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Konrad Weiß: Deutschlands Morgenspiegel (Teil 1.1)

I
Reise über Naumburg nach Westfalen

Das Gesetz der Geschichte

Die Naumburger Figuren

Hüter eines deutschen Gesichts

Den deutschen Sinn, der den Weg zu sich selber antritt, treibt es alsbald, als ob dies das nächste Notwendige sei, den Umweg zu den Gesichtern der früheren deutschen Menschen einzuschlagen.

Es drängt ihn, in den früheren Formen und Zeichen zu lesen. Darum beginnen wir mit den Figuren von Naumburg, nicht ohne darauf aufmerksam zu werden, daß, während der Geist doch scheinbar allerorts und in aller Freiheit seine Erkenntnisse leisten müsse, es offenbar Orte gebe, an denen man, irgendwo in Deutschland, einen mehr als anderwärts wesentlichen Sinn unseres Seins ablesen könne. Gewiß ist auch in der übrigen Welt eine bestimmte Verteilung und »Verortung« der alten Werke und der Zeichen, deren Erkenntnis für den Geist wichtig und entscheidend ist, aber bei uns scheint diese »Verortung«, diese »Disposition« der geschichtlichen Wesenheiten in den Feldern der Geschichte doch viel unbegründeter und unerwarteter und in der begrenzteren Bestimmung innerlich unbegrenzter und heftiger.

Wohl, indem wir anfangen, durch deutsches Land zu den alten deutschen Dingen zu reisen, und indem wir dabei mit einer Reihe von früheren Figuren unserer deutschen Menschen beginnen, handeln wir damit in der Ahnung, daß in unserem Wesen noch etwas anderes sei als bei den Schöpfungen der uns zunächst gültigen südlichen Welt und daß dies andere an einem besonderen Orte in einer besonderen Sinnfälligkeit unserer geschichtlichen Figur zum Ausdruck gekommen sei. Uns scheint der Gleichgang von Formen der Menschen, Räume und Dinge, den wir im Süden und dort in seiner Neigung zum schöpfungsmäßigen Ausgleich der Gestaltung am vollendetsten finden, bei uns durch eine eigenwilligere Geschichte überboten, welche dem natürlichen Dasein stets noch einen besonderen Ausdruck hinzugefügt hat und welche den unsrigen Menschen und mit ihm seine Räume und dazu ihre Dinge auf einen eigenen Sinngang führen und zu seinen eigenen Zeichen gelangen lassen will. Über das Schöpfungsmäßige hinaus erhielt bei uns alles noch ein eigeneres Gesicht. Und diese eigeneren Gesichte, statt unter sich nun bloß verwandt und gleich zu werden, hinderten nicht, daß zwischen ihnen eine stärkere Spannung von Anfang lebte. In diesem Mehr der Spannung wissen wir auch den eigeneren Sinngang.

So schauen wir den früheren Figuren der deutschen Menschen ins Gesicht. Vielleicht zwar sind wir oft geneigt gewesen, dies statt des unmittelbaren Blicks in die Gesichter der deutschen Gegenwart zuviel zu tun. Aber vielleicht wählen wir auch zwischen Ich und Du, zwischen Gesicht und Gesicht dieses Dritte, nämlich dieses ältere Zwischenbild der Geschichte, weil wir eine Scheu haben, was die Geschichte in ihren tieferen Geheimnissen verborgen hat, unmittelbar ablesen zu wollen, weil wir es in der Verdichtung der früheren Gestalten tiefer, geheimnisvoller, das ist eben auf dem geschichtlichen Wege, schon einmal verwirklicht und darum vorbedeutend finden.

Ausforderung in die Geschichte

Man möchte, indem man sich daran gibt, die Erinnerung an den Besuch der offenschönen und doch schwersinnigen Welt von deutschen Figuren und Steinwerken in Naumburgs Dom niederzuschreiben, sein Gesicht in ihren Raum und ihre Mitte hineintauchen wie in eine aufgeschlagene Dichtung. Man möchte nichts von eigenen Eindrücken über sie schreiben, sondern alles, was als deutscher Sinn von Menschen und Geschichte in schicksalhafter Bedingung der Formen zu sagen ist, rein und bloß von ihnen ablesen, wie wenn man ein Stück des Nibelungenliedes für sich abschriebe.

Es ist das alte Wesen des Deutschen, in Taten den bloßen Gedanken vorauszukommen und also auch einen Geist zu formen, daß er durch Bestimmung bewegt ist, daß er wie eine Figur in der Zeit sichtbar wird und daß er um so wesentlicher ist, je mehr er Schicksalszüge trägt. Ein innerer Sinn muß dabei leiten, und dieser gilt mehr als eine bloß in Vernunft zurechtgemachte Menschenerde. So denkend, steht man unter den Naumburger Figuren. Man sieht ihre Gesichter, wie sie darin eine merkwürdige, vom Dasein scheinbar formlos erkaufte Wahrheit, eine vom Stein zum Fleisch gebildete Offenheit haben und daß sie doch auch brütend in sich gerichtet sind. Sie folgen dem Sterne eines Müssens, und ihre Gestalten haben die gegliederte Ruhe einer Herrenbereitschaft, die edel ist, je mehr sie zum Dasein bereit ist. Sie sind wie Herren und doch wie Werkzeuge ihrer Bereitschaft. Aber sie sind auch wieder in sich gerückt und harren in Stille auf das Schicksal, das sie offen herausfordern. Der Sinn einer »Rückung«, einer besonderen Nähe zum Dasein und zu ihrer Gegenwart, unterscheidet sie von einem allgemeinen »objektiven« Menschsein.

[Dom zu Naumburg, Christus vor Pilatus, Reliefausschnitt vom Westlettner]

[Dom zu Naumburg, Kruzifix des Westlettners]

Wo sonst noch gibt es Figuren, die wie diese hier zuweitest im Chorhaupt einer Kirche stehen und die mit steinernen Schilden und Schwertern zum Teil eine Stellung haben wie eine Ausforderung zum Zweikampf? Die jedenfalls ein Dasein haben, als ob sie sich in einer Begegnung zu messen hätten, und die bedeuten, daß der Mensch in einer Gemeinschaft und eben damit im Anstoß und Abstand seine Bestimmung habe. Denn so sind sämtliche Gestalten dieser berühmten zwölf Stifterfiguren, edle Männer und Frauen, allein oder in Paaren, nicht als Vorbilder oder als Würdenträger aufgestellt, sondern sie leben und leiben wie in einem dramatischen, shakespearehaften Hauche der Geschichte. Es webt sich für den lange Umblickenden immer stärker eine menschliche Spannung durch den gotisch mit gebündelten Wanddiensten verstrebten und in den hohen Fenstern aufgeschnittenen Raum. Es will sich alles zu einer wortlosen Sprache sammeln, zu einem Widerhall, der nicht rätselhaft ist und der doch nicht verstanden wird. Man fühlt auch, wie die Pfeiler an der Wand, je mehr sie mit ihrer jungen Gotik an Wachstum gewonnen haben, die Figuren wie einen Gegensatz im gleichen herausschicken, wie sie diesen Gegensatz durch Gemessenheit vermehren und wie auch jene Mittelzone zu ihnen gehört, in welcher die gemessene Bestimmung der Menschen ihren Raum und ihre Schranke hat. Es ist überall darin ein Sinn und Leben der Geschichte selber; es ist ein Wesen wie Ein- und Ausschluß, wie ein Kampf, der offen am Tage ist und der doch nicht verstanden wird. Er muß auf sich selbst vertrauen. Denn diese Kunst im Übergang vom romanischen zum gotischen Ausdruck hat an sich das Gesetz des Lebens selber, daß es, je wirklicher sein Dasein ist, um so mehr Einschluß und Ausschluß zugleich ist. Darin finden die Figuren ihren Ort, und so ist auch mit heimlicher Schwere im Gefühl doch eine Ruhe zwischen ihnen in ihrer orthaften Gebundenheit am Gewande des Chores, die ist wie der Glaube an ein Ordal.

Durch den Lettner des Westchores

Zu dem Chore aber geht man unter dem westlich gegen das Dominnere abschließenden Lettner hinein, welcher die berühmten Reliefszenen der Passion oben an seiner Brüstung hin trägt. Man nimmt hier Verrats- und Leidensbilder der Geschichte, als ob es Grundtexte wären, mit den Augen auf. Keine andere Zeit hat, so wie es hier geschieht, ohne alle Umstände, auch ohne alles Illustrative, die Gesichtsfelder beredt zu machen gewußt. Als ob im Grunde der Erde, in der Unterschicht des Daseins und Blickfeldes etwas Feindliches walte, bricht die Szene unmittelbar auf, und alles wird eine notwendige und doch schon durch ihre Notwendigkeit wie unter einer Anklage stehende Handlung. Als ob alles Gestalten zuerst ein Verletzen und dadurch erst zu einem Bewußtwerden bestimmt sei, können die Figuren und Gruppen in ihren Maßen klein bleiben, je mehr ihnen eine große Erwachtheit in den Zügen, ein unweigerliches Dasein schon zuvorgekommen ist, als ob Zeit und Erde zwischen ihnen verletzt und aufgebrochen sei. So scheinen die Lücken zwischen den Gestalten noch wichtiger und bestimmender als die geformte Leiblichkeit selbst. Es scheint das urdramatische Gefühl des Daseins in dieser Brüstung gestaltet. Und darunter geht die Pforte hindurch, die zwiegeteilt ist durch den Gekreuzigten auf dem Mittelpfosten, und auf deren Seiten, links und rechts von dem Gekreuzigten, sich die Gestalten von Maria und Johannes in einem Ausdruck des Schmerzes abwenden, welcher besonders bei Johannes mit ganzer Heftigkeit in das Gesicht getreten ist. Es ist jener Grad des Schmerzes aus der Seele, der wie ein bitteres Ergrimmen ist und sich doch wieder wie in einem Nachsinn verschweigt. Die Gestalten sind auch wie Blätter, die, während man ihre Zeichen liest, sich wie im Schmerz aufrollen, oder sie sind, wie wenn sich die Erde unter dem Angriff der Pflugschar aus sich selber drehen will. Dabei stockt doch jedesmal die Bewegung wieder unter der Besinnung, die im Gesichte liegt. Man muß zum Vergleiche solcher deutschen Besonderheit im heftigen Gemütsausdruck an Grünewald denken.

Bei Grünewald am Ende des Mittelalters kommt zu diesem Ausdruck in der Kreuzigung noch eine furchtbare Gelassenheit. Hier bei dem Naumburger Meister im hohen Mittelalter ist es ein Widerstand, eine Verklammerung zwischen Bewegung und Sinn und fast ein Kampf bis in Stamm und Wurzel der Figur. Der Ausdruck ist ganz ins Tätige verdichtet. Man möchte sagen, dies sei mit Besonderheit die deutsche Art der Aufnahme des Christenwesens in die eigne Natur, eine Erfahrung des Sinnes in sich und aus sich, die hier eine merkwürdige Sichtbarkeit bekommt, so, als ob die Gesichter zurückschreckend in ein notwendiges Schicksal blickten. Sie wenden sich ab, aber sie bleiben um so inständiger dabei. Dies hat nichts Trotzendes, und doch möchte man das Wort »Trotz« nicht vermissen, weil es zur Unerbittlichkeit des Geschichtsgefühls gehört und weil es mit einein Nachsinn verbunden ist, der auf das Zusammensein des Deutschen mit seinem Schicksal hinzielt. Der Deutsche kann seine Bestimmung nicht verlassen, und deshalb hat unser deutsches Mittelalter wohl die stärksten Passionsbilder geschaffen. Es gehört auch zum deutschen Kunstwesen, daß es nicht beim äußeren Monumentalsinn stehenbleiben kann, weil es zu etwas Tieferem »verurteilt« ist. Daher ist eine solche dramatische Gruppe auch weniger Bild als Abbild, weniger allgemeiner Anblick als unmittelbarer Spurgang des Sinnes, der in die Gruppe mit einbricht und dabei an jedem Ding, Gesicht und Ausdruck einzeln hängen bleibt, so ein deutsches Wesen dartuend, das immer mehr vom Einzelnen als vom Allgemeinen ausgeht und deshalb die Dramatik aus den innersten Grenzen und Aufsperrungen her nachlebt.

Das Reich der Figuren

Zwischen solcher Heftigkeit hindurch ist nun dem Gehenden der zweifache Zugang zum Chore aufgemacht. Man geht geradezu zwischen diesen Wendungen von Gesichtern wie zwischen den umschlagenden Buchblättern der Geschichte hinein, während die Szenen der Reliefpassion wie Bildorte über dem Sinne stehenbleiben. Im hohen Chorraum stehen nun die berühmten Stifterfiguren, Ekkehardiner und Wettiner bedeutend, die auf Bestellung des Bischofs Dietrich II., eines Wettiners, als die Ahnherren des Domes und der daran beteiligten edlen Geschlechter seit seiner um zweihundert Jahre früheren Geschichte, durch den Naumburger Meister vom Jahre 1249 ab geschaffen worden sind. Die Brüder Ekkehard II., vermählt mit Uta, und Hermann, vermählt mit Reglindis, beide in kinderloser Ehe, hatten, als der von Otto dem Großen in Zeitz (zugleich mit Meißen und Merseburg) gegründete Bischofssitz verlegt werden sollte, ihre Stadt Naumburg als neuen Sitz gestiftet, wo besonders unter Bischof Engelhardt (mit dem Domneubau) und Bischof Dietrich II. die Kunstblüte entstand. Der Vater der Brüder, Ekkehard I., war als Herzog von Thüringen sogar in Wettbewerb mit dem Sachsen Heinrich II. um die Königswürde gewesen. Der Chronist Thietmar von Merseburg schildert seine dramatische Ermordung 1002 in Pöhlde am Harz.

Die Figuren stehen im erhöhten Umblick unter Baldachinen an den steinernen Wanddiensten und Hauptstellen oder Gelenken der Bauform, auch mit steinernen Laufgängen hinter sich in einer eigenen klaren Zone, und es ist da ein farbiger Schimmer im Raum, der als Farbe an ihren Gestalten war und der doch auch ohne Farben im ganzen Bewegungssinne mitzusprossen scheint. Dieser geistige Schimmer gibt eine Lieblichkeit, durch welche die leibhafte Kraft und auch das wachsende Übermaß der Gesichter wie in eine gebundene Erzählung zurücktritt. Zwischen Strenge und Lieblichkeit verhalten sich auch die zwei gotischen Wendeltreppen mit ihrem gitterhaften Spirallaufe an der inneren Lettnerseite, wie überhaupt dieser Westchor auch ohne die Figuren von der wahren Schönheit eines gotischen Bausinnes ist, der, ohne zu spielen, sich in aller Form mit sich selber öffnet und schmückt. Es ist jene gotische Hegung, die wie ein erster Frühling die Erde noch mehr öffnet als fruchtbar schließt. Und darin findet man noch in ganzen Friesen wie an den einzelnen Kapitellen den anderen skulpturalen Ruhm Naumburgs, die Laubwerkzieren, die bei schönster Erfüllung der Formen doch noch wie der reine erste Plan eines Wuchses sind.

Nämlich diese büscheligen Blätter aus Stein, untergraben und vom dichten Grunde abgelöst, sind scheinbar ganz naturgemäß und lehrhaft hergestellt. Aber sie haben dabei noch mehr die Grade eines sonderbaren Naturgefühls, das frei aus dem Sinne erwachsen, das wie ein Bedürfnis nach einem unaufhörlichen Wachstum ist und bei dem doch der Wuchs nicht eigentlich von innen heraus, sondern vom Anblick oder vom Widerhalt gegen das Licht her, nicht von sich aus, sondern in einer Begegnung bestimmt ist, oder bei dem die Blätter wie Schilde sind, die gegen das Lebendige getragen und dadurch lebendig geworden sind. Nun sind sie an den Stellen der Kraft und Zier wie lebendige Verdichtungen; und doch machen sie die Knäufe nicht zu Kräften, sondern schwächen sie; aber sie geben einen Blick, als ob ein Wind hindurchgegangen wäre, und sie haben davon eine nachbleibende, unerschütterliche Lebendigkeit. Auch in diesen Blättern ist etwas fast Trotziges, das rein durch die Inständigkeit im eigenen Ausdruck erreicht wird; und indem es sich über den Zierstellen mit dunkler Unterschattung abhebt, ist es darüber wie über einem Echo. So wird der Sinn gerade durch die starke Sichtbarkeit in einen anderen, nicht sichtbaren Lebenssinn abgelenkt oder fast »abgewehrt«. Und dies gehört nun wieder zum geheimsten deutschen Wesen, daß es auch in kleinen Dingen pflanzlicher Zier den Wald eines Echos findet, in welchem außer dem Gesichte auch noch ein weiterer Sinn gleichsam des Ohres ein Dasein hat.

Ist dies nicht auch bei den Figuren so, daß sie etwas durch starke Sichtbarkeit Abwehrendes haben, das auf einen weiteren Sinn weist, welcher nicht bloß Gesicht und Gegenwart ist? Ja die Figuren selber haben bei all ihrer unmittelbaren und angreifenden Sinnkraft auch mehr oder weniger noch etwas Lauschendes. Ähnlich ist ja auch in den vier originalen Hauptszenen der Reliefpassion, ebenso wie in ihren zwei Nebenepisoden, der Inhalt ganz zwischen Lautheit und Stille, Gesicht und Sprache bestimmt. Und das Christusgesicht ist dazwischen je offener desto lauschender, aber nicht so sehr lauschend auf einen äußeren Vorgang, sondern auf ein inneres Wissen und Müssen. Eben dies gibt den Ausdruck einer Zuversicht der Unentrinnbarkeit, der über aller Bewegung der menschlichen Dinge still und mächtig bleibt.

[Dom zu Naumburg, Ekkehard und Uta]

[Dom zu Naumburg, Hermann und Reglindis]

Ähnlich also in stiller Mächtigkeit, aber naturhafter vervollkommnet, sind auch die Gestalten der Stifterfiguren; sie scheinen einem Schweigen des Beschauers zuvorzukommen und schweigen dadurch um so mehr gegen ihn her. Auch sind ihre Gesichter fast wie Knospen noch mehr belebt als gebildet, und ähnlich haben auch ihre Glieder und Gebärden eine zugleich vorgreifende und doch eben dadurch im Gefühl nachbleibende und nachhallende Kraft. Ihr Ausdruck kommt wie aus einem Zwiespalt, der unseren Blick unbestimmt mit hineinnimmt. Dabei ist doch der nächste Ausdruck klar. Die Gesichter der Frauen: Uta mit ihrer beobachtenden Hoheit, Gerburg mit ihrem merkwürdig flutenden Gesichtsausdruck, Gepa, bei welcher man im Gegensatz dazu von einer Verebbung in das Gemüt sprechen könnte, und als vierte die lächelnde Reglindis, die etwas Blumig-Besonntes hat, alle haben ihre Haltung zwischen menschlicher Spannung und frauenhafter Leiblichkeit. Aber da ist gleich noch etwas Besonderes: es ist hier ein Unterschied zwischen der Wesenheit des Menschlichen und dem Ausdruck des Männlichen oder des Weiblichen. Was heißt das? Man möchte kurz sagen: diese Figuren sind nicht zuerst Menschen, sondern sofort Mann oder Frau, sie sind sofort über den allgemeinen Begriff des »Menschen« hinweg im Vorgebot ihres bestimmten Kreatur- und Geschichtswesens. Später, zur Renaissance hin, hat sich dies eigentliche Gesetz des Mittelalters, diese selbstbestimmte (speziale) Form der Kreatur in eine mitbestimmte (generale) und mehr bürgerliche Form verändert und weiter dann in die typische und objektive Form des humanistischen Sinnes umgesetzt. Damit sind auch die Merkmale des Geschichtlichen hinter der allgemeineren Bildung des Menschlichen in der Kunst zurückgetreten. Hier aber in Naumburg macht diese unmittelbare Gestaltung am wesentlichsten ein deutsches Gesicht und Körpergefühl aus. Das Menschliche ist hier nur Grund und Wesen, über welchem, in die Zeit gerückt, der zeithaft Geschaffene, der Fürst, der Kämpfer und Ritter, die Frau, immer schon die nähere Bestimmung empfangen haben.

Die gleiche Weiterbetrachtung geben auch die Gesichter der männlichen Figuren, wobei sich die Spannung etwa des heftigen zum besonnenen Manne noch verstärkt. Es muß genügen, sie aufzuzählen, zunächst die balladischen Gestalten des dunkel drohenden, im Zweikampf und Gottesgericht getöteten Thietmar, des heftig gebärdigen Sizzo, des schweigend eingehüllt stehenden Wilhelm und des brütenden, durch Rachsinn bekannten Timo. Dazu kommen die Hauptgestalten des ruhig festen Mannes Ekkehard, gepaart mit Uta, der in seiner Verbindung von natürlichem Ausdruck und Standesgesicht mit am meisten ins Gedächtnis geht, und ihm gegenüber der jugendlich-lyrische Hermann, der gepaart ist mit Reglindis, schließlich noch die mannhafte Gegenwart des Dietrich und des Konrad, welcher nur als eine in Einzelteilen ergänzte Gestalt mitgilt. Die Hauptfrage wird zuletzt wieder sein, wieso sie nicht eine Idealtypik an sich haben, sondern eine Geschichtsform; das heißt, daß sie ihren wahrhaften, willigen und heftigen Ausdruck nicht aus einer zeitund volklosen Idee finden, sondern als Kreaturen ihres zeitkräftigen Augenblicks. Es sind wort- und orthafte Menschen. Und hier in Naumburg wurde in solcher Sichtbarkeit der deutsche Mensch am deutlichsten.

Das lebendige Gesetz

Wir sehen einen aufgebrochenen Acker und denken, wie er zur Fruchtbarkeit bestimmt ist. Dabei werden wir vielleicht das Wort sagen: das Irdischste ist für die Erde das Ewigste. Die romanische Kunst ist wie ein Acker der Erde. Der Acker der Erde ist wie eine Maser entblößt, um fruchtbar zu werden. So ist auch der Stein dieser Kunst wie eine Maser; sie ist nicht wie bei klassischer Kunst, daß sie sich nach außen schließt, sie ist immer noch mehr geöffnet als geschlossen, sie behält den Hauch der Erde, und damit hat sie ein Vorgebot des Ausdrucks über die Form. Dies Vorgebot heißt: je mehr Gefühl des näheren Lebens, desto mehr auch Gefühl des Steines, wie aus einer inneren Grenze und Entsperrung. So dient diese Welt nicht dem Scheine eines vollkommenen Seins, sie treibt zu Gesetzen der Zeit, sie bekennt, was der erdhafte Mensch und die geschaffene Rasse in der besonderen Stärke des Ackers ihrer Geschichte als sichtbaren Ausdruck haben. Ihr Erscheinen in Zeit und Ort ist wesentlicher als der allgemeine menschliche Raum.

Man wird weiter fragen: woraus sich also auch das Ewigere der menschlichen Form gewinne, aus dem wesentlicheren Begriffe des Seins, oder eben aus dem wesenderen Dasein in der Zeit? Dazu wird man aber ein anderes Gesetz nicht außer acht lassen dürfen: nämlich, daß die Fruchtbarkeit wächst und maßhaft wird, je mehr das Baufeld und Gewände in Grenzen, in Kanten und Rahmungen gesetzt ist, je mehr es selber nach geheimeren Gesetzen seines Zeit- und Ortsraumes in maßhaften Brechungen oder Gliederungen aufsteht. In dieser geheimeren Gemessenheit, die auf sie zukommt, treten nun auch die Figuren heraus, und das Gesicht ihres Daseins erhält die Stärke seiner Geschaffenheit in dem Austrage dieser Entstehung, wovon ihnen ihr bestimmter Ort wie eine Beschränkung und um so mehr als ein Recht und eine Richtigkeit in sich selber zuteil wird. In diesem Sinne erheben sich in Teilungen des Baues, in Nischen des Gewändes die Figuren, indem sie ihren Blickort wie einen Atem um sich bekommen und dem Raume zugleich wie aus einer notwendigen Messung zugehören. Denn im gleichen hat auch der Raum keine neutrale Vorhandenheit zu ihnen, sondern er steht in einem ihm notwendig zukommenden Blicke, zu dem sein Inneres wie ein Mangel oder eine Forderung ist, und dessen Spannung ihm die Figuren zumessen. Gerade frühgotische Räume bedeuten diese Spannung, da sie wie in einem Neid um ihr eigenes Gesetz noch gegen Gemeinschaft gerichtet scheinen und doch schon überallher Kräfte wie aus Pfeilern entbinden. Der Übergang zur Gotik ist das Blütenzeitalter dieser Gestalten. Der Acker erfüllt sich in dem Augenblick am fruchtbarsten, in dem das zunehmende Wachstum der Gotik schon wieder einen Teil der schweren Erde und der langsamen Gemessenheit verlieren wollte. Da stehen also die Figuren zwischen Wachstum und Gemessenheit, weitertreibend in das eigene Dasein und doch von einem ersten Sinne noch nach rückwärts gefangen. Dieses Rückwärts ist wie ein Hintergrund, von dem sie ausgeschieden sind, aber von dem sie die Aufrichtung, die Haltung der Figur am Orte noch haben. Sie bleiben noch in dieser Haltung, auch wenn sie in Gliedern und Gelenken und in dem Wesen des Gesichts schon weiter bewegt und lebendiger sind. Und so stehen sie Schicht vor Schicht, Grund vor Grund wie ein bewegt gewordenes zweites Dasein vor einem unbewußteren ersten.

Die Figuren dieser Zeit kommen nicht aus der Natur, sondern aus der Geschichte (denn die Teilung des »Ackers« bedeutet Geschichte). Sie entstehen in einem Vorgebot zu sich selber und erhalten eine fortschreitende Proportion ihrer Lebendigkeit in der Verlassung des Grundes. Diese Proportion aber geht nicht gleichmäßig durch die Gestaltung, sondern was am meisten in Atem und Licht und zur Bedeutung des eigenen Daseins heraustreten kann, das ist am lebendigsten. So sind Glieder, Gebärden und Gelenke lebendiger als der Leib, der noch pfeilerhaft ist. Und so sind die Gesichter mit ihrer Fähigkeit zum bewegten Gemüt am stärksten erwacht. Das Gesicht entsteht geradezu aus dieser Eingewordenheit in seinen bewegten Ausdruck. So leben nun diese Figuren durch ein Vorgebot des »Wesenderen«, und also erscheinen sie nicht in einer gleichmäßig positiven Optik, sondern wie in einer »Rückung« innerhalb ihrer eigenen Beseeltheit. Man spürt die Werke wie in sich selbst eingeschrieben, wie Figur in Figur, oder als ob sie das Bild von sich selbst, den Sinn des Sinnes, das »Herz des Herzens« (auf romantische Weise gesagt) in sich trügen. Dazu gehört auch, daß die Figuren, die nicht eben groß sind, mit einer anderen Art von Größe wirken, die über sie selber eine stille Gewalt hat. Sie haben eine geheimnisvoll belebte Zwiefältigkeit des Daseins.

Vieles Weitere hängt von diesem ersten Wesensverhältnis ab. Man bemerkt das zwiefache Leben der Figuren auch so, daß man bei ihnen ein handelndes, sprechendes, worthaftes Tun wahrnimmt, das in den Raum geht, und dagegen ein gesichtshaftes oder bildhaftes Dasein, das sozusagen viele Blicke auf sich nehmen kann, während es sich doch in sein eigenes Gesicht hineinschweigt. Bei klassischen Figuren ist statt dieser Zwiefältigkeit zwischen Tun und Dasein ein einheitliches Sein, das eine gesamte Gültigkeit hat. Hier aber will sich die Gültigkeit immer vom Einzelnen her und wie aus der Beharrlichkeit eines erwachten Gesichts neu behaupten. Hier ist auch gar keine Eitelkeit des geschöpflichen Glanzes, sondern immer nur die Treue zum geschichtlichen Bestand. So gilt in diesem Reich der Figuren ein starkes physiognomisches Wesen, und dieses, wie es etwas Trotziges hat, hat auch etwas Schicksalhaftes, ja eben damit manchmal fast Schuldhaftes, so als ob der Vollzug eines Schicksals mit Schuld umwittert sein müsse. Jedenfalls ist in den Passionsszenen dieses Übergefühl der Gesichter, es liegt wie ein stiller Lärm über den Blickfeldern. Aber auch bei den großen Figuren, die man schon geglaubt hat als Träger einer bestimmteren dramatischen Szene auslegen zu können, ist eine richtende Spannung im Raume. Wir jedenfalls fühlen darin einen Wahrspruch, welcher heißt, daß das Leben nicht mit einem Begriffe zusammenfallen kann, sondern daß ein jedes sich selbst bezeugt. Die Figuren des Mittelalters sind keine Vorbilder, sondern Zeugnisse.

