nach_oben
Konrad Weiß: Deutschlands Morgenspiegel (Teil 1.3)

III
Die Richtung zur Ostsee

Der nationale Wuchs

Der Löwe von Braunschweig

Im Herzen der alten Welfenstadt

Einmal noch, zum letzten Male und aus bewußter Kraft, war im hohen Mittelalter ein deutscher Kaiser der Weltherrschaft nahe. Ein letzter Kampf jenseits der Alpen versprach das adlergleiche Ziel zu bringen, nach welchem dann alle Lande dem einen kaiserlichen Blick zugehören sollten. Aber da lag vom Norden herab und von Sachsen bis ebenfalls über die Alpen eine andere Gewalt wie ein Riegel im Reiche, und das Ziel — das an sich unmögliche — wurde nicht errungen. Daraus entsprang ein großer Entscheidungskampf des Staufers, des Kaisers Friedrich Barbarossa, gegen den Welfen Heinrich den Löwen, den Herzog von Bayern und Sachsen. Der Löwe wurde überwunden, die große Herzogsgewalt zerschlagen.

Welf — Waibling

Als ein verbitterter greiser Recke saß Heinrich der Löwe am Ende seines langen Kampflebens in Braunschweig, seiner Residenzstadt, die gleichsam der Griff des Riegels gewesen war. Die treue Stadt war ein abgebrochener Riegel in der Hand des alten Sachsenherzogs geworden. Sein Geschlecht blühte wieder auf, aber er selber, der Widerständer von drei Stauferherrschern, des Königs Konrad III., dann des großen Gegners Barbarossa, welcher 1190 fern der Heimat im Saleph ertrunken war, und zuletzt noch des düster-mächtigen jugendlichen Kaisers Heinrich VI., war gedemütigt und gebrochen. Seine Waffen hatte er in seinen Dom gehängt, der bei seiner Burg war, und er starb beinahe einsam. Es war der 6. August 1195, ein Sonntag; und er wurde begraben in der Gruft, die er in seinem Dome vorbereitet hatte. Dort wollte er ruhen an der Seite seiner ihm vorausgegangenen Gemahlin, der edlen englischen Königstochter Mathilde. Vor seiner Burg in Braunschweig aber steht auf hohem Steine die Gestalt eines ehernen Löwen und zeigt das Gebiß den Feinden. Mitten in seiner Herrscherzeit hat der Herzog das Bildwerk errichtet; es ist kein Werk der Versöhnung, sondern der Selbstbehauptung. Heute noch ist es ein Bild der steten Wacht und eines Sinnes ohne Wanken. Wie merkwürdig aber ist es, daß der Schlachtruf aus Schwaben »Hie Welf — hie Waibling!« zu einem blutigen Parteiruf der Geschlechter in Italien, zu einem Schicksalsruf in der deutschen Geschichte und zu einem Gegensatz voll schweren Sinnes überhaupt im Willen zur Welt geworden und gewissermaßen geblieben ist.

[Braunschweig, Alte Reichsstraße]

Zum nächtlichen Braunschweig

Es war Nacht geworden, bis wir auf langer Fahrt, in deren Nachmittag immerfort von Osten das Harzgebirge blau geschimmert hatte, nach Braunschweig gekommen waren. Das weite Land schien vor den schauenden Augen ins Dunkle hinwegzuschlafen; Umleitungen hatten das ihrige getan, um das Gefühl des Ortes und der Zeit unwesentlich zu machen; und nur das gleiche und sichere Fahren des Wagens war noch ein Stück Gegenwart. So erreichte man das nächtliche Ziel, indem Natur und Umgegend wegblieb; und als man nun gleich mehrmals umkreisend durch die alte Stadt fuhr, schien in ihren schönsten Teilen nur noch das geschichtliche Leben dazustehen und zu wachen.

Die buntfarbigen Fachwerke, die den Eindruck von Märchen alter Zeit in die Nacht bringen, ist man beim Reisen in altsächsischen Landen schon gewohnt. Aber mehr noch als anderwärts schienen hier gotische Steinwerke an den Straßen zu stehen, die mit ihren von Lichtern angestreiften, offenen und zu Zacken und Winkeln hinaufsteigenden Baugliedern leise strahlten. Immer wieder kamen solche im Lichte verdeutlichten Regelbauten der Gotik sichtbar an die Seite des Wagens. Oder, daß sie schließlich so stark das erste nächtliche Stadtbild beherrschten, kam wohl auch daher, daß wir wiederholt und unwissend an den gleichen Werken vorbeifuhren. Aber man kann da plötzlich und sonderbar den Wunsch haben, nichts von Gotik zu wissen, um ganz als ein geistig Fremder mit der Vermutung und Vorstellung zu arbeiten und zu erraten, was diese Formen für einen Sinn haben, die mit ihren Streben und Fialen, mit ihrer zackenhaften Reihung von Giebeln und mit ihren Bogen zwischen Kanten aus der Nacht treten und doch in ihr verschwiegen bleiben. Es kann scheinen, als ob hier große Steinkronen auf die Erde gesetzt seien; die steinernen Kronreifen scheinen nahe, während man beim Verfolgen der weiteren Formbilder in den dunklen Himmel gerät, der über der Stadt ist. Das gewaltige Haupt einer gewaltigen Sage scheint hier seine Krone niedergelegt zu haben, und der Himmel gibt seine dunkle Sprache dazu. Wohl sieht man am anderen Tage, daß diese Werke sich in der Reihe der Kirchen und nicht zuletzt in der gotisch mit Giebeln und Lauben gereihten Schönheit des Altstadtrathauses ohne Träumereien wiederfinden. Aber das Mittelalter ist doch oft selbst wie der große Traum einer Sage, und zwar gerade, je stärker es in seiner geschichtlichen Wirklichkeit ist. Die stärkste Wirklichkeit aber und ihre gedrängte Stille hat in Braunschweig nicht diese mehr bürgerliche Gotik, sondern jener Raum, der etwas erhöht gelegen ist, mit den romanisch angelegten Bauten der Stiftskirche und der Burg Heinrichs des Löwen.

Die Stadt des Herzogs

Zunächst aber wollen wir uns am schönen Morgen nicht zu dieser erhabenen Bau- und Grabstätte deutscher Geschichte beeilen. Wir wollen uns durch die Stadt ergehen, etwa zur Bäckerklint kommen, wo plötzlich an einer zierlichen Hausecke zu lesen steht: »buk Affen und Eulen statt Semmel und Kuchen« und wo wir also im Eulenspiegelbereich sind. Aber indem wir uns eines Verhältnisses von Heiterkeit und Sinnführung bewußt werden, wie es auch in die alten Kunstdinge hineingewirkt hat, gedenken wir zugleich Wilhelm Raabes als eines braunschweigischen Landeskindes und des Humors, der innerhalb einer reichen geschichtlichen Grundstimmung erwachsen kann, wie dies im deutschen Sinne angelegt ist. Grundstimmung zum Humor, das ist wohl im Umschlag des Sinnes gegenüber der bloßen gerechten Selbstbehauptung ein »glückliches«, bald lustiges und bald leise schmerzliches »Versagen« vor dem Zwang der Ordnung, in welcher das Volkswesen zu vertrocknen scheint. Es gehört jedenfalls Volksgefühl zum Humor, und eine spätgotische Grundstimmung mit allzu engem »Behaustsein« scheint ihm günstig. Der Humor ist darin eine schwankendste und doch sicherste Selbstgewißheit mit der fröhlichen Träne auch im kleinen, welche im deutschen Sinne nicht untergeht. Unerreichbar jedoch für solche Stimmungen ist die reckenhafte Tragik im Leben Heinrichs des Löwen, die noch etwas von der unwendbaren Frühe hat und zur blinden Starrheit werden konnte gegenüber der durch Wendigkeit blitzenden Macht des staufischen Geistes. Und dieser wiederum, wie eine spiegelnde größere Welt, mußte sich an der genaueren und zweckhafteren Wirklichkeit verzehren; und so stand schließlich das staufische Schicksal über allem Rechte oder Umschlag des Sinnes unter einer Träne des Himmels selber.

Die wirklicheren Früchte, im engeren Raum der Geschichte, durften dem Löwen beschieden sein, und während die Pfalzen und Burgen der Staufer in Deutschland und in Unteritalien wie trümmerhafte Kronen in der Zeit liegen, hat dieses andere süddeutsche Geschlecht der Welfen vor allem durch ihn seine Macht im Norden und in dem neuen nationalen Zuwachse Deutschlands »behaust« und verankert. Er hat die Geschichte wie eine politische Kunst in einem Sinne verstanden, so wie Mauern immer schöner an sich werden, je stärker sie einem Angriff trotzen. Heinrich der Löwe, der seine Stadt Braunschweig zu seinem stetigen Schutze steinern gegürtet hat, ist auch der große geschichtliche Städtebauer geworden mit München und Lübeck. Er hat die nähere Landschaft gezwungen, seine Partei zu ergreifen.

[Braunschweig, St. Andreas]

Er hat auch die verschiedenen Weichbilder verbunden und vermehrt, aus welchen sich das alte Stadtganze von Braunschweig zusammensetzt, das von der Oker als einer Stammesgrenze der Sachsen gegen den altthüringischen Osten durchstossen ist. Indem man durch die Stadt geht und die alten Kirchen findet, lernt man zugleich die Namen dieser alten Weichbilder kennen, die Altstadt, die Neustadt, die alte Wiek, den Sack und den Hagen, dessen Gegend Heinrich noch beizog, entsumpfen ließ und besiedelte. Der Hauptort ist aber das Gelände der uralten Burg Dankwarderode, die in früheren Zeiten schon eine Furt über den Fluß zu beschirmen hatte. Man muß hier also besonders erfassen, wie ein mittelalterliches Stadtbild wuchs, dessen Teile vor dem Ganzen waren und auch Mauern gegeneinander hatten, um immer wieder im eigenen Schutze zu stehen. Dann sieht man im einzelnen das schöne Gewandhaus der Tuchhändlergilde mit den gotisierenden und Renaissance-Gewänden seiner prachtvollen Schauseiten. Man kommt auf den Markt, wo das Volksleben sich abspielt im Angesicht des alten herrlichen Rathauses, an welchem kirchliche Formen der Gotik durch die Ausladung in einen großen Winkel von zwei Flügelbauten und durch die zahlenhafte Fortreihung von Laubenbögen, von Giebeln und Maßwerken sich in die schönste und volkshafteste Profanarchitektur ausrichten. Zur Seite hinter dem Markte steht die hohe schöne Martinikirche mit ihren figürlichen Zyklen, die an den hohen Quergiebeln eine seltene Stattlichkeit zeigen und über den Portalen rührende Züge mittelalterlicher Frömmigkeit verraten. Auch in anderen Kirchen der alten Weichbilder scheint uns das alte kirchliche Wesen hier noch mit einer besonderen, rührenden Wirklichkeit anzusprechen.

Braunschweigs Ruhm sind dann vor allem auch seine alten Fachwerkbauten, die in die Geschichte des alten deutschen Wohnbaues gehören. Allgemein auffallen mag daran eine Art des Reinlichen, das heißt eine Reinheit des Bausinnes, welche sich, obzwar ein Haus dem andern ähnlich ist, doch immer wieder eigenförmig und wie ein eigener Hausname äußert. Die Trennungslinie vom Erdgeschoß zum ersten Stockwerk oder den wenigen oberen und vorkragenden Aufstockungen gibt den entscheidenden Zug. Sie bringt eine geschlechterhafte Gemeinsamkeit; sie gibt das gleiche bürgerliche Volksgefühl. Auch hat das Haus dadurch eine horizontale Zweiteilung, welche für den Blick das Gewicht aufhebt und einen aufwachsenden Sinn erkennen läßt, der doch auf der Erde ist und der sich verliert, wenn in der neueren Zeit sich das Baugewicht nach unten legt und durch die Portale betont wird. Das ist es wohl unerkannt oder unausgesprochen, was unserem Gefühl so wohltun will, wenn wir eine echte alte Stadt betrachten. Diese alten Häuser sind nicht plastische Raumwerke, aus dem Stein entsprungen, sondern werkhafte Lebensbilder. Und so wohnten die Leute einst und noch in Bildern, die ein gewachsener Lebensraum über ihnen waren, und sie konnten ihre Häuser auch noch außerdem farbig mit Bildern zieren.

Der Dom des Löwen

Uns aber drängte es nun zu den älteren und schwereren Formen. Wer die Geschichte Braunschweigs und im besonderen dann die Geschichte Heinrichs des Löwen liest, gerät in den mächtigen Schlag eines mittelalterlichen Herzens. Man hat oft die Herzen der Fürsten aus ihren Leichnamen herausgenommen und zur besonderen Ehrung aufbewahrt. Hier sind die Räume des Mannes und sein Herz beisammen. Hier ist eine Burg, deren Formen auch in der Erneuerung noch etwas von der romanischen Schwere ahnen lassen. Und hier ist ein großer Dom, der mit der gleichen Wucht auf die Erde drückt, wie er mit Chor, mit gekreuztem Langhaus und mit dem steilen zweigetürmten Westbau hoch darüber aufsteigt. Es ist ein Bau und ein Raum, der wie mit schweren Gewichten seine innere Erhöhung wieder in sich zurückholt; so als ob ein Herz um Atem ringen wollte, um dann wieder fest in sich selber auszuharren. In diesem Dome, Sankt Blasius genannt, liegt in der Gruft vor dem Chore, mit den Füßen gegen diesen gerichtet, an der Seite seiner Gemahlin Mathilde, der Herzog Heinrich der Löwe. Es ist ein Ort der Schwere, an welchen der Herzog sein kämpferisches Herz zurückgeholt hat und an welchem er auch seinen Leichnam bestattet haben wollte. Der mächtigste Herzog seiner Zeit, der auch ein reicher Pilger nach Palästina und dann ein besiegter Verbannter aus den deutschen Grenzen gewesen war, hatte in seinen letzten Jahren Mühe gehabt, diesen Ort als seinen engsten Besitz zu behaupten. Demütigungen und Sorge wendete er darauf, an diesem Flecke seiner Herrschaft, an welchem das löwenhafte Herz sich verankert hatte, zu bleiben.

