sich unserer Alltäglichkeit entwöhnen, um die wohl hartnäckige Sinnesform, in welcher Hrotsvit ihre dramatischen Spiegelungen ausgebildet hat, zu erfassen, die mit der Tatsache, daß Hrotsvit dem Terenz Abbruch tun wollte, und auch mit ihrem Stand als Nonne noch nicht erklärt sind. Wir können uns über dieses Sinneswesen wundern, das um so deutlicher ist, als der Phantasie noch kein nachschöpferischer Spielraum um Mann und Weib im Naturwillen freigegeben ist, woraus sich später die Dichtung ihre Partner im Sinneskampfe der Geschichte verschreibt. Hier bleibt noch das Kampffeld in einer geschlossenen Schranke gegenüber dem Naturwillen; es wird von keinem Partner anders als nach dem Maße bestimmter Schritte betreten. Wohl sind da noch Mitwirkende mit den Frauen; und auch die Gegenspieler sind da; und wohl ist Chor und Gegenspiel leicht gruppenhaft angelegt und erstellt sich zu einem umschließenden Rahmen in der äußeren Welt. Aber eben das alles ist wie ein Rahmen, der sich zu den Frauen hin verinnert; und die Frauen sind in ihrer besonderen Weise bestellt als die Fühlenden in ihrem alleinigen Sinne.
Diese Frauen sind wie Zahlen mit ihren bestimmten Kräften und selber wie ein kleiner Innenchor. Im Vorgebot des Sinnes fesseln sie sich selber und sind so nicht in einer Idee, welche vereinigt, sondern in einer Zahl, welche zugleich trennt und ordnet. Sie sind eine oder drei, das sind Zahlen mit deutlicher Trennung. Das heißt auch, man sieht sie, wenn sie auch mehrere sind, doch als einzelne; und sogar der Rhythmus ihrer Gleichheit macht sie einzelner. Und ihre Schuld, ihr Verhängnis zum Leiden ist nun eben sichtbar dies, daß sie einzelne und als Einzelne vereinigt sind, kommend als Bestimmte in den Teil der Bestimmung, der ihnen gegeben ist, und nicht als Menschen an sich. Sie sind nicht dem Menschlichen zugeteilt, sondern ihrer Bestimmung. Das ergibt die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Alleinschaft. Und dann ergibt dies, was in dieser Frage geschieht, den Begriff und Vorgang einer Geschichte des Sinnes und setzt sich nicht zusammen zu der Substitution einer allgemein menschlichen Idee.
So mußte auch der Begriff der christlichen und der germanischen Geschichte einst beginnen, indem jede in ihre Eigenheit trat und als speziale Geschichte gleich wurde und in Lauf geriet und nicht präokkupiert war von einer generalen Idee.