[Dom zu Naumburg: Wilhelm von Camburg]

[Dom zu Naumburg: Thietmar]

[Dom zu Naumburg: Gerburg]

[Dom zu Naumburg: Dietrich]

Noch ein kurzer Hinweis auf eine schwierige Frage. Wir werden vielleicht, wenn wir die Stellung von Figuren an Portalen, an Pfeilern und an Chorwänden bedenken, über die einfachere Symbolik dieser Anbringung hinaus kaum ganz erkennen, welcher Sinn noch außerdem darin waltet, wenn wir auch bemerken, daß etwa zwischen den großen gemalten Figuren im Gewölbe einer geschlossenen romanischen Apsis und den Skulpturen im Gewände des aufgeschnittenen gotischen Chores hier ein großer sinnhafter Unterschied des Geschichtsweges walten muß. Wir können antworten, daß mit dem wachsenden Lichte ein sterblicheres Geschlecht in den Raum getreten sei, und daß vielleicht in der christlich gewordenen Geschichte die Skulptur überhaupt ein sterblicheres Geschlecht bedeute als die Malerei. Aber hier meinen wir noch etwas anderes. Wir fragen: kommt es nicht von der Ähnlichkeit mit den Pfeilern her, daß man ein Gefühl der Hüften als eigentümlich und bei aller wunderbaren Zurückhaltung in diesen Formen, um so mehr, als auch die starke romanische Gürtung leiser geworden ist, doch als besonders wichtig empfindet. Bei dem Gekreuzigten ist diese Formung am stärksten gebildet, und sie gehört zu dem Ausdruck des Körpers, der sich wie aus einer Furche wegwindet und dabei die gotische Bewegung bringt, bei der die Beine nicht mehr wie Lote auf die Erde gerichtet sind. Aber scheint nicht auch sonst die leise Drehung der Hüften gerade mit der pfeilerhaft leiblichen Bildung zusammen auffällig? Kann man diese Stellung und Drehung woanders besser denken als in der Mittelzone eines Baues, der eben wie dieser junge gotische hier eine räumliche Lebensknotung gewinnt, indem die Gestalten wie Zweige und Knospen im Blicke sind? Es ist, als ob weiteres heimliches Leben im Gewände warte. Die Figuren — und das ist ihre besondere Schönheit — sind von dieser Bewegung und Drehung noch kaum erfaßt. Aber eben die Gotik, indem sie rein in ihrer Gestalt stehen will, wird doch gerade um so trächtiger von einem Geschlechte gleicher und sich erkennender Menschen. Im großen aber ahnen wir, daß Bauentwicklung etwas sei wie Körperentwicklung, oder besser, wie eine Entwicklung von Sinnes- und Triebkräften, zu welchen das Geschlecht der Menschen selber, und nicht nur sein Geist, geheimnisvoll mitbestimmt sei.

Tagesausklang

An dem Reisewege nach Naumburg mit seinen Domfiguren mit ihrer heldischen und seelisch-instinkthaften Einzelfügung innerhalb des gotischen Geschichtsraumes, liegt Bamberg, dessen Domfiguren eine sieghaftere Art haben mit einer fast fessellosen Blickweite. Die Figuren in Naumburg, wenn sie dagegen weniger in einem lichthaften Wissen stehen, haben aber ein näheres Schicksal stärker in das eigene Herz hereingeholt. Dies sind die beiden Zweige der deutschen Gemütskraft, ein lichthaftes Wissen und eine naturschwere Besinnung. Der viertürmige Dom von Bamberg scheint wie eine dunklere Burg gegen die auenhafte Weite zum Maintal hin. Der auch zu vier Türmen ausgebaute Naumburger Dom kann, hochgehoben an der Seite des Saaletales, mehr in einer luftig zelthaften Ausspannung wirken. Im gelben Westlicht der Abendsonne dann, wenn man über die aufgebrochenen Garten- und Ackerfelder des Tales geht und nach seinen ganz durchbrochenen Westtürmen blickt, scheint er mit ihnen in einer erdhaften Verklärung. Bei Nacht ist er mit seinen gotischen Kirchen- und Kapellenanbauten am Kreuzgang auf seiner Ostseite und mit seiner noch immer geistlich stillen Umgebung wie eine schlafende Geschichte. Sein Hauptinneres, zwischen Ost- und Westlettner eingespannt, hat eine spätromanische trockene Härte, die man auch als Raum nicht mehr vergißt und von wo der Zugang zu dem neuen Atem des Figurenchores ist. Hier ist mit sonderbarem mitteldeutschem Schicksalsgefühl der Stein in deutschen Gesichtern lebendig geworden.

Polaritäten deutschen Wesens

Ein Sommergang nach Schulpforta

Der schöne Sommermorgen liegt über dem altertümlichen, vom steinernen Stadtgürtel befreiten und heiter gelockerten, aber in seinem alten Plane festgebliebenen Weichbilde von Naumburg. Er gibt ihm eine behagliche Deutlichkeit und Stille.

Im Echo um Nietzsche

Ein wenig anders ist es in der Domstadt, diesem ganz für sich abgetrennten, alten geistlichen Teile, wo ein ernster Schatten der Geschichte in der täglichen Sonne nachgeblieben ist. Man stellt sich so vor, daß die Macht eines größeren Zeitalters hier nicht mehr von der Sonne ins Heitere gelockt wird. Anders ist es über der Wenzelsstadt, die als altbürgerlicher Bannkreis neben dem Domberge liegt und in welcher der Turm an der originellen spätgotischen Wenzelskirche eine Schauseite nahe gegen den offenräumigen Stadtplatz heranrückt. Dieser Platz, einer reinlichen und großen Tenne vergleichbar, liegt zwischen ähnlich räumigen Größenmaßen von Häusern älterer Zeitformen vor dem Rathaus, auf dessen breiter Dachhöhe große rundbogige Zwerchgiebel in einer Reihe stehen und ein schon ganz nachgotisch trockenes Reliefspiel der Blenden auf ihren Vorderflächen zeigen. Gerade nach dem Mittelalter ist durch große Stadtbrände vieles vom alten Bauwuchse Naumburgs zu Verlust gegangen; ein nachgotischer Charakter mit doch noch sehr bestimmter Geschichtsform ist nach dem Domwerk in Miene und Ausdruck der alten Stadt gekommen und bis heute darauf geblieben. Naumburg liegt ein wenig zwischen den Zeiten. Es ist innerlich die still gewordene Tenne einer älteren Geschichte, und um den heute offenen Stadtbering kann man durch breite Baumwege bürgerlich und philosophisch lustwandeln. Größere Schicksale scheinen hier entschlummert. Und doch ist in der auf Zeitruhe eingestellten Stadt ein ganz neusinnig unruhiges Schicksal gewesen, das noch in unsere Jugend hineingereicht hat: das in der Jahrhundertwende beendete, aber auf weitere unruhige Zeitwege des Geistes weisende Schicksal von Friedrich Nietzsche.

Nietzsches Name gehört zu den großen Schülernamen von Schulpforta. War es nicht, als ob der Nachhall dieses Namens in den letzten Jahrzehnten schwächer geworden sei? Und doch klingt jetzt von ihm wieder ein lautes Rauschen in die Gegenwart. Und es ist so, wie wenn ein Schuß von den näheren Wänden einer Gegend widergehallt ist und nun sein Ton in einer Pause war, bis von der ferneren Waldwand das Echo unbestimmter und größer laufend wiederkehrt. So kann dieser Name einer heftigen menschlichen Gegenwart durch eine Gegend der Geschichte laufen. Gewiß nicht aus Zufall gehört er nach Mitteldeutschland, wo das geistige und geschichtliche Land wie das natürliche vielfältig aufgebrochen ist. Dieser Mensch ging sein Leben dahin im Ringen um freie Gesetze einer größeren Menschheit und Geistesschönheit, und er liebte den Weg nach Italien wie so viele Deutsche. Aber ist es bei ihm nicht doch mehr als bei anderen Ausbrechenden aus der Enge ein Gegenweg in sich zurück oder wie ein zurückweichender Spiegel auf gegensinnige, nordischere, unhumanistische Wege, in welchen andere Menschheitssinne sich bewegen? Der Ausgang des letzten Jahrhunderts, in dessen genauer Schwelle des Jahres 1900 er starb, hatte schon vielfach den Gefühlsausbruch für ein neues Jahrhundert in sich, und mit dem alten ewigen Süden rang ein neuer, ewig unruhiger Norden.

Wird nicht die apollinische Schönheit, obwohl entflammt durch den Geist eines Deutschen oder in dionysische Schwermut gesetzt, wie dies in Hölderlinschen Versen ist, doch zuletzt immer wieder nur ein gezähmtes Maß für alle oder ein Wunschbild für den Menschen, das nicht ausbricht in die Formen der heftiger prangenden Geschichte? Reicht sie hinaus in die Maße und Umschläge, mit welchen die lebendige Geschichte die Herzen mißt? Genügt sie für den Sinn der Zeiten, welche mit den Deutschen geworden und gewesen sind? Denn der Deutsche — ist er nicht immer wieder ein persönlicher Herr und Knecht der Geschichte, statt beruhigt zu sein in der Vollendung einer meßbaren menschlichen Mitte? Ist er nicht immer am mächtigsten in der laufenden Zeit statt in der Ruhe von Begriffen? Was er in der Völkerwanderung war, das bleibt in das Letzte seines Wesens hineingespeichert, und was er im Süden findet — er glaubt vielleicht, es sei das Ziel —, das wird ihm zum heftigeren Anstoß ins Eigene. Das gab ihm die Eigenheit seines Wesens im Mittelalter, und das kehrt sich immer wieder, bis zum Widersätzlichen gesteigert, in sein eigenes Wesen. Wann wird dieses Wesen in der Zeit fruchtbar und wann beginnt es eine grenzenlose Fortschweifung? Die deutschen Pole ringen gegeneinander, und in Nietzsches Brust war der Pol eines grenzenlosen Bedürfnisses unserer Erde. Hat die Erde ein Bild, in welchem sie sich selber schauend einhält?

[Dom zu Naumburg, klagender Johannes]

[Dom zu Naumburg, die 30 Silberlinge, Relief vom Westlettner]

Geister von Schulpforta

Der schöne Morgen liegt über Naumburg. Zum Fenster herauf hört man hier noch ohne vielen neueren Lärm die Schritte der Frühe und des Arbeitsbeginns. Es ist eine Art Ferienruhe dabei. Da will es der Zufall, daß dem lauschenden Ohre heute auf einmal das lebendigere Getrappel von Knabenbeinen und jungen Menschen zukommt. Das klingt nach Schulbeginn, wenn auch zu einem sommerlicheren Termin, als man annahm. Also beginnt jetzt auch in der altehrwürdigen Lehranstalt von Schulpforta — eine kleine Gehstunde von Naumburg im Saaletal ist es gelegen — wieder der Unterricht. Nietzsche wurde in seinen früheren Jugendjahren in Naumburg und Schulpforta erzogen, und die Neige seiner Jahre fand ihn wieder in dem mütterlichen Naumburg. Hier war also ein wesentlicher Teil seines Beginnens und Abschließens, ein Lebensstück und noch ein zweites des weit Fortschweifenden auf kurze Wege eingegrenzt. Die alte Stadt, die wie eine stille Tenne der Geschichte ist, hat die Schritte eines ganz heutigen, über die Maße hinausgreifenden Schicksals getragen. Man denkt, inwieweit es aus einer tieferen Notwendigkeit war und inwiefern die Zeit darin ihre Wellen schlug über das bürgerlich beruhigte Maß des Zeitalters hinaus; man denkt, was die alte Stadt und so auch das mittelalterliche Schulpforta an alten großen Maßen des deutschen Geistes dagegen zu setzen hatten. Man lebt, so denkend, sich hinein in Polaritäten des deutschen Wesens, die zu unseren Schicksalen gehören. Die Besinnung kann sich Verdüstern, und es ist, als ob ein Schatten unter der schönen Sonne in den blauen Morgen treten müsse.

Gestern war noch unbehinderte Gelegenheit, Schulpforta, seine alten Bauten und die hinein- und dazugebauten Lehrräume zu besichtigen. Es war noch ganz die Lautlosigkeit der Ferien darin, alles war ausgeräumt, der Geruch der Putzarbeiten versetzte in die Erinnerung unserer eigenen Schulbeginne, und der Aufseher gab Obacht, daß nicht der Staub einer Fußspur die frischen Schulböden vorzeitig beschädige. Höhere Bildungsschulen sind sich wohl überall in ihrer Stimmung von Zweckmäßigkeiten ähnlich; aber hier hat schon der ganze große und unmittelbar an der Straße von Naumburg nach Kösen in seiner Einfriedung liegende Erdenfleck seinen eigenen, schönen Naturstil. Der Höhenhang schaut waldig herein, große alte Bäume erheben sich aus den Höfen, und während der Verkehr vorbeisaust, dauert die klare Stille der Schulstunde. Aber es ist nicht bloß dieser Charakter, der die im Jahre 1543 von dem tatkräftigen Moritz von Sachsen aus dem einst blühenden Zisterzienserkloster in die neuere Zeit umgeformte Fürstenschule heute noch bestimmt. Das alte Klosterwesen und die gegenwärtige Schule sind auf eine seltene Weise noch bildhaft zusammengefügt. Die Kirche ist das älteste, mönchisch hochsinnige und treu gepflegte Wahrzeichen dieses Talwinkels geblieben, den man lauschig nennen könnte, wenn nicht die strengere Uhr der Schule darin herrschte und der Bausinn des Mittelalters hier eine besonders ernste Bildhaftigkeit erhoben hätte. Die Haupträume des Klosters sind noch kenntlich, und im romanischen Kreuzgang könnte man noch den Mönchsgestalten begegnen. Die romanische Klostermühle erinnert mit den andern umfänglichen Anlagen an die ausgezeichnete Siedlertatigkeit des Ordens und gibt dem Bilde heutigen Schullebens noch eine alte Fülle. Die Formen der alten Zeit findet man vom protestantischen Geiste häufig unmittelbarer gepflegt als vom katholischen, und so bleiben die Zeugnisse geschichtlicher.

Neben der Kirche ist der Friedhof mit seiner frühgotischen, steinernen Friedhofslaterne. Man erblickt den Grabstein des Historikers Lamprecht und wird auf andere Namen hingewiesen, die den Verzeichnissen von Schulpforta als alte Schüler Ruhm gebracht haben. Der Historiker Ranke hat dem Ort ebenfalls besondere Treue bewahrt. Zu den großen Zöglingen aber gehört vor allem Klopstock; seinen Aufenthalt hat Goethe in einige Verse gebracht, denen man die Lust anmerkt, daß sich mit dem «begrenzten Orte« der Schule der Hinweis und Reim verbinden läßt auf Schulpforte, auf die »Pforte, die ins weite Leben führt«. Zu den hier vorgeschulten Kampfgeistern des Deutschtums gehört dann der denkerisch ausgreifende Romantiker des Vaterlandes Fichte und, was unsere Gedanken heute noch schwerer beschäftigt, eben Nietzsche.

Zarathustra und der Mönch

Nun denkt man sich im Kreuzgang des Klosters sitzend und das neue Buch von der Jahrhundertwende lesend: »Also sprach Zarathustra«. Was ist für ein Unterschied zwischen dieser Leidenschaft des Gedankens und dem kontemplativen Leben? Wie weit ist Nietzsche von dem kontemplativen Leben entfernt, das hier im Kloster mit der aktiven Kolonisation des Saaletales eine geistliche Herrschaft eingerichtet hat! Verschiedenheit der Denkformen ist auch Verschiedenheit der Daseinsformen, denn der Gedanke wird erst wirklich im Tun, und beide müssen ihre Art in den Spiegeln der Geschichte zeigen. Die Taten der alten Mönche sind in ihrer kontemplativen Zweisinnigkeit zu den stärksten und immer noch nachbleibenden Spiegelungen der Geschichte in deutschen Landen geworden. Hier im Saume des Deutschtums gegen das Slawentum ist Bau und Anlage von Schulpforta noch wie ein Denkmal.

Warum bleibt uns Lesenden bildhaft im Gedächtnis, daß Zarathustra, der sich entschließt, zu Menschen zu gehen, von dem Gebirge herabkommt? Was ist dies für ein Sinn gedanklicher Natur? Was ist dies für eine Ungemessenheit der Ferne und eine Leidenschaft zur Nähe, was ist dies für ein Wille zum Worte? Wir sehen wieder auf die Gemessenheit der alten Bauten hier. Diese ist zweisinnig, indem sie nicht nur einen Sinn eingeschlossen hält, sondern indem sie zugleich eine Wesenheit hat, womit sie den Sinn fortsetzt und doch das Grenzenlose ausschließt, nämlich indem sie sich selber ein- und ausschließt und so zu einer bloßen Technik zu werden scheint. Die Gotik ist kein Rahmen um einen Inhalt, sondern sie besorgt eine Teilung der Felder des Sinnes; und in der Teilung, indem sich die Felder hinwegnehmen und ihren Ingrund öffnen, wird der Sinn immer lebendiger. Dies etwa scheint auch der Vorgang der gotischen Fensterkunst. Aber auch wir fühlen uns im Anblick der Bauformen aus unseren Grenzen gehoben in einer schönen Entzweiung. Wir werden aus uns entnommen und doch weiter in uns hineingesetzt. Es ist, als ob zuinnerst des Geschehens ein Bild sei, das auf uns wartet. Während also Zarathustra im Grenzenlosen nach Grenzen sucht und das Wort eines immer treibenderen Sagens zu Hilfe nimmt, sind wir hier im Blicke festgehalten, als ob innerhalb alles Begrenzten ein Bild sei, das selber grenzenlos ist, nein, sondern das nur wie etwas Unbeendliches ist, das immer noch bildhafter werden will und das uns schweigen macht. Es will uns scheinen, als ob es auf der Erde ein Bild gebe, das vor allen Worten den Vorzug habe und das in den Zeiten wartet. Jedenfalls ist in den jungen gotischen Formen am meisten das Übergewicht einer ahnbaren Bildhaftigkeit über dem unaufhörlichen Monolog des Wortes.

Die Kirche von Pforta, das Werk eines Mönches Albertus, ist nach 1250 mit Einschmelzung romanischer Teile des Langhauses in die neue Gotik entstanden. Sie wird heute vor allem mit ihrem Chor und ihrer Fassade bewundert. Diese Gotik hat in hohem Maße jene schalenhafte und fast zerbrechliche, auch innen mit Nischen, Wimpergen und erhobenen Laufgängen vollzogene Schönheit, welche, indem sie mehr auf sich selbst als auf eine Bewußtheit um den Menschen gerichtet scheint, doch um so mehr einen Innenraum gleich einer »Inständigkeit« in sich schließt. So, wie im Naumburger Chor die Figuren geboren wurden, welche doch auch so sind, daß sie die unbeendliche Mitte nicht betreten können, weil sie immer in einer Grenze und gerechten Spannung von ihrer Herkunft her bleiben müssen. Sie bleiben der Mitte zugewandt und doch in ihrem eigenen Drama. Und gleicherweise stehen die Bauformen in Ausgang und Einhalt zu sich, und sie können nicht auf die Idee des Menschen und seines Raumes zusammenrinnen.

Die Fassade dann von Pforta, die bloß aus dem Mittelschiff aufsteigt, hat eine unvergeßliche Schlankheit, man könnte sagen, wie eine steinerne Fahne. Sie ist, in dreifachem Rhythmus aufsteigend, in sich selbst eingegrenzt und eingestückt, um in der Kunst der Felderbildung ebenso sichtbar zu werden wie das Gewicht der Sichtbarkeit zu verlieren. Im obersten Geschoß aber wird ein Bildfeld für Skulpturen frei, als sollte dies wieder heißen, daß im innersten oder schwindenden Feld ein Bild und in dem Bilde Glieder lebendig werden, und daß ein Garten für das Gesicht hier hinaufgetragen sei. Die Formen sperren und entsperren sich nach aufwärts, um nichts von der ungemessenen Erde, aber auch nicht von einem Sockel absichtlicher Gemessenheit zu wissen, dafür aber eine innere Grenze zu öffnen, in welcher eine Bildhaftigkeit wartet. All dies aber geht vor sich als eine Steigerung nach außen und innen, als ein »komparativisches« Geschehen, welches nicht um den gegenwärtigen »positiven« Menschen geht, sondern um ein lange und immer harrendes Bild, in welchem für die Gestalt ein vorgezeichneter Platz ist. Dies ist wohl Raum- und Bildsinn des Mittelalters.

Und an einem Orte solchen Sinnes also wurde auch der Philosoph erzogen, dessen menschliches Denken mit der Qual einer einsinnigen Notwendigkeit die unbedingte Gegenwart und die Passion des Übermenschen versuchte. Er zersprengt in der von Empfindung geführten Gedankenform die verengten bürgerlichen Grenzen. Er lebt ein gegnerisches Leben. Das alte Werk scheint unangewandt auf den Menschen. Der gegnerische Mensch aber, der in Nietzsche sich vorgelebt hat, muß auf eine Gegenwart, auf einen Einsatz angewandt bleiben, worin Herr und Knecht sich in den Zeiten scheidet. Er mußte auf diese Art in einer neuen Gegenwart die unbeendliche Mitte versuchen. Denn indem wir wieder auf den Sinn des alten Schulpforta blicken, werden wir nicht vergessen, daß es des vorausgeschickten Bildwesens der Gotik zuviel werden konnte, und daß an ihrem Ende der Mensch mehr in der bildlichen Vermittlung als in seiner Wirklichkeit, mehr in einer bildhaften Werkgerechtigkeit als in dem wartenden Sinne vorhanden war. Und auf unser Zeitalter schauend, sehen wir wieder eine zu große Verbildlichung der Zusammenwohnenden eingetreten, als Nietzsche die Worte hob und Zarathustra ausschickte. Durch unsere Gegensätze von Klassik und Romantik, und in der Romantik wieder zwischen »Dorik« und »Gotik« (wie man im Hinblick auf Kleist sagen könnte) scheint ein Weiterweg notwendig, und gegen unser bloß restauratives Zeitalter hat Nietzsche einen Weg auf sich zuführen gefühlt, der vom Gebirge herkam und den Geist zum grenzenlosen Worte verpflichtete. Gibt es noch etwas Größeres als die Tatsache, daß ein Mensch seinen ganzen Einsatz um sich selber gegeben hat? Wir werden antworten: aus einem Bilde, das auf ihn in den Zeiten gewartet hat, wird er sein Recht erfahren. Aber wir wissen auch, daß etwas von seiner Gegenwart noch immer im Beginne ist. Und so wollen wir nur den Satz hinschreiben, mit dem er die Szene schließt, in welcher sich Zarathustra, vom Gebirge und aus dem Walde kommend, von seiner Unterhaltung mit dem alten Einsiedler abwendet: »Und so trennten sie sich voneinander, der Greis und der Mann, lachend, gleichwie zwei Knaben lachen.«

[Dom zu Naumburg, Abendmahl, Reliefausschnitt vom Westlettner]

[Dom zu Naumburg, Westlettner]

Wir haben noch einen Blick in die spätromanische Abtskapelle zu werfen, die inwendig voll jener Bauförmigkeiten ist, die eine schöne Lautkraft gaben, bevor die pflanzlichere Stille der Gotik kam. Lautheit und Stille wechseln überhaupt im Gefühl durch mittelalterliche Räume. Wir aber sind nun aus dem ferienstillen Gehege. Die Straße an dem alten Klosterorte vorbei steigt und fällt im Tale und führt nach Bad Kösen durch Ackerfelder und Ernten. Die Sonne war heiß, die Kirschen leuchteten in der langen Reihe der Kirschbäume am Wegrand, und sie erinnerten mit Goethe an die Hussiten und an das Naumburger Kirschenfest. »Und der Magistrat von Naumburg ließ es nicht an Kirschen fehlen.«

Blick über das Sauerland

Epik der Wälder

Das Namenswort einer Landschaft hat für uns manchmal, bevor wir sie noch kennen, eine mehr als begriffliche, eine sinnliche Bedeutung. Es scheint oft in einem Namen ein beseelter Inhalt zu schweben, und wir glauben dem Wortklang, wenn mit ihm nichts sofort Sachliches ausgesagt wird, eine bildhafte Vorstellung abzuhören. Die Rhön etwa scheint uns ein solch hörbares landschaftliches Bildwort, auch die Eifel oder dann der Westerwald, der nördlich bis an das Sauerland hinübergreift und der allerdings das Wort des Waldes in seinem Namen mitbringt.

Zum westfälischen Süden

Anders aber scheint es mit dem Namen des Sauerlandes zu sein, der als Süderland erklärt wird. Das Wort hat seinen eigenen Klang, aber sicher bleibt dabei für eine große Mehrzahl vor allem von uns Süddeutschen sowohl eine wirkliche als eine gefühlsmäßige landschaftliche Bildvorstellung aus. Insofern wir nicht an das Industriegebiet an der Ruhr denken und meinen, daß wie dieser charakterisierte Teil so das Sauerland von Industrie durchdrungen sei, geht uns, wie man erproben kann, dieser Name einer der schönsten deutschen Landschaften über einen stummen Begriff nicht sehr hinaus. Und von der Ruhr selber etwa denken wir am wenigsten, daß sie eine Waldestochter sei, wie man in der Schulsprache zu sagen pflegt, bis man ihren eiligen jungen Lauf in Feld- und Waldtälern gesehen hat und an ihrem Ursprung auf der Höhe eines in weite Horizonte gesetzten Waldgebirges vorbeigekommen ist. Wer aber auf diesen Waldhöhen einmal den Umblick gehabt hat, welcher nach den meisten Seiten an kein Ende der Wälder reicht, für den bleibt der Name Sauerland vom stummen Begriff in eine Bildform von unvergeßlicher Eigenart einer deutschen Landschaft umgewechselt. Das Hochsauerland ist eine Bildung von Waldgebirgen, worin Ursprünglichkeit und neue Waldesschönheit beisammen sind, in welche die Täler und die Wälder mit der Ruhe der Jahreszeiten hineingezogen sind und welche mit Hochflächen und Höhen und wieder Wäldern fortschreitet zu den nördlicheren Ebenen Westfalens. Die Natur hat noch eine große Stille über diesem Lande.

Es ist dem Gefühl nicht gleichgültig, welcher Art beim Herankommen in ein solches noch stummes Land die ersten Eindrücke sind. Wenn man mit der Bahn nach der Querung durch Mitteldeutschland dann über Hessen ein Stück nach Norden und dann wieder in die Quere gebogen ist, deren Ende zum Rheine fortführt, dann hat man ein anderes Landesgefühl bekommen, zu dem man alsbald auch eine sehr eigene Mundart hört. Es naht sich nach dem reicheren und altbesiedelten Wechsel eine strengere Beständigkeit. Hat sich dazu noch der Himmel bedeckt, so daß nur noch in der nördlichen Ferne eine gelbe Hellung steht, der heranziehende Wald aber nun schon im schweren Regen dunkler auftaucht, dann kann dies dem Gefühl eine sonderbare Lebendigkeit geben. Die Schrägen der Waldhänge sind scharf, aber nicht so groß, daß der Wald nicht noch mächtiger darauf in die Höhe ginge, die Regenschwaden treiben mächtig darüber herab, und an die Fenster schlägt es wie mit Wasserschnitzeln. Das ganze äußere Bild ist dunkler und verschlossener geworden. Das scheint zum Lande zu passen, und obwohl man von den westfälischen Ebenen, vielleicht von den weiten Getreide»börden« und jedenfalls von dem tieferen und offenen Norden weiß, so empfängt man jetzt auch schon ein Wissen von großem Walde, das zunimmt, je mehr man den Süden Westfalens kennenlernt und das Sauerland sich aufschließt.

Die Neugier regt sich nach den verschlossenen Landschaftsbildern Westfalens, und da man vielleicht zu diesem stammechten Lande eine Vorliebe mitbringt, ist man auch begierig auf die Menschen. Manchmal hat die Eisenbahn den Vorzug, daß man auf einem größeren Wege und mit einem volleren Umblicke in ein Land einkommt; und den anderen Vorteil hat sie noch mehr, daß man sich nach Menschen umsehen kann, die vielleicht in Gesicht und Gestalt den Charakter des Landes verraten. Manchmal hat man schon selbst bemerkt, daß man einen Mitreisenden, wenn dieser jetzt durch sein eigenes Land fährt, auf einmal mit anderen Augen ansieht. Man wird auf besondere Züge und Bewegungen aufmerksam, und die Färbung der Sprache tut das übrige. Und so darf man hier schon die Beobachtung vorausschicken, daß gerade der Westfale, und da wohl wieder der Münsterländer, auffallen kann, daß bei ihm Haltung und Wesen von deutlicher Art erscheinen, aber, obwohl deutlich im einzelnen, doch nicht mit einem schnell geprägten Worte zu fassen. Es ist, um auch das schon vorauszuschicken, wie bei den alten Figuren in den Domen von Paderborn und Münster. So fangen nun Menschen und Landschaft jetzt schon an, lebendig zu werden, und die Bilder des ersten Tages bereichern sich im kommenden und gehenden Regen.

Man steigt um, dem Hochsauerlande zu, und eine dichte Wald- und Wandergegend ist nun da. In den Tälern der Ruhr und der Neger den höheren Wäldern entgegengekommen, ist man in dem Hause eines Schwaben unter den Sauerländern angelangt und lernt ihn und mit ihm neue und liebe Menschen kennen. Der Abend sinkt über die triefend verhüllten Berge herein, und im Zimmer sitzend hört man in den Pausen der Gespräche den rauschenden Regen und das Seufzen des Windes, der vom Rhein her über das Gebirge kommt.