[Der Braunschweiger Löwe ]

Der Löwe

Draußen aber auf dem Raume vor der Burg und zur Seite der Kirche steht auf dem hohen Sockel der Löwe. Er ist gleichsam das eiserne Herz des Herzogs; er steht gegen seine Feinde im Lande. Die Empörung war im Gange, welche die sächsischen Fürsten und Bischöfe, mit ihnen der alte Gegner, der Askanier Albrecht der Bär, der sonst nicht geringere Verdienste als Heinrich der Löwe im deutschen Kampfe gegen die Slawen sein eigen nennen konnte, gegen den übermächtigen Herzog vorbereiteten. Da ließ er als Zeichen seines Trotzes 1166 den Löwen in seinem Burghofe aufrichten. Man steht davor und schaut hinauf und kann sich kaum von dieser Figur einer geformten Gewalt trennen. Selten wird man ein Tier sehen, das im Nachbild zugleich so sehr Natur und so sehr Geschichte, so sehr äußere Gestalt und so sehr reines Sinnbild ist wie dieser Löwe. Das ist kein Löwe mehr, der bloß aus Naturnachahmung gebildet, durch äußere Vervollkommnung und die Gebärdung mühsam zu einer geistigen oder geschichtlichen Bedeutung umgesetzt ist. Man sieht die Flocken der Mähne und die aus dem Ohre fallenden Haare; sie scheinen willkürlich, aber sie zeigen, je länger man sie betrachtet, eine immer heftigere Regel. Man sieht den schweren und gespannten Abfall der Linien über die Hinterbeine zu den Krallen. Die Vordertatzen sind gestemmt wie unter einem Gefäß, das aber, indem sich die Gewichte hier in der Brust zu sammeln scheinen, eine wogende Kraft hat. Die Ohren, die Nase, der Rachen sind so kurz und gedrungen, daß die Augen wie Lichter herausbrechen. Außerdem sind die Linien des Kinnes und Maules von einer Genauigkeit, welche ebensoviel Umriß bedeutet wie einen eigenen Schriftzug von unerbittlicher Sicherheit.

Dies ist überhaupt als Formsinn wichtig, und dazu gehört als erster und letzter Ausdruck auch die ganze schöne und mächtige Gratlinie an den Flanken. Das ist keine Naturlinie mehr und keine bloße stilisierende Technik. Diese Längslinie ist wie eine Trennung für das Gesicht des Anschauenden. Sie hat eine erklusive Kraft, sie bannt das Leben und macht es bildhaft, indem sie äußerliches Leben ausschließt. Und das ist ja ein Stück des mittelalterlichen Formwesens überhaupt. Es bildet nicht äußere lebende Linien nach, sondern es schafft darüber hinaus tote Linien, welche noch lebendiger sind als das Leben. Sie greifen aus dem Gegenstand fort in die Geschichte der Zeit und in die Regung des Herzens.

Das welfische Grabmal

Die Gestalten des Herzogs und der Herzogin auf der Grabplatte im Dom, die in die frühe Gotik übergehen, sind durch ihre ungemeine figürliche Schönheit bekannteste deutsche Kunstgüter. Die beiden nebeneinander ruhenden Gestalten sind Ideale ihrer Zeitformen. Alle reiche und fließende Gewandung, in der sie ruhen, ist so, wie wenn sie nicht Schmuck, sondern Sinnfaltung wäre. Wesentlich ist auch hier, daß alle Gestaltung noch viel mehr dem Gesicht des Beschauers entgegengebracht ist, als daß sie als Zurichtung für die Körper erscheint. Ja, es ist wieder diese Zweiheit des Eindrucks, welcher, indem er eine vornehme, schlanke und reiche Vollendung des Geschaffenen dem Anblick zuführt, noch mehr eine Kraft der Inwendigkeit gleichsam aus dem Anschauenden selber zu seinem Werke einzuholen weiß. Es ist auch die lieblichste und zugleich sinnreich mächtigste Schnürung von Körpern, die man sich denken kann und die eben zu diesem Eindrucke dient. Um so mehr bringen auch die Arme und Gelenke wieder ein Vorgebot tätigster Wesenheit, und das Schwert in der Hand des Herzogs ist auch eben dadurch mehr als ein bloßes Attribut; es ist ein Stück der gleichen Lebenswürdigkeit. Und so wie die Gewänder von den Händen gehalten sind, scheint vom gewesenen Leben eine geheimere Schönheit der Geschichte übrig geblieben. Der Herzog hat auf der Hand das Modell des Blasiusdomes, wie er den Ausbau auf der Grundlage des von den Brunonen her behaltenen Chorfundaments gestaltete. Von den Abänderungen geben heute die Seitenschiffe, gotisch, hallenartig, mit gedrehten Säulen, einen mitbestimmenden Charakter. Ein romanischer Altar und ein großer siebenarmiger Leuchter soll von vielem noch genannt sein. Der Herzog hatte Kostbarkeiten von Kleinasien mitgebracht und war unermüdlich, seinen Dom mit edlem Werke auszustatten.

In der Welfengruft wurde 1189 die Herzogin Mathilde noch jung an Jahren beigesetzt, nach sechs Jahren folgte ihr der fünfundsechzigjährige Herzog. Nach der Überlieferung sollte das Grab auch den Sarg des Kindes Lothar aus seiner ersten Ehe mit Klementia von Zähringen enthalten, von der sich Heinrich schied, da sie keinen Erben mehr brachte. Durch spätere Änderungen war das Grab verschüttet und der Inhalt ganz ungewiß geworden. Nun wurde im Jahre 1935 das Grab wieder geöffnet und eingehend untersucht, wobei man die Bestätigung der Überlieferung fand. Ein Steinsarg enthielt die Reste des Welfenherzogs; während die Reste der Herzogin ohne den längst verfallenen Holzsarg, in dem sie bestattet worden war, in einem Ledermantel ausgegraben wurden. Auch der Kindersarg aus Stein fand sich. Man konnte sogar noch die Merkmale der Gestalten feststellen. Die Herzogin war demnach eine große Erscheinung mit starkem Blondhaar. Der Herzog war mittelgroß, feingliederig und dunkelhaarig. Auch die Verletzung der linken Hüfte und den Bruch des Oberschenkels konnte man erkennen, von dem Unfall, den Heinrich auf dem winterlichen Ritt durch den Harz nach Tilleda 1194 noch erlitten hatte, als er zu seiner Rechtfertigung vor Kaiser Heinrich VI. erscheinen sollte. Das Grabmal ist mit diesen Feststellungen dem Gedächtnis der Deutschen noch wertvoller geworden.

[Grabmal Heinrichs des Löwen und seiner Gemahlin Mathilde im Braunschweiger Dom]

Das Imerward-Kreuz

Noch muß auch mit Worten des Kruzifixes des Meisters Imerward gedacht werden, obgleich es, das vielleicht noch auf Heinrichs des Löwen Zeit zurückgeht, ein Werk so sehr fürs Auge ist, daß es dem auslobenden Worte entgeht. Was wäre aber auch an einem Werke zu loben, das mit einer mechanischen Anwendung der Symmetrie der Kreuzbalken zu wirken und den mit langem Leibrock bekleideten und darauf befestigten Körper noch mit dem gegensätzlichen, verfließenden Rhythmus von Wellenlinien dieses Gewandes zu unterdrücken und alles zu einem so starren wie wesenlosen Schaustück zu machen scheint. Arme und Beine ragen in starrer Kürze heraus, und der Kopf ist hochgezogen und vornübergebogen, außerdem mit Flechtungen der Haare geschmückt, die ihn sonderbar willenlos machen. Achsen und Wellenlinien, Starre und Wesenlosigkeit sind Extreme, welche eine leibhafte Gewesenheit zu vernichten scheinen. Aber der Kopf, wie im Schrecken über sich selbst Herr geworden, hat so strenge Züge, die sich doch selber ins Weite entlassen, daß sie fast feierlich scheinen. Ist kein lebender Körper mehr da? Nein, sein Raum ist umgesetzt, und nun ist das Wesen eines aufgerichteten Körpers um so mehr da. Und während man diesem leiblichen Wesen nachfühlt und findet, es sei wie ein liegender Fluß auf der Erde, hilft es doch dem geistigen Wesen zu einer Aufgerichtetheit, die wie die klagende und doch sichere Gerechtigkeit in der Welt ist. Antike Figuren haben ihre Aufrichtung von dem Bedürfnis nach dem Lebenssinne her. Sie sind aber nie in dieser geschichtlichen Aufrichtung, welche wie eine Gerechtigkeit und stärker als das Leben ist. Das Gesicht ist gleichsam der Gefangene seines eigenen großen Sinnes. Es scheint aus sich selbst herauszufallen, um noch ein größeres Gesicht zu sein. Es ist mit den ausgeflächten Augen, der vortreibenden Nase und dem wie ein großer Vogelschnabel fast schrecklichen Munde bis ins Äußerste gebracht und scheint sich mit dem Vorhängen des Kopfes über dem Halse selber zu behorchen. Aber dieser ganze horchende Überhang, der sich selber soviel in jeden gegenkommenden Blick hineinbietet, hat eine große Macht der Hingabe und Herrschaft. Das Gesicht ist wie ein Filter, in welchem nur die größten, die wahrhaftesten Züge der Wirklichkeit sich fangen. Die Starre der Hände und Füße, der Ausdruck der Willenlosigkeit ist zugleich der Ausdruck einer ausgemessenen und in ihrem Maße unausweichlichen Herrschaft. Das Verzichten auf Gelenke macht alles zu einem fließenden Gelenk in großen Möglichkeiten um feste und starre Regeln. Alles Rückende und Bewegte geht um ein unrückbares Geschick. Man kann auf klassizistische Weise denken, daß Kruzifixe eigentlich keine Kunstformen seien. Aber dieses äußerste Beispiel zeigt, worum es sich hier handelt. Es geht hier um ein Holz, um Hölzer, die zu Urkunden werden; es geht um ein Ereignis, das durch sich selber mächtig geworden ist. Es geht nicht um den Menschen, sondern um das Urteil, dessen Maße er gerechterweise ausfüllt. Dies ist das Äußerste von geschichtlichem Sinn der Kunst. Es handelt sich um die eigene Mächtigkeit des löwenhaft sich selbst überbietenden Sinnes.

[Der Imerward Kruzifixus im Dom zu Braunschweig]

Auf einer alten Heerstraße

Königslutter und Helmstedt

Was wären Reisen ohne die Denkmäler der Geschichte? Ihr Dasein macht schon eine kurze Spanne Weges, und selbst wenn man den Fuß nur flüchtig an einen Ort von altem Gepräge setzen konnte, zu einem Erlebnis von Sinn- und Zeitmaßen, welche die Vergangenheit, durch die wir in der hellen Landschaft der Gegenwart wandern, in zeichenhaften Abschnitten festlegen. Die Pläne alter Geister hüten noch den Grund und die Wege der Gegenwart. Vor allem ist das Mittelalter nicht nur Kunstwerk, sondern fast noch mehr Geschichtswerk. Es hat Wegzeichen und Ortsstellen in die deutschen Lande gelegt, die nicht nur zeitliche Datierung, sondern auch die Schlüsselkraft geschichtlicher Rechnungen bedeuten.

In der Richtung vom Westen nach dem Osten ist der deutsche Norden reich und, was der Anschauung noch förderlicher ist, ohne spätere Änderungen im Stile deutlich an großen Denkzeichen der alten Zeiten. Da geht die entscheidende Wegrichtung vom Rhein durch das alte Sachsenland nach der Elbe. Auf der Straße von Köln nach Magdeburg sind Handel und Heere gezogen und seit der karolingischen Zeit haben sich in dieser Zugrichtung die alten Orte verankert. Orte der Baukunst werden wie Zeitschritte im Geiste. Von den alten heidnischen Steinsetzungen, welche die angemessene Schwere eines Ortsgefühls bedeuten, wendet sich ein wacher Begriff zu Bau und Richtung. Und je stärker nun ein Ort seinen Bau empfängt, desto mehr weist dieser Stempel zu neuen Zielen. Man fühlt diesen Begriff einer mit dem Volksgeiste wandernden Kraft. Die Orte treten in die Geschichte mit den Takten von Anhalten und Fortschreiten, von Geist und Blut, und die Wege, auf denen die Kaiser und ihre starken Lehensträger gereist sind, zeichnen in das Volksganze geschichtliche Linien. Und so greift der Schritt der romanischen Bauten noch bis über die Elbe und führt noch den Beginn des neuen nationalen Wuchses in der Ostrichtung, bis hier eine neue, von der Gotik gezeichnete Periode ihn weiterträgt.

Nordseite des Harzes

Der Kraftwagen, der dem romantischen Fußwanderer die großen Straßen verleidet, hat dafür die schöne Möglichkeit des schnellen Wechsels gebracht. Ort um Ort reiht sich zu einem raschen Gedächtnis, und die Portale zu den Raumgrößen der alten Kirchen tun sich dem vergleichenden Auge nacheinander auf. Wohl muß man bei der eilenden Zeit auf vieles verzichten, vieles vor allem, wo, wie an den Flanken des Harzes, die Geschichte ihre alten Orte gehäuft hat. Aber allein schon zu wissen, daß abseits der großen Richtung, wo wir fahren, die alten Ortsnamen sind, vielfach Klöster, die noch in einer verehrenden oder bildenden Umformung oder mit wirtschaftlichem Zwecke als Landgüter erhalten blieben oder auch als Ruinen ihre Stätte bezeichnen, gibt dem Gefühl einen Zutrag tätiger Geschichte.

Wir sind auf der großen Heerstraße an der nördlichen Seite des Harzes im Lande, und der Lauf geht nach Osten. Unser Wagen lief von Braunschweig weg, und alsbald, als der Wegweiser links ab nach Riddagshausen zeigte, mußte uns der Entschluß schwer werden, nicht das alte Kloster aufzusuchen, welches Zeiten kräftiger Wechselwirkung mit Braunschweig hatte und wo der zur Gotik übergehende romanische Bau eine starke Geschlossenheit und einen reichen Raum des Chores in Aussicht stellte. Aber wir fuhren weiter, die Windmühlen schlugen mit ihren Flügeln Kreise im sonnigen Winde, und die Gegend war von ruhiger Gelassenheit, angelehnt gegen das südlichere Gebirge.

Da tauchte mit dem Nahen einer kleinen Stadt aus großen Bäumen das Baubild von drei gedrungenen Turmhelmen auf und unter ihrem Dreitakt der massige, in starken Winkeln kreuzförmig gefügte und mit hohem Westchor abgeschlossene Steinkörper einer äußerst stattlichen romanischen Kirche. Wie der sächsische Westbau zu seiner steilen Quere hochsteigt und wie er mit dem östlichen Querschiff das niedrigere dreischiffige Langhaus einriegelt, während der Chor wuchtig nach Osten kreist, das wirkt gleichzeitig geistig befestigt und in den Stufungen der Mauern und Dächer zu den Helmen doch wie offene Kräfte; und es wies auf ein in große Schritte gesetztes und hochgemutes Innere. Dieser Bau von mächtigen und klaren Maßen ist der Kaiserdom zu Königslutter. Der Gründer aber ist der Kaiser Lothar III.