Ist es nicht, als ob die Zahl und die notwendige Trennung in den Weg der Geschichte allein die tragische Schuld wäre? Tragisch eben, weil die Integrität des Sinnes nur in der Zahl und im Teile ihre Geschichte weiß und erfahren kann, in dem Grade also und Abstand dieses Zuteils erst der Innigkeit und Beschlossenheit des Ganzen gewiß wird und in diesem Bewußtsein selbst gleichsam ihre innigste Schuld hat, und nicht wie Schillers „Johanna“ in dem Abfall von einer Idee. Die Tatsache allein, im Rechte eines Zuteils zu sein, wird dem Sinne zu einem Abkommen mit sich selber, in welchem er das Geringste, in dessen Rechte er ist, mehr zu empfinden weiß als den Geist einer kosmischen Welt, und in welchem er die Natur liebt, weil sie von Gott weg ist. So ist auch der Weg der Schöpfung, daß sie gleichsam abfallen muß, um zu erkennen. Ja sie muß gleichsam auf Abfall harren und bleibt so in sich selbst nur wie ein Zuteil und ein harrender Anteil aus der Geschichte. Und so ist der Sinn und das Weib in einer ewig nachgeschaffenen Natur. Und dies allein statt aller Idee genügt dem Drama der Schöpfung zu seiner Einkunft in Verlassenheit und Zuversicht. Die innigste Schuld, die letzte Teilheit an der Geschichte ist wie eine reinste Natur selber. So findet die Natur ihr Recht in Teilen, die wie die reinsten und empfundensten Sinne des Weiblichen sind, in der Geschichte; oder die Natur ist selbst der letzte und reinste Teil der Geschichte, gleichsam ein schwankender Nachblick Gottes, der ohne Entscheidung wie eine schwere Sonne über der ersten Erde in die Zukunft gewiesen hat. Und was also die Schöpfung von der Substanz ihres Anfanges verloren hat, das wird nachgeholt in der Geschichte des Weibes wie in einem sonderbaren an der Natur verlorenen Rechte. Wie ist es möglich, daß der Sinn an dieser Fruchtbarkeit wie mit dem Rechte zu einer Sättigung ein Glück empfindet? Aber sind nicht Lavinia und Cordelia ohne Idee, und nur das ist ihre Schuld, daß sie als ein reinster Naturblick in der Geschichte zur Erkenntnis bleiben. Und auch andere Frauen bei Shakespeare, die so verschieden im dramatischen Raume stehen, sind wie Sinneszustände in den Furchtbarkeiten zwischen Natur und Geschichte.
Sind nun also, wenn ein Drama ein geschichtlicher Aufriß oder bildhafter Baustand zu einem Naturblick ist, die Figuren wie Blickpunkte oder Erkenntniszustände zwischen Rahmen und Inbild, und gibt es entsprechend eine Folge von Figurenstellungen, welche gleich verschiedenen Sinnesrechten sind, so kommt man auf ein großes Gesetz, das in der Ausfaltung weit über Hrotsvit hinausstrebt, das aber in der Sinnesstellung ihrer Frauengestalten aufs stärkste angelegt ist. Die Figuren eines Dramas haben aus ihrer Sinnesstellung heraus wie aus Rechtskräften verschiedene Proportionen. Die Figuren sind nicht auf dem neutralen Grunde entworfen. Sie sind nicht gedacht aus einer allgemeinen menschlichen Gleiche, sie haben Verschiedenheiten im Verhältnis zum Sinne. Das ist nicht nur eine Verschiedenheit wie zwischen Haupt- und Nebenfiguren in der Verteilung einer Aufgabe des Geistes, sondern indem die Figuren ihre erste Bestimmung aus dem Sinngrund empfingen, sind ihnen Raum- oder Spannungsmaße gegeneinander zuvorgegeben. Hier ist das große dramatische Grundgesetz, daß die Figuren nicht als eine neben einer zweiten in einem gleichen Rechte stehen, sondern daß die großen Sinnfiguren sozusagen aus einer dritten Form handeln, welche ihnen von einer ewigen Sinnesspanne zur Natur vorbestimmt ist und welche Geschichte heißt. Die Figuren sind nicht bloß in der Ordnung nach einem vernünftigen Zwecke, sondern sie bedeuten, unwillkürlich und wie aus einem beständigen Inbilde gemessen, verschiedene Proportionen des Weltgefühls der Geschichte. Man kann sich wundern, wieso bei Shakespeare Menschen gleichsam verschiedenen Ranges sind. Aber so besteht eine Sinnesordnung zwischen den Helden und den Rüpeln, zwischen dem König und dem Narren, zwischen den Nacherholungen der Geschichte aus ihrem unangemessenen Sinngrunde und der ziellosen Weisheit des Marktes. Zum schwächsten und reinsten Teil aber der Natur hin bestimmt sich das Ganze der Geschichte. Er ist wie ihr innerst verlorener und immer wieder nachzuerholender Sinn. Er ist wie ein ewiges Ausbleiben der Weisheit in der Schöpfung, wofür die Schönheit gleichsam dieses göttlichen Mangels den Blick der Geschichte nach sich richtet. Und das ist also wieder das Gleichnisrätsel des Sinnes im Weibe oder des blinden Vertrauens als einer letzten Naturgewißheit in der Geschichte.