Dasein im Waldgebirge

Dann bringt ein neuer Tag eine neue Sonne. Man sieht in den Ortschaften die Häuser des Sauerlandes, die nicht sehr groß sind, aber sauber und gemessen, man möchte sagen, schachtelartig durch die Genauigkeit des Schiefers, mit dem man die Dächer gedeckt und die Wände teilweise vertäfert sieht. Aber man sieht, wie vielfachen Wechsel des Umrisses im einzelnen und damit der Abwandlung in den Lagen und der Wirkung der Verzierungen die kleinen steinigen Blätter des Schiefers in ihren verschiedenen Schnittformen annehmen können, die, wie man uns sagt, in etlichen dreißig Mustern von den Arbeitern frei aus der Hand und unmittelbar vor der Verwendung zurechtgeschlagen werden. Man öffnet den Blick dafür, was es bedeutet, daß hier also meist noch nicht die auf Vorrat lieferbaren Normalmaße zur Täfelung verwendet werden, und man erkennt darnach, wieviel schwerere, altertümlichere Schönheit den Schieferhäusern in dieser Landschaft verblieben ist. Man sieht dadurch die blinde Stille, die der nicht zur kleinen, leeren Form bereinigte Schiefer noch um so mehr hat und mit der sein graues Silber in der überall waldgrünen Landschaft unter matter Bläue leise und kühl schimmert. Und diese schwerere Farbe paßt wiederum zu dem sehr häufigen Fachwerk, welches einfach und sehr deutlich, ernst und dunkel ist. Denn der weiße Verputz der Hauswände steht hier zwischen einem ernsten schwarzen, selten braunen Gebälk, so daß der ganze Anblick der Häuser nicht malerisch ist, sondern eine zurückhaltende und gemessen aufgerichtete Beständigkeit hat. Auch auf das Gebälk, auf die Ständer und Riegel, auf die Ecken und die Reihung der Schrägen und Geraden lernt man hier alsbald achten, weil auch hier noch nicht die dünneren, nach der gewerblichen Rechnung noch zureichenden Maße des Gebälks überhandgenommen haben. Und auch hier erkennt man nun wie beim Schiefer die altertümlichere Schwere. Man sieht, daß die einzelnen Häuser ein Gesicht haben, welches nicht nur Zweckmäßigkeit, sondern vor dem ernsten Grunde der Wälder einen zeithaften Bestand anzeigt. Und nun wird man den Ausdruck, daß die Häuser »schachtelartig« seien, zurücknehmen, weil er etwas Mechanisches behaupten kann, und man wird weiter darauf verfallen, daß das Landbild hier sich wohl mit keiner reichen Sprache dem Fremden entgegenbringt, daß es aber noch sehr sein echtes Gesetz hat. Alles scheint im übrigen von einer genauen und übersichtlichen Geräumigkeit, die sich in größeren Häusern ebenso vergrößert, wo man einen Steinflur sieht, eine Diele, mit dem Fußboden der auf die Kanten gestellten kleinen Schieferstücke, und wo unter dem schwarzen Gebälk der Decke die Schwalben durch das Haustor fliegend mit den Menschen das Dasein teilen.

[Schulpforta, Kreuzgang der Klosterkirche]

[Dom zu Paderborn]

Hier ist ein Ort, deren es noch ähnliche gibt, wo die Bewohner früher kleine Bergwerke hatten und Sensen schmiedeten, die sie selbst mit ihrem Handel durch die Länder deutscher Zunge brachten. Während die Selbstherstellung weggefallen ist, hat sich der Handel in konservativer Weise erhalten und nährt noch heute seinen Mann. Man geht mit den Sensen »in die Welt«; zu Hause aber lebt man nach den alten Sitten. Auch die eigentlichen Bauernorte sind mit einer ähnlichen reinlichen, landschaftlichen Beschränkung in die Talfalten gestellt. Bauernhöfe reichen in die höheren Berghänge hinauf, und die Felderstücke gehen zu den Wäldern hoch oder reichen über die waldlos gemachten Bergrücken hinüber in das nächste Tal, so daß diese freien und mit Äckern bebauten Rücken weite Umsichten gewähren, wozu die Ackerhänge ein vielseitiges und doch strenges Gefächer vor den Wäldern her bilden, während die Rücken selber sich als schöne reine Höhenlinien gegen den vielen Wald abschneiden und mit einzelnen Bäumen an der Weitsicht teilhaben. Überall aber stößt der Blick, indem er sich mit den Hängen und Kuppen erhebt, wieder an die Wälder. Auch trifft man hier schon Bergwerke, mit denen die Berge verwundet sind. In der Nähe sind Steinbrüche, in denen es rauscht und poltert. Die Sprengschüsse laufen im Echo um, und es wird „Split« hergestellt für die Straßen. Dann gibt es Schieferbrüche, bei denen der Abfall kleine Halden gibt, die alles Grün ausschalten, und wo man dem Schleifen von großen glatten Tafeln zuschauen kann. Im Grün des Tales aber oder auf höheren Weiden ist in kleiner und größerer Zahl das braune oder schwarzgefleckte Vieh, das untertags den Weidegang hat und oft auch nachts im Freien ist. Das Getreide braucht hier bemerkbar länger zum Reifen als in der Ebene.

Wie die Häuser, einzeln und bis in die größeren Taldörfer, zunächst für den Fremden ein ziemlich ähnliches Aussehen haben und in ihrer klaren sowie doch zurückhaltenden Ordnung stehen, so ist auch das mit seinen Höhenzügen gehobene Land nicht idyllisch oder malerisch, sondern man kann es episch nennen, so wie es die bergenden Einschnitte vieler Täler hat und doch mit den Höhen nicht halt macht. Offenheit und Verschlossenheit scheinen sich miteinander zu messen. Und in Wahrheit, während man die Merkmale altertümlicher Echtheit der Häuser zusehends erkannt hat, macht die Betrachtung der Landschaft den Blick immer besinnlicher. Weder die Höhen noch die Täler, weder die Hänge der Äcker, wo die arbeitenden Menschen gegen den Himmel abstehen, noch die Wälder, welche in ihrer grünen Sättigung glänzen, nicht die Steile und nicht die Lieblichkeit, nicht das geborgene Gefühl noch die fortwandernde Lust, nichts will hier den Vorzug gewinnen, nichts wird wesentlicher, und alles scheint mit einer gleichen Genauigkeit zu gelten. Die Jahreszeiten bringen ihre Farben, mit denen die Erde bald blühen und bald ruhen will und die auch hier über die Hänge hinaus mit den Wolken kühler werden und mit der Sonne glänzen. Und doch scheint hier nur eine Farbe zu gelten, die im Sommer wenig glänzt und im Winter nicht nachgibt, die grüne, strenge und fast bewußte Farbe des Waldes, der nicht spielt, sondern nur seine Geschlossenheit da und dort mit einigen dunkel gemessenen Stücken in die hängenden Felder herabschickt, wovon diese in ihrer hellen Lage bedrängter und herrlicher werden. Wo nichts gegen das andere mächtig wird, will ein Gesetz der Kargheit herrschen. Aber man empfindet und sieht auch das Dasein hier doch nicht als karg. Und nun, bevor man noch ein näheres Wesen ausmacht, kann irgendeine Stunde des Tages hier über die Säume der Höhen herein feierlich werden. Und man sagt zu sich: diese Landschaft ist wie ein Wesen, welches sich selber in der Waage hält, es wird dann nicht so sehr wesentlich als feierlich. Diesem Wesen kann auch die Stunde der sinkenden Sonne besonders dienen, nicht so sehr, indem sie über dem Lande glüht, als indem sie die Säume höher und ferner macht, bevor sie in das nachkommende Dunkel zurückfallen.

Es ist, indem man sich solche Merkmale eines Landes klarmacht, als ob man damit auch eines menschlichen Wesens Grundzüge schildere. Indes braucht es dazu näheres Wissen; und auf ihre Art hat ja die Westfälin Annette von Droste auch den Sauerländer, allerdings der breiteren Gegend, geschildert. Der Fremde bemerkt nur, daß ein einerseits schweigendes, anderseits offenes Wesen den Menschen hier eigen ist. Aber die Häuser mögen noch ein Stück von den Menschen deuten. Die Häuser nämlich tragen auf dem schwarzen Hauptbalken über der Torseite hin sehr vielfach eine schlichte, in der Form der bloßen Einritzung hergestellte Schrift als Hausspruch oder mit dem Altersdatum des Baues und den Namen der Inhaber und Ehegatten und mit wenig beigefügter Zier. Dies aber, was nur die bäuerliche Einfachheit zu leisten scheint, wirkt doch ganz im Gegensatz wie ein auch im Altertümlichen zeitloses Zeugnis; die nur wie eine Einritzung weiße Schrift auf dem schwarzen Balken kann leicht in Gold übergehen. Und manche Inschrift bekommt über die geschlechterhafte Aufschreibung hinaus etwas Geistliches und jedenfalls in verschwiegener Art Feierliches. Diese schlichten Aufschriften wollen nicht sehr persönlich sein, aber sie haben um deswillen nicht weniger Stolz. Vom unmittelbaren Leben betont unser schwäbischer Freund, der als tätiger Arzt das sauerländische Wesen kennt, auch besonders, daß der Sauerländer nichts »Notiges« hat, sondern sich mit Freiheit zu geben weiß. Darüber hinaus gibt es aber dann auch, nach den Worten und dem entsprechenden eigenen Schaffen eines feinen sauerländischen Bildhauers, eine tiefere Eigenheit, die, eigentümlich mit einer stetigen Tätigkeit verbunden, in sich grübelt und die den Volkscharakter mitbestimmt. Die großen Regen und die starken Winter schließen, ja pressen mit Gewalt das Gemüt in sich zusammen.

Ein rheinischer Freund bemerkte früher einmal im launigen Gespräch zu einer Sauerländerin, daß die Sauerländer im Sprechen den Unterkiefer nicht bewegen. Dies wäre wohl eine Beobachtung im Sinne des Volkskundlers H. W. Riehl. Die Sprache hat, obwohl das Land nicht nördlicher als Kassel liegt, einen norddeutschen Klang und ein sehr scharfes Platt, das man als Süddeutscher liebt, wenn man es auch schwer versteht. An einem kleinen Kriegsgedächtnisplatze, einer umbuschten Naturnische am Wege mit einem murmelnden Wasserlaufe, waren auf einer Tafel die Worte zu lesen: »Frönde, hall’t in Friän d’n langen Sloop, — bitt taum Wiersain einst! Frisk op!« — Dies kleine Wortdenkmal lag mit seiner Bescheidenheit in einer schönen Morgenstimmung.

Land um den Kahlen Astenberg

Die einzelne Beobachtung verschwindet aber, und die stumme Epik der Wälder sammelt sich und breitet sich aus auf dem Hochblick der Berge. Man hebt sich im Kraftwagen aus den umkreisenden Waldtälern, welche in ihre schöne und lautlose Geborgenheit zurückfliehen, und kommt auf eine halbwaldige und trotz der Besucher einsame Bergfläche. Dies ist der Kahle Astenberg (841 m), der Mittelpunkt der ausstrahlenden und umringenden sauerländischen Höhenzüge. Man hat wohl den Namen des Rothaar- oder Rotlagergebirges von früher her gewußt; nun steht man hoch in seinem Kreise, und die anderen waldigen Bergzüge des Lennegebirges und des Ebbegebirges gliedern sich an bis zum großen Arnsberger Wald. Nach Norden ragen die sonderbaren, Ruinen gleichenden Bruchhauser Steine in den weiten Horizont. Nur nach Osten, in der Richtung nach Kassel, ist in der Ferne noch ein großer Teil von Ebene und Bauernland offen, das sich nach Süden, etwa in der Richtung nach Marburg, zuschließt, während der übrige Umkreis in der Unaufhörlichkeit der Wälder mit Höhen und Kuppen aufsteigt und untersinkt.

In diesem Steigen und Sinken, worüber der Blick wie auf Wälderebenen hingleiten kann, ist ein schöner und ruhig großer Wechsel. Er geht von der bewaldeten Stärke reliefhafter Erdformen mit Hängen in weiten Linien über den Rhythmus von Kegelkuppen in lockerer Fernsicht bis zur Melodie jener Wälder, welche wieder nahe sind und doch unendlich ineinander kreisen. Jene lockere, duftig in den Kuppen fortgleitende Fernsicht geht etwa über das Bergische Land in der Richtung nach Köln. Die schöne und große, in sich spielende Wäldermusik aber sammelt sich herwärts in dem Berleburger Wald und bringt die Schönheit einer deutschen Waldlandschaft unmittelbar gegen das Gesicht. Von der stummen Ursprünglichkeit des Wäldergefühls bis zu prunkhafter Schönheit kommt alles zusammen, die schräge Sonne des Nachmittags hebt alles in einen zugleich dunkleren und verschwindenden Schein, und, indem man keine Behausung mehr, sondern nur noch den Wald in seine grenzenloseren Bogen ringsum hinauswachsen sieht, kann man glauben, daß dieses Waldland, unbewohnt von Menschen, in einer zeitlosen Schönheit daliege. Seine stumme Epik gibt allein dem Auge Nahrung.

Nach Norden zu sind noch die waldreichen Höhenlagen von Meschede und Brilon und ist der große Wald von Arnsberg. Das Stadtbild Brilons ist mit Rathaus und Kirchturm noch ein stattliches Wahrzeichen im Ausklang dieser Landschaft nach dem tieferen Westfalen hin. Und nordwärts beginnen auch bald die Grundstöcke des geschichtlichen Westfalens, die ihre Ursprünge in den Zügen Karls des Franken gegen die Sachsen haben und die hier wie kaum irgendwo im Boden verankert geblieben sind. Hier im Lande des Waldes aber hat sich auch heute noch die Zeitlosigkeit behauptet.

Die Täler nehmen uns nun in ihr wachsendes Dunkel auf. Wenn manchmal unser Freund von seinen täglichen Wegen hier auf der Heimfahrt in die Nacht hinein begriffen ist, wenn die hohen Lichtsäume erkalten und die Berge in das Dunkel hereinfallen, das auf sie wartet, wenn nun das zeitlose Gefühl auch den Menschen selber aus sich hinaus versetzen will, wenn alles zur Stummheit wird, dann greift der Mensch zu der anderen Stille eines Buches. Dies Land hier hält sich in einer eigentümlichen Waage. Wenn nichts wesentlicher wird als das andere und nur noch das Stumme und Feierliche übrigbleibt, dann ist auch der größte Raum für den Geist nur noch wie eine Zelle. Das Nächste tuend, ist der Geist dann frei für alles.

Ausfahrt zu Westfalens Baugesichten

Von der Eresburg nach Soest

Gestern, während im Umschweifen über die weitgezogenen Bergwälder des Hochsauerlandes mit den Blicken sich die Gedanken von der hier geschichtlich stummen Gegend weitertrugen, waren, als wir nordwärts gerichtet standen, die Worte »Irminsul« Und »Eresburg« gefallen. Wenn der aus den Taltiefen steigende Abendhauch beginnen will, die Wälder und ihre Höhen zu überwältigen und wesenlos zu machen, wenn alsdann mit dem Abschied der Sonne die Wirklichkeit sagenhafter wird, dann kommt eine Stunde, wo solche Worte unserer germanischen Vergangenheit wie mit einem vorchristlichen Zucken lebendig werden und uns schwer ins Herz treten. Jedenfalls war gestern ein solcher Augenblick der Besinnung wieder gekommen. Und er wiederholte sich und wollte sich als ein dauernder Sinn begreifen, als der Weg durch das Land für den nächsten Tag bestimmt wurde, der über die Eresburg führen sollte.

Aus der Wunde der Geschichte

Mit der Erstürmung der Eresburg, der alten Grenzfeste der Sachsen an der Diemel, begann im Jahre 772 der durch die lange Folge von zweiunddreißig Jahren immer wieder auflodernde Unterwerfungs-, Aufstands- und Vernichtungskrieg Karls des Großen gegen diesen völkischen Kernstamm. Man trifft also auf dem Wege über die Eresburg nach Westfalen in ein großes germanisches Todesschicksal. Vom Rhein her, aus dem Tal der Eder oder im Norden, drangen Karls Züge ostwärts, und die Eresburg im Lande der südlichen Engern (Angrivarier) war das erste Ziel. Wenn wir zum Hellweg kommen — heute noch die Landschaft bezeichnend, in welcher nördlich am Haarstrang auch die fruchtbare Soester Börde liegt —, sind wir schon in den Lauf dieses Schicksals eingemündet, das nach Paderborn und Lippspringe ging, wo der Sieger schon in den währenden ersten Kampfjahren fränkische Reichstage hielt. Auf dem Wege gegen Detmold trifft man auch die Externsteine, wo man heute das wesentlichste Zeugnis auch des weltanschaulichen Kampfes in der Zeitwende des Stammes sucht, dessen Schicksal von Karl im Vordringen zur Weser und zur Aller vollzogen wurde, wo er die trotzigen Sachsenkämpfer in einem furchtbaren Rachegericht vertilgte.

Wer nach Westfalen reist und von den Wäldern in die nördlichen Gegenden hinauskommt, muß zu diesem deutschen Stammeslande eine tiefere geschichtliche Besinnung mitbringen. Westfalen ist kein lautes Land, und die sagenhaften oder naturgründigen Züge in seinem Volkswesen sind ganz und eigentümlich mit der Stille einer tatkräftigen Gegenwart und Wirklichkeit gepaart, die nichts anderes als sich selber vorzutragen scheint. Man könnte es vergessen, indem man die weiten, manchmal von den blauen Bergzügen des Osning und des Teutoburger Waldes nördlich wieder eingekränzten Sichten des Landes überblickt, daß man auf diefem christlichen Boden, der konservativer ist als anderwärts, zugleich den alten heidnischen Boden beschreitet, wo ein deutsches Wesen am sichtbarsten den Grund und Anlaß gehabt hat, die in der Folge der christlichen Zeitwende ihm zufallende geschichtliche Not als eine Wunde des Sinnes und des eigenen Wuchses zu erfahren. Die Sachsen, von ihren nördlicheren Sitzen gegen die Mitte Deutschlands gedrungen, nahmen wohl schon an den die Jahrhunderte erfüllenden Unruhen teil, bei denen sie immer mehr mit den Franken, mit denen zusammen sie 531 an der Unstrut das große thüringische Reich zu Fall gebracht hatten, in eine letzte Auseinandersetzung kamen. Aber ihr Wesen sieht man doch in einer wandellosen Gleichmäßigkeit geblieben. Andere Stämme hatten im Wandern nach Heimaten die Bekenntnisformen der Geschichte angenommen, die für sie zugleich Zusammenhänge mit den Maßen und Spannungen der Staats- und Geschichtsformen an sich wurden. Darf man sagen, daß, gleichwie der Gottesbegriff sich in den eben gewesenen Jahrhunderten in unaufhörlichen Streitigkeiten zu teilen, zu »dividualisieren« begonnen hatte, so auch diese Formen den vorhanden gewesenen imperialen Begriff »dividualisiert« hatten, und daß germanische Herrscher dabei, obwohl sie nicht mehr in der Mitte des Imperiums saßen, doch eben in der Teilhaftigkeit, in dem »dividualen« Verhältnis zu einem weniger sichtbaren oder positiven Mittelpunkt neue und größere Kräfte der Wirkung ahnten. Sie spürten das Vorgebot, das sie mit ihrem eigenen sinnhaft wachsenden Willen zur Geschichte leisten konnten.

Warum benützen wir die Bezeichnung »dividual«? Die Bezeichnung soll ein Versuch sein, die begonnene Andersart des germanischen Ausdrucks in der überkommenen, etwa basilikalen römischen Form des Bausinnes auszudrücken. Denn die Bauformen jedenfalls hatten nun angefangen, dem Sinne des Raumes einen solchen Ausdruck zu geben, bei dem nicht zuerst die Mitte oder das Innere der Zweck ist, bei dem es keinen nichts als positiven Zweck, keine bloß zentrale Idee an sich gibt, sondern wo das Innere zum Wege geworden oder wo das Innere mit der Richtung zum Geiste eines neuen Wesens hin stummer in sich geworden ist. Aus dem positiven Raume ziehen sich die »Anteile« der Bauformen sichtbarer heraus, das heißt, sie werden wie im Widersatze zur bloßen Einheit eigenförmiger. Die Mauern nehmen zu wie Gegensätze oder Schranken und »Nein«formen um den allgemeinen Raum, sie geben ihm das neuere zeithafte Gesicht; die Säulen und Pfeiler bringen als Hauptwirkung die Teilungen, die bestimmten Durchschreitungen, die heftiger sind als der Raum selber. Es hat ein Vorgebot der Bewegung gegen die Ruhe begonnen, ein Vorgebot des Kantigen, des »Technischen« und eines Tuns, das sich zu einem eigenen Orte und zu einer neuen Raumerkenntnis fügt. Das Innere des Baues gerät gleichsam in einen Mangel zu dieser stärkeren Wirklichkeit der hinzutretenden Kräfte, und sein Wesen wird davon hungriger und geistiger. Davon kann es dann aber auch neue Formen von Bild und Figur heftiger in sich nehmen.

Darf man wohl auf diese Weise die Bauformen, die doch noch ganz im Übergang aus der Antike sind, als Symbole des Werdens einer neuen Geschichte aussprechen? Jedenfalls möchte man das Erlebnis von Ravenna so verstehen, wenn man die Kirchen um die Zeit des Theoderich und am meisten sein Grabmal gesehen hat. Je mehr man an diesem außer den germanischen Zieren, die wie ein zwingendes Band — nicht nur Zier-, sondern geheimeres Schriftband — um das Haupt des Baues sind, die ganze Stellung der Kanten ermißt, als ob sie das Schlüssige des Raumes noch schlüssiger machten, desto stummer fühlt man die innere Größe wachsen. Man wird nicht leicht entscheiden, wieviel zu einer neuen Welt des Bauens das neue Wesen nach Christi Geburt aus sich erbringen konnte und wieviel aus der germanischen Anlage jetzt unmittelbar hinzutrat. Die Bauten sind jedenfalls jetzt am wenigsten mehr Räume an sich (was sie übrigens ja auch im antiken Tempel nicht sind), sie werden Raumfelder oder gleichsam Orte der Zeit, Äcker oder Gemessenheiten der geschichtlichen Erde. Und man darf die begonnene frühere Sinnesart auch rückwärts erschließen, indem man die romanischen Bauten betrachtet, in denen sich die aufgespaltene Form des Bausinnes und das Vorgebot gegen den »Raum an sich«, die dividuale Gegensätzlichkeit und ein Innenweg in der Zeit aufs stärkste verwirklicht hat. Der Raum ist jetzt gleich einer aufgespaltenen Zeit, durch welche die Geschichte Ort und Wandel findet. Und wenn man die Geschichte als eine Wunde des Sinnes bezeichnet hat, dann mag man jetzt das Band für die Frage knüpfen, warum unsere frühen deutschen Bauten, welche man die Bauten des romanischen Stils nennt, gerade diese Raumform haben. Diese Bauten sind Kirchen, und sie haben damit ihren Zweck. Aber ihre Formen kommen sicher noch mehr oder im Zeitwesentlichen allein aus dem geschichtlichen Grundsinn her. Warum denn besteht ihr Wesen durch einen dividualen Gegenhalt und wieder Zudrang zu einem Mittelschiff, so daß dieses gleichsam weniger positiv ist als die Seitenschiffe? In der Gotik hat diese Heftigkeit um das innere Wesen schon in einer flutenden Gleichheit abgenommen. Und mit den Renaissanceformen war auch die Kirche ein Raum geworden, in welchem der Zweck vorgültiger war als der Fortgang im geschichtlichen Anteil.

[Dom zu Paderborn, Paradiespforte]

[Dom zu Paderborn, Muttergottes an der Paradiespforte]

Was war es für ein Zufall, daß unser Sinn die Versuche, das Wesen der Geschichte an den sichtbaren Formen abzulesen, gerade in Westfalen beginnen konnte? Daß eben die Erinnerung an das Schicksal des alten Sachsenstammes für das kämpfende Gemüt der Deutschen wieder wesentlich geworden war, das gab nicht den Anlaß. Immerhin traf es mit den Fragen zusammen, die man sich heute neu vorlegen konnte, was denn der Sinn unserer früheren Bauformen sei. Nehmen wir an, was wir hier versuchen, sei der Inhalt manchen Abendgespräches und manchen Austausches der Anschauungen während der Gänge durch die romanischen Bauten der westfälischen Städte gewesen. Was man sich dabei unmittelbar sagt, ist wohl immer leichter und zusagender, als wenn man es in eine Formulierung zu bringen sucht, welche geschichtliche Richtigkeit haben soll. So haben wir uns mit dem Worte »dividual« geholfen, um jene geheime Sinnform zu treffen, in welcher der Mittelraum eine andere Daseinsweise, eine andere Proportion zum Dasein hat als die Räume, die mit ihm das Ganze ihres Seins teilen. Man wird einwenden, daß etwa im Bausinn der Renaissance auch der Hauptraum eine andere und eigene Würdigkeit hat. Das ist gewiß, und diese Würdigkeit kann eine erstaunliche Schönheit erreichen. Aber bei ihm ist die Proportion gestuft aus der Folge der Würdigkeit selber, aus den »partialen« Verhältnissen des gleichen positiven Zustandes. Man könnte hier nicht sagen, daß der Hauptraum wie ein »Mangel« und darum stummer und doch größer als die Anteile sei, man könnte nicht sagen, daß er gleichsam »negativ« erwachsen sei. Die Form jedoch, die wir meinen, ist so, daß sie wie aus einem Widersatze aufsteht und dadurch nicht zuerst ein Ansehen der Würde, sondern ein Gesicht der Geschichte bekommt. Das Innere ist wie ein stummes Gesicht, zu dem die Seitenschiffe wie Laute eines bestimmteren Daseins, als ob sie worthafter geworden wären, weil das Innere stummer und gesichtshafter ist, zwischen den mächtigen Schritten der Bogenläufe hereinsprechen. Um also ein Raumgeschehen von einem anderen zu unterscheiden, möchte uns der Begriff des »Dividualen« gegen den Begriff des »Partialen« dienen. Und so würde es sich darum handeln, noch manchen Begriff zu bilden. Aber kurz: Räume sind nicht gleich Räumen, und die Begriffe dürfen auch nicht die Hauptsache werden. Indem man hier in Westfalen die Kirchen mit ihrer ganzen alten Stärke, stattlicher oder mit einem schwereren Raumsinne als wohl sonstwo, aus den großen Gebreiten aufstehen sieht — steinerne Verortungen eines geschichtlichen Wesens, die in ihren weitgezogenen und über seinem Stamme immer gebliebenen Himmel ragen —, spürt man darin noch eine Macht der Geschichte, die sich nicht mit kleinen Zeugnissen begnügt. Man denkt an die Schwere der alten deutschen Dinge und bringt doch ein freudiges Herz mit in das Land Westfalen.

Am Ort der Eresburg

Heute also, wenn man auf der Stelle der Eresburg steht, auf der Höhe eines kleinen Bergstädtchens, das Obermarsberg heißt, kann man über ein weit geöffnetes Land von Bauerntum hinausblicken. Jedoch wendet uns dieser Ort alsbald auf sich selber. Denn er trägt, obzwar festgebaut in den Denkmalen, doch im ganzen trümmerhaft den Stempel der Vergangenheit. Denkmäler des Mittelalters können, so wie sie aus ihrer Zeit gerückt sind, oft wie Trümmer eines Sinnes aussehen, mit dem sie nun eine irdische Einsamkeit suchen. Sie geben zu der Erde eine Schrift der Zeit, als ob, anders als bei der Wirkung klassischer Ruinen, gerade diese ihre Zeit besonders zur Erde gehöre. Man möchte spielenderweise von solchem Orte zu der fürstlichen Liebhaberei von einst hindenken, die sich eigens solche Einsiedeleien zurechtmachte. Jedoch hier sind ja tatsächlich keine Trümmer, und es braucht nicht die Anregung einer künstlichen Stimmung, um mit der Altersgeschichte anschaulich verbunden zu bleiben. Der kleine Berg, an seinem Fuße und auf seiner Höhe kleinstädtisch besiedelt, ist teilweise steil, und indem man ihn auf einem Umwege besteigt, bleibt auch die rostbraune Erde einprägsam, die an seiner Seite aus einer Kupfergrube herausgewühlt ist. Auf seiner Höhe ist zuletzt in altertümlicher Kahlheit ein Friedhof, und auf der Hauptstelle steht eine spätromanische Kirche, deren Formen noch mit schweren Gliedern in die Gotik hinüberwechseln. Hier hat Karl der Große schon mit der von ihm ebenfalls als Kampfstützpunkt wieder benützten Eresburg die erste christliche Kirche im Sachsenlande bauen lassen. Sturmi, einer der Schüler des Bonifatius, war hier Missionar. Man muß nun hier oben in die gruftartige Krypta unter dem Chore gehen und den sonderbaren dicken, angemauerten Säulenkörper darin sehen, der wie ein Baumstrunk auf das Tragen eines neuen Bausinnes hinweist. Man glaubt wie etwas Entscheidendes die mächtige Stempelung zu spüren, welche nun den alten Wehrort der Sachsen mit dem Geiste eines neuen Weltalters zu prägen begonnen hat. Auch sonst denkt man beim Anblick der Pfeiler hier und in noch feinerer Form bei einem zweiten nahen Kirchenbau, wo es besonders die zur Zier dienenden Gewändesäulchen der Portale sind, an eine gleichsam stempelhaft gegen die Erde gerichtete Kraft. Dieser zweite Bau außer der Stiftskirche auf der Höhe ist etwas unterhalb die große Nikolaikapelle, die ähnlich im Übergangsstil und doch mit einem ganz anderen Raumcharakter wirkt.