Wir sind im zwölften Jahrhundert; das junge staufische Geschlecht strebt schon aus seinen kleinen Anfängen in Schwaben und Franken kühn zur Höhe. Die Welfen, ebenfalls aus dem Süden, aus Schwaben und Bayern kommend, aber ein viel älteres und im Besitze befestigtes Geschlecht, bringen ihr Gewicht in die andere Seite der deutschen Waage. Die Kräfte spielen schon miteinander, die später unter Barbarossa und Heinrich dem Löwen den endgültigen Ausschlag versuchen. Da gab es noch einmal einen Aufenthalt und eine Wartezeit durch Lothar von Supplinburg, der als König und Kaiser, von der Treue der Sachsen getragen, eine glückliche Herrschaft auch über den widerstrebenden Stauferkönig Konrad entfaltete und der den nationalen Wuchs des Reiches nach dem Osten gleich den Ottonen als Ziel hatte. Es waren bewegte Kampfzeiten gewesen, in welche Lothar wieder eine Spanne der Ordnung gebracht hatte, der, durch seine Gemahlin Richenza auch mit dem Erbe des Grafen von Nordheim aufgestiegen, von 1125 bis 1137 die Krone trug. Durch ihn stieg auch das Haus der Welfen zu alten Hoffnungen, indem der starke Heinrich der Stolze des Kaisers noch ganz jugendliche Tochter Gertrud zur Gemahlin erhielt und nun auch Herzog von Sachsen wurde. Der aufständische Staufer mußte dem Kaiser Lothar zu Füßen fallen; und im gleichen Jahre 1135 hat Lothar auch den Kaiserdom zu Königslutter gegründet. In diesem seinem Dome wurde Lothar, als er 1137 auf der Rückkehr von Italien zu Breitenwang bei Hohenschwangau starb, begraben.

[Der Dom zu Braunschweig mit dem Standbild des Löwen ]

Das große Erbe, das er seinem welfischen Schwiegersohn Heinrich dem Stolzen hinterließ, brachte diesem jedoch nicht die Krone. Schnell trat der Staufer Konrad III. dazwischen, und der stolze Gegner mußte ihm nach Kämpfen auch die von seiner Schwiegermutter erhaltenen Reichsinsignien ausliefern. Neue Kämpfe vorbereitend, starb dieser Welfe zwei Jahre nach Lothar. Auch er, Heinrich der Stolze, wurde in Königslutter begraben. Sein Sohn, jetzt noch ein Knabe, wurde der spätere große Herzog Heinrich der Löwe. Für den Knaben kämpften seine Großmutter Richenza und seine Mutter Gertrud tapfer und nachhaltig weiter. Da starb auch die Kaiserinwitwe Richenza 1141; und auch sie fand ihre Grabstätte in Königslutter. Die noch junge Mutter Gertrud indes vermählte sich im Zuge der Stauferpolitik nach Österreich und fand dort mit einem frühen Tode fern von der Heimat auch ihr Grab. Und also deckt der Fußboden des Domes von Königslutter unter einem allerdings späteren Grabmal einen Kaiser und eine Kaiserin und einen Welfenherzog.

Dom und Denkmal

Wenn man von der Nordseite her zum Portale kommt, sieht man da unter zwei flankierenden Säulen die Leiber zweier mächtiger Löwen festgebannt, die allerdings neu sind, während man die durch die Abnutzung der Zeit noch schreckhafteren Originale im Inneren findet. Immer wieder erscheinen uns die romanischen Löwen besonders auch in dieser Art als die Herrlichkeit starker Tiergewalten, welche die Geschichte nicht bloß wachsen lassen, sondern wirklich tragen, und auf deren Rücken die Säulen noch stärker das aus dem Augenblick erhobene Gesetz bedeuten. Das Gesetz steht nicht bloß auf der gleichen neutralen Erde, sondern es ist aufgestempelt den Kräften der wirklichen Geschichte. Das Gesetz wirkt um so mächtiger, je mehr es der Bewegung ausgeliefert scheint. Von gesetzhafter Größe ist dann dieses mächtige und freie Dominnere, dessen Gewölbe zwar später und im hohen Mittelschiff erst von 1695 sind, aber dessen Pfeiler mit der Gewalt der Schritte den romanischen Raum tragen und halten, bis er in den Ostteilen mit starken Bogen sich öffnet und umschwingt. Oft und so besonders auch hier überkommt uns das Gefühl, daß der Übergang vom Längsraum zum Chor unvereinbare Gewalten in sich habe, die darum auch den stärksten Atem von Offenheit und Geschlossenheit erregen. Der Dom von Königslutter aber vereinigt den im großen Zwange forthallenden Begriff einer Raumspanne mit der Sinnfälligkeit eines Denkmals. Es ist darin, verglichen mit anderen, mehr forttreibenden Räumen, das Maß einer anhaltenden geistigen Kraft. Ein edler steinerner Horst einer kurzen und doch mächtigen kaiserlichen Spanne ist Königslutter; und so scheint es auch mehr als andere Dome eine Grabkirche geworden. Aber so will der Dom auch merkwürdig sein inmitten der Umschläge in seiner Zeit. Ein herrlicher Kreuzgangflügel, der, durch Mittelsäulen zweischiffig, als ein geistlicher Friedensgang an der Sonnenseite der Kirche hinläuft, bleibt dann noch unvergeßlich. Man blickt von ihm hinaus in den Garten einer Irrenanstalt mit seinem verstörten und doch friedlichen Wesen.

Wir treten aus dem Portale heraus, und eben kommt ein kleiner Brautzug unter der hohen Baumanlage daher. Voraus gehen Kinder mit Blumenkörben, und hinter dem Brautpaare kommen die älteren Paare, die Frauen mit unbedecktem weißen Haar und mit Blumensträußen in den Armen. Man stellt sich vor, wie einfach und ortgewohnt der kleine Zug in dem großen Dome vorschreiten wird.

Darauf wandelt sich die Idylle um den alten Kaiserdom noch ins Heitere, als wir nach Ansichten fragen und zu einem hübschen Mädchen gewiesen werden, welches sich zunächst aber, mit dem schönsten Gefühl des Zuschauens im Gesicht, nicht von dem Ereignisse des Hochzeitszuges trennen will. Dann führt sie uns in den Verkaufsraum ihres kleinen häuslichen Wesens, vor welchem ein Blumenbeet und zur Seite ein kleiner Stall ist. Die Sonne scheint heiß, die Stalltüre ist offen, und auf dem reinlichen Stroh liegt ein rosiges Schweinchen. Es döst und grunzt dabei ein wenig und hat seine gute Ruhe; denn von der Stalldecke hängt die Spirale eines Klebebandes herab und befreit es von den lästigen Fliegen. Ludwig Richter hätte noch lieber als den großen Dom diese kleine Idylle und auch den kleinen Brautzug unter den großen Bäumen gezeichnet.

Dann geht die Reise weiter, und ein Ort, durch den wir kommen, heißt heute Süpplingenburg. Hier war also die Stammburg Lothars von Supplinburg, der das Reich wieder von dieser Landschaft aus befestigte und es über die Elbe hinüber weiterbaute.

[Königslutter, Ostchor der Benediktinerklosterkirche]

Frühes und späteres Helmstedt

Und alsbald kam wieder ein Aufenthalt durch eine kleinere Stadt. Ein altertümlicher Straßenzug, gekrümmt und steigend, mit Fachwerken, alten Zieren der Häuser und auffallenden Gebäuden, die den Eindruck einer ländlichen Residenz geben konnten, zog sich hindurch. Da las man, bevor man das größere Stück hindurch war, an den Scheiben einer Gaststätte das Wort »Universitäts-Café«. Also war dies eine Residenz der Geister, und wir waren in der ehemaligen Universitätsstadt Helmstedt. Wie man aufmerksam gemacht wird, gibt es noch vorzeitliche Steinsetzungen und dann manches geschichtliche Bauwerk in der Gegend. Aber vor allem ist Helmstedt selber ausgestattet mit wesentlichen Kloster- und Geistesmalen, die heute noch als sehr geschlossene Bauanlagen auch bei starker Veränderung bestehen und den ländlichen Charakter, der uns zuerst empfängt, mit dem Geiste frühen Beginnens vertiefen. Man kann den Fuß hier an alte Stätten setzen und mit der Vergangenheit ganz einsam werden, und man kann, indem man um das herumstreift, was von der fröhlicheren Universität der Renaissance nachgeblieben ist, einen barockartig heiteren Ausklang erleben, dessen Uhrzeit friedlich in der Ländlichkeit stehen geblieben ist.

Ein längerer Aufenthalt hätte die Klosterkirche St. Marienberg mit ihrer romanischen Festigkeit betreffen müssen. Aber tiefer in die Erinnerung mußte sich ein auch nur kurzer Besuch der St. Ludgerikirche mit ihren Zubehören, dazu auch dem barocken Klosterhof, in die Erinnerung setzen. Zu diesem führte ein breiter Barockportalbau hinein. Immer wieder sah man an den steinernen Gesimsbändern und Fensterrahmen Inschriften, deren theologischer Gehalt drollig mit der nährenden Wirtschaft der Gebäude im nüchterneren Heute und mit dem breiten bäuerlichen Lande zusammenlief. In der Ludgerikirche indes, die dem katholischen Bekenntnis geblieben ist, und deren früheres Kloster sich zusammen mit der protestantischen Universität leidlich durch die Wechselfälle des Dreißigjährigen Krieges brachte, führte ein anderer Weg. Sie hat noch in etwa die Stimmung ihrer romanischen Entstehung; und als der bretterne Fußboden zwischen den Bänken wie eine Falltüre aufgehoben wurde, sah man auf den ersten romanischen Fußboden hinab mit alten Figuren. Auch hat die Kirche alte Inschriften mit nachdenklichen Fragen über »arm« und »reich«, gleichsam den Keimen einer moralischen Universität. Eine vertrocknete Schrift der Zeiten, aber noch viel mehr der frühe Erdboden spricht zu uns in Helmstedt. Das letztere besonders, weil ein anderer Keim und Kern von Baukunst, außer einer merkwürdig »germanisch« schönen Krypta (das lichthaft jungfräulich »Aufgehellte« eines germanischen Hallensinnes kam erst eigentlich durch die Erinnerung wieder zu Sinn), ganz nahe war. Es ist eine Doppelkapelle, deren Erdgeschoß bei der ersten Christianisierung der Gegend ein schlichtes Obdach bieten mochte, welches dann mit einem romanischen Stockwerk erhöht wurde. So stieg man in Helmstedt zu einem einsamen Fußpunkte der Frühe hinab.

Dann gab es noch den figürlich heiter und prächtig aufgegiebelten und betürmten Renaissancebau der 1575 eingeweihten Universität von Helmstedt anzusehen, das sogenannte Juleum, das auch eine sehr architektonisch kontrastspielige Aula mit Balkendecke und Bogen hat. Die 1809 aufgehobene Universität genoß den Ruf theologischer Toleranz und eines eleganten Lebens. Und wer noch länger in Helmstedt bleiben wollte, der müßte sich vor allem einige Seiten vornehmen, welche Goethe über einen Besuch daselbst aufgeschrieben hat. Behaglich und kritisch nimmt man in diesen Aufzeichnungen an einem zopfigen Ernst und Humor teil, der in jener Spätzeit auch kleinere Stätten der Geschichte noch beglänzte.

[Kreuzgang der Klosterkirche zu Königslutter ]

Windmühle in der Magdeburger Börde

Ein Sonntagnachmittag

Wir sind auf großer Straße in der Landfläche einer weiten Umgebung. Das Land scheint uns, indem der Wagen eilt, immer noch größer nach Osten und Norden vorauszuschreiten in der Richtung gegen die Elbe. Die Sonne ist über die Mittagshöhe hinweg und macht schon den absehbaren Flächenraum weiter und glänzender. Es ist Sonntag, wir sind in der Magdeburger Börde; und so ist Zeit und Ort gegeben.

Das Reich der Felder

Und doch empfinden wir den Ort nur unbestimmt. Er scheint vor allem durch die Unaufhörlichkeit der Acker unmeßbar, zumal diese, nach der Ernte schon vielfach umgepflügt und neu gewalzt, mit ihrer rötlichen Erde und ohne Unkraut eine trockene Reinheit haben. Und daß nun bald die große Flußrinne der Elbe hier durchziehen soll, will dem Sinn nicht auffällig werden, weil keine Grenzen oder Merkmale der kommenden Einschneidung darauf hinweisen. Aber auch die Zeit scheint uns ungewisser durch die sonntägliche Felderruhe, in welcher wir mehr am Glanz der Erdenlichter das Abschwinden der Tagesstunden in den Abend hinein messen als an dem werktäglichen Arbeitsbestand, mit dem uns sonst die Felder wie Werkstunden beschäftigen können. Die Sonne, die, wiewohl schon seitwärts leuchtend, noch in der Höhe steht, ist uns allen eine stumme und glückliche Uhr. Sie gehört zu diesem flachen oder wenig zu Krümmungen sich hebenden Lande der weiten Fruchtbarkeit, das ohne die Hilfe anderer romantischer Schönheiten in der sonntäglichen Stille eine Feierlichkeit entfaltet, von welcher der mächtige Puls deutschen Gefühls in unseren Herzen aufsteigt. Auch die leuchtende Leere, die zwischen Himmel und Landweite ist, führt eine große Sprache, welche durch die Gruppen von Ausflüglern mit Rädern und Kraftfahrzeugen auf der Straße nicht gestört, sondern noch gehoben wird; und die einzelnen Ortschaften, welche manchmal einen Gutshof vermuten lassen oder dann wieder aus Einzelwirtschaften zusammengesetzt erscheinen, sind kräftig und reinlich darin abgeschlossen.

Dies ist in der Tat eine kräftige Landschaft, wiewohl die Blicke darin nur gleich einem freien Atem umgehen und nicht an einzelne kräftige Gegenstände anstoßen, seien diese nun von der Natur da oder als geschichtliche Bauwesen, statt deren außer den Ortschaften schon seit längerer Zeit Industriewerke und die Schornsteine von Zuckerfabriken an den Weg kamen oder am Horizont über den Felderfluchten auftauchten. Daß einmal eine Fahrtrichtung rechtsab nach Staßfurt zeigte, gehört auch noch in den Gesamtbegriff dieser Gegend. Solche einzelnen Werke, solche technischen »Oasen«, die sich manchmal in der Nähe auch durch den Geruch der chemischen Prozesse eindringlich verraten, gehören zu diesem großen Ackerlande, das sie unterbrechen, ohne es im gesamten zu stören. Die Acker scheinen immer größer zu werden, sie sind ganz das Gegenteil einer parzellierten Gegend, sie scheinen manchmal keine Eigentumsgrenzen mehr zu haben, und dies hebt den Eindruck auch über das Kleingefächerte einer engeren bäuerlichen oder sozialen Empfindung hinaus. Die Weite schwingt in Ruhe mächtig und auf diese Weise feierlich; und wenn dies eine nüchterne Landschaft ist und auch eine unhistorische Landschaft, weil Land und Werk ganz und weithin allein sichtbar nur im eigenen Zwecke von Ertrag und Arbeit dienen und herrschen, so ist dies doch gerade auch das Gewand einer alten Geschichte. Denn im weiteren Umkreis liegen nun alsbald Orte, die zum Kampf- und Machtbereich des alten Magdeburg gehört haben. Im lebhaften Mittelalter und in den umstürzenden Krisen der Reformationszeit hatten diese Orte schon ihre alten Rollen gespielt; und das Land trägt auf die Elbestadt zu, in welcher der Fuß ausgesetzt wurde, um in ein späteres vergrößertes Deutschland zu schreiten.