Denn das ist das zweite Gesetz oder vielmehr jenes, das dem ersten als Sinngrund noch vorangeht. Es wirft sich auf jenen Schmerz des Vertrauens, auf jene Beschwörung der Geschichte in ihren tiefsten Augenblicken, auf jenen ruhenden Sinn, der für die Natur steht und der in den Zerstörungen der Geschichte wie mit Maßen eines innersten und reinsten Bleibens erkannt wird. Alle Geschichte geht um das Opfer einer Natur im Sinne einer anderen Erkenntnis, und das Weib ist das Maß und die reine Sinnbleibe dieses Opfers. Das Drama der Geschichte ist eben darin beschlossen, daß das Bild der Göttin nicht gerettet wird. Die Geschichte der Wirklichkeit kann sich nicht dahin wandeln, daß wie in der „Iphigenie“ der Ruf nach einem reinen Walten zu einem generalen Rufe wird. Das „Wort“ muß sich einzeln erfüllen. Aber wenn die Natur als ein göttlich spiegelndes Inbild von der Geschichte aufgezehrt wird, so erhält sich das Weib in einer rätselhaft kontemplativen Zweiheit. Es bedeutet die ruhende Kraft einer Aussage, in welcher die Natur verborgen und gegenwärtig ist, und es bildet die Partnerschaft des blinden Sinnes mit dem Wort der Geschichte. Die Integrität der Schöpfung wird aufgezehrt in dieser Partnerschaft des Sinnes mit dem Worte und sie geht ein in die Komparation der Geschichte. Es gehört zu einem Widersinne des Sinnes wie zu einem ewigen Rätsel, aber worin eben der Sinn seine Geschichte beginnt und ausmacht, daß sich die Schöpfung mit einer Reinheit voraussetzt, von welcher die Geschichte ein Abfall ist, daß aber eben vor dieser Geschichte die Natur ihre Geschöpfe bekennt und also das Größere vor dem Geringeren sich verantwortet, als ob nur in dem Geringeren das Recht zum Urteil findbar sei. So wird in der Komparation der Geschichte die Natur erkannt und die Integrität der Schöpfung verzehrt, und was sich bildet wie speziale Zeichen in der Zeit und über der Erde, das sind Rechtsformen des aus dem Geringeren erkennenden Sinnes. Die Geschichte ist nicht gesättigt in der generalen Substanz einer Idee, sondern sie erfüllt sich in den spezialen Rechtsformen eines hungrigen Sinnes. Der Sinn aber bildet Erkenntnis, bevor er selbst erkennend wird. Dies ist seine Blindheit und sie ist wie ein rätselhaftes großes Recht. Es bildet Abstände, welche Erkenntnis bedeuten und zu den Maßen der Geschichte werden. Darin wird der Einzelne bestimmt und erkannt, und bis er selbst erkennend wird, ist der Sinn um ihn schon zu Beschluß gebracht.
„Sapientia“ oder die Weisheit wendet sich nicht an Ideen vor dem Gerichte, sondern an das Spiel der Zahlen und bekundet damit einen sonderbaren Jubel. Denn daß der Sinn der Erde nicht in einer Idee ergänzbar ist, sondern in den Teilen eines blinden Schicksals nacherholt wird, und daß also der Mensch auf Rechten ruht, welche er erkennend nachspricht, das macht mit dem Glanz der bloßen Aussage alle Unzerstörbarkeit aus. Stets ist der Mensch noch mehr erkannt, als er erkennt. Und so steht hinter der Geschichte das unbesiegliche Weib des Sinnes.