Was nämlich im romanisch-germanischen Bausinn immer wieder begegnen wird, einmal eine bis zur Härte stumme, aus der Aufspaltung folgende heroische Kraft, welche den Raum aufgeschlossen hält, und das andere Mal eine um die Säulen wie ein Echo fortklingende Wohllautung, welche das schwere Raumgesicht aufhebt, diese zwei räumlichen Ausdrucksformen sind zwar nicht in ursprünglicher Weise, aber doch mit besonders stark und fein entwickelter Verschiedenheit auf der Eresburg vorhanden. Die alte Stiftskirche auf der Höhe ist das geschichtliche Epos; es spricht stärker in der Bündelung der Pfeiler als in der sinnlich-geistigen Raumschönheit. Es ist voll von einer geschichtlichen Stämmigkeit, die sich in der Zeitentwicklung »zusammengeschäftet« hat und nun mehr aus den eigenen Kräften lebt als aus den Maßen der Kirchenschiffe, so daß die Seitenschiffe das verengte Mittelschiff bedrängen. Ist dies nicht nebenbei wie ein Gleichnis unserer deutschen Geschichte, wenn in dieser von ihren Volksstämmen her um das Begreifen einer Einheit gerungen wurde? Die ungleichartigen Gewölbe aber über diesen starken Raumgliedern sind, nach den schönen Worten des mit uns fahrenden Freundes, eines westfälischen Bildhauers, »wie ein schwingendes Blätterdach«. Dagegen ist die andere Kirche von der Art, wo die Raumform, in edlen Maßen und Gliedern aus der Mitte tretend, den Geist in das Gesetz eines zeitlosen Wohllautes bringen will, der doch eben zu dieser Formzeit gehört. Es ist auch manchmal eine mehr sakrale Form gegenüber der mehr epischen. Und also sind hier zwei Gegenkräfte der geschichtlichen Durchdringung, die man sonst auch als mehr bildhaft stumm oder mehr worthaft musikalisch ansprechen kann, in ihrer mittelalterlichen Weise auf den Ort gesetzt, der für die Christianisierung Deutschlands eine Entscheidung getragen hat. Diese beiden Kräfte, Gesicht und Wort, bewirken gegen- und miteinander das innere Wesen des romanischen Baues, bis es mit der Gotik in ein gemeinsames Licht der inneren Durchsonntheit tritt. Allerlei Merkwürdiges und Altertümliches ist hier sonst noch zu finden oder zu bedenken. Es ist hier ein Raunen in der Luft und an den Mauern. In der ersten Kirche wurde Thankmar oder Tammo, der Halbbruder Ottos des Großen, der sich empört hatte, nach Eroberung der Eresburg, seines Zufluchtsortes, ermordet. Er war in die Kirche Sankt Peters geflüchtet, »wo einst im Altertum die Irmensäule stand. Zuletzt aber hauchte er, durchs Fenster herein von Maginzos Lanze getroffen, neben dem Altar seinen Geist aus«. So berichtet der Chronist Thietmar. Und der Mönch Widukind von Corvey führt noch einzelne Züge an, so, daß Tammo seine Waffen und seine goldene Kette schon am Altare niedergelegt hatte. Da habe er sich nochmals zur Wehr gesetzt, bis ihn die tückische Lanze traf. Otto habe keine Schuld an diesem Schicksal gehabt. Bei der zweiten Kirche aber sieht man südlich am Chore die steinernen Köpfe von Karl dem Großen, Ludwig dem Frommen und Ludwig dem Deutschen von der Außenwand herabblicken.

Zu den Quellen der Pader

Zuerst ist die Reise noch Trieb und Neugier, noch ein Verkosten der Stimmungen alter Geschichte. Wenn aber die Formen an ihren größeren Orten selber wie Sinnesorte, wie die Ahnungen unbeendlich gebliebener Fragen ihrer Zeiten ausbrechen, wird es wie eine Sorge, Worte zu finden; nein, der Sinn wird rastlos und fast schreckhaft, weil er die Unmöglichkeit fühlt, daß das hier in Formen Geschehene endgültig eingeholt werden kann, ja ahnt, daß das Unbewußtere der Geschichte und ihres Willens nicht eingeholt werden will, weil die vermeinte Einholung zu einer gegenwärtigen Verständigung den Dingen der Zeiten das Vorgebot ihres starken und über den vernünftigen Raum hinwehenden Atems wegnimmt. Man muß den Mut gewinnen, das unerreichbare Ganze nicht zu fassen, sondern am einzelnen Werke einen Sinn wie geschichtliche Herzstöße zu empfangen und weiter zu bewegen. Man muß das dividuale Gesetz, das zuerst geherrscht hat, selber annehmen. Schließlich wird unser Sinn in die gleiche Entsperrung gesetzt, aus welcher die gepfeilerten Räume entschreiten, und er wird in die gleiche Furche gedreht, aus welcher diese Figuren aufstehen. Und im fast ungläubigen Schweigen findet er sich in den Wölbungen mitspielen, die, wie Sicheln ineinandergehend, von einem Wohllaute zehren, der sich in den Schattungen des Lichtes immerfort neu gebiert.

[Paderborn, Madonna des Bischofs Imad, Diözesanmuseum]

[Paderborn, Bartholomäuskapelle]

Der Weg ging über Neuenheerse und seine noch halbseitig mit mächtig romanischen Säulen bestellte Kirche, woselbst auch der Anblick eines hohen barocken Wasserschlosses auf weitere solche Schlösser als Landeseigentümlichkeit der Ebene vorauswies. Und nun, indem man Paderborns ansichtig wird, beginnt auch das Thema der westfalischen Domtürme. In Paderborn ist wie in Soest der Dom mit dem Turm die beherrschende alte Mitte; in Paderborn, soweit dies gegenüber Veränderungen geblieben, ist der Turm mit seinem mächtigen Grundstock noch episch altersferner, noch weniger als in Soest mit einer bürgerlich faßbaren Maßkraft festgesetzt. Diese und andere Türme in Westfalen sind schlechthin groß; sie sind nicht unterhaltsam und neugierig mit ihren Formen, sondern dienen im großen Umschlag ihrer vier Seiten, zum Teil mit Rundtürmen an den Flanken noch breiter gebrüstet, ganz einer erhabenen und alles Spielende ausschließenden stummen Wucht des geschichtlichen Seins. Es sind die Recken der germanischen Baukunst, die so in Westfalen stehen und sich mit ihrer größeren Ruhe vom Rheine unterscheiden. Der Turm von Paderborn vor allem ist ein Hüne; er hat mit der gereihten Vielheit kleiner Öffnungen im Oberteil etwas Heerhaftes, oder er gibt einen Blick, als ob Heere auf ihn zuströmten. Mit der mächtigen Kargheit seiner Kantenform ist er wie eine Einstückung in die Zeit und — man muß den heutigen hochgespitztcn Helm wegdenken — wie der Widersatz der geschichtlichen Sichtbarkeit gegen den Himmel. Die runden Flankentürmchen hier und auch sonst, wo sie größer mitsprechen, sind wie sichere »Ja«-Formen, welche das große »Nein« gegen alle Nähe, die Ausschließlichkeit eines gebauten Zeichens und Werkes nur noch verdeutlichen. Der Zweck eines solchen Baues scheint nichts zu sein als die Herrschaft, nein, nur die Ausdauer eines Gesichts. Auf diese Weise, und darin noch verstärkt, bedeutet der Turm das lautlos ausharrende Gesicht im gesetzten Raume der umschlagenden Geschichte. Was in alten Steinsetzungen erdhaft dauernd war, ist hier gegen den Himmel hin sichtbar gemacht. Und unter den Türmen, alles ähnlich in großen Umschlägen des Raumes fortsetzend, stehen nun die großen Dome und die noch zahlreichen anderen Kirchen von noch ausgiebiger romanischer Stilreinheit. Wie steinerne Schreine, wie die noch unverlorenen, beispielhaften Behältnisse eines großen Zeitalters scheinen sie auch weiterhin die unverlierbare Grundhaltung eines christlich-deutschen Geschichtsgeistes zu verbürgen. Widerpartigkeit und Einheit, wie sie im alten Sachsenlande geworden sind, zeigt sich in ihnen gleicherweise verkörpert. Allerdings die Unmittelbarkeit der Formen hat sich mit den wachsenden Zwecken nicht mehr wiederholt.

Kaum konnte man mit dem Wagen in die vielverriegelte Mitte der Stadt kommen, und dann wäre man beinahe in das Quellwasser der Pader hineingeraten, das in reichlichem Fluß unter den Fundamenten des Domes entströmt. Die westfälischen Städte geben noch jenes Raumgefühl von alter Ursprünglichkeit, bei dem die Plätze noch nicht wie planmäßige Ausräumungen aussehen, sondern aus den Bauformen her wie die hellere Welt zu dem dunkleren Sinn ihre Angemessenheit haben. Auch in den Änderungen ist dies noch nachgeblieben; und besonders das stille, alte geistliche Paderborn, das befrachtet ist mit dem frühdeutschen, strengen Formgeiste, hat noch die Züge der Gefügtheit aus einzelnen Orten, die erst das Stadtbild erbringen. Karl der Große hat 777 schon in Paderborn einen Reichstag gehalten. Bis dahin reicht auch der Beginn des Domes zurück, dessen Baubestand und dessen Skulpturen nach dem Neubau unter Bischof Meinwerk, dem Freunde des Sachsenkaisers Heinrich II., bald nach 1000 mit dem mächtigen Turme, dann bis in das Ende der romanischen Periode gehen. Sein Innenraum gibt, obwohl hallenhaft, doch noch den Begriff der Einstückung eines Weges in die Zeit; aber, sich ins gotische Wesen wendend, wird hier der Raum schon in einer gleichsinnigen Einheit hingetragen, während von anderen romanischen Bauten, besonders in der Abdinghofkirche, trotz der Restauration das strenge Gesetz erhalten ist. Von Bogenschritt zu Bogenschritt ist dies Gesetz wie Sperrung und Entsperrung, wie eine Absage an den Raum als solchen, diese Absage, die das stumme Gesicht der Geschlossenheit und Entschlossenheit (wörtlich verstanden) gibt, indes doch die geöffneten Bogen wie ruhig gleiche Laute darin vor- und zurücklaufen. Der Raum scheint so geteilt und getrennt in Absage und Lauschen, in Gesicht und Klang, in Bild und Wort seiner selbst, wobei hier jedenfalls das Gesicht ganz noch den Vorrang hat. Solche romanischen Räume sind noch nicht der Ausdruck für eine gleichmäßige oder gleich»gültige« Gemeinschaft, sie bringen ein Mehr durch ein Weniger, sie sind für ein Menschsein, das Zahl an Zahl aus den Einzelnen besteht, das dadurch mehr ist als Gemeinschaft, weil es in ein allgemein gewordenes Bild und in ein allgemein gewordenes Wort noch nicht aufgegangen ist.

Zum schönsten Raumerlebnis gehört aber neben solcher Strenge die Bartholomäuskapelle. Dieser Kirchenraum, von Bischof Meinwerk »per graecos operarios« erbaut, ist die älteste kleine Hallenkirche Deutschlands, und sie hat zugleich etwas von einer ins Lichthafte heraufgestiegenen Krypta. Der Ausdruck Hallenkirche darf hier aber noch nicht die Gemeinsamkeit späterer Hallen bedeuten wollen, denn hier ist auch die Geteiltheit, die dispositive Schönheit der Bauorte des Raumes und ihrer Kuppelchen das Vorgültige. Die Raumfelder sind durchsichelt von den Bogen der Wölbungen, unter denen die tragenden Säulchen stehen. Die drei Schiffe mit der eigentümlichen Zurückhaltung der Glieder und der wenigen Knaufzieren stehen in einer feinsten und sichersten Freiheit und sind doch wie selber wieder in eine magische Durchschwungenheit des Raumes aufgesogen. Der Raum scheint durch Teilungen, das Licht durch Schattungen mehr zu werden, die Säulen sind zugleich Träger und hängen wie feine Pendel an ihren Himmelchen, ein jedes Geviert scheint dem andern die Kraft zu nehmen, und eben dadurch bleibt der Raum in einem fortwährenden schönen Umlauf. Dies ziehende Spiel mit der Kraft ist wie von einer heimlichen Musik. Und so gehört also dieser Raum auch weniger zu der epischen oder gesichtshaften, sondern zu der lauthaften und musikalischen Ausdrucksform des Romanischen. Es ist in einem solchen Raume, als ob für die christliche Musik das Echo noch vor ihr selber entstanden sei. Aber so ist ja auch das, was wir Gesicht nennen, nur etwas Harrendes, ob sich darin ein Wesen auffangen könne.

Als weiteres Erlebnis muß man dann den Besuch in dem berühmten Paradies, dem Portalbau des Domes mit den großen spätromanischen Figuren festhalten. Diese haben gegenüber der bestimmteren plastischen Körperwelt der Naumburger Figuren eine sonderbar weiterzielende Geistesform und doch noch nähere Wirklichkeit, welche den Bau des Figürlichen teils strenger, teils leichter macht. Sie sind noch nicht zu der balladischen Einsinnigkeit jener Figuren gelangt, welche wie aus den Pfeilern entbunden und wie ein neues Geschlecht lebendig sind. Diese hier sind in ihrem Gewände noch mehr in die Säule gefügt, als ob sie aus der Drehung in die Gegenwart ihres Wesens gebracht seien; und diese Gegenwart wird durch die Heiligenscheine, die große steinerne Scheiben sind, wie durch ein gegensinniges Band von Sonnen vermehrt. Die Gewänder sind kunstvoll schön in Falten gelegt, während die Gesichter eine überreife Wirklichkeit haben. Zu diesem Sinn und Gegensatz mag man aus dem Museum die wunderbar hehre Madonna des Bischofs Imad vergleichen, welche eine Gliederung der sitzenden Frau und des Kindes hat, daß man sagen muß, in dieser frühen Stilzeit seien auch die Glieder und ihre Bewegung wie eine Wahl des Sinnes noch vor der Ganzheit des Körpers, sie seien in einem Vorgebot des Tuns oder Sichverhaltens, wovon her die Gestalt erst ihr Leben empfängt. Das Gewand ist aber mit der ganzen Art seiner Fältelung dazu wie eine Sinnlegung (wörtlich verstanden), indem es die Gliederung betont, aber ihren Raum wieder in der stillen Sinnhaftigkeit hinwegnimmt. So sind auch die allerdings lebhafteren Gewänder bei den Portalfiguren im Verhältnis zu den Körpern und Gesichtern wie Gegenspiele im gleichen Ausdruck. Am Mittelpfosten ist aber auch noch eine wunderbare spätromanische Madonna mit Kind; und wenn die Figuren hier trotz ihrer überreifen Formung wie aus einem Acker geholt scheinen, so ist diese Maria eine Königin des westfälischen Erdreichs zu nennen. Sie hat, wie es dem Nichtwestfalen scheint, ein unglaublich westfälisches Gesicht. Dazu gehört, daß das Gesicht groß oder der Ausdruck von Augen und Mund je für sich ist. Dies kommt nicht bloß aus der Teilsinnigkeit der Stilform. Man denkt dagegen an die Naumburger Gesichter, welche jedes im ganzen Ausdruck eine sozusagen balladische Einheit haben. Im Tympanon sind noch zwei fliegende Engel, welche Feldblumen gleichen, und ein Kreuz, welches wie ein Fetisch aus einem Acker geholt scheint. Dabei ist doch das ganze Portal von spielender Geistigkeit.

Doch wir haben nun mit einem Blick auf das altersschöne Rathaus Paderborns aus der Renaissance die Stadt verlassen.

Im Banne von Soest

Nach dem Anblick der Externsteine sind wir auf dem Wege nach Soest. Nach Soest fahren, heißt eine der eigenförmigsten deutschen Städte besuchen. Das will viel sagen, da doch schon, etwa nach süddeutschen Begriffen, der malerische Aufbau einer Landschaft zu der Stadt fehlt. Hier ist statt dessen das weite Getreideland der Soester Börde, und die Stadt liegt plötzlich mitten darin wie ein alter fester Schild. Dann steht man in ihrem Kerne unter dem Schatten und in dem steinernen Anhauche ihres Patroklidomes. Der Dom ist ein Werk der Kirche; und der Turm, dieses berühmte Wahrzeichen der Stadt, ist ein Werk der Bürgerschaft. So ist dieser romanische Bau zusammengeschweißt. Man blickt nach der gewaltig aufgegiebelten und aufgehelmten Turmhöhe. »Dieser Turm fällt oben nicht auseinander«, sagt einer der Freunde und bezeichnet damit gegen andere Türme etwas Wesentliches. »Nein, der steht wie ein Westfale da«, antwortet der Bildhauer und läßt also den verkörperten Stolz der anderen Westfalen hören. Wenn Macht und Recht im Ausdruck romanischer Dome sind, so wie sich dies aus der Teilung der Felder, aus dem dispositiven Sinne des Raumes, aus der Bestimmung noch mehr der Einzelkräfte als der Gemeinschaft folgert, so ist dieser Ausdruck mit einer Bewußtheit, die uns hier zuerst anspricht, diesem großgemessenen Turmwesen zu eigen. Es mag uns auch an geschichtliche Eigentümlichkeiten der Stadt erinnern. In der erfolgreichen »Soester Fehde« hat sie sich gegen ihren früheren Herrn, den Kölner Erzbischof, durchgesetzt; und durch ihr Soester Stadtrecht ist sie im Mittelalter vorbildlich geworden. Heute noch beherbergt der Turm eine mittelalterliche Rüstkammer.

[Soest, Patroklidom und Petrikirche]

[Soest, Nikolaikapelle]

Von der Empore, die an die Turmkammer anschließt, blicken wir in das starke und große Gesicht des Dominnern hinab. Der Beginn des Domes geht auf den Kölner Erzbischof Bruno, Ottos des Großen Bruder, zurück. Die innerlich schwere und ebenso entschlossene Form eines romanischen Baues begegnet sich hier selbst und läßt alles Zuviel weg, um sich rein in sich selbst und aus sich selbst zu stellen. Es gehört zum Mittelalter, daß Zierformen, so reich sie aus dem Bausinn entspringen, doch nicht gesucht werden müssen. Sie kommen und weichen mit der stummeren Inständigkeit des Raumgeschehens, und so kann auch die einfachste Stärke der Form allein gesucht werden. Wenn diese aber erreicht ist, dann ist dies oft gar nicht mehr Form, sondern dann scheint es das im Material notwendige Dasein selber geworden. Denn das Ziel ist nicht die Form, sondern eine gezeichnete Kreatur der Zeit im Material eines Daseins. Zu diesem Gedanken aber ist der Soester Dom wie ein Beschluß.

Überraschend ist für unsere Vorstellung, daß Soest im Mittelalter eine sehr bedeutende Hansestadt war. Auf die schönste Weise wird man sich diese Tatsache beim Besuch der räumlich seltsamen Nikolaikapelle einprägen, welche von der Kaufmannsbruderschaft der Schleswigfahrer erbaut wurde. Der kleine und doch hohe Raum wird durch zwei schlanke romanische Säulen der Mitte nach geteilt, so daß er eine zweischiffige Halle ist; er selber scheint dabei wie ein Schiff mit zwei Masten. Neben der alten Petrikirche und der Kirche »Maria zur Höhe« — was wäre hier noch alles auch an ältester Malerei zu erleben — ist vor allem noch die Wiesenkirche »Maria zur Wiese« ein Hauptwerk schönster und offenster, in vollste Helligkeit des Luftraums hinein verklärter Hallengotik. Aber statt weiterer Werke seien nur noch die Namen des gotischen Malers Konrad von Soest mit der innigen Fühlsamkeit seines Schaffens und dann der deutsche Kleinmeister Heinrich Aldegrever genannt, der sich führend an dem Aufkommen der Reformation in Soest beteiligt hat.

Die Stadt ist aus einer Bauernschaft, sieben Bauernhöfe um einen Teich, entstanden und hat zu ihren denkmalhaften Bauten auch noch ein ganz altgebliebenes Bild ihres Wegnetzes. Als Kuriosum freut man sich in Soest, den Fremden auf ein Glasgemälde in der Wiesenkirche zu weisen, welches ein echt »westfälisches Abendmahl« darstellt. Das aus dem Mittelalter schon herausgerückte Bild zeigt die Tischplatte mit einem Schweinskopf und einem Schinken in hingegebener Deutlichkeit besetzt. Man darf zu dem bäuerlich-bürgerlichen, kräftigen alten Stadtcharakter hinzufügen, daß in Soest ein besonderes westfälisches Altbier gebraut wird. Als Hausinschrift liest man einmal die tüchtigen Worte: »Wei sich wiährt, behält sin Piärd.« Und so rundet sich ein Volks- und Gemeinwesen hier deutlich zusammen. Schließlich, da das alte Sachsenland trotz der furchtbaren Siege Karls auch darin zum Ausdruck kommt, darf an das hier betriebene Femewesen erinnert werden, dessen Freigrafen sich auf Karl den Großen für ihre Rechte beriefen. So heilt die Geschichte ihre alten Wunden.

Die Externsteine

Ein germanisches und christliches Steinmal

Am Rande des Teutoburger Waldes, mit dem Angesicht nordöstlich gegen das offene Land von Lippe, stehen als ein unerwartetes Naturspiel die hohen, turmartigen Steinsäulen der Externsteine. Sie sind ein Zielpunkt der Wanderer und wären dies schon wegen ihrer auffallenden landschaftlichen Sonderbarkeit; aber sie sind es noch mehr wegen ihrer geschichtlichen Merkwürdigkeit. Sie sind eine dramatische Stätte der Christianisierung Deutschlands und des alten Sachsenvolkes; sie tragen an sich ein in seiner Größe und Eindringlichkeit einzigartiges Kunstdenkmal des früheren Mittelalters, und sie sind zugleich ein heute neu befragtes Rätsel germanischen Kultsinnes.

Naturmal der Geschichte

Schon der einfache Wanderer wird von hier das Gefühl mitnehmen, einen Ort gesehen zu haben, an welchem die Natur nicht bloß ihre eigene Sprache, sondern trümmerhafter und größer, als es ein bloßes Bauwerk kann, auch ein Wort der Geschichte mitgesprochen hat. Was sonach das dunkle Gefühl ohne weitere Rechenschaft spüren muß, das wird der betrachtende Sinn für sich aufs reichste erweitern. Er wird von den Formen dieser Natur durch ihre geschichtlichen Zutaten und Kunstzeugnisse hingeführt zu einem inneren Nacherleben, das für unser deutsches Wesen entscheidende Züge gewinnen kann. Gerade die Ursprünglichkeit der Naturform ist dabei wichtig; denn es heißt zwar viel gesagt, daß ein halb oder sogar im Gesamteindruck noch ganz Natur gebliebenes Steinmal der Geschichte eine größere anschauliche Sinnkraft habe als ein großes, altes Kunstwerk. Aber hier handelt es sich nicht so sehr um eine bloß positive Größe und Vollendung, sondern Ort und Zeit, das Naturwerk und sein geschichtlicher Stempel haben hier die Prägung einer Einmaligkeit. Es spricht Glaubensschicksal mit. Und diese Frage scheint, ob gelöst oder ungelöst, schon zum voraus Geheimnis und Entschiedenheit zugleich. Was wir öfters im Denkmalsinn anstreben, die Erfüllung und Erhöhung einer Naturform durch ein Kunstwerk, ist hier in geschichtlicher Fügung ohne künstliche Größe und doch mit aller Kraft gegeben. Hier steht ein Steingesicht ohne Kampf und doch voll geschichtlicher Kampfeswahrheit im weiten Lande.

Man kommt von Paderborn durch die schönen Dunkelheiten des Teutoburger Waldes. Der Wald will sich, unmittelbar bevor er sich mit einem Male in die Landschaft öffnet, in bedrängter und hoher Enge nochmals verdichten. Eben diese Verengung aber wird wie ein sehr hohes, oben durch keinen Bogen geschlossenes Steintor von zweien der Externsteine gebildet, deren weitere Reihe man dann sofort beim Umwenden in einer überraschenden, hohen und landschaftlich schönen, an sich aber sonderbar figürlich wilden Front überblickt. Sie stehen nahe zusammen, die vier teils säulen-, teils bollwerkartigen Hauptsteine ins Freie nach Westen hin gerückt; und die beiden äußersten von ihnen mit einem freien Platz davor ziehen die Blicke sofort am meisten auf sich.

Die Externsteine bieten einen Anblick, als ob von einer mächtigen, bis gegen vierzig Meter hohen Naturmauer aus Sandstein ebenso mächtige Lücken bis auf den Erdgrund herausgebrochen seien, so daß in verschiedenen Höhenmaßen die Trümmerformen stehengeblieben sind. Der äußerste Stein gleicht am meisten einem Naturbollwerk, auf dessen Vorderseite ein Eingang in eine höhlenartige Kapelle führt, mit dem Relief einer Petrusfigur und einer eingeritzten großen Runenzeichnung. Auf der Vorderseite dieses Steines ist auch das berühmte große Relief der »Kreuzabnahme«, mit welchem dieser steinerne Ort seit dem Anfang des zwölften Jahrhunderts gleichsam gesiegelt ist und das den Externsteinen ihren deutlichsten Hauptruhm gibt. Der benachbarte Stein ist von mächtiger Schlankheit mit einer anderen, nach dem Himmel aufgerissenen »Kapelle« in seinem Steinkopfe, die ein Rundfenster nach Nordost hat und zu der viele Stufen hinaufführen, mit einer kleinen Brücke, welche hoch wie ein Schwibbogen vom dritten Steine zu diesem sonderbaren Einsiedlerraume hinüberleitet. Dieser zweite hohe Stein mit seinem »astronomischen Ausguck« und Raume gibt heute vor allem den Fragen nach einem urgermanischen Kultwesen Nahrung, das die Geschichte der Externsteine nach einer tiefen vorchristlichen Vergangenheit hin fortsetzen würde. Um dieses also würde es sich handeln, wenn dieser Ort hier, und zwar wohl sicher, in den Sachsenkämpfen Karls des Großen, für welche diese Gegend eine Hauptszene wurde, eine dramatische Rolle mitgespielt hat. Der ähnlich hohe und noch massigere vierte Fels hat auf seinem Gipfel einen lockeren »Wackelstein«, dessen sich die Legende bemächtigt hat.

Der Wald, ein stilles Wasser in der dämmerigen Nähe und die alten Buchen, die ihre Wurzeln in die Steinfüße eingekrallt haben, geben dem Ort eine weitere romantische Schönheit, die an sich schon durch eine Grabform, durch Öffnungen, Steingänge, Stufen, durch die teils schwer erklärbaren, teils auch mittelalterlich und überhaupt architektonisch deutlicheren Bearbeitungen an den Räumen, durch alte Zeichen und durch die christlichen, menschengroßen Figuren in die Rätsel geschichtlicher Romantik eingekleidet ist. Dämmerformen der Geschichte und stärkste Formensprache des deutschen Mittelalters, Gewisses und Ungewisses gehen unmittelbar ineinander, und es ist kein Wunder, daß das naive und das um Bewußtsein ringende Gemüt in gleicher Stärke von diesem Ort angezogen werden. Und gerade das deutsche Mittelalter hat hier in dem Relief »Kreuzabnahme« ein Werk geschaffen, in welchem »barbarische« Kraft und geistige Schönheit sich nach Ausmaß und harter Innerlichkeit zu einem Höchstmaße gefunden haben. Wenn diese Steine sonst in Rätseln stehen, so haben sie mit diesem über fünf Meter hohen Steinbildwerk ein ganz klares Gesicht, dessen geschichtliche Schärfen uns allerdings in den vernünftigen Vermenschlichungen unserer späteren Zeitgänge fremd geworden sind. Wir getrauen uns kaum mehr, die sinntragenden Körper der religiösen Bedeutung zugleich in voller Leiblichkeit und mit dieser doch als sonderbar und »unnatürlich« bewegte Runen einer stummen Zeugniswelt zu sehen. So sind diese Steine in den nahen und ständig kreisenden Verkehr der Besucher gerückt; aber sie behalten eine geheime und auch eine freimütige, offen in sich versenkte Unnahbarkeit.