Jedoch wir betrachten das Nahe im Weiten. Wir freuen uns der großen Börde und möchten das Unabsehbare um uns weniger als ein »breites Land« bezeichnen, da uns dazu die vergleichenden Höhengrenzen fehlen, sondern als ein »langes Land«, über welches der Blick nach dem Norden schießt und das sich dann an die linke Seite der langen Elbe anlegt. Die Ackerkrume scheint immer schöner und milder zu werden. Man kommt auf den Gedanken, daß gerade der Acker viel sonntäglicher aussehen kann als eine Wiese. Wiesen sind ländlich, und je nachdem geben sie dem Lande Festlichkeit. Der große Acker aber, der die ungezählte Arbeit der Menschen einschluckt, kann eine Feierlichkeit erlangen, die wie unzähmbarer Hunger des Daseins den Himmel dämpft und dann mit einer irdisch reinen Farbe dagegen leuchtet. So kann uns plötzlich die Schönheit eines Ackers wie eine Ungeahntheit überkommen. Und so war nun immer wieder das ganze Land, durch welches wir eben reisten.

Wahrzeichen der Windmühlen

Wenn man lange auf eine solche windweite und offene Gegend geschaut hat, wird das Gefühl selber so, daß es gleichsam im Winde darüber hinschwebt. In dieses Gefühl rücken die Bilder der Windmühlen ein; ihre Flügel kreisen über der Erde, und die großen Windräder mahlen lautlos in der blauen und leise zügigen Luft. Es sind hier nicht wenige Windmühlen. In der Ferne sind sie wie flüchtige Kreise an einem festen und doch schwerelosen Orte. Dann kommt man näher, das Bild wird deutlich, die hölzernen Mühlhäuser sind über der Erde aufgebockt auf einem Holzwerk von starken Balken, und die großen Flügel an den Seiten schlagen stetig um mit einer leise ungleichen und dadurch um so auffälligeren Kraft. Diese lebendig rückende Kraft in den Flügeln macht, daß man unaufhörlich zuschauen kann. Es ist nicht wie bei einem technischen Antrieb, dessen gleiche Genauigkeit gleichgültig macht; es ist vielmehr wie ein Wille der Luft, welcher unablässig, schwer und zurückhaltend zugleich, durch ein selbständiges Gesetz um sich läuft und der, langsam in den vier Flügeln sich drehend, doch gegen den Herankommenden mit einer schnellen und unberechenbaren Wucht eines jeden Flügels herabschlägt. Wer aus einem Lande ist, wo das Wasser die Bauernmühlen treibt, der hat eine große Lust, einmal eine Windmühle, ein solches Wahrzeichen des norddeutschen Flachlandes, zu besteigen. Und es berührt ihn auch eigentümlich, daß gerade eine stumme Windmühle, die doch gleichsam im Bunde mit den freieren Luftgeistern losgelöst über der Erde steht, ein heimatliches Landgefühl geben kann, das fast stärker ist in seinem weiträumigen Dasein als bei einer Mühle, die am lauschigen Wasserlaufe idyllisch klappert.

Einkehr in der Mühle

Kurz, als plötzlich drei Windmühlen zugleich in geringen Abständen auf leichten Bodenschwellungen jenseits der Straße im Felde standen, wurde die Versuchung zu groß, der Wagen hielt, und ein alter Kumpel, der gerade des Weges kam, gab vollends den Anstoß, die nächste Mühle, deren Besitzer er kannte, zu besuchen. Wir haben oft eine Scheu, aus unserer persönlichen oder beruflichen Begrenztheit herauszutreten; und doch lohnt gerade die natürliche Gemeinschaft mit dem Volke mit einer wackeren Erfahrung oder einer guten Rede mehr als die gewohnten und geistig abgetrennten Stuben. Also gehen wir über das Feld und kommen auf den abgetrennten Rasenplatz, in dessen Mitte die Mühle steht. Wir kommen von Westen her und zuerst auf den Arm eines langen Hebelbalkens zu, der mit seinem Sporn auf der Erde steht und mit dessen Hilfe das ganze hölzerne Haus — es ist nämlich eine sogenannte Bockmühle, welche über der Erde auf einem Untergestell aufsitzt — um sich selbst gedreht und mit der Flügelseite in die Windrichtung gebracht wird. Das Haus ist unter seinem Satteldache zweistöckig, und auf der Ostseite, von uns abgewandt, schlagen die großen Flügel ihr Rad. Was dem Müller am vertrautesten ist, das hebt den Fremden noch mehr in die Neugier, das leise Ächzen der Flügel, das wie ein Ächzen der Luft zum Ohre kommt. Fast mag uns das hohe Haus wie ein Schiff im Winde erscheinen, das sich auf einer Welle bewegt; und auch die steile hölzerne Stiege, die zu einem Vorsprung mit Geländer und Ruhesitz hinaufführt, kann an eine Schiffstreppe erinnern, da sie nicht auf dem Boden festsitzt und also mit dem Haus zu drehen ist. Nun hat auch der Müller, der oben bei dem Eingang sitzt, bemerkt, daß die Neugier der Ankömmlinge noch nicht zufrieden ist, und er läßt uns einfach und freundlich heraufsteigen.

Alsbald haben wir die engen zwei Geschosse gesehen, das untere und das obere, mit dem großen Triebrade, mit den Wellen und den kleineren verschiedenartigen Kammräderm mit den Mahlwerken, mit der Vorrichtung zum Ein- und Ausrücken des Getriebes und auch mit einem Förderlauf, der die Getreidesäcke in das Innere der Mühle heraufziehen kann. Und all dies, was stillstand oder was sich drehte, war von Holz. Dies macht einprägsam, daß hier ein wiewohl mit Neuerungen bedachtes, doch altüberliefertes Gewerbe in den gleichen Formen bodenständig bleibt. Zugehörig dem Element der Luft steht das geflügelte Haus in der Landschaft wie vorzeiten. Es wacht auf in der Kraft des Windes und ruht wieder in der Stille und hat noch etwas von der Art eines Werkzeuges, das mit dem Menschen arbeitet und rastet; und es gleicht nicht der Maschine, welche tot scheint, wenn sie nicht im Lauf ist, und welche immer hungrig sein muß nach der Verzinsung. Auch mag man dieses durch das Untergestell mit seinem »Hausbaum« angesteifte Haus als einen Baum bezeichnen, den man zuzeiten bewohnt und der wie ein richtiger alter Baum lange zum Spiel des Windes in der Gegend steht.

Ein Bauersmann würde solche Vergleiche wohl nicht ausdrücklich machen, was nicht bedeutet, daß er nicht in seinem einfachsten und ältesten Gefühle ähnlich wie Baum und Haus im Lande steht undz in allem den gleichen lebendigen Atem fühlt. Aber was die praktischen Dinge angeht, ist der Landwirt heute sorglich und fortschrittlich. Und so war es denn auch echt, daß der Müller, während wir immer nur die hölzernen Wellen und Speichen und Räder und ihr Zusammengreifen besahen, es darauf anlegte, gerade auf das Gegenteil hinzuweisen, nämlich auf den schwärzlichen eisernen Motor, den er hatte einbauen lassen und der das schöne weiße Mehl auch dann zu mahlen gestattete, wenn es eilte und der Wind stillstand. Der Müller ruhte nicht, bis er uns gezeigt hatte, wie leicht der Motor anlief, und wir mußten es ihm loben, obgleich uns gegenüber dem Motortakte das leise, zitternde Biegen, das in dem ganzen Hause war und das vom Winde kam, mehr zu Sinne ging und unser Herz gleichsam selber in die Mühle nahm. Das Schönste aber war, inmitten des Getriebes zu stehen und gegen eine Öffnung in der Ostwand hinauszublicken, an welcher außen vorbei die großen Windflügel schlugen. Man sah sie nur im Ausschnitt wie kleine, aber mächtige Stücke eines großen Flügelschlags hart und doch schattengleich vorüberfahren. Und dies schien stärker wie eine Uhr im gleichstrebenden Anblick und wie fast rauschend herabfallende Stücke aus der eilenden Zeit.

Dann waren wir wieder unten im Rasenkreis um die Mühle, und der Müller, ein noch jüngerer blonder Mann mit der etwas bleichen Farbe, wie sie die Müller haben, erklärte uns, auf welche Weise mit Hilfe der in der Runde in den Boden getriebenen Pflöcke die Mühle herumgedreht wurde. Jetzt stand sie bei schönem Winde nach Osten und ihre Flügel schlugen gegen Süden. Bei Windstille aber oder während der Nacht, wenn sie oft nur auf wenige Stunden abgestellt ist, wird sie in die Hauptwindrichtung gegen Westen gerichtet. Auch von den Flügeln wurde gesprochen, von denen man solche sieht, die ein leiterartiges Gerüst haben, das mit verschiebbaren Segeln bespannt ist; und dann solche, welche in ihrer Quere mit Holzläden versehen sind, die sich leichter gegen die Windebene öffnen und schließen und also für den stetigen Gang besser einregeln lassen. So war es hier mit unserer Mühle beschaffen. Die Vorrichtungen zum Auffangen und Einregeln von Wind und Windstärke haben besonders Fortschritte gemacht, die man auch den sogenannten Haubenmühlen ansehen kann, bei denen nur der oberste Teil des Mühlenhauses wie ein Kappe drehbar ist. Diese Art Mühlen hat unserem Augenschein nach gegen Norden mehr zugenommen. Hier am Orte konnte uns gerade diese schlichte, altdeutsche, ganz über die Erde gesetzte Windmühle erfreuen, welche übrigens nicht alt war. Der Müller hatte sie erst vor einigen Jahren erbaut, und er sagte auf unsere Frage, daß eine solche Mühle etwa sechs- bis siebentausend Mark koste.

Ein Gespräch im Lande

Zu unserem Gespräch waren inzwischen noch zwei Leute hinzugekommen, ein schwarzhaariger, bartloser, etwas untersetzter Mann eines besinnlichen Schlags, und der Kumpel, der uns zu dem Besuche bestärkt hatte. Dieser war abgerackert, aber lebhaft mit seinem noch blonden Schnauzbart und stach auch dadurch von den Landleuten ab, daß er behender im Gespräch war und die Neugier der Fremden deutlicher zu fühlen wußte. Er erzählte von Schächten und Industriewerken in der Gegend und wies uns einzelne, deren Umrisse hinter dem weiten Lande sich mit Hochbauten und Schloten gegen den Horizont zeichneten. Im Augenblick war noch schwer in Arbeit zu kommen; er sprach aber auch aus, daß er nur da gerne einen Arbeitsplatz nehme, wo ein Gärtchen für ihn dabei sein könne. Während er so ein Stück von der Arbeitsnot erkennen ließ, schlugen die Windmühlenflügel ihren stetigen und, wenn man plötzlich wieder hinausschaute, scheinbar gewachsenen Lauf; und das große drehende Kreuz gab mit sonderbarem Ernst die Stetigkeit und das Glück des Landlebens kund.

Es wurde wieder von dem Lande gesprochen, von den Kalisalzen und chemischen Werken, aber noch mehr vom Ertrage der Äcker, von den Zuckerrüben und den Zwiebeln. Für uns war es neu gewesen, zu sehen, daß es hier ganze Äcker von Zwiebeln gab, welche zum Verkaufe gehören und welche schon teilweise geerntet in gehäuften Mengen auf den langen Beeten lagen. Der Zentner davon sollte fünf Mark gelten. Weiter wurde der Umfang der Bauernwirtschaften genannt, und dabei kam auch der Name des Alten Fritz herein. Eine Einrichtung geht nämlich hier auf ihn zurück, die ein Stück Freiland mit einer beträchtlichen Morgenzahl betrifft. Alle zwölf Jahre findet ein Verlosen dieser »Reithufe« statt, was für den Bauern, auf den das Los auftrifft, immer ein schöner Glücksfall ist, seiner Wirtschaft voranzuhelfen.

Und schließlich sprach man wieder von den Windmühlen, und dabei kam ein Stück wirklichen Lebens zur Erzählung. Eine der Mühlen war abgebrannt, und der Müller mußte jahrelang unschuldig im Gefängnis sitzen, bis der Brandstifter, der Müllerknappe, die Anzeige gegen sich selber machte. »Das Gewissen hat ihm keine Ruhe gelassen«, sagte der eine besinnliche Mann, der sonst weniger gesprochen hatte; und dieses Wort war nun wie ein kleines Stück stiller Religion in der großen offenen Börde. »Ja«, sagten die andern, »und der ist später noch sein Schwiegersohn geworden.« Und also war der Knappe durch des Müllers Tochter wieder ins Rechte gebracht; und so findet sich das Leben wieder selber zurecht.

Silberne Wolkenschäfchen standen höher als die Sonne am Westhimmel, als wir uns wieder auf die Reise machten, und die Flügel der Windmühle drehten sich in unablässiger Ruhe.

[Hl. Mauritius im Magdeburger Dom]

[Magdeburg, Blick in den Domchor]

Magdeburg, die alte Elbestadt

Im Bannkreis Ottos des Großen

Der frühdeutsche Name Magadaburg klingt uns in die Ohren wie ein Kosewort; er bildet uns eine Vorstellung gleich einem Steinkranz um die deutsche Jungfrau, und das mag so recht auch als eine mittelalterliche Vorstellung gelten. Nicht allerdings, daß die Stadt Magdeburg, wie sie heute ist, mit kleiner Romantik zu fassen wäre, die für uns bei alten Städten gerne mitspricht. Man weiß, daß dies auf den großen Handels- und Verkehrsmittelpunkt an der Elbe am wenigsten passen würde. Und nicht nur, daß diese Stadt immer mit dem Gang der Zeit gewachsen ist: sie hat auch jenes Brandmal einer furchtbaren Austilgung im Übergang zur neuen Zeit auszuhalten gehabt, vor welchem alle Romantik fliehen muß, während allerdings die Schauer geschichtlicher Größe über ihr zusammengeschlagen und bis heute in ihr nachgeblieben sind.

Gleichwohl aber ist die Stadt kein bloßes neues Wesen auf der Totenstätte ihres früheren Daseins geworden. Im Gegenteil, zwischen dem mächtigen Dom des Mittelalters und der erhobenen Reiterfigur des Kaisers Otto I. steht noch die hohe Luft der alten Zeit mit einer um so stärkeren Klarheit für den Schauenden, je mehr er die Ausräumung und den Mangel des älteren Lebens im einzelnen spüren muß. Aber, was noch ist, wird fürwahr zu einem einmaligen Erlebnis. Der Sinnende wird, indem er, vor dem Rathaus stehend, zu dem Gesichte des Kaisers Otto hinaufblickt, in die Schwebung einer großen Sprache geraten. Das Gesicht des Kaisers ist so, daß starke Worte daraus zu wehen scheinen. Die Luft treibt über der Stadt zur Elbe, und der Atem des Reiches schwingt mit starkem Drange von Westen nach Osten. Er spielt um die Bedeutung von Magadaburg und um die Gürtung der Macht, welche hier durch Otto eine weitere deutsche Großzeit mit einem beschlosseneren Sinne als mit Karls Aachen begonnen hat.