Fragen um die Externsteine

Der Name Externsteine unterliegt mancherlei Deutungsversuchen. Schon im späten 11. Jahrhundert ist dieser Name bezeugt. Als »Aekstern« aufgefaßt würde er soviel wie «Elstern« bedeuten, wozu auch eine Urkunde von 1564 die lateinischen Worte »rupes picarum« beiträgt. Auch der Name der Ostara ist zur Erklärung genannt worden. Weniger umständlich ist die Ableitung von den Eggebergen in der Nähe der Felsen; und die neue Erklärung will diese Ableitung mit der fesselnden Theorie von einem germanischen Gestirnheiligtum im hohen Ausguck des zweiten Felsens zusammenbringen, so daß dieser Felsenturm im besonderen der »Sternstein an der Egge« wäre; der obere Weiheraum mit dem Steinständer darin unter dem Rundfenster wäre eine »Sonnenwarte«. Kunstgeschichtlich ist das inschriftliche Datum 1115 ein fester Anhalt, wonach das damals im Besitz des Klosters Abdinghof in Paderborn befindliche Steinmal mit seiner Kapelle geweiht wurde und womit auch ein Datum für die Entstehung des Reliefs gegeben ist. Unter diesem Relief befindet sich noch ein umstrittenes, als Adam und Eva erklärtes weiteres Relief von einer heute bloß mehr spürbaren symbolischen Wucht. Der Hauptsinn des an christlicher Thematik Vorhandenen wird auch mit der durch die Kreuzzüge geweckten geistigen Richtung und dem Gedanken an das Erlösergrab, das Heilige Grab in Jerusalem, in Zusammenhang gebracht. Wenn nun bisher die Externsteine hauptsächlich nach der christlichen »Besitzgewordenheit«, nach der Einstückung christlicher Raum- und Bildsinnigkeit in das frühe Deutschtum gewürdigt wurden, so ist nach den neueren Forschungen das Bild ihrer Bedeutung jetzt auch auf die magischen Jahreslinien eines germanischen Gestirn- und Sonnenkultus ausgeweitet, in welches auch die Landschaft eingespannt wird. Wenn auch unser Sinn nicht auf diese noch weiter auszumachenden Dinge geht, und wenn Goethe, der sich ebenfalls mit den Externsteinen beschäftigt hat, in einem anderen Gedankengang sagt, daß »in solchen historischen Dingen aus strenger Untersuchung immer mehr Ungewißheit erfolgt«, so ist doch hier mindestens schon ein fester Ansatz gegeben, und es scheint auch ein größerer nordischer Gesichtskreis gefunden. Es gilt aber auch wirklich, die »auffällige Verlustgeschichte« (Teudt), unter welcher das germanische Altertum wie unter einem feindlichen Schicksal zu leiden hatte, wieder in etwas auszugleichen.

In der Tat erscheint es als ein Verhängnis, daß bei den Deutschen das Gesetz der Geschichte eintritt, indem es das, was vorher bei ihnen war, austilgt. Oder scheint es nur auszutilgen, was germanische Naturform auch mit den dazugehörigen sinnhaften Spielen war, um doch diese Spielkraft selber nur noch zu verstärken? Und hat nicht wirklich das germanische Wesen kraft der ihm eigentümlichen Formweise, kraft seiner »dividualen«, aus jedem bloßen Anteil das Ganze öffnenden Sinne die eigne Natur innerhalb eines ganzen neuen Weltwesens nacherholt? Wurde der Germane nach Sinn und Wesen nicht durch die Geschichte mächtiger? Aber freilich, während die weitere Welt sich in der Stete ihrer Begriffe hielt, mußte nicht, auf sein eigenes Wesen harrend, der Germane die kommenden Dinge der Geschichte erst wirklicher erfüllen? Mußte er nicht aus den Teilgaben der Zeit das neue dividuale Gesetz gegenüber dem imperialen übernehmen, mußte er nicht aus dem Sinn und Zwiespalt der Geschichte selber eine Zukunft bilden? Mußte nicht der Germane, die Gaben empfangend, die ihm die Pandora der Zeit bot, ein gleichsam epimetheisches Schicksal erleben? Dies bleibt gewiß ein Schicksal von sonderbarer Verhängung. Denn wenn dies vielleicht das Grundgesetz seines Wesens selber, wenn dies ein aus seiner eigenen Natur notwendiges Vorgebot war, wenn er, die Teile wichtiger als das Ganze machend, der Welt in jedem einzelnen Teil den neuen archimedischen Punkt geben mußte, und wenn also dieser Übergang aus seiner Natur in seine Geschichte mit dem Rechte der Notwendigkeit besteht, so ist doch etwas geschehen, was den Sinn der Natur verwundet. Und diese Wunde ist, weil die Geschichte zunächst das Opfer eines näheren Naturwesens verlangt hat, auch geblieben. Die Wunde mußte um so sichtbarer werden, weil sie mit der entscheidenden Weltzeit und Zeitwende der Geschichte zusammenhängt, ja diese selber am meisten mitbedeutet. Der letzte Sinn geht auf die Ursachen des Weltzusammenhanges selber. Und also stößt denn hier das kämpfende Gemüt der Deutschen auf Ursachen, welche als die allgemeinsten und zugleich als seine eigensten immer neu befragt werden. Es muß, je mehr auch der Sinn der Teile zum Ganzen wieder neu befragt wird, verstärkt darauf stoßen. Ein gegenwärtiges Leid rührt und bewegt sich immer noch aus dem Gefühl des Gewesenen. Und wenn nun Orthodoxe, oft schon den Stimmungen solcher Art abgünstig, auf die Unbestimmtheit des Gewesenen hinweisen, wenn sie, da ohnehin das germanische Gefühl infolge der Unbestimmbarkeiten und des rätselhaft verwundeten Grundverhältnisses selber schon schmerzlicher ist, keine Werbung für den angestammten Charakter und keine Folgerungen zulassen wollen, so mißkennen sie die Macht des in den Zerbrochenheiten und in den Trümmern der Zeiten wühlenden Gefühles, und sie selber haben nicht selten nur mehr die Daten der Gewißheit für sich, aber ohne den zeithaften Boden, auf dem auch die Ungewißheiten immer noch fortwirken. Denn die angestammte Natur kann in den Daten der Geschichte nicht schweigen. Es bewegt den Mund, dies angesichts des rätselhaften Geschichtsmals der Externsteine zu sagen.

Wenn man in diesen Jahren an diesem Ort wiederholt vorbeikam, fand man die Erde ringsum aufgewühlt, die heute in eine neue klarere Anlage verwandelt ist. Die Arbeiten geschahen im Suchen nach den Merkmalen des hier gewesenen germanischen Heiligtums und waren im besonderen erfolgreich hinsichtlich der Frage, wieweit dieser Ort eine Zerstörung, und zwar wohl zu keiner anderen Zeit als im Kampfe Karls mit den Sachsen, erlitten habe. Es ist schade, daß Karls Freund Einhard, der hauptsächlich die Siege Karls bei Detmold (Theotmelli) und an der Haase (783) nennt, aus seiner mehr antikisch summierenden oder totalen, auf das Gesamte gehenden Bildung heraus die Neugier für die Einzeldinge, für die »balladische« Einzelung der Geschichte noch nicht so hatte wie schon die dinghafteren Schreiber im 10. und 11. Jahrhundert, wie etwa der Mönch Widukind von Corvey oder der Merseburger Chronist Thietmar. Uns wären heute Angaben von sichtbaren Dingen wie der Ort und das Aussehen der Irminsul, die mit der Eresburg zerstört wurde, besonders wichtig. Hier haben nun die Antriebe von Wilhelm Teudt, der auch die weitere Gegend mit germanischen Fragen belebt hat, und die neue Forschung Resultate gebracht, welche die Zerstörung der »Sonnenwarte« zu jener Zeit sehr wahrscheinlich machen, und in denen auch auf dem Kopfe des Felsens über der Warte eine Ausmeißelung gefunden wurde, in welcher der Standpunkt der Irminsul angenommen wird. Eine Reihe anderer Dinge, außer dem Steinständer in der Warte hauptsächlich noch ein Steintisch, eine Steingrabform, Runenzeichen und sonstige Merkmale des Gewesenen und der Zerstörung, sind in die Betrachtung gerückt worden. Germanisch ist an diesen Dingen — könnte man sagen —, daß der Sinn des Gebrauches oder Werkzeuges und der Ausdruck der Form sich unmittelbar aufeinander bewegen. Es steht kein objektives bildnerisches Gesetz dazwischen. Die Form bleibt naturhaft, die Natur selber aber erscheint wie ein Bruchstück aus der schaffenden Werkkammer des Sinnes.

Das Fesselndste aber ist die Mutmaßung, welche die Irminsul selber betrifft, die man auf dem Relief der »Kreuzabnahme« in der Gestalt eines Sessels wiederzuerkennen glaubt. Auch Goethe schon hat sich über diesen Sessel Gedanken gemacht, welcher auf dem Felsenbilde auffällig unter einem hinaufgestiegenen Manne (dessen Füße heute fehlen) zu sehen ist. Wenn Goethe dazu schreibt, ein den Leichnam herablassender Teilnehmer scheine »an einen niederen Baum getreten zu sein, der sich durch die Schwere des Mannes umbog«, so hat gerade eine Deutung dieser Art heute die bestimmteste Auffassung erweckt. Dieser Baum — denn so sieht der Sessel mit den beiden Zweigen, welche die Lehne und die rückwärtige Fußstütze bilden, auch in der gedachten und gezeichneten Aufrichtung aus — gibt heute den Hauptpunkt für die germanische Deutung der Externsteine. Er wird jetzt als die Darstellung der umgeknickten Irminsul erklärt. Seine Form aber hat jene »Stückung« aus dem einzelnen Teile, welche phantastisch erschiene, wenn sie nicht eben ganz und gar gezügelt und nirgends bloße Zier, sondern ein aus der Zier wieder fortgestoßenes Wachstum wäre. Das ist jene germanische Ornamentik, welche nicht angewandt ist auf eine Naturform, sondern welche tiefer einschneidet und eben dadurch ein über die Nachahmung eines Naturdinges hinausgehendes zweites Leben schafft. Dieses weitere Leben spielt nicht nur aus dem Scheine der Form, es ist in den Vorgang des Tuns wie hineingebannt und hat auch für den Blick etwas Bannendes. Die Natur wird rätselhafter, und so wird sie auch fähig, einen über sie fortgreifenden Sinn zu tragen. Sah aber nun eine Irminsul wirklich so aus, wie sie auf dem späteren romanischen Bildwerk erscheint? Gewiß dürfen wir sie in ihrem ganzen Ausdruck als germanisch angelegt empfinden.

[Soest, S. Maria zur Wiese]

[Externsteine, Kreuzabnahme]

Das große Relief

Aber auch das große Steinbildwerk der »Kreuzabnahme« selber darf eine ganz ausnahmliche deutsche Wesenheit in der christlichen Weiterformung für die Erkenntnis noch in Anspruch nehmen. Zu seiner formalen Erklärung hat man auf die stilistische Eigenart von Elfenbeinreliefen verwiesen. Indes schon die Größe dieser Arbeit, sodann die gewaltige innere Durchdrungenheit, in welcher die lebensgroßen Figuren unter sich und um den Mittelpunkt des Kreuzmotives locker und doch wie in einer notwendigen Bannung zufammengefaßt sind, ist eine Leistung von genialer Einmaligkeit, wenn man das Wort »genial« auf die schöpferische Sinnkraft des frühen Mittelalters anwenden darf, die nicht wie ein loser, freier Geist über ihrem Werke steht. Die Form des Kreuzes, von welcher der sehr lange Christuskörper abgelöst wird, ist voller Sonderbarkeit. Es ist eine sehr aus den Winkeln greifende, eine sozusagen nur technische Form, die man eben damit in ihrer fast ausschließlichen Symbolkraft gegenüber einer mehr holzhaft natürlichen oder wie etwa in der Gotik manchmal baumhaften Daseinsform als »eisern« bezeichnen möchte. Sie ist eigentlich zwischen den Figuren und dem Grunde mehr nur eine Winkelstellung, eine Angulation, welche bedeutet, daß aus ihren Angeln her die Bildwelt vom Erdgrunde gelöst sei. Von ihr her hat das Bildwerk eine neue Daseinsschicht erhalten, eine Schicht vor der Erdschicht, welche nur aus dem figürlichen Zusammenhang besteht und welche lebt mit einer schweigenden und doch ganz im Tätigen sich äußernden Vordergründigkeit. Die Figuren aber sind in einem eigentümlichen Rhythmus der Bewegungen gegeneinander gebogen und, wenn man so sagen darf, wie in einer Kadenz des Schicksals. Zum Teil haben sie aber auch fast wieder eine gegenkörperliche, fast blumige Bewegung und stehen doch miteinander in einer denkmalhaften, steinernen Gewalt.

Schweigende Anschauung folgt aus einem kräftigen Tatsinn, und dessen innerster Ausdruck ist von einer fast trotzenden Hingabe. Dieser »Trotz«, äußerlich etwa auch sichtbar in der starken Haltung der Genicke, als ob diese wie im Gegensatz des sinnhaften Müssens den dramatisch nachklingenden Ausdruck der Szene noch verstärken, diese Verbindung eines Tuns mit einem stillen Nachsinne, was beides auch zu einer gleichsam zeremonienhaften Haltung wird, ergibt wohl das wesenhafteste, künstlerisch weltanschauliche Merkmal dieses Bildwerks. Eine gewaltige frühe Deutschheit tut sich damit in diesem figürlichen Hauptwerk der Externsteine kund. Es ist dabei die Unnahbarkeit einer großen Ruhe und doch wieder eine in der ganzen Gliederung durchgehende reckenhafte Wachheit; eine Immerwachheit, mit der sich hier in erstaunlicher Größe die Kunst eines Zeitalters kennzeichnet. Ehrfurcht des Urteils, wie sie auch in Goethes sonst anders gerichtetem Kunstsinne zum Ausdruck kommt, wird bei keinem Besucher fehlen. Schwerer ist uns Heutigen allerdings immer noch, die Art einer solchen frühdeutsch-christlichen Kunstsprache im näheren zu deuten.

Wie in schweren Stunden, die doch nicht dunkel werden können, weil das Tun zuvorgeht und weil offenbar alles schwere Geschehen im Tun sein unverbrüchliches Gesetz hat, blickt man auf das Bildwerk. Man sieht, wie es zerklüftet und lückenhaft ist, weil der gemeinsame Grund fehlt oder nur im Handeln vorhanden ist, und man begreift, daß gerade solche alten Werke eine Sinnhaftigkeit der »Lücken« haben. Sie sind dadurch viel gespannter auf das Geschehen hin, und die Figuren, weil ihnen die Mittelung des Raumes fehlt, beziehen sich unmittelbar, ja »ausschließlich« aufeinander. Der Begriff der Ausschließlichkeit bekommt einen ganz eigenen Sinn. Er bedeutet über die ruhende Natur hinweg den Zusammengriff der Geschichte. Die Form aber erhält dadurch den Blick einer Unverbrüchlichkeit. Und doch könnte man auch, ebenso wie bei altgermanischen Dingen, oft, selbst in dem Falle, daß nichts beschädigt ist, von der Gewalt einer Trümmerhaftigkeit sprechen. Auch dies kommt von der Heftigkeit des unmittelbaren Bezugs, von der Stärke der Zeichen- und Zeugniskraft, bei welcher nicht ein objektives Gesetz der Bildung den Ausgleich zwischen Natur und Form zuerst besorgt, sondern weil die geschaffene Form im Widersatz zur Natur steht, die sie aber doch, hier in der ganzen felsigen Unmittelbarkeit, zum Ausdruck des Geistes benützt. Die Natur kommt dabei nicht zu kurz; ja, man kann sagen: Stein sei nicht gleich Stein, und ein solches Werk der Skulptur sei steinerner als spätere reinere Schöpfungen der Form. Und man muß fühlen, daß die starke Spanne im Ausdruck selber eine Gewalt hat wie die Geschichte, welche, je mehr in die Notwendigkeit gebunden und im Banne des einzelnen Geschehens stehend, desto mehr im Ganzen wie eine dramatische Trümmerform auf den Nachsinn wirken muß.

Das Werk hier hat auch eine Vordergründigkeit, welche der romanischen Kunst eigen ist. Es ist gebaut wie Grund vor Grund, wie Schicht vor Schicht, wie wenn der Sinn, je mitbeteiligter im Tun, desto mehr vom festen Erdbande abgeschnitten wäre. Das Tun ist wie aus einer inneren Grenze und Abgeschnittenheit nach vorne gerückt. Dabei ist fast alles im Relief von der Seite gesehen, was den Sinn gibt, daß das Handeln Anschauung bietet. Die Anschauung wird stärker, indem sie mit dem Geschehen vom Grunde getrennt ist. Sie wird nicht gelockt, aber sie wird gezwungen, so wie die Figuren einem unbekannten Ingrunde in sich zugeneigt sind; denn diese stellen nicht bloß ein Thema dar, sondern darüber hinaus ein schweres Müssen. Der Grund aber, auf dem sie stehen und handeln, ist kein Raum der Gewohnheit, sondern trotz allem die nähere und unbewußtere Erde. Auch die Gestalten, die reckenhaft und leise herrlich sind, haben ein Widerspiel in der Bewegung, das wir pflanzlich oder blumig nennen können und das anderwärts oft noch stärker ist, womit sie eben wieder zu Geschöpfen aus der bewegten Erde werden. Kurz: sie holen, was sie an Erde aufgeben, in sich selber nach.

Sodann kann man die Art des Kreuzes als reine Zeitform betrachten. Wie weit ist dieses bloße Zeichen entfernt von der im Holze zurechtgezimmerten Form der Spätgotik, wo das Kreuz selber in den räumlichen Vordergrund gedrängt ist, und sei es auch mit dem Zwecke der Furchtbarkeit des Schmerzes, wie sie in den Balken Grünewalds erreicht ist. Gewiß spricht auch das Thema mit. Aber dieser ganze Steinvorhang von Figuren hier hat, körperhafter als das Kreuz, noch einen viel mächtigeren geschichtlichen Beginn. Man möchte hiezu das Gesetz formulieren, daß, je mehr die Form die Widersätze in sich und zur Erde verliert und sich der Naturartigkeit nähert, desto mehr dann auch die Natur zu einer künstlichen Integrität des Ausdrucks mithelfen müsse. Hier gilt diese Künstlichkeit noch nicht. Und wenn die späteren Formen aus Natur gebildet sind, so ist ein Werk wie dieses noch gleichsam mit Körpern auf die Erde geschrieben. Es lebt aus all den Spannungen, die später in der natürlichen Gewöhnung gesichert und doch leicht auch gewöhnlich werden.

Man kann nicht aufhören, über diese Steingewalt zu sinnen. Ist nicht das Tun hier selber wie das Nachgeben in einer Zerklüftung? Bewegt sich nicht der Sinn wie in einer Neigung zur Erde? Könnte der Zufammengriff der Geschichte, das Drama des Weltsinnes unter Gott Vater stärker gestaltet werden als um einen toten Leib in der Mitte des Geschehens? Ist nicht das letzte Gefühl wie ein »Nein« zu allem, was getan wird? Also geht man am Abend weg, und das steinerne Werk blickt mit einer stillen Nächtlichkeit dem Besucher nach.

[Das westfälische Abendmahl in S. Maria zur Wiese zu Soest]

[Freckenhorst, Westwerk der Nonnenklosterkirche]

In das Herz des Münsterlandes

Die Stadt des Westfälischen Friedens

Es ist, als ob, abgelöst von dem unmittelbaren Anblick, ein Werk wie das Relief der Externsteine noch in der Brust dunkel nachhämmere. Es bleibt von seiner Formweise wie aus einer Trümmerkraft, die auch im Motiv selber, in den Gestalten um den toten abgelösten Körper liegt, ein pochendes Echo, in welchem gleichsam der Überhang, der stetige Niederfall und die ewige Brechung der Geschichte wach und drohend gebunden ist. Man findet unter diesem Gefühl nicht so schnell wieder in den Ablauf des Tages.

Grabbe

Nun sind wir auf dem Wege nach Detmold, und über der Teutoburger Waldhöhe ist im Abendlicht das Hermannsdenkmal auf der Grotenburg zu Gesicht gekommen. Es bringt die Erinnerung an die Varusschlacht, an das Ereignis aus der Germanengeschichte, das in jedem Gedächtnis seinen Anhalt hat. Für das praktische Gedenken erheben sich auch immer die Fragen, in welcher Stilweise man solche Denkmale gestalten könne. Die Frage scheint mehr praktisch, aber im letzten Sinne betrifft sie den Ansatz unseres Lebens- und Geschichtsgefühls überhaupt.

Als Ernst von Bandel das übrigens erst 1875 eingeweihte Denkmal 1838 entwarf, war ungefähr gleichzeitig das letzte Drama Christian Dietrich Grabbes »Die Hermannsschlacht« erschienen, nachdem der Dichter am Ende eines zerbrochenen Lebens, am 12. Dezember 1836, fünfunddreißig Jahre alt, einen Tag nach seinem Geburtstag gestorben war. Durch Detmold fahrend, muß man des wilden Dichters gedenken, der seinen Stolz als Niedersachse und Westfale in seinem Hermann, aber auch in der Gestalt Heinrichs des Löwen und nicht am wenigsten in derben Volkskerlen und Kriegern bezeugt hat. Grabbe war in keinem glücklichen Wege, aber manchmal ist bei ihm fast das Aufrauschen eines Glanzes, und als Dramatiker gehört er über alle persönliche Minderung hinaus zu den Namen Kleist, Büchner, Hebbel, deren Art zu einem eigentlichen deutschen Dramasinn hinbewegt war.

Eine drollige Kleinigkeit kommt in Grabbes Hermannsschlacht ähnlich wie in dem gleichnamigen Schauspiel Kleists vor. Kleist nämlich läßt seinen Hermann zu Thusnelda das Kosewort »Tuschen« sagen, bei Grabbe steht dafür die Kürzung »Neldchen«; die Wörtchen machen sich immerhin schon im Zwecke der Brechung eines steifen idealistischen Stils bemerklich. Weiter dann lassen Härten, Derbheiten, Maßlosigkeiten es bei Grabbe allerdings schwierig erscheinen, auf den tieferen dramatischen Sinn zu sehen, weil bei ihm das Stoffliche viel weniger als bei Kleist aus seiner eigenen Wirklichkeit hinaus in den Atem der Größe rückt. Man kann dieser Stofflichkeit die Schuld geben, daß sein Hermannsschauspiel zu sehr bloße Schlachtschilderung bleibt und daß er sich auch sonst nur mit den stärksten Mitteln der Geschichte helfen konnte. In seinen Hohenstaufendramen, seinem Hannibal, seinem Napoleon, immer wieder hat er die längsten Schlachtenschilderungen, und sein Napoleon ist ganz aus einer reißenden Fähigkeit zum Augenblick ohne das Maß der Dauer geschaffen. Die Schlachtenszenen waren der Punkt, wo ihm der Stoff und Sinn der Geschichte den geringsten Widerstand bot. Jener andere Kampf aber um das Gesetz eines inneren Abstandes, in welchem Kleist die edle Bewegtheit, die Treue, das namenlose Schicksalsleid seiner Frauengestalten und auch die wilde Erschüttertheit der Thusnelda findet und worin auch Hebbel mit einer Vielfalt ineinanderbrechender Gefühle die unstillbare Kluft des Daseins aufzeigt, dies war Grabbe nicht gegeben. Hebbel war gegen die »aphoristische und eigentlich hohle Natur« Grabbes abgeneigt, er spricht auch von seinen »bleiernen Soldaten in grotesken Formen«, und er wendet sich innerlich gegen die »seltsame Parallele, die man oft zwischen mir und Grabbe zieht«. Und doch gelangt wohl auch Grabbe mit einer wilden Richtigkeit über die bloße dramatische Illustration hinaus. Er befindet sich in der Spur des Gesetzes, daß die «disiecta membra« der Geschichte ihr Drama selber begründen und tragen müssen. Denn es muß sich in ihr um das wache Gefühl einer großen Trümmerhaftigkeit handeln, welches allerdings, je wacher und herrschender es selber sein will, auch in allem Geschehen das Maß einer bleibenden großen Wesenheit, einer alles Wirkliche und Große bestimmenden inneren Kluft, eines schaffenden Mangels in der Welt erahnt. Wenn wir zu mittelalterlichen Kunstformen das Wort »dividual« gebraucht haben, so will auch dies bedeuten, daß sie bestimmt und wie ein großer Stoff des Tunmüssens geordnet sind aus einem stummen inneren Maß- und Mangelfeld, dessen Gesetz nicht gekannt, sondern nur getan werden kann. Eine solche immerwährende Dramatik um das wirkliche Sein selber ist auch die Bestimmung bei den Dramatikern, die wir hier zusammen nennen wollten.

Nun am Tagesende hatten wir von Detmold weg einen Teil der Senne durchquert. Diese Heidefläche trug sich weithin gegen den sinkenden Abend, und die Düfte des Heidekrauts hoben sich mit dem Luftzug gegen den fahrenden Wagen. Der Teutoburger Wald verschwand bläulich in die Nacht hinein; es kamen Heidewirtschaften, welche auf norddeutsch »Krug« hießen; der Tag verließ dann allmählich auch die Ebene, und mit der tieferen Nacht waren wir in Wiedenbrück. Es gab da einen Gasthof mit einem träumerischen Garten an einem flach gegen hohe Bäume hingezogenen Teiche, wo das Zwielicht des Wassers sich verdunkelte. Hier saß man zusammen, und die kleine Gesellschaft von Deutschen aus verschiedenen Gauen, nämlich Schwaben, Westfalen, zu welchen Freunde aus dem nahen Bielefeld gestoßen waren, und noch ein Oldenburger, sprach über die Stammesunterschiede und darüber, wie in der Sprechweise über die gesellschaftliche Gefühlsart hinaus überhaupt eine stammlich verschiedene Gebundenheit oder Gelöstheit von Natur zu Welt sich kennzeichne. Die Norddeutschen hatten ihre eigene zurückhaltende Art, sich darüber im einzelnen zu äußern. Sie schweifen bei der Betrachtung des Menschen nicht um, als ob es eine Landschaft wäre, sie bleiben immer in der näheren Begegnung. Aber schließlich war es an diesem Orte so still, daß den wenigen Gästen mit der kommenden Mitternacht die eigenen Stimmen zu laut erschienen. Das blasse Wasser und das silbergraue Laub in der hohen Nachtluft nahmen die Aufmerksamkeit an sich.

Bürgerhaus und Bauernhof

Indem meine Unterkunft für diese Nacht in einem schönen Privathause war, und weil am Morgen zeitig aufgebrochen werden sollte, ließ es sich der freundliche Westfale nicht nehmen, noch gleich die altertümliche Merkwürdigkeit seines Hauses dem Süddeutschen zu zeigen. Wir standen also mitten in der Nacht in einem fiachgewölbten stattlichen Saale, dessen Wände und besonders die Decke mit einer barocken, großstiligen Scheinarchitektur und weiterer zierender Ornamentik ausgemalt waren; ein Beispiel, welcher Art es dort noch mehrere gibt. Dazu kam schöner, alter Hausrat, Bilder und künstlerisches Beiwerk, was alles auf Bürgerkultur von Jahrhunderten hinwies. Solch altschönes Wesen begann sofort beim Eintritt von der Straße in die geräumige, mit Steinboden versehene Diele den Charakter des Hauses zu bestimmen. Die Diele war wie eine Halle, aus welcher man in Seitengelasse und von da nach oben zum Saal und den Zimmern ging und welche sich nach hinten mit anderen Räumen zum Garten hin auftat. Am Morgen ist eine solche Diele anzusehen wie ein von Geistern älterer Zeiten unsichtbar bewahrter Raum. In der Flucht der Straße gab es noch ähnliche schöne Fachwerkhäuser, welche auch noch das große Eingangstor haben wie von Scheunen; und diese Art von Hausansichten mit ihren Giebeln gegen die Straße gibt nun auch den weiteren Städten und Orten hier ihren Charakter.

Nun führte heute die Morgenreise zu einem großen Bauernhof, falls man ein Hofgut von weit über tausend Morgen noch so einfach benennen will. Wie das hier ist, biegt auf einmal der Fahrweg von der großen Verkehrsstraße weg, und man hat das stark sandige Land dann unter den Füßen, wenn man unter hohen Bäumen aussteigt und am Wasser vorbei durch ein altes freistehendes Hoftor hindurch sich den Gebäuden nähert. Das niedersächsische Bauernhaus ist bekannt. Es kehrt seine schmalere Giebelseite mit dem großen, zunächst zur Scheune gehörigen Eingangstore dem Ankommenden zu. Und hier konnte diese stattliche Giebelseite auch deshalb schmal scheinen, weil sie der Zugang zu einem ausnahmlich mächtigen Langhaus hinter ihr war. Dies war noch ganz das alte, große westfälische Bauernhaus, zu dem das Tor sofort in die lange Tenne führt, an deren beiden Seiten einwärts gerichtet die offenen Ställe und langen Viehstände sind, und an deren anderem Ende der offene Hausherd steht, wonach sich erst die geschlossenen Wohnräume der Familie angliedern und den Bau vollenden. Hier war nun allerdings der Herd durch Mauerabschluß von der großen Tenne getrennt und mit der gebotenen Bequemlichkeit einer wohnhaften Hausküche einem Querbau zugeordnet, der als das eigentliche Wohn- oder Herrenhaus rechtwinklig an die alte Hausform anstieß. Auf dieses neuere, hell gegliederte Haus ging man also zu, wenn man nichts mit der Landwirtschaft zu tun hatte. Da auch nach rechts noch eine Flanke von Wirtschaftsgebäuden war, beherrschte es vom Hintergrund her eine rechteckige Hofanlage. Wenn man es durchschritt, kam man in den rückwärtigen Garten.

Die Gelegenheit, einen solchen echten Hof zu sehen, war dem Landfremden gegeben, weil einer der Freunde, ein besonderer Landeskenner, mit der Hofbesitzerfamilie verwandt war. Man saß also zunächst in dem Wohnzimmer, in welchem nur leise durch die praktische Gegenwart die Altertümlichkeit eines zweihundertjährigen Besitzes durchschimmerte. Und hier wurde alsbald auch von der Verwandtschaft und von altväterlichen Chroniken gesprochen. Die Hausfrau, schlank und von natürlich gehaltener Schlichtheit, ließ erkennen, wie hier das Landleben seinen menschlich bestimmten und auf seine Art vornehmen Stil hatte. Als man nachher auf die Tenne oder Diele kam, eben diesen mächtigen Raumdurchlauf durch die ganze Längsmitte des alten Hauses, der hier »Deele« ausgesprochen wird, war auch der noch junge Bauer oder Hofbesitzer gekommen, der mit einer nicht so sehr breiten, aber kräftig in die Höhe gebauten Gliederklarheit dastand, die man oft am westfälischen Schlage sieht. Es wurde von dem »kolossalen Holze« gesprochen, das in braunschwarzen Balken und Wandaufsätzen querhin die Decke der »Deele« trug. Man hätte sagen können, daß der epische Rhythmus solcher Holzformen wie ein Museum erhalten bleiben müsse; aber die Gesinnung bleibt hier von der tatmäßigen Art, daß sie den wirklicheren Nutzwerten doch den Vorrang gibt. Und so wie man das Verhältnis von Waldung und Feldung nach dem Bedürfnis und Kampf um die Scholle verschiebt, so hat der Gedanke für das Alte auch eine sachliche Bereitschaft für das notwendige Neue. Der richtige Bauer ist nicht konservativ aus Stimmungen heraus wie vielfach der Städter. Und was zur tieferen Einsicht sprach, war bei diesem Hofbesuche nicht zuletzt eben eine geradsinnige, reinliche Nüchternheit, wie sie zum Vormittage des Bauernwesens gehört — der Vormittag ist der schweigendere Teil des Tages in Zurüstung von Gedanke und Arbeit — und wie dies hier dem weiten und etwas einsamen Aussehen des Landes wohl entspricht.

[Freckenhorst, Romanischer Taufstein in der Klosterkirche]

[Dom zu Münster]

Die Fahrt ging weiter; man sah in die Felder und in die abgegrenzten Weiden, wo das schwarzgefleckte Vieh stand, wie dies bis Holland der Fall ist. Bei Beckum ging es über eine Höhe, wo eine Windmühle ihre Flügel reckte. Während jetzt getankt wurde, erzählten die Westfalen Schildbürgerstreiche, die hier den Beckumern angedichtet werden. Dann wurde die Mär erzählt, wie der Herrgott den Westfalen erschaffen habe. Er habe, als er dieses Vorhaben bedachte, einen Eichenknubben gesehen, und da er diesen für tauglich zu einem Westfalen gehalten, habe er ihn mit dem Fuße angestoßen. Da sei der erste Westfale vor ihm gestanden. Dieser aber habe seinen Schöpfer angefahren: »Wat stößt du mi!«, und damit sei er abgeschoben. Die Schilderungen der Annette von Droste-Hülshoff bringen, weniger für den Sauerländer und den Paderborner, aber für den von ihr begünstigten Münsterländer statt solcher Derbheit eine sanftere Stärke. Indes will zu den großen epischen Domtürmen in Westfalen das Wort von den Eichenknubben als Gegenspiel humoriger Art gut gefallen.

Weile in Freckenhorst

Nochmals kam eine Turmgestalt von reckenhafter Größe über das Land herauf, als wir uns Freckenhorst näherten. Der Westturm der Kirche hier, an dessen hohe Vierkantigkeit wieder zwei runde, etwas vorgerollte Flankentürme angeschlossen sind, wirkt über die stumme Größe hinaus wie das Bild einer Sage. Man spricht von Schauseite; aber dieses hinaufgetürmte Werk setzt, wenn die Westsonne auf seiner steinernen Breite in weißfelsigem Schein oder auch wie in einer kahl gewordenen Ackerfläche spielt, gegen den Anblick eine unsägliche Sprache. Dieser Recke, errichtet wenige Jahrzehnte, nachdem man das Jahr 1100 geschrieben hatte, ist also auch ein Zeitgenosse des Werkes an den Externsteinen. Der romanische Kirchenraum dahinter hat ebenfalls eine großteilige Aussagekraft, die den Raum mit gleichmäßigen Schritten der Bogen durchschüttert; und im Osten sind nochmals zwei Türme würfelhaft gegen den Himmel geschickt. Reihen steinerner Bogen laufen noch im Doppelschritt ihrer Säulen um einen kahlen Hof. In Freckenhorst ist auch ein berühmter Taufstein aus jener Zeit. Er ist, als ob man einen gewaltigen antiken Säulenfuß zu einer Kufe gemacht und sein Äußeres mit zwei Gürteln von Bildern geschmückt habe, die aber nicht aufgelegt, sondern aus der Wandung gegraben sind. Der obere Gürtel zeigt bei einer »Verkündigung« oder »Himmelfahrt« Figuren von bewegtem Drange eines fast keramischen Wesens, die in Bogen eingeschlossen sind, als ob durch das Gesetz der Bogen die Scholle zu lebendigen Bildern aufgewacht sei, die nun trotzdem nicht auf Erde als dem Grunde ruhen, sondern mit um so stärkerem Ausdruck in ihrer klüftigen Bewegtheit gründen. Diese beiden Arten kann man bei der figürlichen Kreatur öfter unterscheiden, einmal wie hier, daß die Figur aus der Scholle geholt, aus der Spur der Erde entrissen scheint, indem die Erde unter den gesetzten Bogen gleichsam fruchtbar wurde, die Figuren aber eine erdhafte Milde behielten, oder im Gegenteil, daß die gesetzten Formen die Figur fassen und stummer herausstellen, welche nun ein Leben des Lichtes empfängt, auf welches sie mit schweigenden, scheinbar seltsamen Gebärden und mit der Sinnlegung der Falten ihrer Gewänder antwortet. Diese letztere Art nimmt mit dem Reichtum der späteren romanischen Zeit zu, wenn die Figuren, wie aus Säulen geboren, vor dem Gewände stehen und nun ein sinnhaftes Licht der Vernunft und der Geschichte bedeuten. An der Taufkufe in Freckenhorst ließ sich dies besonders bedenken. Und dabei sah man auf den unteren Gürtel an der Kufe, welcher aus Tieren besteht, die, mit ihren schreckenden Gesichtern aus den Flanken ihrer Körper hergewendet, bedeuten, daß all dies kreatürliche Geschehen sich nicht ohne den Bann der Zeit, nicht ohne den Zusammenhang eines Müssens, nicht ohne den Umschlag aus dem blinden Grunde in die wirkende Gegenwart der Geschichte vollzieht.

Anfahrt auf Münster

Man kam von Telgte, der schönen barocken Wallfahrtskirche des Münsterlandes, wo die Kerzen der Wanderer und Wallfahrer bis von Oldenburg her brennen, auf dem ebenen Wege östlich herwärts in die Abendsonne hineinfahrend gegen Münster. Die Landschaft war hier stiller gewesen als am Wege nach Soest, wo ringsum auf der Börde das Getreide die rauschendsten Farben hatte. Der Himmel des Flachlandes hatte jetzt hinter silberrandigen Wölkchen ein fast glasklares, mildscharfes Element der Weite, und um die untergehende Sonne floß ein blaues Abendlicht. Die Stadt erhob sich als eine dunkler hineingelegte Schicht, aus der die Türme der Kirche wie Lichtgitter hervorstanden. Man wurde besonders auf die romanische Schlichtheit der Mauritztürme und auf die hochaufgesetzte Krönleinform des Ludgeriturmes aufmerksam. Dann kam die Stadt, die zu jenen deutschen Städten gehört, deren Namen einen unverbrauchten Klang haben. Was man sich denkt oder einbildet, das sieht man nun alsbald, nämlich eine standhafte Vornehmheit, die mit ihrer Gegenwart in ihre Vergangenheit hinein fest geblieben ist. Und indem man auch alsbald auf die städtischen Adelssitze aufmerksam wird, womit sich zu den Verortungen des Mittelalters auf dem Stadtboden ein schönes, zurückhaltendes Barock beigeschlossen hat, sieht man schon einen bestimmten Zusammenhang in der gedrungenen Geräumigkeit der Stadt. Der Wechsel der Adelsfamilien von ihren sommerlichen Schlössern zum geselligeren Winter in der Stadt bereichert das Bild, indem es doch nicht einseitig erfüllt ist. Und solcher Art Bereicherung ohne Einseitigkeit, mit dem klaren Stempel einer jederzeit deutlich gewordenen Geschichte glaubt man als das sichtbare Wesen der Stadt zu erkennen.

Im Zeichen der Geschichte

Und doch hat dieser Mittelpunkt Westfalens, trotz des für Deutschlands Schicksale bekanntesten Friedensschlusses in seinen Mauern, nicht eigentlich im Strome der Geschichte gestanden. Auf die Gründung des Bistums durch den Friesen Liudger im Auftrage Karls noch während der Sachsenkämpfe wuchs der Ort Mimigardevord im 11. Jahrhundert mit seinen geistlichen Bauten in den Namen Münster hinein. Als das alte Herzogtum Sachsen nach der Niederlage des Welfenlöwen (1190) verfiel, war in diesem Teile die Zeit für ein fürstliches Hochstift schon bald herangekommen, das alle die Jahrhunderte bis zur Einverleibung in Preußen der Stadt, mit der Bürgerschaft nicht immer einig, ihr Wesen gegeben hat. Der Ausdruck einer jederzeit sichtbar gewordenen Geschichte, wenn dies überhaupt ihr klares Gesicht ist, gilt ja wohl auch heute noch, vor allem hinsichtlich der früheren Zeiten, für den Boden des lang erloschenen Herzogtums Sachsen. Die Geschichte hat sich hier in einer großen Sprache verortet. Es ist allerdings ein eigentümliches Widerspiel in dieser Verortung, in dieser »Disposition« der Formen, innerhalb welcher das positive staatliche Eigensein dieses Kernstammes verlorenging, sogar fast bis auf den Namen, der erst später wieder in anderer Verbindung an der Elbe hochstieg. Und doch hat mit dem Welfen auch der engere, positive nationale Wuchs begonnen, der den größeren Nordosten gewinnen half. Wenn man gegen die Ostsee reist, so erhält man das bald ganz einmütig werdende Bild dieses nationalen Aufbaus der Gotik. Hier aber und überhaupt in dem Westen der geistlichen Herrschaften setzt und ortet sich das Bild der geschichtlichen Landschaft immer in der gleichen Sichtbarkeit neuer Zeiten fort, die im Barock nochmals den stärksten Ausdruck gefunden haben. Münster ist darin wohl das klarste Beispiel. Man möchte sagen, das altsächsische Gesicht, das man in der Klarheit der Figuren, in der offenen, absichtslosen Wirkung von Teil zu Teil, in der Unvermitteltheit des wuchtigen Daseins zu erkennen glaubt, sei auch das Bild der Stadt selber. Diese erscheint noch in alter Gesammeltheit. Das enger westfälische, geistliche und adelige Wesen hat sich dazwischengesetzt, aber das alte Bild nicht durchbrochen. Und das Bürgertum hat in Gotik und Renaissance die lebendigere Bewußtheit eingefügt.

[Domparadies zu Münster]

[Apostelkopf aus dem Domparadies]

[Der Gekreuzigte aus Bockhorst. Münster, Landesmuseum]

[Die klugen Jungfrauen am Westportal des Domes zu Münster]

Münster ließe sich wohl mit Bremen vergleichen. Während es jedoch in Bremen beifällt, nachzudenken, wie der deutsche Mensch gleichsam zwischen Gotik und Renaissance behaust geblieben sei, wie er hierin das immer noch nachwirkende Bildungsgesetz seines Lebensgeistes gefunden habe, bleibt eine solche Frage in Münster offen. Vom Romanischen bis zum Barock scheint hier die wesentliche Inständigkeit erhalten. Hier scheint ein Stelldichein des gesamten deutschen Zeitraums mit gleicher Geltung. Man denkt an die schweigende Wesenheit des westfälischen Landes. Und gerade in ihr hat sich die Sichtbarkeit von Bau und Figur mit aller Stärke der Frühe entfaltet. Aber weiter: man ist hier auch, im Gegensatz etwa zu Trier oder zu Regensburg, nur von den Formen umgeben, die ganz mit dem engeren Werden des Deutschtums ihre Zeiten haben. Natürlich blieb die Antike im Unterbau des schaffenden Wollens. Aber was geschaffen wurde, ist doch von ihr abgeschnitten, und es trägt das Gesetz seiner Gegenwart in sich. Ist es nicht, als ob uns diese Tatsächlichkeit befremde, als ob wir uns leichter täten, in antikischen Vergleichen, so wie es kunstgeschichtlich zu geschehen pflegt, unsere eigenen Formen zu sehen? Sobald man aber auf solche Vermittlung verzichtet, wird alles zwiespältiger und doch wirklicher; wir werden uns fremder und kommen uns doch näher. Wir stehen hier in der Zone der Formen unserer gewordenen Zeit. Auch die auffallende, wenn schon nicht immer in erster Absicht geschehene Mehrung der oben glatt mit Krönlein abgeschlossenen Türme scheint noch die schöne Ausgemessenheit einer Schicht der Welt zwischen Erde und Himmel bestätigen zu sollen. Und so ist demnach unser Gefühl in Münster; so bleibt es im Gang zu den Dingen.

Auf dem Prinzipalmarkt

Steht man auf dem Prinzipalmarkt, der alten Straße vor dem Rathaus von Münster, so hat man die schönen Häuser und Giebelstirnen der Gotik und Renaissance mit den fortlaufenden offenen Bogenhallen an den Gehsteigen und mit den gegen den Himmel abgetreppten Zinnen und Zieren in ihren gedrungenen, sichthaften Fluchten um sich. Hier ist die Lambertikirche mit ihrer weit und hoch aufgeschlossenen Hallengotik, wieder gleich der Soester Wiesenkirche und noch mehr ein im Licht perlender Raum, dessen Inneres sich ausweichend wieder umfängt. Ihr Turm aber mit den Käfigen für die Wiedertäufer gehört in die münsterische Geschichte. Und hier in der Gegenrichtung steht das gotische Rathaus, ein wunderbar stämmiger Bau und doch wie ein mit steinernen Stäben und Fialen aufgebautes edles Bildblatt an der Straße. Mit ihm ist nach dem Dreißigjährigen Krieg das Datum des Westfälischen Friedens verknüpft. Die in der Spätgotik mit Maßwerk vollends verzierte Stirnseite erhebt sich über der offenen Bogenhalle des Erdgeschosses, deren Spitzbogen auf kurzen, festen Rundpfeilern mit breiten Durchlässen aufgestelzt sind. Ihre Stämmigkeit erinnert an die Eichenknubben, aus denen der Herrgott die Westfalen geschaffen hat. Aber die beiden genannten Daten hängen nun vor dem Besucher in der geschichtlichen Luft. Der spukhafte Schrecken der Wiedertäufer! — schon Telgte brachte eine Erinnerung, wo der nächtliche überfall der Aufrührer auf die geistlichen Herren und die Ritterschaft zu Weihnachten 1532 geschah, und jetzt ist hier nahe an der Straße unter den schönsten Häuserfronten auch das Haus des reichen Kaufmanns Knipperdolling. Die wachsende Tollheit unter dem holländischen Propheten Jan Matthis, der aber bald fiel, und dann dem König Johann Bockelson, mit seinem Hofstaat von Mädchen, endete im Blute während eines schweren Nachtgewitters Ende Juni 1535. Der Gegensatz zu dem reifen Stadtbilde bleibt sonderbar und furchtbar; er zeigt, daß das Leben der Formen kein vermittelndes Wesen und keine Verbindlichkeit für die Seele gewährt. Die Zerstörungssucht der Wiedertäufer begegnet auch dem Besucher des Museums in einer Gruppe verstümmelter gotischer Figuren aus der Überwasserkirche, die zum Bau von Bastionen verwendet waren, und die in der Verbindung von schlanker Vornehmheit und physiognomischer Wirklichkeit für das münsterische Wesen sehr charakteristisch sind. Mit dem anderen Datum aber, mit dem aus den Verhandlungsorten Münster und Osnabrück sich endlich erhebenden Münsterschen Frieden, rückt unter Kanonenlärm und Musik die vornehme Stadt in die barocke Zeit. Die Macht des Fürstbischofs Christoph Bernhard von Galen gibt einem neuen Zeitraum das Gesicht. Und dann kommt mit dem Kurfürsten Clemens August von Bayern noch eine Gestalt gleich den Schönborns auf den Bischofsitz. Unter ihm baute der große westfälische Barockmeister Johann Konrad Schlaun. Uns aber scheint die schönste Zeit doch jene, welche vor allen diesen Daten liegt.

Rings um den Dom

Münster ist eine rechte Sonntagsstadt, weil das Altertümliche nicht überwiegt über eine gebliebene Festlichkeit der Zeiten. Dies gilt zuerst von seinem altertümlichen Dome, welcher romanische Geschlossenheit bis zur offensten, letzten Gotik in vollstem Gegensatz und doch mit der reichsten Wirkung zusammen enthält. Unser erstes Gefühl jedoch gehört den alten, mit ihren Blenden stillgetreu in die Zeiten blickenden Westtürmen, die auch wie von einem Kastell sind, und dann dem Raume des Mittelschiffs, das, sich aus der strengen Gliederbindung der Baugevierte ins Gotische lösend, doch, indem es sich nur mit zwei gewaltig entsperrten Jochen, gleichsam nur zwei mächtigen Schritten vorwärts trägt, das Gesetz der alten Schwere wieder einholt. Die ruhige Kraft der Türme, ihre bannende Ausschließlichkeit, und dagegen die Gotik, die öffnet und einschließt — man hat kaum wieder die Wirkung eines solchen Gegensatzes, während doch die beiden Stilformen verwandt sind. Der ganze Dom, dessen Stirnseite zwischen den Türmen von den spätgotischen, schalenhaften oder hohlräumigen, mit gezackten Bogen verhängten Öffnungen aufgesprengt ist, und dessen Südseite mit den beiden heraustretenden, gotisch im Zierwerk versprengten Querschiffen den noch anspruchsvolleren Anblick gibt, ist von diesem Gegensatz bestimmt. Es ist aber ein Schicksal für die menschliche Figur geworden, das sich in diesem Gegensatz auswirkt. Am Ende der romanischen Zeit war der Mensch im Begriff, mit ganzer Schwere in den Raum zu treten; die Gotik aber bündelt ihn wieder in die gemeinsame Pfeilerwelt zurück. Er wächst nun im gotischen Pflanzbild sozusagen des Raumes mit einer schöneren Bildhaftigkeit weiter, aber die wirklichere Schwere gegen die Erde ist ihm genommen. In diesem Mittelschiff hier, das mit großen Schritten nach der Erde greift, aber sich schon gotisch richtet und bündelt, ist ein Raum eines solchen Erlebens wie ein leib-seelisches Drama aufgetan. Das Gefühl, indem es nach Anhalt sucht, ist zwischen den beiden Zeiten gleichsam entankert.

Dies alles aber wird darum so deutlich, weil in dem Portal, durch das man kam, wieder eine Reihe der herrlichsten Figuren der späten Romanik steht, welche zeigt, daß einmal der deutsche Mensch des Mittelalters, vor das Gewände tretend, wie Säulen und Erde zugleich war. Das sind die Apostelfiguren im Gewände des Paradieses um 1250. Sie sind strenger als in Paderborn, sie tragen die Fältelung ihrer Gewänder noch mehr im Gesetze eines vielteiligen, aber die Körperlichkeit ebenfalls noch mehr herauswirkenden Sinnes, und ihre Gesichter sind so vielspielend oder vielberührt in den Übergängen, das heißt so wenig unter die Haft eines einzigen Ausdrucks gebracht, sondern so sehr Teil zu Teil befestigt, so sehr in stammhafter Wesentlichkeit reif und aussagend geworden, daß sie aus solch starker Naturnähe manchmal Farbe zu bekommen scheinen. Es sind keine Charakterköpfe, wie sie die Spätgotik gebracht hat, die Teile sind noch nicht zum absichtlichen Zweck zusammengezogen, sondern sie sind so, wie doch auch jedes stammhafte Gesicht noch mehr ist als ein zweckmäßig erkennbarer Charakter. Diese Gesichter sind ihrer Natur zuvor gesetzt mit einem allseitig festen Sinn des Daseins. Will man das Gegenteil sehen, so muß man die Figuren des Henrik Beldensnyder vergleichen, die er als Volksgruppe zum Einzug in Jerusalem für das Giebelwerk der Stirnseite des Domes geschaffen hat. Diese letzte Gotik ist mit stürmender Bewegtheit ganz in der Haft eines unaufhaltbaren Ausdrucks. Auch dieser Ausdruck geht über das bildhaft Charakterliche hinweg. Er verliert auch das bürgerliche Gefühl, und es entstand eine fanatische Nacktheit des physiognomischen Wesens. Jeder Teil des Gesichts ist der Bewegung des anderen zugeführt, und es entlädt sich hier eine unheimliche Kraft, welche bei den Wiedertäufern ihr Weiterspiel gefunden hat. Dies Werk bewegt den staunenden Sinn, aber es führt ihn nicht in einer steten Wiederholung aus sich selber weiter.

Die Figuren am Portale aber — es sind noch andere, etwas spätere von gotisch bereicherter Fortsetzung an den Seiten da — wollen den Sinn nicht mehr von sich fortlassen. Dies ist das wunderbare Gesetz solcher Werkkunst, daß, wenn man einen Anblick gewonnen hat, sogleich ein nächster Anblick ein weiteres Vorgebot leisten will, daß das Ruhende auf Bewegung sinnt, daß die Starrheit vor den Blicken tauen will, daß statt eines Ausdrucks sich das ganze Dasein zu leben bereit macht, als ob starke Gesichter auf ein Leben warten, das sie schon mit fester Sinnkraft in sich haben. Dem Leben einer solchen Kunst ist nicht die Idee einer freien Schöpfung zuvorgekommen, aber es rührt sich um so unerschöpflicher und dabei erwartungshaft aus allen Teilen. Und schließlich bewegt sich auch der Sinn des Schauenden mit der Kraft des Geschöpften, daß er das Leben selber, als ob es gar nicht sei, vergißt, aber um so mehr in der Bewegung jedes unausschöpfbaren Augenblicks es mitlebt. Und er weiß dabei, daß er die Empfindung aus dem toten Steine schöpft, so wie er selber aus der Erde geschöpft ist. Denn auch diese Figuren sind bei aller Schärfe der Gestalt wie aus der Erde gepflügt (und ihre Gesichtszüge wie mit der Pflugschar gewonnen), und sie sind doch wieder — man sehe nur die starken Hälse — wie Säulen in sich gestellt. Und nun möchte man mit einem Sprunge sagen, daß auch die Säulen, wenn sie in romanischen Räumen allein oder im Stützenwechsel stehen, nicht so sehr den Begriff und die Vermehrung einer rationalen Einheit bedeuten, welcher der antiken Säule mit der Waltung eines Weltgesetzes zugehört, sondern daß sie aus dem Lauf des Raumes, aus der wirkenden Kraft des Gegensatzes in ihm mitentstehen, daß sie das gleichsam unaufhörlich gewordene »Ja« der vielen Blicke sind, welche von der Strenge der Gewände und der Pfeiler wie unter einem stummen Gesichte weitergeworfen werden. Auch der Wechsel von Pfeilern und Säulen ist wie ein gewaltiges Geschehen zwischen »Ja« und »Nein«, er gibt eine Bewegung, welche dem Raume zuvorkommt und ihn innerlich unaufhörlich ausmißt. Die Säulen sind im Verhältnis zu den Pfeilern wie wacher gewordene Figuren. Und wenn die Figuren so wie hier zwischen kleinen Säulen stehen, so stehen sie zwischen den Sinnbildern ihres eigen und wach gewordenen Lebens.

[Münster, Prinzipalmarkt mit Lambertikirche]

[Das Rathaus zu Münster]

Die Gedanken, die man an den frühen Werken austauscht, lassen sich an den späteren erweitern; aber um sie zu vertiefen, muß man immer wieder zu den ersten Sinnen des Schaffens zurückkehren. Wir gehen durch Münster und sehen die mächtig schlanke Gotik der Überwasserkirche mit den Rundpfeilern in ihrem Innern, welches wie ein sich selbst umspannendes Raumhohlmaß ist, und wir finden, daß die Pfeilerung ein Spiel hat, das nicht mehr zwischen »Nein« und »Ja«, sondern zwischen »kleiner« und »größer« oder überhaupt um ein Wachstum mit dem ganzen Reiz des spielenden Luftraumes geht. Alles wird ein naturhafteres Geschlecht, aber es verläßt die Erdenschwere, und die Luft des Atems wird ein helles Licht. Wir erleben ähnlich die überweite Höhlung des Chores von Ludgeri, dessen romanische Türme als Wahrzeichen erneuert sind, und ähnlich die hallenhafte Lichtheit von Lamberti, wo das Widerspiel von Kleinzieren und Raumgröße immer schwingender geworden ist. Aber uns bleibt nach dem Anfang im Dome als Thema die entscheidende Bewegung zwischen »Ja« und »Nein«. Wir sehen sie bei der Gotik nicht verloren, aber in eine Weite übersetzt, bei welcher nicht mehr das Gewicht des einzelnen Menschen entsteht, einer neben dem andern, sondern ein bildhaftes Geschlecht, einer gleich dem andern. Und diese Gleichheit fängt dann mit ihrem Dasein zu spielen an. Es entstehen auch solch spielhafte Figuren, wie es hier, nun wieder am Dome, die Gruppe der klugen und törichten Jungfrauen ist, welche schon die Züge der Renaissance tragen. Es macht uns Freude, sie länger zu betrachten. Die törichten Jungfrauen sind so vornehm wie widerhaarig, und das stammhafte westfälische Gesicht mit der Spanne des Ausdrucks zwischen Augen und Mund ist ihnen, wenn auch unsere Freunde weniger Wert darauf legen, gleich den alten Figuren geblieben.

Also haben wir die Stadt an dem kleinen Flüßchen Aa kurz durchwandert und haben noch den sonnigen gelblichweißen Schein ihrer Kirchen und Türme in den Augen. Es blieb noch der Gang in das Museum, der Blick auf den kolossalen romanischen Pauluskopf vom Radfenster des Domes, welcher ist wie ein skulpturaler Spiegel der Sonne mittels einer Gesichtsfront, die durch eine vor den Spiegel heraustretende Gewalt der Nähe fremdartig wird. Und hier ist auch noch als das Unvergeßlichste der große romanische Gekreuzigte von Borghorst, ein Holzkruzifix mit dem Ausdruck von heroischer Wirklichkeit, daß man kaum etwas Größeres gesehen zu haben glaubt. Es ist gleichsam die Sage von einer königlichen Qual. Dasein ist gegen Sein, Leib gegen Geist, Beharrung gegen unendlichen Dahingang, die Natur des Leidens selber gegen die hehre Bestimmung des Nichtleidenkönnens auf eine Formel gebracht, und diese Formel ist als Kreatur an einem ausgezweigten Stück Holz angebracht, das wie ein ewiges Trümmermaß alles Geschehenmüssens geworden ist. Die Spanne zwischen dem, was man Natur heißt, und dem Formsinn scheint über jedes vernünftige Maß hinauszugehen, aber alles bleibt unter der Haltung einer Krone. Und so ist ein solches Werk noch etwas anderes als ein Objekt der Andacht, es reicht in den Ausdruck der Sage.