Fahrt in Magdeburgs Schicksal

Aber das erste, woran man unterwegs nach Magdeburg denkt, ist nicht das Mittelalter, sondern sein Ende. Indem wir aus der Börde das weite Gefühl des Landes mit uns bringen, kommen wir auf der großen Straße über Egeln herwärts. An jenem furchtbaren 10. Mai 1631 hat man Magdeburg, »die Zierde des ganzen Landes, an einem Tage in Feuer und Rauch aufgehen und ihre übriggebliebenen Einwohner mit Weib und Kindern gefangen vor dem Feinde hintreiben gesehen, daß das Geschrei, Weinen und Heulen gar weit ist gehört und die Lohe und Asche von der Stadt bis in Wanzleben, Egeln und weitere Orte durch den Wind verführet worden«. So berichtet der Magdeburger Ratsherr Otto von Guericke von dem selbsterlebten Tage der Zerstörung, bei welchem ihn ein gütiges Geschick bewahrt hat. Und also sind wir auf unserer Straße schon in der Asche der Geschichte und in dem geschichtlichen Odem der Stadt.

Aber die große Stadt beginnt wie andere ihresgleichen mit den besiedelten Rändern; und die sonntägliche Gelassenheit des Tages setzt sich auf der breiten Straße in die innere alte Stadt fort. Allerdings, nun sind die Spuren doch deutlich, nicht in Ruinen der Geschichte, sondern in der barocken und dann neuarchitektonischen Auskleidung, mit welcher die großen Häuser beiderseits die Straße einsäumen, welche seit alters »Der Breite Weg« heißt. Einst war die Stadt auch reich an Hausformen des Fachwerks, gleich den alten Städten, durch welche wir von Westen her kommen. Aber diese alte Bildhaftigkeit des Wohnens hat Magdeburg sehr verlieren müssen. Wir fahren von Süden, wo die schöne Vorstadt Sudenburg seinerzeit gleich in der Belagerung geopfert wurde, nordwärts, so wie die Elbe fließt, durch die breite Straße einer neuen Stadt, welche das alte Magdeburg ist. Die Straße hat auch eine merkwürdige Länge. Sie spaltet noch wie einstens den alten Stadtkörper entzwei und schränkt die eine Hälfte mit den ältesten Teilen gegen die Elbe. Innerhalb dieser Hälfte taucht der Dom zuerst auf; in ihr ist auch das alte erhaltene Liebfrauenkloster, die Johanniskirche und das Rathaus mit dem Otto-Denkmal. Im Norden, wohin wir die Richtung haben, war schon in alter Zeit eine umwehrte Neustadt, welche ebenfalls sofort geopfert werden mußte und dann dennoch den Angreifern Vorteile gab.

Von ihr aus sind denn auch, nachdem Graf Pappenheim nachts schon die Sturmleitern angesetzt hatte, während die Stadt noch an Aufschub dachte, die Truppen Tillys mit ungeahnter Schnelle eingebrochen. Noch sprach im Rate der schwedische Herr von Falckenberg, da blies der Wächter auf St. Johannis zum Sturm; und Guericke berichtet, daß er als Ratsherr nicht länger bei den Unentschlossenen sitzen konnte, sondern selber ging und nachsah. Da sah er schon die Kroaten stürmen nnd plündern und eilte mit dieser Nachricht in das Rathaus zurück. Falckenberg, sich sofort auf das Pferd werfend, sprengte gegen die Neustadt hin, wurde angeschossen und in ein benachbartes Haus getragen, wo er starb und dann mit dem Hause verbrannte. Der Rat hielt sich zunächst noch unschlüssig auf dem Markte, »bis endlich, als die Feinde immer mehr hereingedrungen, ein jeder gesehen, wohin er sein Refugium nehmen und sich aufs beste salvieren mögen.« Guericke hatte sich mit anderen »in Alemanns Haus« begeben und ist mit ihnen dann durch den Kaiserlichen Herrn von Walmerode hinaus nach Schönebeck gerettet worden.

Man liest von diesen Dingen und noch mehr von dem Wüten gegen die Menge der Einwohner, von Brand und Mord in solchem Umfang und solcher Erbärmlichkeit des plötzlichen Schicksals, »daß es mit Worten nicht genugsam kann beschrieben und mit Tränen beweinet werden«. In einigen Stunden war die Stadt so in Glut, daß die Soldateska sich selbst nicht mehr darin aufhalten konnte. Und dann folgt die Furchtbarkeit des Beutemachens, des Aufräumens und der späteren grausigen Bilder, welche auch die Haufen der Umgekommenen in den Wirbeln der Elbe boten, als man sie hineinwarf. Man liest dies in dem ebenso sachlichen wie schweren und verschlungenen Stile Guerickes, der auch zu der großen Klage einen mühevollen Anlauf nimmt; und während man es liest, fängt das Gemüt des deutschen Menschen an zu brüten. Denn welche Umschläge der Geschichte sind dem spät in ihr gewachsenen deutschen Volke mit aller blutenden Eile beschert worden!

Nun kann man aber, während ein schöner Abend herabsinkt und die Reise uns trägt, sich nicht der Versunkenheit widmen. Wir fahren auch in der Stadt noch dahin mit jenem lockeren Gefühl des Daseins, welches das weite Land gibt und der Abend noch verstärkt, der, indem er vor der Nacht Abschied nimmt, an nichts mehr Anteil will und doch froh macht. Dies scheint jetzt zu der Stadt zu passen, die von der Geschichte verlassen wurde und doch durch ihr ganzes Sein in ihr verankert blieb. Wir haben ihr Inneres in der ganzen Länge durchquert und unserem Gefühle Raum gegeben, damit es vielleicht etwas Wesentliches von der Stadt empfinde, noch bevor wir die Denkmaler der alten Kunst und Geschichte in ihr gesehen haben. Nun aber bogen wir um und suchten auf der Guerickestraße wieder zurück, indem wir den Namen lasen, der zu Magdeburgs Gedächtnis als Zeuge gehört. Alsdann waren wir mit der beginnenden Nacht unter den Sonntagsleuten wieder auf dem Breiten Weg, und die Schatten des Himmels fielen gleich den Schatten des Domes auf uns herab.

Ottos des Großen nationale Gründung

Und jetzt sind wir am Morgen in dem alten Teile, der uns die Hauptsache ist, in dem Raume vom Dom zum Markte, in jenem alten Geiste und in der hohen Luft, wovon wir schon gesprochen haben. Aus dem karolingischen Königshof und Handelsplatz am Elbübergang zum Slawenlande — der Name des Ortes wird 805 zum erstenmal genannt — schuf Otto der Große seine geliebte Stadt und gründete hier ein Erzbistum, damit, was die Waffen begannen, auf dem Wege des Wortes weiter wirke. Die Gründung dieses Erzbistums war eine geschichtliche Tat. Ja, Magdeburg wurde durch Otto ein Ort, an dem ein Gedanke des nationalen Wuchses von solcher Größe wie kaum ein anderer in Deutschland gedacht und angesetzt wurde. Als Otto I. das Mauritiuskloster in Magdeburg gründete, nahm er die geschichtlich-mystische Vorstellung von dem Anführer der Thebäischen Legion als dem »Soldaten Christi« auf, welche (wie auch der Übergang der Heiligen Lanze von Burgund auf seinen Vater Heinrich I. in diesen Sinn gehört) die Verbindung des Reiches über die Alpen mit Italien neu befruchtete. Auch seine spätere Heirat mit Adelheid ging in der gleichen Richtung. Aber sein Blick suchte nicht weniger nach dem großen Osten. Aus dem Mauritiuskloster ließ er 962 das Erzbistum Magdeburg mit dem gleichen Schutzpatron hervorgehen. Es war eine geistliche Gründung, aber mit dem stärksten politischen Sinn und mit einem Blick, der »vom ewigen Rom bis zu den Toren Kiews« reichte. »Es ist wirklich so, daß das, was Otto wollte, zu den umfassendsten Plänen gehörte, die je ein deutscher Staatsmann im Osten verfolgt hat. Für die Menschen des heutigen Europa ist es eine kaum faßbare Vorstellung: ein universales christliches Reich mit den Mittelpunkten in Rom, Aachen und Magdeburg. Und noch seltsamer muß es erscheinen, daß Magdeburg für den Kaiser offenbar an erster Stelle stand.« (Brackmann.)

Aber die Folge, und schon der Slawenaufstand von 983 nach Ottos II. Tode, machte Magdeburg wieder zu einer Grenzstadt, bis im 12. Jahrhundert, vor allem durch die Ostpolitik des Kaisers Lothar, die neue Wendung wieder kam. In seine Zeit fällt auch die Regierung des Erzbischofs Norbert, des Stifters des Prämonstratenserordens, eines merkwürdigen Mannes, der 1126 barfuß in die Stadt einzog, nachdem er plötzlich 1115, auf dem Wege von Xanten nach Vreden in Westfalen zu Pferd befindlich, durch einen Blitzstrahl seine neue Lebenswendung genommen und nun schärfste klösterliche Auffassung mit dem Streben nach öffentlicher Wirkung verband. Aber mit wirklich politischem Bewußtsein hat nach ihm der kraftvolle Erzbischof Wichmann in der Zeit Heinrichs des Löwen, und ähnlich wie dieser, die Germanisierung nach Osten getragen, dessen Grabplatte im Dom zu den schönsten romanischen Bildwerken gehört. Von solchen Namen und Daten, von solcher weitschauenden Größe des Beginns nun auf die spätere Geschichte gewiesen, wie mußte es geschehen — möchte der brütende Sinn wieder fragen —, daß gerade diese Stadt der einstigen Grenze, dieses frühe Kulturbild einer größten Aufgabe das zerstörende Religionsschicksal erleiden mußte.

Zum Magdeburger Dom

Das vom Dome hochbeherrschte Magdeburg war schon im Mittelalter, wie man auch neuerdings am Charakter seiner Sprache nachgewiesen hat, ein großer geistiger Umschlageplatz in Deutschland geworden, wo die Ortsformen in die großen Zeitformen hochgezogen wurden. Wie Otto schon, kühne Bogen über das Reich schlagend, seine Kleriker aus Trier herholte, so ist auch der neue Dom — der ottonische Dom ist 1207 bis auf Reste verbrannt — ein großes gotisches Frühwerk in Deutschland, dessen Gründungsgeist kunsthistorisch auf Frankreich bezogen, aber dessen niederdeutscher Grundzug betont wird. Der Dom hat die Wirkung eines Denkmals. Seine doppeltürmige Westfront mit dem sehr schmalen Mittelbau empfindet man als »hochgesetzt«; das will sagen, daß die Bewegung so steil und ruhig nach oben führt, daß sie kein Gewicht nach unten will und auch nicht so sehr den Begriff einer Schauseite festhält, sondern als ein doppelter Zeiger hoch in die Zeiten weist. Man vermöchte den Sinn einer alten deutschen Grenzstadt am Strome nachträglich nicht schöner zu symbolisieren. Dabei ist aber das Chorhaupt, wenn man nun, durch den Kreuzgang kommend, es umschreitet, mit der kraftvollen Gliederung und Stufung von Kapellenkranz, Empore und Hochchor doch gerade ein schwer und machtvoll auf die Erde gesetzter Anblick. Und auch das Innere ist mit seiner schlanken Raumhöhe doch von entschiedener Schrittkraft der Pfeiler, die sich im Chor in eine stark in sich gefügte Gedrungenheit umschlägt. Das ordnende Gesetz ist stärker als das treibende, aber alles klingt von unten vollräumig heraus und nimmt nach oben ein großes und helles Raumgesicht an. Und alles ist, von fortlaufenden Relieffriesen bis zu großen gereihten Bildwerken, von plastischen kleinen Kompositionen zu hervorragenden Einzelstücken, voller Figur. Man blickt aus dem langen Mittelschiff über den Lettner zur Höhe der Umgangsempore im Chorhaupt hinauf und sieht darunter starke Pfeilerschäfte von Porphyr aus dem ottonischen Bau eingesetzt. Über ihnen an der inneren Seite eben dieser Bischofsempore schauen sechs große Standbilder, von einem beabsichtigten Portal dahin versetzt, in die Chorrunde. Das ist einer der fesselndsten Blicke. Säulen und Figuren sind wie starke Walzen oder Drehkräfte im Raume oder wie starke Angeln in der Bewegung, welche sich in der beginnenden gotischen Zügigkeit des Raumwesens als willenhafte Werke einer eigenen Zone behaupten. In den Figuren ist eine ja-sagende Kraft von Säulen, eine wache und mächtige Aussageform der Glieder. Die Figuren sind gleichsam in Schirm und Wehr ihres eigenen starken Daseins.

Wir betrachten von der Emporengalerie diese Figuren näher; wir lesen, daß sie befremdlich starr und ungeschlacht seien; und wir müssen in ihnen um so mehr eine fast rührende Kraft des schweren Ausdrucks, der im Stein fleischigen Hände und nicht zuletzt eine reiche Sorgfalt besonders in der Rüstung des Mauritius, dieses Magdeburger Stadtheiligen, finden. Es ist eine so männliche wie kindliche Macht, die so viel schmuckhafte Rüstung einem symbolischen Krieger andichtet. Wie viel aber sollte man noch weiter aufzählen! Da ist jene andere berühmte Mauritiusfigur im Chorumgang mit der erstaunlichen Typik des schwarzen Menschen und mit dem schmiegsamen Kettenpanzer um den Körper, der den Anblick eines Waffenstückes selbst wie ein Muster und Urbild übertrifft. Noch müssen, neben den Figuren einer Verkündigung, einer Maria mit Kind und einer Pietà, die romanischen Grabplatten des erwähnten Wichmann und des Erzbischofs Friedrich von Wettin genannt werden, die auch in der weltlichen Beschlossenheit romanischer Stilprägung deutsche Grundgesichter sind. Und noch müßte das Grabmal betrachtet werden, das der Nürnberger Peter Vischer geschaffen hat, ein Hauptwerk seiner Zeit und Kunst, in welchem der Ausdruck des Grundcharakters in die Fähigkeit des vollen bürgerlichen Bildens übergewechselt ist.