Ein Blick nach Rüschhaus

Wie schön mußte nach dem vielen Sehen nun die Fahrt aus Münster heraus zu dem späteren Wohnsitz der großen westfälischen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff werden, nämlich nach Rüschhaus, wohin auch ihr Freund Levin Schücking seine Wanderungen eingeschlagen hatte. Man bog wieder von der großen Straße ab auf einen sandigen Fahrweg, wo der Wagen kaum gehen mochte. Es kamen Äcker und ein wenig umkrautetes Wasser; ein eisernes Tor war da, und als man hindurchdrang, stand man vor einer kleinen rötlichen Barockfassade voll schlichten Reizes. Sie ist von Schlaun, dem Barockmeister Münsters, und sie sieht ein wenig aus wie eine geschweifte Kartusche; ja man möchte sagen, sie habe etwas von der Schwingung eines Saiteninstrumentes. Aber unerwartet sah man ein Fohlen aus der offenen Nebentüre herausschauen, und indem man durch das Mittelportal trat, war man — weitere Überraschung — auch hier in der »Deele«, die aber ganz wie eine alte kleine Bauernscheuer war. Sie war wie ein erzählender Werkeltag hinter dem feinen Sonntag der Fassade; und zu den Eingedrungenen hoben zwei große Pferde ihre Köpfe von der Seite herein, indem sie dazwischen ihre steinerne Futterkrippe benagten. Wieder heraustretend, sah man durch Bäume rückwärts nach der Wohnung und in den Garten, wo man sich so gerne die »bis zur Unkörperlichkeit zarte und etwas fremdartige Gestalt« Annettens wandelnd denken mochte. Oder es war, wie sie Vom »Haus in der Heide« dichtet:

Seitab ein Gärtchen, dornumhegt, mit reinlichem Gelände... Und drinnen kniet ein stilles Kind, das scheint den Grund zu jäten, nun pflückt sie eine Lilie lind und wandelt längs den Beeten.

Es durfte dann nicht fehlen, daß man auch nach Hülshoff, dem Geburtsort der Dichterin, fuhr, dem alten Wasserschloß mit Türmen, Wirtschaftsbauten, Herrenhaus und Kapelle, mit teichgrauem Wasser und mit Wasserrosen um den Fuß der Mauern, mit Brücke und Hundezwinger. Eine ganze Taxushecke fand sich außerhalb, und, obzwar sie damals noch nicht gewesen sein soll, erinnert sie an das schöne mit Schwermut gesättigte Gedicht der Droste von der Taxuswand:

Man sagt, daß Schlaf, ein schlimmer, dir aus den Nadeln raucht — Ach, wacher war ich nimmer, als rings von dir umhaucht.

Wir haben zu behaupten gewagt, daß die alten Figuren Westfalens einen besonderen und getrennten Ausdruck von Augen und Mund haben. Wir können dazu sicherer sagen, daß in der dichterischen Art der Droste die beiden besonderen Merkmale sind, einmal die starke Art zu sehen, sodann die starke Gabe des dahingehenden Wortes. Man hat immer schon auf die bis zur Nahsichtigkeit genaue Art ihrer Naturschilderung hingewiesen. Und dazu kommt der kräftigste Gebrauch der Worte, die wie Werkzeuge des Aussagens sind. Es ist nicht der singende Schwung der Romantik, der dadurch entsteht, und es ist nicht eine Einheit des Weltgefühls zwischen Sehen und Sagen wie bei Goethe. Aber dafür blättert sich zwischen den Dingen, die sie sieht, und den Worten, die sie sagt, das tiefste Gefühl auf, das zu einem schweren und grundlosen Gemüte hinabreichen kann, wo sie dann oft auch ihren religiösen Ton findet. Auf dem gleichen Grunde aber schlummert bei ihr auch eine unlösbare germanische Schwere, die in den Gedichten zwischen Sehen und Sagen erwachend wie eine nie beheimatete Seele zu sich sucht. Das gibt dann den letzten Grund auch des Naturgefühls.

Wir haben den stillen Erdenfleck verlassen. Die Straßen des Landes hier sind kaum für Wanderer mit den Füßen. Sie schwingen groß und lang dahin; und wo sie gehoben sind, sieht man wunderbar weit in die Ebenen. Aber der Wanderer müßte darauf erlahmen, und er müßte sich auch, wo bei allem Verkehr das bewirtschaftete Land so einzeln in Höfen und Bauernschaften für sich abgeschlossen ist, recht einsam vorkommen. Man muß es beflügelt durcheilen, um seine große schöne Offenheit, die schon bei Hamm und Werl etwas Von der Unrast der Industrie angrenzend sehen läßt, zu genießen. Bachstelzen und Schwalben wippen und jagen sich auf der Straße vor dem Wagen dahin, und oberhalb ist der weite Himmel.

[Haus Rüschhaus, der Wohnsitz der Annette von Droste-Hülshoff]

[Westwerk des ehem. Benediktinerklosters Corvey]

Corvey an der Weser

Das altberühmte Sachsenkloster

Nach der Sage, wie sie der Mönch Widukind von Corvey berichtet, haben die alten Sachsen, vom Meere kommend, um Gold ein Häufchen Erde gekauft und mit List diese Erde über einem größeren Stücke Landes ausgesät, um so den Grund und Boden zu erhalten, auf dem sie siedeln und sich nähren konnten. Harte Kämpfe gegen die Thüringer, die ihr Reich bis in diesen Norden hatten, sind aber dieser List vorausgegangen und ihr auch nachgefolgt, so daß die erreichte neue Heimat nicht nur mit Erde, sondern auch mit dem Sachsenblute besät wurde.

Nicht anders ist es gewesen, als das heidnische Sachsenland ein neuer christlich-deutscher Boden werden sollte. Fünfzehnmal war Karl der Große in Sachsen, und das Blut der Kämpfer ist von der Eresburg aus über das Land hin vergossen worden, und es ist die Weser hinabgeflossen. Es hat wieder nach dem Meere zurückgesucht, woher die Sachsen gekommen sind. Aber der Boden war stammhaft geworden und hat sich fester mit seinen Besiedlern verwurzelt als irgendwo. An der Weser ist schon gleich nach des großen Feindes und doch gewaltigen geschichtlichen Förderers Tode jenes Kloster entstanden, das sofort blühend und mächtig in seinem eigenen Umkreis und hinaus nach dem höheren Norden wirkte, und von dessen Kirchenbau die Stirnseite, ziemlich wenig durch die Zeiten verändert, als ein großes episches Angesicht seit 1100 Jahren über die Talebene erhoben ist. Corvey ist sein Name geworden nach dem fränkischen Kloster Corbie an der Somme, von wo aus es gegründet wurde. Der Bau steht heute an der Seite einer abgeschlossenen Barockanlage ziemlich allein, verlassener tatsächlich als im frühen Mittelalter, wo ein reiches bauliches Ortswesen ihn umgeben hat; und die geschichtlich einsame Stellung wird auch durch weniges, gartenhaftes Land vermehrt, das ihn von der kurz entfernten Weser trennt. Was man heute sieht, ist ein großes und baulich habhaftes und doch, weil nur im Westwerk seit Ursprung erhaltenes, resthaftes Denkmal der Geschichte, das, schweigend über dem Boden des alten Stammes aufgerichtet, hier an der Weser Ort hat.

Ankunft über Höxter

Das Land ist groß und eben, wenn man aus der Gegend der früheren Eresburg durch die Warburger Börde kommt und weiter nach Osten strebt, bis die Weserhöhen das hier flache, schöne Flußtal einsäumen. Feldungen tragen den Umblick weit dahin, und die Ortschaften haben, weil die Scheunentore groß in der Mitte der Giebelfronten der gereihten Häuser stehen, den Ausdruck einer stattlichen Ländlichkeit. Man möchte manchmal sagen, dies seien vor allem Erntehäuser; und auch die verzierten Balkenzüge der Fachwerke haben etwas von dem gelben und bunten farbigen Glanz weiter Felder mit sich in die Orte hereingenommen. So können die Häuser, ohne alt zu wirken, da sie etwas vom zeitlosen Lande haben, doch manchmal altväterisch genannt werden. Auch beschäftigt es das Gefühl, daß sie, ähnlich wie altsächsische Bauernhöfe, nicht eigentlich um eine Wohnzelle entstanden scheinen, sondern um eine größere »unpersönlichere« Mitte. Es bleibt ein Wohnwesen, das mit dem Lande Gemeinsamkeit hat, es ist nicht kleinbürgerlich aufgeteilt, es ist eine Wohnweise von alter Gleichheit des Daseins. So kommt man etwa über Beverungen und dann nach Höxter. In dieser kleinen Stadt, deren Name schon als ein karolingischer Hof bekannt ist, finden sich alte Häuser, die zu stämmigen Blockformen des Fachwerks verdichtet sind und mit den Stirnseiten, von Stock zu Stock vorkragend, mäßig hoch, aber eindrücklich an der Straße aufsteigen. Es sind hier schon die schönen Beispiele der Weserrenaissance und besonders der niedersächsischen Holzrenaissance zu sehen. Und es gehört zum Rhythmus der Reise, wie man nun die Häuser des Landes in die feineren, geschichtlich durchwirkten Wohnmaße städtisch deutscher Kultur sich einfächern sieht.

Von Höxter nach dem alten Klosterorte hinaus, welcher heute Schloß Corvey heißt und nach der Säkularisation mit einigem Wechsel der Herrschaft an den heutigen Besitzer Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey übergegangen ist, führt geradenwegs eine lange Allee, wie sie zu barocken Bauanlagen gerne gehört. An ihrem Ende findet man eine Gruppe von drei mächtigen Linden und wird alsbald auch durch den Namen eines Gasthofes dabei aufmerksam, daß hier ja das Kloster sei, das in Friedrich Wilhelm Webers, des westfälischen Dichters, Sang von »Dreizehnlinden« den Mittelpunkt bildet. Dieser Sang einer nachromantischen, gemüthaften Freude am geistlich-lyrischen Geschichtsstoffe hatte in unserer Jugend eine große Verbreitung. Man mag dazu vergleichen, wie wenig die Dichtung der Annette Droste als unmittelbarster Stammesausdruck zunächst Verbreitung gefunden hat. Auch gegen ihre Balladen sind solche Sänge lyrisierter Geschichte nur etwa wie der Kletterwein an altem Gemäuer. Das aufgestaute Gesetz einer Zeit und die geistesgeschichtlichen Grund- und Innenmaße einer Vergangenheit werden dabei kaum berührt. Corvey indes scheint dem Anblick kaum ein solches altes Gemäuer; und hinter der ehrwürdigen Größe der Anblickseite steht der alte Bauteil noch als Zeuge seiner früh erfüllten Kraft.

Das alte Westwerk

Man tritt durch ein von pandurenartigen Steinwächtern in den zwei Flankennischen besetztes Barocktor in die große, offene Hofanlage, welche sich in den bestimmten Winkeln und Linienzügen des Barockwillens von dem niedrigeren Wirtschaftstrakte herwärts vor dem höheren, langen und schlichtschweren Schloßbau auslegt. Unmittelbar angeschlossen steigt rechter Hand die Westseite der Kirche auf, und sie erscheint zunächst wie eine Brust und ein Gesicht, was zusammen nichts als Alter ausdrückt. Großes Alter in dieser Form, wo Masse und Höhe des Baues mehr gewesene Lebenswahrheit als Körper hat, kann wie eine geschichtliche Rührung wirken. Hier ist ein Gesicht alt geworden und kann sich — je mehr Alter, desto mehr Gesicht — nicht mehr verändern. Es kann kaum mehr der Witterung antworten. Aber es blickt noch, was man von dem körperlicheren Anspruch klassischer Monumente wohl nicht sagen könnte, von Schwere entlastet in zeitinnigster Zuversicht aus sich. Eigentümlich wirkt zwischen den beiden, mit ihren Helmen heute nach oben genadelten Türmen, welche, schlank und vor Alter gleichsam noch höher geworden, im Schnitt der gemeinsamen Vorderfläche heranstehen, der Mittelbau, der dazwischen hochgezogen ist und auch wie ein Vorhang scheint. Nur daß vor seiner Mitte herauf ein hoher schmaler Vorbau diese hochgezogene Bewegung wieder wegnimmt, um dafür den stilleren Sinn einer altertümlichen Bergung an den Bau anzufügen.

Dieser Sinn spricht heute auch sonst zu uns, wogegen früher eine herrlichere Lautsprache der Formen war, als drei große rundbogige Toröffnungen durch Mitte und Anseiten in das Westwerk und in die Kirche führten. Überhaupt ist das Ehrwürdige der ganzen Westseite, das, wie gesagt, heute in seiner rötlichen Ackerfarbe der Bruchsteine wie ein großes geschichtliches Gesicht und auch wieder wie eine blind gewordene Zeit herblickt, einstens weniger ein Gesicht und dafür ein raumvoller, in gedrungener Gliederung aufsteigender Baukörper gewesen. Damals fehlten noch die mit stillen Reihen von Bogenöffnungen herabblickenden Oberzonen des Mittelteils, so daß dieser niedriger war. Dafür aber ließ über der Mitte ein Turmbau mit mächtiger Helmpyramide zwischen den beiden noch niedrigeren Flankentürmen das ganze Westwerk in dreitürmiger und alles zur Mitte kehrender Aufgeschlossenheit nach oben gipfeln. Der heutige Anblick zeigt ein späteres und milderes romanisches Bild aus der Veränderung des 12. Jahrhunderts. Der erste Ausbau aber hatte, was doch noch ganz gespürt werden kann, den grundsinnigen steinernen Zellenwuchs und darüber den mit gestufter Gewalt gegen den Himmel gesetzten Abschluß, welcher im Grund- und Aufriß des Corveyer Westwerks immerhin noch herrscht. Indes muß man sich noch vor dieser aufgetürmten Westseite in ihrer Breite ein »Atrium« oder Paradies vorstellen, nämlich einen großen, mit zwei Stockwerken rechtwinklig ummauerten Vorplatz, den die Kunstgeschichte rekonstruiert hat. Zusammen mit den großen Stufungen von Bau und Türmen muß die Wirkung wie der Inbegriff einer gestaffelten Rechtskraft gewesen sein, welche man immer in der romanischen Baukunst enthalten glaubt und welche, wenn auch die Vorbilder noch von auswärts kamen, dem deutschen Sinn sicher vor allem entsprach. Es bleibt im gleichen Sinne, wenn man sagt, daß die romanischen Bauten Kanten haben wie Schwerter. Und auch heute noch liebt man vielleicht im Anblick Corveys an ein Schwert zu denken, wenn es auch angezehrt ist wie die großen Schwerter alter Funde.

So dringt beim ersten Anblick und dann, mit der Vorstellung der einstigen vollen Anlage noch vermehrt, die ganze Stärke eines früheren Machtwesens des Geistes durch eine Bauform auf den Gehenden ein. Dieses Westwerk der Kirche, in dessen Grundstock man jetzt tritt, also muß, wie die Kunstgeschichte nachgewiesen hat, schon in den Jahren 873—885 der Kirche vorgebaut, heute »als das älteste aller in Westfalen erhalten gebliebenen Baudenkmale« gelten. Wenn die frühe Dreitürmeform in ihrer ragenden Aufgipfelung ein Symbol zu sein schien für die abendländische und deutsche Kaisermacht, die unter den Karolingern und wieder neu mit dem Sachsen Otto über die gewürfelten, in Raum und Ruhe gebrachten Völker aufgestiegen war, so ist für unser körperliches Gefühl hier ein steinernes Feld, eine Halle, ein Wald von kurzen tragenden Steinschäften nachgeblieben, in welchen wir hineingerückt werden wie in eine mächtige Schwere und welcher einer waldhaften steinernen Krypta unter einem Chore gleicht. Dies ist der tragende Unterbau des Westwerkes.

[Corvey, Krypta des karolingischcn Westwerkes]

[Hildesheim, St. Michael, Mittelschiff und Westchor]

Das Gesetz im Steine

Es ist ein gedrungener Raum von Räumen und Raumorten, welche gratig gewölbte Gevierte sind und sich in Schiffe einteilen. Wie viele sind es, und wie reihen sie sich zusammen? Man könnte einmal bloß sagen, Joche und Schiffe seien überhaupt in der Weise festgelegt, daß sich die Wirkung gegen die Gleichung, das Gerade gegen das Ungerade, die Mitte gegen die Seiten fortträgt. Hier in dieser verdunkelten Schwere aber denkt man dabei noch weniger an die Richtung und Klärung dieses Gesetzes als an die nächste Bewegung selber, nämlich daß ein Geviert sich aus dem anderen öffnet, ein Feld im anderen forthallt, ein Schritt der Mitte von einem Schritt zur Seite gefolgt ist, und daß jeder Schritt wieder überholt wird, daß der Mensch in ein Maß des Raumes gesetzt wird und doch nur wie eine Figur ist, die darin nicht Raum, sondern nur Maß hat und durch ein gebundenes Gesetz bewegt wird. Denn schon ist jeder nächste Ort wieder ein weiteres Feld, und das bleibende Maß greift mit der Gleiche der Wölbung, sinnreich und unbewußt, weiter über die Felder. Eine Gleichheit von Teilen ist wie Schritte, welche lebendig sind, und wird doch zu einer Folge von steinernen Kräften, welchen nichts Lebendiges gleich ist. So aus sich entnommen und doch mehr in Bewegung gebracht als eingeordnet, fühlt man noch mehr, als man es denkt, das Gesetz einer »Rückung«.

Dies ist ein sonderbares, rätselhaft lebendiges Gefühl. Allein von den Örtern des Raumes, von den Gevierten steht es auf, und wie um die kurzen Säulen kreist es um den stehenden Menschen. Man kann sonst sagen, die Raumweise in unseren Frühbauten sei in einer lauthaften großen Verbundenheit. Hier aber ist man noch mehr in der Stummheit. Und wenn man sonst sagen kann, die aus Bogen und Wölbungen, aus Zellen und Geviertfeldern mächtig fortgetragenen Räume seien bestimmte Lautbilder, wie fortgestoßen von den Kanten der Pfeiler und weitertönend um die Rundkörper der Säulen, und doch im eigenen Echo an dem ganzen schweigenden Baugesicht zugleich festgebannt, so fühlt man sich selbst hier gleich einem Raumlaut in Bannung und Rückung. Wie durch ein Gesetz fortgestoßen, fühlt man sich in die Gewalt einer Rückung gebracht, man spürt den Vorgang einer Teilung, die nicht nur einem Raume seine Gewißheit, sondern einem Orte Bewegung gibt, man gerät für sich in die Einzelung und doch, indem der Raum für alle das Sieb der Einzelung ist, in die Gemeinschaft. Und man weiß schließlich, daß hier eine Bauweise ist, welche nicht zuerst den Zweck hat, Menschen zu fassen, sondern einem Gesetze zu folgen, nach welchem der Mensch selber bewegt wird, so wie er in einem Sinne und Raume der Zeit ist. So ist es ja auch mit dem Raumgefühl einer Krypta, daß sie nicht nur die Stärke eines Tragens, also nicht nur ein rationales Gesetz ausdrückt, sondern in der Gewalt einer Rückung schreitet, welche mächtig wird, indem sie sich in den Teilen bewegt. Und so ist überhaupt das rückende Grundgesetz, in welchem der romanische Raum der drei Schiffe innen vorgeht und zurückkommt, womit er aus der beständigen Bewegung die Gewalt des Stillstandes bekommt. Immer ist es das Vorgebot der Bewegung über die Ruhe, und all dies sagt, daß das Leben der Geschichte wesentlicher sei als die Behauptung des Seins.

Von diesem Westwerk aus, das mit einer ganzen Zellenwabe von bogigen Öffnungen in Zonen übereinander nach dem inneren Kirchenraum aufgetan war, muß die Kirche von Corvey eine universale Schönheit des Raumlautes empfangen haben. Heute zeigt die durch den Dreißigjährigen Krieg zur Ruine gewordene Kirche einen einschiffigen Neubau (von 1666) in einer Gotik der Barockzeit, deren damals gerade in Westfalen unter dem baueifrigen Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen eine Reihe gebaut wurde. Die Kirche in ihrer anachronistischen Vereinfachung macht mit kräftiger barocker Ausstattung einen würdigen Eindruck.

Aber immer wieder kehrt man zu der »Krypta« des Eingangs wie zu einem Gesetz des Steines zurück. Die Kapitelle der Säulen sind ein Stilwerk, das »zum eisernen Bestande der kunstgeschichtlichen Handbücher« gehört. Es sind korinthische Akanthuskapitelle, von denen aber nur eines den Anfang jener könnerischen Ausführung der Einzelheiten zeigt, die dem antikischen Geist entspricht. Die anderen sind in der umrissenen Urkraft der Bossenform gelassen worden, und man fragt sich, ob dies Absicht war oder ein Mangel der Fertigstellung. Man könnte es unserem schweren germanischen Geiste lieber glauben, daß dies Absicht war, daß er diese wie mit dem Spaten hergestellten Blattformen lieber sehen mußte und daß sich ihm so eine erdhafte Gesichtskraft der plastischen Bildung aufdrängte, welche durch die antikische Fertigung aus der Bannung für das Gesicht gelöst und in das allgemeine Raumgefühl weitergebracht würde. Auch würde das Gefühl des unmittelbaren Werkes damit genommen. So aber ist dieser ganze Raum, dieser Fleck von schwerer Architektur wie ein schönes dunkles Stück einer Waldrodung. Der Wald, den die Deutschen gerodet haben, ist in ihre Werke eingegangen.

»Nova Corbeia«

Adalhard und Wala, die Söhne von König Pippins Bruder Bernhard und seiner sächsischen Gemahlin, sind die Stifter des Klosters Corvey an der Weser. Sachsenknaben wurden damals in Corbie an der Somme als Geiseln gehalten und erzogen. Ein Sachsenknabe hatte auf seinen Vater aufmerksam gemacht, und ein Ort, »Hethi« mit Namen, der in dessen Besitz war und den man, allerdings ungewiß, auf dem Solling rechts der Weser vermutet, war zuerst für das Kloster bestimmt worden. Die Verhältnisse entwickelten sich, auch im Zusammenhang mit Karl und seinem Nachfolger Ludwig dem Frommen, langsam, und dann konnte der erste Ort nicht gehalten werden. Gewiß ist, daß 821 in der Talweite des linken Weserufers die Gründung der neuen Corbeja zustandekam und ein Jahr darauf die Mönche von dem ersten Ort her feierlich einzogen. In schneller Folge entstand die Weser entlang »in fast halbstündiger Ausdehnung eine große Stadt mit Kapellen, Kloster- und Pfarrkirchen, Palästen, Höfen, Ringwerken, Toren und Brücken«; fach der karolingischen und ottonischen Blüte fing indes ein Rückgang an. Was aber dem Anblick von dem weit nach Norden wirkenden Orte heute als Hauptgedächtnis geblieben ist, das ist ein Schloß mit Gärten, die Kirche mit dem alten mächtigen Stirnbau, die übrigens durch ihren Kult dem Namen Veit im Norden Deutschlands die Verbreitung gegeben hat, und an der Kirche ein Friedhof. Auf dem Friedhof ist auch der Dichter Hoffmann von Fallersleben begraben, der in seinen späteren Lebensjahren in der großen Schloßbibliothek amten durfte. Man kann sich durch die Räume des barocken Schlosses führen lassen und sieht ihre pittoresken Merkwürdigkeiten. Aber was ist es nur, welches innere Maß von steinerner Schönheit, Wahrheit, das dem empfänglichen Auge an einem romanischen Bau und an der schweigenden Wucht eines Kapitells mehr zu schauen gibt, als eine ganze barocke Summe es vermag?

Widukind von Corvey

Was ist es aber auch, das wir mit innerer Schwere, ja Hilflosigkeit und Freiheit zugleich empfinden, wenn wir gegenüber einer Geschichtschreibung später Zeit in den »Sächsischen Geschichten« des Mönches Widukind von Corvey lesen? Im zehnten Jahrhundert, hundert Jahre etwa nach dem Ausbau der Kirche von Corvey, schrieb dieser Mönch, ein Gründer deutscher Geschichtschreibung, hier im Kloster. Zur gleichen Zeit, da die Schriften der Nonne Hrotsvit von Gandersheim entstanden sind, die ja auch den Kaiser Otto in einer Dichtung verherrlicht hat, schrieb auch der Mönch sein kleines, aber schwerwiegendes Werk über die Sachsen. Wegen der Seltenheit seines Namens und wegen der Treue, mit welcher die Sippe zu ihren Namen hielt, darf man glauben, daß er ein später Verwandter des großen Sachsenherzogs und Frankengegners Widukind gewesen ist. Auch der Mönch Widukind ist, so sehr er die christliche Einheit bekennt und selbst Karl gelten läßt, ein Gegner der Franken und Parteigänger seines Sachsenstammes geblieben. Und er konnte es mit dem ganzen Stolz auf die damalige Blüte des Reichs unter den Sachsenherrschern sein. Sein Werk hat er der zwölfjährigen »Frau Mathild, des Kaisers Tochter«, die eben erst 966 zur Äbtissin von Quedlinburg geweiht war, gewidmet. Die Widmung, in merkwürdig barocker Höflichkeit gehalten, sitzt doch als ein sehr echtes Siegel auf der sonst männlich schweren und ungelenken Arbeit des Schreibers. Das Angestammte und Kernhafte ist bei ihm durchaus stärker als die Ausführung, aber es entsteht gerade damit eine starke, zeit- und orthafte Anschaulichkeit. Vor seiner Schreibweise kann man zu Gedanken kommen wie vor den steinernen Kapitellen. Wenn er die römische Fertigkeit verwenden will — und das ist mit der Zunahme der Bildung der Ehrgeiz der Geschichtschreiber —, dann will sich auch die gegenwärtige, bestimmte und geschichtliche Dinglichkeit verlieren. Aber durch die feste Nähe des Volkes bleibt die Darstellung gerüstet mit den wirklichen Dingen. Bei großem Geschehen, etwa der Schlacht auf dem Lechfeld, oder bei Stammeszwietrachten spürt man immer den Schritt von Zeit und Menschen oder, auch wenn es an der Ordnung der Beschreibung mangelt, das wirkliche und unausweichliche Feld der Geschichte. Die Menschen werden nicht an sich betont, sondern sie erhalten ihre Betonung aus dem Geschehen; sie kommen — womit wir wieder an unser Gefühl in dem steinernen Raume denken — in den Anblick wie aus der steinernen Siebung der Zeit. Was auch noch beschäftigen muß, das ist, wie sich die beiden Tatsachen, daß der Mönch Widukind Sachse und Christ ist, miteinander vertragen. Aber da ist, wenn zwar im einzelnen manches, etwa daß die Darstellung kaum den Papst in Rom einbezieht, doch im Grundsätzlichen kaum etwas zu bemerken. Man steht einfach vor der Tatsache, daß die beiden Eigenschaften, die angestammte und die geschichtlich angenommene, fraglos beisammen sind. Sie geben die Spannweite des Raumes; die nahe Erde aber gibt den Inhalt der Geschichte. Diese ist voll von Umschlägen des Sinnes und Wendungen der Schicksale. Wenn dies aber das Urelement der Geschichte ist, wenigstens einer Darstellung, die sich selber nicht im Fraglichen festhält, so hat der alte sächsische Geschichtschreiber etwas von dem Grundtrieb zu diesem Element in sich gehabt. Von Sagenhaftem ausgehend, schuf er ein Bruchstück geschichtlicher Wirklichkeit.

Bei dem tausendjährigen Rosenstock

Das Saatfeld deutscher Kunst in Hildesheim

Das alte Hildesheim ist ein reiches und kostbares deutsches Bilderbuch. Mit einer aufblätternden Klarheit erschließt sich dem Nachsinnenden die innerlich verzweigte, geschichtlich bunte und giebelstolze Stadt. Wirkt dieses alte deutsche Stadtbild aber mehr in der Unmittelbarkeit des Besuches und der Anschauung? Oder wächst es in geistige Fruchtbarkeit noch durch die Entfernung und Erinnerung? So nämlich wirken, während Italiens Kunststätten vor allem durch Anschauung wirken, die frühen Orte und Felder der deutschen Kunst im Sinne nach und stellen Fragen an ihn, die Fragen einer eigenen und unaufhörlichen Wesenheit. Hildesheim jedenfalls erfreut als ein Bilderbuch des Mittelalters den Blick, aber seine ältesten Dinge wollen als immer neue Keime, als eine Saat des eigenen Wesens im Geiste bleiben.

Blick vom Moritzberg

Wenn man an schönen Tagen durch die gekrümmten Straßenzüge Hildesheims gegangen ist, über ihre Höhenwellen hinweg bis zum Moritzberg hinauf, und wenn man von hier über das schöne und breite Gefälle des Sehfeldes zurückblickt, mit welchem sich die betürmte Stadt gegen die Ebene hinausschickt, liegt der Umblick da wie in einem ausgeruhten Atem. Die Stadt ist schön vereint mit der Landschaft. Gespannt allerdings schon von den alten Dingen in ihrer frühen Zeit, stellt man sich vor, wie einst die Bauten, einzeln und dazu noch von eigenen Beringen abgeschlossen, jene Stärke hatten, welche nicht an der Landschaft teilnimmt, und welche doch um so mehr, als ein baulicher Kristall aus der Natur erwachsen, mit den Maßen einer geregelten Schönheit, als ob der Geist unmittelbar über dem Erdgrunde seine Entzückung in diesen steinernen Maßen habe finden müssen, gegen den Himmel gesetzt war.