Aber zum Merkwürdigsten gehört doch jenes romanische, im Maßstab nicht große, in dem Vieleck eines eigenen kleinen Sakralbaues innerhalb einer Chorkapelle sitzende Kaiserpaar Otto und Edith, die auch im Dom begraben sind (Edith 946, Otto 973). Man blickt durch die zierlich durchbrochenen Öffnungen nach den Gesichtern hinein. Der Ausdruck ist regungslos in der symmetrischen Aufschließung des Steins, und doch wie eine gepaarte, weiße und in der eigenen Waage beharrliche Festigkeit des Geistes der Geschichte selber. Es ist, als ob man in einen Bannkreis geraten wäre, wenn man weggeht; und dieser Bannkreis bleibt für uns dem Lande um Magadaburg eingezeichnet. Und noch ein anderer Ruhm Magdeburgs, lieblich und mit dem Ausdruck des Formen- und Mienenspiels unterhaltend wie eine Legende, ist da, die Reihe der klugen und törichten Jungfrauen im nördlichen Paradiesportal. Mit ihren knospigen Formen der Köpfe lachen und weinen sie und sind hochschlanke Mädchen, die bei aller Symbolik wie ein heiter vom Winde bewegtes Blumenfeld bleiben.

Das Reiterbild

Unser Weg geht auch durch die alte Liebfrauenkirche und ihren großen Kreuzgang. In diesem wird gegraben, und wir sehen, über die Erde steigend, Gerippe in der genauen Lage, wie man sie unten aufgedeckt hat. Wir umkreisen noch die ehrwürdige Johanniskirche am Alten Markt und stehen dann vor dem Reiterdenkmal Ottos, dessen Richtung dem schlichten, breiten Renaissance-Rathaus zugekehrt ist. Durch seinen goldenen Anstrich glänzt das ganze Werk ungünstig in der Sonne. Aber wie man dann näher sehen kann, ist es ein erstaunliches Werk. Es ist nicht nur wie ein Reiter bewegt, sondern es dringt mit Gebärde und Sprache des Gesichts wie ein Herrschertum durch die Luft. Und doch ist es voll wirklicher Nähe, ein aus der Geschichte herausgerissener Augenblick. Nichts ist künstlich empfunden, und gerade darin liegt die Monumentalität dieses Symbols von Magdeburg.

Unter der großen Elbbrücke läuft der Fluß dunkel und olivgrün und ist im Widerglanz des sonnigen heißen Himmels auch heller gebläut. Ein schwerer Schleppzug schafft sich gegen die Strömung aufwärts. Nach Norden schimmert das lebhafte Wasser mit stahlblauer Festigkeit. Krieg und Frieden hat der Fluß mit der Stadt geteilt. Als man zum letzten Male im Flußbett einen Felsen sprengen mußte, hat es einen vorderen Pfeiler im Langhaus des Domes erschüttert und mitgesprengt; er mußte seitdem mit Eisen gebunden werden. So hängt hier der Boden gleichnishaft zusammen.

[Hl. Mauritius an einem Chorpfeiler im Magdeburger Dom]

[Reiterdenkmal des Kaisers Otto auf dem alten Markt in Magdeburg]

Elbeland zwischen den Marken

Jerichow und Tangermünde

Nun gleitet wieder ein Mittag über das Land, und die Luft ist unter weitem Himmel wie ein warmer fließender Kristall. Wir atmen darin, aber sie scheint uns nicht zu berühren; denn der kräftige Wind, der über den Kraftwagen hinfährt, ist wie ein anderes Element, das mit der ruhig fließenden Raumweite nicht im Zusammenhang ist.

Indem man sich so die Wegfahrt von Magdeburg wieder gegenwärtig macht, indem man sich darin des körperlichen Gefühls fast sehnlich erinnert, mit welchem die ostelbische Landschaft für uns anfing, wobei der leise Schmerz des Abschieds von der geschichtlich erkahlten und doch ingründig in sich gebliebenen alten deutschen Stadt des Nordostens mit der Neugier zum späterdeutschen Lande durch unser Herz wechselte, kann noch ein Gedanke schön in die Erinnerung fallen. Von dieser Stadt hier hatte ja eine der stillen Frauengestalten des großen dreizehnten Jahrhunderts, Mechthild von Magdeburg, ihren Namen; und ihr mystisches Schrifttum ist uns bekannt unter dem schönen Titel: »Ein fließendes Licht der Gottheit«. Die ziehende, fließende Luftweite, die von Osten gegen die Elbe her über uns kam, konnte uns diesen Gedanken nun zuführen wie einen Vergleich und Anstoß zu einem erhobenen Geiste, in welchem mit der ungewissen und harten Wirklichkeit der Erde sich ein helleres Licht verbinden will.

Mechthild von Magdeburg

Mit zwölf Jahren kam Mechthild, deren Herkunft nicht bekannt ist, nach Magdeburg und widmete sich einem religiösen Innenleben, dessen Eingebungen sie um 1250 in mystischer Dichtung niederzuschreiben begann. Da sie auch die Gewissen der Zeit erregte, wurde sie von mancher geistlichen Seite angefeindet, was sie veranlaßte, in das Kloster Helfta bei Eisleben als Nonne einzutreten. Auch hier erfuhr die »ungebildete«, das ist des Lateins unkundige Gabe ihres Wesens Gegensätze, aber im Kloster fand Mechthild auch Freundinnen in den beiden Mystikerinnen Mechthild von Hackeborn und Gertrud von Helfta, welche in diesem Kloster unter der Äbtissin von Hackeborn, einer Schwester der gleichnamigen Mechthild, lebten. Alle drei ausgezeichneten Seelen der Mystik schieden noch vor oder in der Wende von 1300 aus dem Zeitlichen. Mechthild von Magdeburg hat von ihnen am meisten Ruhm. Ihr niederdeutsches Werk wurde bald ins Oberdeutsche übersetzt, und dazu schrieb Heinrich von Nördlingen einige Jahrzehnte nach ihrem Tode: »Es ist mir das lieblichste Deutsch und die innerlichst rührende Minnefrucht, die ich in deutscher Sprache je gelesen habe.«

Dies mystisch deutsche Wort- und Seelenwesen gehört also in den Anfang der deutschen Gotik. Es ist ein Wesen, in dem eine Entwerdung und eine Sich-Findung zugleich vor sich geht, wie ein Atmen und Denken in dem Glanze von Licht, Luft und Wasser. Und so hat man auch gemeint, daß Dante, wo er die Natur des irdischen Paradieses dichtet, mit der Gestalt der Matelda, die er erscheinen läßt, an unsere Mechthild gedacht habe:

ein Weib für sich allein, und wie sie ging

und sang und singend aufnahm Blüt um Blüte,

womit bemalt ihr Weg sie ganz umfing.

In diesem Wesen sind Merkmale, die, so eigenseelisch und alleinsinnig sie erscheinen, doch nicht weniger die deutsche Seele eines neuen Zeitwerdens bedeuten mögen. Da ist der ganz innere geistliche Liebessinn und dabei doch die »Zeitrüge«, diese Spannung von Ich und Welt, die zu beweisen scheint, daß, je inniger die Seele zu sich durch die ihr eigene Sprache wird, sie um so empfindlicher sich gegen eine andere Welt wendet. Dies weist wohl überhaupt auf eine deutsche Sinnwirkung im Christlichen. Ein Leben ferner, wie im Kristall oder wie im Fließen zwischen Licht und Wasser, ohne zu versinken, und so im Naturbild wandelhaft gesichert, das ist ein neuer Zustand im Daseinsgefühl, ein Dasein in ein Bildgefühl hinübergespiegelt, das, je mehr es Natur gewinnt, sich von der Geschichte hinwegwendet. Das Gefühl der eignen Seele weiß sich hier innerlich zu gründen oder zu einem neuen Grunde zu bringen; es wird neu bewußt und gibt doch alle Kraft dem neuen Gefühle, so daß es wie in einer Ohnmacht vergeht. Und dies geschieht nun rein und allein im Gefühl und Können der eigenen Sprache. Darf man raten, daß so die eigene Sprache und das gesondertste Vermögen in ihr im Anfang eines neuen Zustandes steht und zugleich das Ende eines mehr geschichtlichen Wesens bedeutet? Wird dies neue naturhafte Pflanzgefühl, die neue gotische Eigenständigkeit nicht zu einer Abwendung von der gewaltigeren oder universaleren Geschichte, die noch eben in dem großen dreizehnten Jahrhundert war? Man kann dies in den Formen mehr bedenken als beantworten. Aber hier an der Elbe, wo man geschichtliche Brechungen stark empfindet, bedenkt man um so mehr auch die stillen Sinnkräfte der mittelalterlichen deutschen Seele. Hier an der Elbe beginnt auch der Sinn eines eigenen gotischen Gesetzes und östlichen Baubildes; und hier ist nicht weniger der Saum und Ansatz anderer geschichtlicher Weitergänge.

[Liebfrauenkloster zu Magdeburg]

Kolonialland des Mittelalters

Es ist Kolonialland des deutschen Mittelalters, wohin wir, zuerst am westlichen Rande hin nächst der Elbe nordwärts fahrend, jetzt kommen. Wir werden die Marken zwischen Elbe und Oder nicht durchmessen und müssen auch alsbald die Richtung nach dem charakteristischen Brandenburg rechts liegen lassen. Wir werden demnach rechts drüben im Osten die Mittelmark haben, von welcher eine Landschaft, schon vorher gegen das Magdeburger Gebiet her reichend, den Namen »die Zauche« hat. Dann stößt mit dem Havelland dieses märkische Gebiet allmählich ganz zur Elbe heran und dehnt sich mit deren Biegung ebenfalls nach Westen, während wir nördlich in die Mark Prignitz weiterfahren werden. Zu unserer Linken aber jenseits der Elbe bleibt als Stammland die Altmark.

So fahren wir im Elbeland zwischen den Marken und sind in Landstrichen, die ursprünglich von germanischen Stämmen besessen, dann nach der Völkerwanderung während Jahrhunderten zu Besitzungen von Wendenstämmen geworden waren, bis wiederum die Ausbreitungskraft der Deutschen, auch zu den Ursprüngen zurückwirkend, über die Elbe nach Osten und Norden drängte. Schon die Sachsenherrscher hatten, beginnend mit König Heinrich I., östlich der Elbe den Fuß wieder ausgesetzt. Heinrich hatte Brennabor den Hevellern entrissen, und unter Otto I. waren dieses Brandenburg und Havelberg schon Bischofsitze geworden. Aber noch zur Ottonenzeit geriet, besonders durch den Anstoß des Obotritenfürsten Mistevoi, mit dem großen Wendenaufstand von 983 alles mehr oder weniger in Verlust, die Bistümer bestanden bloß noch in den Ansprüchen darauf, und die entscheidende Gegenbewegung ließ trotz einzelner Siege bis ins zwölfte Jahrhundert warten.

Und so werden wir nun aus dem erzbischöflichen Bereiche Magdeburg in den Bereich Albrechts des Bären, des Askaniers, kommen, der, mit Heinrich dem Löwen wetteifernd und Magdeburg überflügelnd, die Herrschaft aus seiner Nordmark oder der Altmark über die Elbe in die neuen Marken trug. Das wendische Volk wurde ganz durchsetzt mit neuen Ansiedlern, welche aus Niedersachsen mit Holländern und Flamländern, worauf auch der Name des mageren Landrückens »der Fläming« hier nahe östlich hinweist, sich zusammenfanden.

Indes nochmals jener Gedanke von dem »fließenden Lichte«, indem wir ihn ohne nähere Klärung mit der tieferen Empfindung einer ungewissen Größe von dieser Landschaft verbinden. Solch eine Empfindung schien auch das weite Land im Darüberblick von uns zu wollen, da es deutlich und doch nicht mit der großen abgemessenen Fruchtbarkeit der Magdeburger Börde über sich die Augen hinfahren ließ. Und eine Empfindung sonderbar erhobener Art schien auch die Elbe mit ihrem silbern bleichen Spiegel von uns zu verlangen, da sie in der Ferne blieb und so mehr Vorstellung wurde als Wirklichkeit, ganz anders als beim Rhein, da bei ihm die Vorstellung ganz in der großen Wirklichkeit aufgeht. Ob man, solange man sie nur teilweise kennt, von ihr sagen darf, daß sie, wie sie der Arbeit dient, voll Bildhaftigkeit vom Lebenssinne deutscher Arbeit ist, daß sie, die Elbe, aber darüber noch ein sonderbares Schweigen hat? Sie geht, so gesehen oder behorcht, durch deutsches Land in einer weniger gelösten Sprache als der Rhein. Sie hat, so hinschweigend, etwas von der so oft ungewissen Geschichte und dann doch immer wieder neuen Größe des deutschen Volkes.

Über Burg

Es geht anfangs nach Nordosten auf jene Art in der Weite hin, die den Eindruck macht, als ob man hoch fahre. Und so kommt der östliche Vorposten von Magdeburg, die kleinere gewerbereiche Stadt Burg, heran. Zwei alte Kirchen sind da, wovon besonders die Nikolaikirche, als ein romanischer Granitbau aufgeführt, sehr farbig in ihrem festen Steinkörper ist. Der Stein setzt sich schön und groß gefügt in die Ordnungen der romanischen Formen. Er bannt die Formen volkhaft schwer, das will heißen, daß diese Formweise ein Gegensinn zu jener technischen Zierfreiheit des Bausinnes ist, welche wir von nun an in der Backsteinarchitektur erleben werden. Indem wir zu dieser vorausdenken und zu dem Einfluß, den ihre andere Technik im Material und mit dem neuen Stil auch dem Geistesbilde des Landes geben wird, sind diese Baugewichte hier wie Grenzsteine am neuen Lande. Burg selber hat die trockene Wachheit der Arbeit, wie sie ähnliche kleinere Städte des Fleißes besonders am Nachmittage spüren lassen. Darin steht jede der Kirchen als eine steinerne Stille; ein Mann, der aussieht wie ein schlichter Prediger des Wortes, geht vorüber; ein krankes Mädchen ruht, von der Sonne abgerückt, im Schatten des hohen Steingewändes; und der graniten saubere Steinkörper der Kirche ist zum Teil übervoll von Blattgrün bewachsen.

[Klosterkirche zu Jerichow]

Es geht nach Genthin weiter, und hier wäre nun rechts abzuzweigen, um alsbald in Brandenburg zu sein. Und mit der gleichen Abzweigung, aber schon etwas weiter rückwärts gerichtet, wäre nach dem Kloster Lehnin in der Zauche zu kommen, von dem Fontane, dessen märkische Wanderungen nicht mehr ganz bis zu unserem Elbeland heranreichen, noch geschrieben hat. Nun erleben wir auch hier das Land schon ähnlich, wie Fontane die Merkmale der märkischen Landschaft angibt, »weite Flächen, Hügelzüge am Horizont, ein See, verstreute Ackerfelder, ein Stück Sumpfland mit Erlengebüsch, ein Stück Sandland mit Kiefern«. Nur daß die Elbe wieder nahe ist und daß die Art der klar gegliederten Flächen einen Zwiespalt erkennen läßt zwischen einer unaufhaltsamen Arbeitsweise und einer klarstillen Beschaulichkeit. Aber vom einen wie vom andern wird der Grund und Boden nur jahreszeitenmäßig berührt, er scheint nicht für geschichtliche Formen empfänglich zu sein, bis sich auf einmal die Ackerarbeit ordnet und verdichtet. Es sind hier im Osten die Gebiete und Orte, wo die Prämonstratenser und besonders die Zisterzienser, beschaulich und fleißig, die Kolonisation getragen haben. Und da steht jetzt vor uns, nieder und schlicht mit Gebäuden umlaufend, ein breiter Hof und, wo es zur Einfahrt geht, eine hohe Kirche aus Backstein.

Der »Kristall« von Jerichow

Und damit ist in diesem Lande auf einmal nicht bloß eine Spur, sondern ein edles Bild geschichtlicher Schönheit erschienen. Es ist ein Bau, den man nennen möchte einen »Kristall der Baukunst«. Dies ist nicht so sehr vom Äußeren der auf der Westseite hochschlanken und zweitürmigen, vom höheren Querschiff mächtig gekreuzten basilikalen Kirchenform zu sagen, obwohl auch hier schon ein stattlicher Begriff und Eindruck von der Möglichkeit großer Raumschöne im Backstein gegeben ist, sondern vom Inneren, wo Bogen, Pfeiler und die Wandflächen unter der Flachdecke einen räumlichen Vorgang geben von Raumstirnen und ruhigen Sicheln. Die Kirche steht immer noch so natürlich mit dem Hofe zusammen, und auch ein Leiterwagen steht in ihrer Nähe, daß sie wie die Wirtschaftskirche dieses etwa zweitausend Morgen großen Hofgutes erscheint. Und wenn man dann das Innere betritt, wirken die streng und doch melodisch laufenden und angehaltenen Bogen durch den Raum hin wie eine einwärts gerichtete und im Chore durch die Krypta sehr hoch und offen gestufte Methode zu einem Raumbild, das sich ebenso zu einer liturgischen Versenkung einschließt, wie es sich gegen die Verinnerung zu einer starken Ordnung öffnet. So tritt bildhaft das geistliche Leben zum wirtschaftlichen, und dies also ist die Kirche des alten Prämonstratenserklosters von Jerichow. Ihr Baubeginn mit der Klostergründung 1145 durch den Erzbischof von Bremen, Hartwig I., aus dem Geschlecht der Grafen von Stade, den heftigen Gegner Heinrichs des Löwen, reicht noch bis in die Zeit Albrechts des Bären zurück. Sie gehört zu den frühesten Zeugen der Geschichte der deutschen Nordmark über der Elbe.

Man möchte lange über das Gefühl sprechen, welches die Bauformen ergeben, da sie im Backstein viel weniger materialhaft gebunden, viel »technischer« und gewichtloser und auch in der tiefroten Farbe des Ziegels an Wänden, Säulen und Estrich, mit der ganzen räumlichen Durchfärbung wie mit einem gleichen, gegen die Natur gewonnenen Laute wirken. Das Alterlose, nichts von Patina Ansetzende, das der Ziegel gerne hat, läßt das statisch große, von Bogen durchsichelte Raumwesen sonderbar frei bestehen. Und dies wirkt alles noch größer, weil diese erste Backsteinkirche auf dem gegenwärtigen Wege noch eine solche romanischen Stiles ist. Die Gotik erhöht später noch die Verhältnisse, aber sie läßt den Raum nicht so geistig rein und mächtig durch sich selber walten. Besonders schön und wie Werkstücke eines starken Baugeistes sind die roten Ziegelzylinder der Säulen mit ihren Trapezkapitellen, deren angeschnittene Rundkörper eigentümlich gestirnhaft wie aus sphärischen Größen hergenommen und stumm facettiert wirken. Der vielteilige und einheitliche Raum ist wie eine sphärisch durchschnittene, große Gefäßform. Man denkt, hier seien die Begriffe von Maß und Zahl und Gewicht sichtbar und ganz bildlos, und die Bildlosigkeit dieser reinen Architektur sei sowohl Raum als Körper, keines das andere fassend. Denn das Ganze des Raumes sei in seinem Wesen ebenso bestimmt von Geschlossenheit wie von Enthaltsamkeit. Und so, zugleich sichtbar und begriffhaft, seien die siderischen Orts- und Bewegungskräfte am Himmel selber, die den Raum bilden, indem sie sich selber darin nicht erfassen. Und so, indem sich alles hält und nichts »berührt«, gehalten alles gegeneinander, entstehen die »Knotungen« der Kapitelle, die von Schnitten getroffen sind und doch zylindrisch kreisen. Und so ist der Körper nur ein fester Sinn der Bewegung. Die Verzierungen sind sparsam und klein, aber mit wunderbarer Einfachheit wird die »Schwere« einer schwerelosen Größe erreicht. Die Krypta zeigt noch weitere Kunstdinge auch der Ausstattung. Aber es mag genügen zu sagen, daß dies in Jerichow das Erlebnis einer gewissermaßen im zylindrischen Lichte geistig leuchtenden Kirche war; ein sonderbar reiner Zwiespalt von stehenden und kreisenden Raumkräften, ein Raum des Tuns und Lassens und dadurch in reinem Bestande. Wir haben sicher eines der reichsten Werke Norddeutschlands gleich zu Beginn gesehen.

[Domkapitell aus der Klosterkirche in Jerichow]

Das zierliche Tangermünde

Und nun geht die Fahrt nach Tangermünde weiter. Das Land scheint fruchtbarer, bis die Flußniederungen kommen, und während jenseits der Elbe hochsichtig über dem Flachen oder gleichsam mit schiffsartigen Aufbauten über der Landsilhouette die kleine Stadt aufsteht, fahren wir auf einer langen Brücke quer über Niederung und Fluß zu ihr hinüber. Schnell ist die Stadt durchmessen, die sich abendlich bewegt. Da ist gleich als erstes das rühmlichst bekannte Schmuckkästchen der märkischen Ziegelbaukunst, das Rathaus, auch wieder mit dieser schwerelosen Hingestelltheit des Ziegelbaues auf den Boden, mit dem dreiteiligen Zierverlaufe der schönsten Schauseite zu durchbrochenen Giebelchen und Fialen gegen den Himmel, mit dem durchsichtigen Filigran der Rosetten und mit dem Glanz der grünen Glasuren am Maßwerk. Alles wächst schön und emsig wie durch Gegensatz aus einem Kleinmachen und dann wieder Zählen und Summieren der kleinen Bauteile. Aus kleinen queren Zonen steigt die Höhe durch vortretende Streben schlank und steil in Giebelchen und mit vielfältigen Auszackungen in die Luft; wie Spiele, ins Blinde laufend, erhalten Bauzacken und Maßwerk eben davon eine um so deutlichere Klarheit des technischen und dichterischen Reizes. Diese profane Gotik ist wie Töpferei und doch wieder wie ein schönes Skelett des Stils. Es ist das Element der Erde, und der daraus gebildete architektonische Schmuck ist doch wie das Gegenteil von Erde, wie ein Baustück von einem Blumenstrauß.

Und noch etwas Weiteres bedenkt man jetzt, indem man etwa das backsteinerne Neustädter Tor mit seinem seitlichen Rundturm, mit dem doppelreifigen, zierlichen Zinnenkranz daran und mit dem um seine Mitte in halber Höhe vorgekragten Wehrgang, dessen Brüstung ebenfalls voller Zierteilungen ist, betrachtet. Man erfährt nun ein technisches Wohngefühl, eine Fähigkeit, in Maßen zu leben, zu bauen und sich zu wehren, die eigentümlich schön und zwar scheinbar klein, doch bis ins einzelne bildhaft, deutlich und sicher ist. Dieser Wehrturm hat in der Summe der Teile wieder etwas zusammenschießend Kristallhaftes. Und so schießen auch die Zierwerke oft wie geistige Rechnungen aufwärts und ordnen sich gleich dunkleren Kriställchen unter dem Himmel. Dazu bringen Baukörper wie die große gotische Kirche St. Stephan wieder den Gegensatz mächtiger Kastenformen, welche Maßwerkfriese wie Blumenfelder an sich tragen. Und dabei ist das schöne Gesetz, daß auch die funktionellen Glieder immerfort in Zieren umschlagen können. Auch dies ermöglicht in Backstein wieder das schöne Spiel mit Größe und Kleinheit oder mit den Proportionsgefühlen. Die kleine Feste von Tangermünde hat schon dem Askanier Albrecht in seinem Streben über die Elbe hinüber gedient. Und hier baute sich der Luxemburger Kaiser Karl IV. eine schöne Residenz, als er über die Mark Brandenburg herrschte. — So ist diese kleine Stadt wohl etwas einziges und wie eine schöne Lehrform der Geschichte. Wir fahren wieder auf der langen Brücke über die Elbe zurück; einzelne Schiffe ziehen unten auf dem schon abendlich bleichen Wasser. Unsere Fahrt geht nach Havelberg weiter.

[Tangermünde, Blick von der Burg auf die St. Stephanskirche]

Von der Elbe an die Havel

In die ostelbische Geschichte

Nie wird wohl die ganze Fülle eines Augenblicks von der Erinnerung festgehalten. Und auch, was mehr mit dem bleibenden Wesen der Erinnerung verwandt scheint, die Dauer etwa einer langen Fahrt am Abend, will erst recht nicht in der festen und stillen Reihenfolge des Schauens bestehen bleiben, sondern schmilzt aus dem Inhalt der einzelnen Stunden in eine dunkle Fülle zusammen. Und so kann ein erlebter Weg wie ein leiser Abendwind das Herz nachträglich mit Gedanken sättigen, ohne sich aus dem Gedächtnisse wieder im einzelnen zu fügen und sich vom Geiste unmittelbar daraus erfassen zu lassen.

Um das Dunkel der Geschichte

Aber der Geist kann sich von der Geschichte her eine andere Genugtuung verschaffen. Und wo der Wanderer erst eine schauende Gegenwart erlebt hat, kann zum Geiste herauf nun ein tieferes Dasein seinen Grund heben, gleichsam ein Dagewesensein, zu dem die Erinnerung die stillen Fenster weiter öffnet. Die Erinnerung hat nämlich noch diese andere Fähigkeit; sie trägt nun, während die Frische des Augenblicks zurücktritt, zu ihm jene stillere Stimmung nach, mit welcher ein Erlebnis wie ein unruhiges Wissen nach einem ganzen Sinne schaut. Vielleicht daß diese Stimmung zuerst kaum bewußt gewesen war. Aber nun dient sie dem Geiste wie ein Instinkt aus der Natur des Augenblicks, und es will sich aus ihr mit einer notwendigen Ahnung ein Bild der Geschichte fügen. So wie sie über einer Gegend aufgewacht ist, spielt sie nun über einem Bewußtsein von Gesetzen. Nun wundert man sich vielleicht im Augenblick selber, wenn eine Gegend wie hier, die unfraglich im Wetteifer mit vielen anderen an natürlichem und geistigem Reiz des Landschaftlichen zurückbleiben muß, doch gerade so viele unbewußte Stimmung geweckt hat, welche nun deutlicher wird.

Hier war es die stumme Elbe, das Bild des großen Flusses, der mit den Menschen arbeitet, aber dabei etwas Schweigendes behalten hat. Oder hat es dies wieder mehr bekommen, als es einst war, da Otto der Große die Stadt Magdeburg als einen ersten großen deutschen Laut an der slawischen Grenze erweckt hat, wo die Geschichte, die in Europa schon lange tönte, noch stumm war? Fühlen wir es noch, daß um diese Elbe als einstigen Grenzfluß bis in den Mittelsinn des deutschen Volkes ein Zweifaches spielt, hervorgehend aus der Teilung der Zeiten, als auch der Weltsinn der Hohenstaufen unterging und der große Laut Europas in die Sprachen der Länder sich verteilte? Andere Kräfte als die kaiserlichen waren es auch, die hier das nationale Werk nach Norden und Osten förderten und die zu den künftigen Auseinandersetzungen und Neubildungen drängten. Etwas von dem Wechsel der Lautkraft großer Geschichte mit einer wehenden Stille spielt hier um uns. Und so ist die Elbe stummer als der geschichtlich rauschendere Rhein, wie es der Reisende schon immer im Instinkt empfunden hatte, aber wie er es im Gefühl der Geschichte, welcher man hier nachreiste, nun noch mehr empfinden mochte.

Und diese Gegend hier war auch ein hungriges Land, wie der Sand, der die Spuren einschluckt, und wie eine Erde, die viele Tritte erfahren und viel Blut empfangen hat und die doch nur wenige Zeichen davon trägt. Hier und weiter nach Norden hin sind an der Elbgrenze Stämme verpflanzt worden und verschwunden, und Neustämme haben sich gebildet. Der Kampf, zu dem Albrecht der Bär und Heinrich der Löwe nach Osten und Norden ausgeschritten sind, galt in Beschluß und geschichtlicher Wertung gleich einem Kreuzzuge, wie ihn damals gleichzeitig ein anderer Teil der Deutschen nach Palästina unternahm. Die Fürsten allerdings, die hier aus ihrem Machtbereich heraus die Nordmarken vergrößerten und aus altem germanischen Boden deutsches Neuland schufen, ließen ihr Tun realpolitisch geleitet sein und waren zielsicher mit bleibenden Erfolgen. Die Wenden wurden aufgesogen und verschwanden als geschichtliche Kräfte. Man hat sie, die zuletzt gegen Germanisierung und Einbeziehung in den damaligen deutsch bestimmten, geistig europäischen Raum blutigen Widerstand leisteten, mit den Sachsen in Vergleich gestellt, die vorher zum Teil in ähnlichen blutigen Verhältnissen von Verpflanzung und Vernichtung gewesen waren. Aber wie gingen die alten Sachsenstämme gerade erst recht gestärkt und fortwaltend in ihrem Wesen daraus hervor! Und wie stehen gerade ihre Lande voll von den großen Architekturen des Mittelalters! Und dagegen muß man nun fragen: was ist von den Wenden nach ihrem jahrhundertelangen Kampfe geblieben? Was auch ist der Sinn von Vergleichen? Für den Überbleibenden und Fortlebenden jedenfalls spalten sich die Gesetze der Geschichte immer weiter auf. Der nationale Wuchs aber, der nun vor allem die deutsche Geschichte betraf, mußte sich immer wehrhafter behaupten.

Das Gesetz, nach welchem alles geschieht, will sich keinem Sinne fügen. Es bleiben dunkle Fragen der Geschichte und ihrer Rechte, an welche hier gerührt wird. Und so kann es uns mit abendlicher Sonderbarkeit ins Bewußtsein fallen, daß diese Fahrt rechts der Elbe nordwärts aus einer einstigen Grenze hin eine Fahrt ist durch die Zwiefältigkeit eines dunklen, notwendigen Gesetzes.