Heute sieht man unter dem blauen Himmel und im glänzenden Sonnenlichte das Stadtbild hingezogen gleich einem ungespannten und ruhigen Bogen; die tiefere Weite des Landes wird dahinter erblickt und geahnt. Die Reihen der Häuser, die Firste und Giebel, die Folge der darüber aufragenden Türme ist gleichmäßig; und wenn das Auge darauf hingleitend die alten Hauptwerke sucht, bemerkt es ihre charakteristischen Formen wohl deutlich, jedoch ohne starke Unterbrechungen durch die geschichtliche Eigenheit. Gerade die Dach- und Turmspitzenformen von Sankt Michael, dem alt- und hochberühmten frühmittelalterlichen Bauwerk Hildesheims, sind nicht mehr von ihrer frühen reichgeregelten Geschlossenheit und Schwere, sondern sie sind mehr ein ins allgemein Historische leicht und luftig aufgelöster Akkord. Die größere Schönheit liegt tiefer zurückgezogen im Innenraume. Und so sind auch die hohen Werte der berühmten romanischen Dinge dieser Stadt in ihrem Innern als ein stilles glückliches Wissen einbehaust und geborgen; sie sind alle eingebracht wie im Schreine. Hier oben aber fließt der sonnige Blick über Hildesheim dahin und grenzt die Lage und Landschaft leise altertümlich und heiter gegen den Himmel ab.

So steht man auf dem Zierenberg alten Namens, wo die Moritzkirche, das frühe Werk des Bischofs Hezilo, mit ihrer Besonderheit einer reinen, den Raum im gleichen Einklang teilenden Säulenbasilika, und dahinter ein großer bäuerlicher Hof, nach rückwärts umringt von mächtigen Feldern, zusammenliegen. Das ist noch der alte Bund des geistlichen Bauens und der im Ernteschnitt liegenden Ackererde. Ein kühler Atem indes unter dem heißen Tage will sich um das schattige Alter nicht verlieren. Dann steht man auf dem Boden der hohen Äcker, und den großen Himmel, der nach Norden trachtet, über sich, kann man vergessen, wo man ist. Aber die frühen Werke der Kunst mit ihrer bestimmten und stummen Festigkeit warten in ihren ebenso noch bestimmten und von dem frühen Lichte des Geistes durchzuckten Räumen auf die Betrachtung. Der Sinn muß bei ihnen gefangen bleiben, man geht wieder hinab, und der Fuß ist in den alten schönen Gassen und richtet sich nach den hehren Orten dieser Stadt. Die alten Dinge geben keine Ruhe.

Das kleine Rosenbeet

In liebe Bücher legt man gerne Blumen; das grüne Blatt oder die verfärbten roten Blätter einer Rose findet man dann in künftigen Tagen zwischen den Seiten. Wenn unser Sinn gerne mit dem Gedanken spielt, daß Hildesheim ein altes deutsches Buch mit Bildern sei, das man aufblättert, so wird unser spielendes Gefühl noch belebter, wenn wir zu dem tausendjährigen Rosenstocke kommen, der inmitten der Stadt in Hildesheims Dombezirk steht. Das ist also die Blume, die in das Buch gelegt ist. Der Hildesheimer Rosenstrauch sieht sich an wie eine Legende. Er wächst aus einem halbmondförmigen Erdbeete, das unmittelbar an die Außenwand der mächtigen Apsisrundung des Domes angeschmiegt ist; und diese ganze Lage im Ostreich der Sonne ist von dem Hofe des Kreuzganges umfaßt und in eine altertümlich sanfte Ruhe eingeschlossen. Mit doppelgeschossiger Höhe läuft das Geviert des Kreuzgangs herum, und die Dachböden schauen mit großen schattigen Luken herein. Inmitten des Friedensraumes steht noch die gotische Annenkapelle und reckt ihre Wasserspeier in die milde Stille, und der hohe Rosenstrauch spielt mit seinen Blättern im Sonnenwinde. Die einzelnen Rankenstämmchen des Strauches, die aus der sorgfältig mit Gärtnerkunst behandelten Erde an der Mauerrunde herauftreiben, sind außerordentlich hoch. Es ist aber die einfache Heckenrose, die allerdings schon dadurch, daß man ihr mit so viel geschichtlicher Liebe abwartet, wie ein edleres und kostbares Gebilde erscheint. Man hat den einzelnen Ranken Porzellantäfelchen angehängt, auf denen das Alter der Triebe steht. Man liest Jahreszahlen ab, die nur bis kurz vor dem Kriege zurückreichen. Und so muß das Wort von dem tausendjährigen Rosenstrauch wie eine liebe Not der Erhaltung zu der Legende treten, daß an dem Ort, wo die Rose wuchs, einst ein Kästchen mit Reliquien vergessen worden sei.

Eine solche Pflege eines kleinen ganz sauberen Beetes von Erde an einem großen romanischen Mauerwerk, damit eine Pflanze Nahrung finde, um als ein Naturfleckchen in der Zeitenspur zu liegen und doch an sich nichts weiter zu bedeuten, als zu grünen und zu blühen und während Sommerlängen mit ihren Zweigen im Winde zu spielen, dies ist wohl ganz beschaulich deutsch. Der Rosenstrauch hier ist ein lebendiges Beispiel des Sinnes, aus welchem auch die Miniaturen des Mittelalters ihre Blumenranken erhalten. Kleine Bilder der Geschichte erhalten durch die Pflanzenspiele ein gedächtnisloses Glück, das die Schwere des härteren Lebenmüssens schmückt und umsetzt und aufhebt. Wie die Miniaturen mit der Zeit kleiner, schwereloser und doch um so deutlicher geworden sind, je mehr der Sinn im Blumigen sich von ihnen an den Rand gespielt hat, so ist dies Beet hier wie ein Rest und ein Rändlein der Legende mit nichts als einer beweglichen Stille. So steht man vor dem kleinen Rosenorte im Domkreuzgang von Hildesheim. Glockenschläge fallen von den Türmen mächtig darüber her, Orgelklänge brechen durch die Mauern herein, die Kornböden der umstehenden Bauten bedeuten mit ihren Dachluken Geborgenheit, aber der lebende Mensch kann nicht in der Idylle von Natur und Stein verweilen. Er wendet sich wieder an die geheimeren Fragen der Geschichte, welche in den Werken der Kunst hingesät sind und wachsen und schlummern. Nämlich die Gestaltungen früher deutscher Kunst sind wacher als die Werke anderer Zeiten, weil sie mehr vom Grunde gelöst, weil sie ausgegrabener, hinterschnittener oder auch nur wie in Verletzung des Grundes umrissener sind; und sie sind doch auch wieder schlummernder, weil mit ihrer Loslösung eine schattende Nachspur, ein stilldunkler harrender Grund hinter ihre Formsinne getreten ist.

[Hildesheim, Taufbecken im Dom]

[Tragfigur vom Hildesheimer Taufbecken]

Saatfelder der Figuren

Hier in dem Dome findet man neben den berühmten Werken im Domschatz, dann neben der sogenannten Irminsul und anderem, das in reicher Summe auch zur Renaissance geht, das in seiner Form und plastischen Zier ungemein beredte, zeit- und geistlebendige Taufbecken um 1250, das von den vier Paradiesflüssen als Figuren getragen und mit seinen strähnig starken, im gegliederten Dasein vervielfachten Reliefen an den Außenwandungen wie ein Mischkessel für Sinn und Leben, für Wasser und Blut, Gesetz und Handlung und für eine ingründige Bereitung zur Geschichte ist. Wie sehr die Figuren der Wandung angefügt sind, so sehr sind sie auch wieder davon getrennt, oder sie sind wie innerhalb von Schalen, welche durch die Bogenfelder angedeutet scheinen, auf ihrem Grunde angesetzt. Dieser Widerstreit zwischen Anfügung und Ablösung, dieses Hin und Her zwischen Figur und Grund, worin die Figur durch ihre scharfen Umrisse noch beweglicher scheint, dies ganze Wegnehmen und Hinzutun, dies »Sichentschälen«, das sich von der Wandung hebt und doch die Wandung dadurch deutlicher macht, das auch die Figuren in den Vordergrund drängt, wodurch sie geradezu knospender, wachsender, im Zusehen mächtiger werden, und wodurch sie aber auch rückwirkend dem Gefäß etwas Verjüngtes, Wesentlicheres geben, dies alles macht, daß hier nicht bloß ein geschmücktes Werk steht. Es ging hier nicht darum, Sinnformen auf ein Gefäß anzuwenden, daß es davon in seinem Dasein dichter, das heißt durch die Schmuckwelt seinem eigenen Zweck noch stärker einverleibt würde. So ist dies allerdings später bei den Gefäßen der Renaissance geschehen. Hier aber geht die Gestaltung umgekehrt; Bild und Grund scheiden sich auseinander, die zweckmäßige Form wird dadurch entblößter, aber sie wird auch geistiger, und die figürliche Welt hebt sich über ihr wie das Zeugnis eines Sinnes, der nicht in einem veredelten Zwecke beschlossen bleiben kann, sondern für sich selbst und was zu ihm in Beziehung geraten ist, ein geschichtliches Gesicht sucht. Also wird durch einen Vorgang, indem sich eines vom anderen, das Geschehen vom Sein, die Figur von einem Grunde trennt, eines durch das andere wesenhafter. Dies geschieht nach jenem sonderbar schönen mittelalterlichen Gesetz, daß das Leben der Bedeutung und aller Sinne durch ein Wegnehmen der Dinge und Formen voneinander entsteht, daß die Form des Sinnes von einem Grunde weggenommen oder von einem naturmäßigen, gemeinsamen Wesen und Begriff befreit wird, wodurch allem Betroffenen und Einzelnen die Wirkung im eigenen Ausdruck sich öffnet. Denn das unglaublich feine Geheimnis ist dabei, daß nicht nur das Werk, das gebildet wird, sein eigenes Leben, sondern auch der Grund, aus dem es kommt, seine schönere Gewißheit erhält. Alles, in einen sinnhaften Zwiespalt gesetzt, wird von diesem Zwiespalt her wesenhafter befruchtet. Aber aus der gleichen Befruchtung lebt ja auch der unaufhörliche Zwiespalt der Geschichte. Der Grund des Zwiespaltes, wie ein ewiger Krieg oder wie eine ewig verheißene Erfüllung, bildet die Formen der Zeiten.

Aber noch berühmtere Werke der frühen deutschen Kunst sind hier im Dome, nämlich aus der Bernwardszeit kurz nach tausend der hohle Bronzeguß der Christussäule, die einst in der Michaeliskirche stand, sowie die ebenfalls im Ursprung für jene Kirche bestimmte Bronzetüre. Unter sich geistig und werksinnig sehr verschieden, sind diese Bronzewerke, die doch wohl beide zusammen den Anfang unseres Jahrtausends bezeichnen, wie Symbole von einer unerschöpflichen Fruchtbarkeit. Klein mit den Figuren in ihren jeweiligen Feldern, aber groß im Werksinn dieses ewig jungen Feldergefühls — an den Türflügeln die 16 Rechtecksfelder, bei der Säule das spiralig gleich dem der Trajanssäule mit 28 Szenen emporlaufende Felderband —, sind diese Schöpfungen bahnbrechend sowohl mit ihrer alles bezwingenden Neugier des Könnens wie im vollen, ohne künstliche Leidenschaft großen Ernste der Anschauung. Solche metallenen Torflügel öffnen sich also in den Lauf des deutschen Jahrtausends, indem sie die Vorstellung der Erd- und Heilsgeschichte in ihren Angeln drehen. Und die Christussäule gibt ein Spiralband von wortstarken Bildhandlungen, von Menschengruppen, die sich in das fortlaufende Echo der Geschichte rufen, worin die Betrachtung, wie in eine ewige Furche gesetzt, unermüdlich auf- und absteigt.

Man kann diese beiden Werke unmöglich mit einigen Worten erfassen. Mit den Türflügeln in der Westvorhalle muß man sich einschließen lassen, und die Säule in ihrem Seitenraume muß man immer wieder umwandern. Dabei möchte man die verschiedene Erfahrung des Anblicks zunächst also ausdrücken: Jene Felder mit der Erschaffung der ersten Menschen bis zum Brudermord, ebenso auch mit der Verkündigung und mit allem weiteren geraten in einen immer stärkeren Glanz. Die Felder sind manchmal wie frühlingbeglänzte Beete in Metall. Die Köpfe heben sich weiter im Relief heraus als die Leiber und sind wie Knospen. Es handelt sich aber dabei nicht um trockene Proportionen eines ästhetischen Gesetzes im Raume, sondern um eine kreatürliche Kraft mit einem pflanzenhaften Übergewicht der Bewegung. Dabei ist aber nichts vegetativ Weichliches, alles ist von äußerster Kernhaftigkeit, und die Köpfe sind, möchte man sagen, »klassisches« Deutschtum ohne Klassik. Es lebt hier kein menschlicher Begriff an sich, sondern es lebt der Mensch auf der Erde, und zwar wie mit dem ersten und großen Griffe des Sinnes zu sich selber. Dagegen nun sind die Figuren und Gruppen des Spiralbandes wie aus der Scholle gegraben und wie aus starken Spuren auferstanden. Sie haben nicht so sehr das Licht und den weckenden Glanz um sich, sondern sie sind tiefer in den Grund gesetzt und drehen sich doch wie befreiter gegeneinander wie befestigte Rufe. Sie leben aus einem epischen Bildgesetz, das gleichsam die schwere Erde mitbewegt und das kaum mehr in dieser starken, unausweichlichen Weise angefaßt wurde. Es scheint alsbald unbeendbar, was man noch im weiteren Vergleichen sagen möchte. Himmelslicht und Erdenkraft möchten in den Worten zusammenkommen, so wie sie in den Werken ihre unvertilgliche Zeit bekommen haben.

Felder und Furchen

Wir haben, was das Wesen von Grund und Figur, das Gesetz der geschichtlichen Kreatur auszumachen scheint, schon bisher auszusagen versucht. Aber alles ist hier noch keimender und gebundener und dabei doch noch viel weiter. Wir sehen, wieviel Anteil Glanz und Schattungen an einem Leben haben, das zugleich wacht und schlummert. Im Weiten ist ein heimlicher Schlummer, der nur wie Atem um das erste Leben steht; aber im Nahen ist eine unvergleichliche Wachheit, die so versprechend aussieht, wie wenn das Saatkorn auf die Scholle geworfen wird. Man kann aber auch unterscheiden, daß die einzelnen Figuren auf den Feldern der Türe mehr von der Fläche des Feldes umgeben oder daß sie mehr im »Bilde« sind; und bei ihnen ist auch viel pflanzliches und bauliches Dasein. Die Figuren in der Säulenfurche aber, in einer stärkeren Haltung von vorne, sind doch auch mehr gegeneinander gedreht; und in diesen Bezug aufeinander sind die Zugaben von anderen Dingen mithineingezwängt. Ist ein solcher Unterschied Zufall? Kommt er nur davon, daß die Darstellungsweise verschieden ist? Oder ist hier nicht doch eine viel tiefere Welt sinnhafter Schöpfung in Aufbruch geraten? Der deutsche Sinn hat angefangen, durch die Welt der Figuren sehend und hörend zu werden. Er hat begonnen, seine mittelalterliche Welt zu erobern, in der auch die Bauten wie Werke des Sehens und Hörens zugleich sind, wie gebannte Gesichte und aufgebrochene Laute. Ist es nun falsch, wenn wir die Felder auf der Türe mehr als gesichtshaft, die Figuren in der Furche mehr als worthaft bezeichnen wollen? Ist es nicht richtig, wenn wir in den Türfeldern das Pflanzliche als die Bedeutung des offenbaren Seins der Schöpfung ansehen, und dazu die Bauten, die auch besonders reich geformt sind, wie eine höhere Glorie, wie eine neue Gerechtigkeit zu einem mehr inneren Sein empfinden? Welche Sinnigkeit ist in diesen Dingen der Felder, in dieser dazugegebenen »Bezeichnung« und »Beschriftung« des gezeigten Daseins? Ist nicht im Pflanzlichen das immer stille Gefühl der vom göttlichen Geiste mitbehauchten Erde, das wie zwischen Gedächtnis und Vergessen spielt und zum Geschehen wie ein reines »Pastorale« wirkt, aber in den Architekturen ein Blick wie von einer Gerechtigkeit oder höheren Gehörigkeit, die über das stille Geschehen hinausführt und die aus den Feldern der Erde ein Forum des Staates und der Geschichte macht? Ja, diese Felder bedeuten Überbietung des neutralen Erdengrundes, es sind Beete des gewordenen Wesens und Saatfelder von geheimen Gesetzen. Und schon der Sinn des »Feldes« hat die Bedeutung, daß sich nun Ort für Ort die Erde zu sich findet, daß nicht der Begriff eines Kosmos im ganzen, sondern jedes Feld zum Sinnlauf der Geschichte führt. Aus dem Einzelnen, aus dem »Dividualen« erobert sich der Sinn des Ganzen.

Alles, was bei dem Taufkessel empfunden, ist an diesen früheren Werken noch keimender, noch eingegrabener, noch komparativischer zwischen Figur und Grund, und diese Felder und Furchen sind voller Gewalt einer harrenden künftigen Fruchtbarkeit. Sehend und horchend, in einer reich machenden Zweisinnigkeit nimmt diese Fruchtbarkeit im Mittelalter zu. Und gerade auch die Figurenwelt wird nicht nur im Sein gestaltet, sondern sie bekommt etwas so Sprechendes wie Horchendes. So stehen auch die Figuren, wie sie an die Bauten geschlossen sind, immer im Bezug aufeinander. Ihre Gebärden entsprechen sich wie durch Worte einer unaufhörlichen Geschichte, und die einzelne Figur gehört immer im geheimen zu einer Gruppe des geschaffenen Geistes der Zeit. Die ganze Plastik des Mittelalters hat diesen worthaften Bezug. Und in der Furche der Säule hier ist dieser nun außerordentlich stark und fortdeutend. Er ist wie der Ruf der aufgebrochenen Erde selber, die auf diese Weise, trotz des römischen Vorbildes der Spiralsäule, das Leidenschaftliche der germanischen Bewegung errungen hat. So sieht und bedenkt man es. Man steht vor der aufgewachten und herben Kraft. Und doch möchte man auch von beiden Werken sagen, es sei in ihnen etwas fein Klingendes, etwas Geschliffenes, etwas von Facetten der Geschichte oder noch ursprünglicher etwas von dem Edelsteingefühl, wie es auch in frühen Hildesheimer Kirchenschätzen ist, worin der steinerne Edelglanz gestirnhaft um das Geschehen mit Körpern gesetzt ist. Alles Geschehen konnte man damals eingründen in ein tieferes Leuchten.

[Sündenfall und Austreibung aus dem Paradies von der Bernwardstüre des Hildesheimer Domes]

[Hildesheim, das spätgotische Templerhaus mit Renaissanceerker]

Im Raumgeist der Geschichte

Und nun zu dem anderen großen Ruhmeswerke der deutschen Kunst, das in Hildesheim ist. Es ist die von dem gleichen, im Jahre 1022 verstorbenen Bischof Bernward gegründete Sankt Michealskirche. Man vermöchte diesen Mann in jener bewegten Zeit der letzten sächsischen Kaiser, Ottos III. und Heinrichs II., kaum in seiner selbstverständlichen persönlichen Umrissenheit, seiner geistigen sowie musischen Schulung und Tatkraft zu begreifen. Wissen und Können, Schreiben, Malen, Metallbearbeiten, das Fassen edler Steine und die Architektur, Bücherstuben und musivische Fußböden, Sammeln von schönen Geräten, Bau von Wehranlagen gegen Überfälle von jenseits der Elbe, — damit ist sein tätiger Umkreis noch nicht beendet.

Auch dieser Bau ist eine Raumschöpfung, die das Zeugnis eines universalen Geistes gibt, die zwischen Zeitaltern steht und die doch zum engeren Mittelalter leitet. Lang- und Querschiffe und Chorformen, die allseitigen Umläufe und Rückungen des Raumes, die Stufungen, die Bogenwellen über dem im Stützenwechsel rhythmisch bewegten und doch bewegungslos stehenden Innenraume hin, all dies gibt zusammen eine räumliche Durchtöntheit, die laut scheint und doch wieder schweigend wie ein bloßes geistiges Echo. Der Raum will zunächst als eine geistige Ordnung mehr tönen als sprechen. Man muß auf ihn horchen, und doch wollen sich zunächst keine Worte bilden. Er hat nicht jene andere Raumkraft, die sonst im romanischen Bausinn stärker ist und die sich mit der Gewalt von Raumteilung und leiblich-geistiger Trennung vor allem an das Gesicht wendet. Er hat nicht so sehr diese gewaltig-ruhige Gesichtshaftigkeit, sondern schwebt in sphärischen Fluchten darüber hin. Er hat deshalb auch nicht so sehr eine starke Augenblickskraft der Geschichte, sondern dagegen einen sonderbar feinen, alter- und zeitlosen Raumgehalt, wozu übrigens gerade auch der Wechsel von roten und hellen Steinquadern mitwirkt. Die Schweigsamkeit geometrischer Ordnungen und die Klangkraft der von ihnen eingefangenen Raumteile gehen so sehr zusammen, als ob die Notwendigkeit einer kreatürlich verständigen Sprache zwischen ihnen ausgeschaltet werden könnte. Es ist das Geheimnis von Gemeinschaft und Einzelmensch, um welches es sich in dieser tönenden Stille eines deutschen Baukörpers hier in der Schwelle zum neuen Jahrtausend handelt.

Was soll man sagen, ohne das Einzelne zu beschreiben, das von den Räumen zu der dreizählig wechselnden Folge von Säulen und Pfeilern, zu den Kapitellen, zu dem gestuften Engelchor, zum figürlichen Ornament und zur Malerei geht und so immer weitere Kreise seines geistigen Daseins schlägt. Der Raum scheint, je mehr er eingeteilt ist und wie in Zellen wohnt, um so sichtbarer zu schweben. Der weite Atem der Schöpfung ist hier eingehegt; was geschaffen wird, ist eine In-sich-Stellung, ein Widerspiel zur Weite; aber wie durch Schritte, durch Felder und Grenzen bewegt und weitergerückt, durch ein klingendes und ausmessendes Tun in Folge gebracht, steht nun eingefügt in einem eigenen Hauche der Schöpfung ein Bau des Sinnes auf. Was ist stärker an ihm, ein Wissen oder ein Fühlen, ein Gesetz von innerer Welt oder ein Zustand junger Natur? Die Antwort wird sein: wie in einem wunderbaren Zwiespalt eines durch das andere. Man muß an einem Abend in der Michaelskirche gewesen sein, wo der Raum, der so voll von offenen Bogenläufen über dem Haupte hin ist, als ob er vor Klarheit nie dunkel werden könnte, in nächtlicher Anschattung zu brüten anfängt. Und man muß ihn dann am Tage wieder sehen, wo auch mit der im herrlichen Lichtgeiste bemalten Flachdecke das ganze Raumgebilde geschlossen und offen ist wie unsere Erde im deutschen Frühlingshimmel, wo auch im frühen Jahre alles wie unnahbar und ohne Zusammenhang doch sich wachsend erschließt und ohne Fassen regsam und gefaßt ist. Alles ist ganz bildhaft, und alles ist um so mehr gegenwärtig.

Man kann sich den Kosmos als eine Welt denken, von deren Enden alles Gefühl zu dem unsichtbaren Geiste in der Mitte des Alls aufsteigt. So kann man sich auch den antiken Bau denken; der Tempel ist, Blick und Ohr verschließend, eine Form für die Gottheit, er ist die Analogie eines der Erde zugeordneten und übergesetzten Geistes. Ist aber auch hier in diesem Baubeginn des Mittelalters Blick und Wort verschlossen, ist der Geist, mit dem das Göttliche gemeint ist, hier auch unsichtbar? Man möchte antworten, alles hier Gebaute sei viel zu sehr aus dem Tätigen erstellt, viel zu sehr geschaffen, viel zu sehr den Begriff des Gesetzes durch die Lust der Setzung überholend, als daß der Geist unsichtbar bleiben könnte. Je unsichtbarer er wird, desto mehr ist ihm der einholende Ort bereitet. Er steigert sich selbst unsichtbarer werdend in das Sichtbare. Die Tempel sind Sakralbauten, in denen das Sein wie ein gedrängtes Gewicht auf die Erde gelagert ist. Die Schöpfung selber kann gleichsam nicht mehr eintreten. Hier aber ist kein Gewicht, sondern durch das teilende und bindende Gesetz eines immerfort wirkenden Tuns verwandelt sich das geschaffene Sein zu einer feinen und unendlichen Schwebung. Alles ist gegensinnig zur Schöpfung, und die Schöpfung wird in die Geschaffenheit hineingezogen. Alles ist ein werkhafter Garten der sich kreuzenden Sinne, und nichts ist dazu entsprechender, als daß das nackte Paar der ersten Menschen in der großlieblichen Weitung und Fläche der Decke über dem Eingang ist.

Ja, man möchte fragen, ob dies hier im absichtlichen Sinne und Begriffe ein Sakralbau sei. Kann ein Sakralbau bestehen, wenn das Tun über den Begriff, der hingegebene Schritt über die göttliche Vorstellung zuvorkomt? Der Raumgeist der Geschichte hat eine Weihe, die mehr eine Feiung ist durch das Tun. Hier ist ein Feld der Felder, ein von sich selbst durchmessener Sinn, ein Ort, durch Luft und Licht wie im Blick und Wort sich selbst ersehend und eratmend. Das ist auch noch nicht der spätere romanische Raum, der in seiner Mitte den Hunger der Zeit wie durch eine Lücke, durch einen wachsenden Mangel gegen die Ewigkeit hinführt, und der sich in der Gotik vollends mit dem Lichte selber sättigen will. Hier ist das Wesen des Sinnes auch noch in einer elementlichen Sättigung. Dies ist noch die in sich selbst gestellte Jugend. Je mehr sie sich dem Laufe ihres geschaffenen Gesetzes hingab, desto mehr war ihr Raum Musik geworden, aber keine aufstauende Musik, die sich selber hören will, sondern eine Musik, die immer nur hingeht und fühlt, daß ihr Gang unendlich sein will. In der Mitte der Schiffe und ihrer Kreuzung aber ist die Vierung. Die Vierung ist wie eine innerste Sinneszelle. Sie ist wie Atem und Hunger zugleich; und während der Lauf der Bogen gleichsam fruchtbar wird und unter ihm die Kapitelle sich aufblättern — hier sind auch schon die Formen der späteren Vollendung —, bleibt der Sinn der Vierung, als ob der Himmel mit Sicheln über der Erde stehe. Hier ist die ewige Bewegtheit in ihr eigenes Geviert gebracht; das Gesetz, nicht mehr weiter vollendbar, zeigt um so mehr, daß es nicht mehr Absicht, sondern, in sich selber aufgehalten, eine ewige Einkunft ist. Nun scheint das Raumwesen in den Bogenreihen melodisch herabgesenkt, und die Reihe der Engel, schlankste Gestalten am Hochgewände im Südschiff zwischen den Jochen, sind wie ein Gürtel zu der jungen und reichen Melodie des Raumsinnes. Das Gefühl kommt nicht von den Enden der Welt, sondern aus der nächsten Umgürtung.

Die bildervolle Stadt

Überall klingt die alte Schönheit in der bilderreichen Stadt — die statt des von Karl dem Großen zuerst bestimmten Elze von seinem Sohn Ludwig seit 822 zum Bischofsitz für Ostfalen gemacht wurde — noch weiter. Es ist da noch die so breite wie strenge romanische Schönheit der Godehardikirche, die an Bernwards bayrischen Nachfolger, den aus Niederaltaich gekommenen Bischof Godehard, erinnert und die allein wieder als ein geistiges Maßwerk nachzuzeichnen wäre. Ihre Kapitelle im besonderen haben eine brechende Fülle von Gewicht und Gesicht. Als Wahrzeichen sei auch die Andreaskirche mit ihrer starken Turmwirkung nicht vergessen. Aber der Kreis ist noch lange nicht geschlossen. Und zu den frühen Dingen kommt außerdem noch die Fülle von mehreren Hunderten der alten Hildesheimer Fachwerkhäuser, welche das innere Gesicht der Stadt vollständig bestimmen. Nur genannt muß sein das Knochenhaueramtshaus, das mit dem berühmten Templerhaus und dem gotischen Rathaus am Altenstädter Markt steht, das Kaiserhaus und immer wieder andere große und kleine Häuser aus Gotik und Renaissance. Die Geschosse sind oft über den Grundstock vorgezogen gleich Schubladen und scheinen eine in Hildesheim aufgespeicherte Ernte der Geschichte so anschaulich zu machen.

Man geht unter den Bewohnern von Hildesheim dahin. Ihre Redeweise fällt dem süddeutschen Ohre auf durch die starke »st«-Sprache. Die Gesichter sind übrigens, wie auch die Gestalten und ihre Gebärden, von den westlicheren Westfalen schon ziemlich verschieden; sie scheinen beweglicher und von einer mehr persönlichen als stammlichen Eigenwilligkeit. Charakteristisch ist, was unser lieber Begleiter, der sauerländische Bildhauer, sagte. Er nannte ein Kirchenlied, welches von der Bitte gegen Not und Hunger handelt, und er meinte, dieses Lied würde von den Westfalen seiner Art gesungen wie ein Soldatenlied, von den Hildesheimern aber wie ein Wiegenlied.

[Hildesheim, sog. Judengasse]

[Hildesheim, Ratsbauhof]