[Tangermünde, das von Meister Heinrich Brunsberg um 1430 erbaute Rathaus]

Abendfahrt zur Havel

Von Tangermünde hätten wir die Gelegenheit nehmen können, nach links abzubiegen und alsbald Stendal und nordwestlich weiter Salzwedel zu erreichen. Das wären noch zwei besonders sehenswerte Orte in der Altmark gewesen. Aber wir fahren wieder rechts der Elbe; die noch mit vielerlei altertümlicher Reinlichkeit gegürtete und betürmte kleine Stadt Tangermünde bleibt wie eine schöne Abendburg zurück; und während wir mit diesem Nachbild weiterfahren, fangen die Wälder an, sich dunkler in der Ebene zu erheben. Abendliche Ortschaften liegen im Weg. Der Eindruck einer größeren Ortschaft bleibt besonders haften. Sie hat eine breite Mittelstraße, deren beide Seiten erdiger sind als die Mitte. Das Vieh geht darauf beiderseits zur Tränke; auch Pferde sind darunter. Die Häuser sind zweckförmig klein und hinter Bäumen fortgereiht, welche jedoch keine solchen Zeilen bilden, daß sie wie eine Allee wären, und andererseits doch auch nicht so nahe bei den Hauswänden stehen, daß sie als Hausbäume erschienen. Sie stehen unregelmäßig, aber es bleibt ein Weg dahinter, auf dem alte Leute sich ergehen, und aus dem man auch zum Nachbar ins Fenster hineinsprechen kann.

Das gibt ein anderes ländliches Orts- und Wohngefühl, als wir gewohnt sind. Man möchte an eine Steppe denken. Die Hauptzüge des Ortsbildes sind deutlich und wesentlich: sie weisen auf Zweck und Tätigkeit; die Häuser sind entsprechend herangesiedelt: sie bedeuten eine Gemeinschaft gleicher Art. Aber das Ganze bleibt doch in einer losen Verbindung und, was das Hausgefühl angeht, unbetont. Was die Betonung des Hausgefühls betrifft, so könnte man eine Ortschaft Hannovers, das im Westen drüben seine großen Höfe und schönen Orte hat, dagegen stellen. Und wenn man die Verbindung, zu welcher sich die Siedelung hier auf lose und feste Züge zusammenschart, als eine natürlich gesetzte empfindet, so darf man dagegen fränkische oder süddeutsche Ortschaften vergleichen, welche über das Natürliche hinweg einen »historischen« Charakter annehmen. Sie sind in ihrer Ordnung verschiedener, mehr durchgestuft und verändern immerfort das Gesicht, wie denn der Grad des »Historischen« in diesem einfachen Sinne sich dahin bemißt, ob mehr die angeglichenen oder mehr die abgehobenen Züge gegenüber der Natur betont sind. Hier also sind im Bauernlande die gleichen Züge mit einer losen Regel betont. Und so wachsen auch in den kleinen Städten die Häuser wenig zur Höhe und zur malerischen Verschiedenheit auseinander. Auch in ihnen konnten uns die weißhaarigen alten Leute mit einem ausgedienten ruhigen Dasein auffallen. Wir fragen uns, warum sie uns auffielen. Vielleicht kommt es daher, daß die Häuser den einfachen Anblick ihrer gleichen Verhältnisse bieten, so daß wir mehr auf die Art der Menschen vor ihnen achten, unter denen dann die Alten wie in einem altväterischen Lande das meiste Gesicht haben. Dem sei nun, wie ihm wolle. Aber sicher wird hier der verschiedene Siedelungssinn unserer Stamme berührt, der nicht nur im Bausinn selber, sondern oft noch mehr im Sinn des Raumes oder des Bleibens dazwischen sich ausdrückt.

Der Abend war lang und wollte lange nicht dunkeln. Im Lande waren häufig Windmühlen zu sehen, und wenn ihr Lauf abgestellt war, standen sie da wie große ruhige Geräte, welche den ersten Schatten der Nacht gegen den Himmel erhoben. Längere Zeit ging die Fahrt auch durch Kiefernwälder; sie zeigten, daß der Grund sandig und wenig bewachsen war. Der Geruch des Waldes schlug von Zeit zu Zeit über den mäßig eilenden Wagen. So kamen wir von der Elbe an die Havel. Die letzte Stadt war Sandau gewesen. Nun war bald wieder eine Stadt am Wege; sie lag am Wasser, und der letzte Blick des Abends leuchtete darin wieder. Das war nun Havelberg. Die Havel ist hier schon nahe bei der Elbe, welche nun bald wegbiegt und, indem sie die Havel aufnimmt, nordwestlich geradezu nach Hamburg fließt.

Auf der Brücke in Havelberg

Havelberg hat etwas Gewöhnliches und Überraschendes zugleich. Es ist eine kleine Stadt von Maßen des Daseins, denen man alte Schicksale zunächst nicht ansehen würde. Da ist die Havel in Bogen durch die Stadt geschlungen, daß sie eine mittlere Insel abtrennt. Man steht auf der Brücke und sieht die Enten sich an den Ufern tummeln. Aber man sieht auch, daß der Fluß mit dem ganz geringen Gefälle schiffbar ist. Die großen schwarzen Schleppkähne mit weißen und roten Linien, ein Kran, andere Kähne, die da und dort angelegt haben, das Stilleben des größeren Verkehrs am arbeitenden Flusse, das zu den bürgerlich kleinen Häusern und zu dem flachen niederen Lande weiter draußen einen eigenartig freien Gegensatz bildet, all dies bestimmt die beschauliche Gegenwart und macht sie offen. Die Lust des längeren Schauens erweckt sich, die man alsbald beim Anblick von Flußufern mit Schiffsländen bekommt. Aber dann erhebt man auf der Brücke den Blick zu dem drüben über die Häuser ansteigenden kleinen Berge, der die Niederungen beherrscht. Und der Blick wird gebannt und gestaut an einer mächtigen Mauerbrust, die auf dem kleinen Berge in die Luft aufgesetzt ist. Mit gewaltig breiter Wand steigt da, nach oben in Ziegelzonen mit queren Reihen von gekuppelten Rundfenstern sich verjüngend und mit einem breiten Mittelteil späteren Datums noch etwas weiter gehoben, ein Mauerwerk hinauf, und auf dem queren Satteldache sitzt ein kleiner Dachreiter. Das ist die Weststirne des großen Domes von Havelberg; fürwahr eine große Erkennungsmarke, mit gedrungener Blickgewalt den an sich geringen Hügel über die Landschaft noch steigernd und so herrschend über der kleinen, verteilten Stadt und über dem Grüngelände und dem Flusse, in welchem Schiffsschlote auftauchen. Die Stadt, die zunächst ein wenig unbestimmt schien, hat nun ein überraschendes und großes Gesicht aus ihrer alten Zeit her bekommen.

Auf der Brücke von Havelberg kann man sich auch, während wir das halb ländliche und halb geschichtliche Bild vor uns haben, den Sinn wieder mit den alten deutschen Dingen beschweren. Hier nach links ist die Havel nach der Elbe gerichtet, und nahe der Elbe käme dann bald die Stadt Lenzen. Der Dom von Havelberg reicht mit seinem Baubeginn noch bis in die Erobererzeit des Askaniers im zwölften Jahrhundert zurück, nachdem schon einmal eine Kirche hier entstanden war, als Heinrich der Sachsenkönig zum ersten Mal in dieses Land gerückt war und bei Lenzen 929 die Redarier besiegt hatte. Unter seinem Sohne Otto war Havelberg 948, etwa gleichzeitig mit Brandenburg, schon ein Bistum geworden. Aber in den mehreren Aufständen der Wenden war noch vor der Jahrtausendwende alles wieder ausgetilgt. Und später wurde der dem Christentum ergebene Obotritenfürst Gottschalk von liutizischen Angehörigen seines Reiches im Sommer 1066 in Lenzen erschlagen; seine Gemahlin Sigrid, eine dänische Königstochter, wurde aus dem Lande vertrieben. Kruko von Rügen bekam nun die Herrschaft, der aber 1093 von Heinrich, dem Sohne Gottschalks, ermordet wurde, welcher nun bis zu seinem Tode 1119 seine eigene Herrschaft wieder aufrichtete. Dann war die Zeit Heinrichs des Löwen und Albrechts des Bären gekommen. Ihre Erfolge der Germanisierung begannen allerdings erst nach dem weniger erfolgreichen Wendenkreuzzug von 1147. Und nun wurde auch Havelberg wieder eine Kirchenstadt, und der Bischof Anselm von Havelberg, ein Schüler des heiligen Norbert von Magdeburg, war einer der edelsten Geister jener kämpferischen Zeit. In Mecklenburg aber hatte schon zur Zeit von Gottschalks Sohn der Apostel der Obotriten, Vizelin, seine arme und doch erfolgreiche Wirksamkeit begonnen.

Wenn man durch einige Anlagen den Domberg hinangeht, trifft man zuerst noch eine vieleckige gotische Kapelle in Ziegelbau. Beim Dorne selber fällt dann die steile und gleichsam zeitlose Schönheit des Ziegelwerks an Wänden, gotischen Fenstern und an den ausladenden Umschlägen der Raume nach außen auf. Das älteste Gestein ist aber Grauwacke von schöner gelbbrauner Färbung. In der Westseite geht das Tor wie zu einem gedrängten Strömen des Raumes unter der fast nur mit Schlitzen geöffneten Mauerkraft hinein. Das Innere hat einen schönen spätgotisch verzierten Lettner mit Chorschranken. Sonst ist hier alles von gotischer Steile ohne einen Überfluß der Zieren. Und noch manches auch in der Umgebung hat den Blick alter Zeit. Auf dem stillen Domberg ist auch das Heimat-Museum »in der Prignitz«.

In das Mecklenburger Land

Von Havelberg nach Schwerin

Heute bekam unser Reisetag alsbald ein lockendes und weites Gesicht. Von Havelberg ging es zunächst nach Perleberg, eine kleine Stadt und Hauptort in der Westprignitz. Es waren wieder die kleineren Häuser, die nicht so sehr ihr Gesicht aus dem eigenen Stil bekommen, sondern aus der Art, wie sie klar und zweckmäßig zum Stadtbild zusammenstehen. Auch der gotische Backsteinbau der Kirche mit den ausgiebigen Maßen und mit seinem schlicht und kräftig aufstoßenden Westturm, was wir nun schon als typische Erscheinung im Lande empfinden, war dazwischen und gab wieder das Gefühl mehr eines besiedelten als eines im süddeutschen Sinne gewachsenen Ortes. Jedoch solche Eindrücke wollen sich nur flüchtig fürs Auge begründen. Dagegen sprang eine andere Erscheinung fest in den Augenblick.

Als wir mit dem Wagen durch die Stadt und über den Marktplatz hinschwangen, fand sich da auf einem höheren Sockel ein lebhaftes bewaffnetes Steinbild erhoben. Es war ein richtig und reichlich mit Rüstungsringen und großen Gelenkkacheln steinern eingeschalter Schwertträger und Schildhalter; und als er plötzlich über die Fahrenden hinaufragte, mochte er wie ein Eisenfresser und Rodomont der italienischen oder shakespearischen Dichtung erscheinen. Aber der etwas barock ausladende Augenblick wandelte sich bei näherem Zusehen auf die kräftige Renaissancefigur eines breitbärtigen Kriegers zurück, der kern- und streitfest und steingrau in die Luft ragte. Und diese Figur war der Roland von Perleberg. Wir sind die Rolande sonst in der gotischen, eher wie stumme Säulen und schwere Puppen wirkenden Form gewöhnt, wogegen diese spätere Form mehr eine Vermännlichung und Ertüchtigung betont, aber auch aus der immergleichen ritterlichen Gegenwart der mittelalterlichen Figur mehr in ein historisches Werk- und Kostümstück umgesetzt ist. Jedoch wie ist auch heute noch ein solches Werkstück ein tüchtiger und freier Schmuck einer Stadt! Und für uns war der plötzliche Anblick wie ein prächtiges Rufzeichen zu lebendiger Reiselust.

Mecklenburgische Eindrücke

Und dann kam das stillere und größere Gesicht, und dies war das Land selber. Die große Straße führte durch Kiefernwald, und sie war an den beiden Seiten noch eigens mit Laubbäumen besäumt. Dann tat sich groß und flach die Landschaft auf. Man schloß sich, indem man in ihr dahinfuhr, gleichsam in sie hinein. Und wenn man über den Begriff nachdachte, den man ihr geben sollte, so wollte man sie doch nicht einfach als »weit« bezeichnen, sondern man fühlte sie einesteils noch weiter und unbegrenzter und andernteils noch näher zu sich selbst herangeschlossen, und so konnte sie dem Gefühl sozusagen eine »Kammer der Unendlichkeit« sein. Man bleibt sich bewußt, daß hierbei viel Stimmung des Augenblicks mitspricht und daß auch die Empfindung für die große flache Landschaft durch den Gedanken an das nach ihr kommende Meer bestimmt wurde, für welches sie schon unsere ganze Erwartung einschloß. Aber so weit waren wir ja noch nicht, und da war noch die ganze Breite des schönen Landes Mecklenburg dazwischen, zu welchem diese weite Kammer hinüberleitete.

Mit Neugier und alsbald auch mit dem Gefühl der Sympathie oder deutsch gesagt, mit dem Gefühl, daß man dieses Land wohl leiden möge, ging es nach Mecklenburg hinein. Grabow, wie die meisten Städte des Landes nach der endgültigen deutschen Besiegung des Wendenvolkes im dreizehnten Jahrhundert entstanden, war der erste Ort, der durch seine schlichte Stattlichkeit, auch durch wohlhäbige Fachwerkhäuser und so durch einen wohlbereinigten Zustand der sichtbaren Verhältnisse auffiel, den man auch sonst wahrnehmen mochte. Man darf auch an den Grabower Altar erinnern, der mit diesem Städtchen verbunden war, und dessen Schöpfer, der Meister Bertram, zu den frühesten namentlich bekannten Künstlern der deutschen Malerei des vierzehnten Jahrhunderts zurückführt. Auch hier steht wieder der gotische Ziegelbau der Pfarrkirche im Orte. Kurz darauf brachte dann Ludwigslust den Begriff einer neueren Stadt hinzu, die, im achtzehnten Jahrhundert aus einem herzoglichen Jagdschloß planmäßig entstanden, auch diesen fürstlichen, klassizistisch gerichteten Stil dem schnellen Anblick kundtat. So werden die mecklenburgischen Städte in zwei Typen sichtbar, die große Mehrzahl mittelalterlicher, denen zum Teil das Meer noch ihr wesentliches Gepräge gibt, und dazu einige von dem neueren Gesicht. Oder: wo der Stil sonst so gotisch deutlich wie hier ist, daß er als das eigentliche Volksbeharren erscheint, auch wenn er bloß erhalten wurde, muß die fürstliche Andersart um ebendies deutlicher als anderwärts dagegen ausfallen. Man könnte nachdenklich werden über die Frage, ob dieser Gegensatz etwas über das innere Verhältnis von Fürst und Volk aussagen möchte, wie es in den späteren Zeiten war. Zum Anblick kommen aber auch die Bauernhäuser im Lande, das Saubere der Gehöfte, wozu die Stroh- oder Rohrdächer für uns einen neuen Eindruck boten, besonders wenn sie mit dem Ziegelbau vereinigt waren. Wenn die Bauernbauten etwa im Ziegel keinen eigenen Charakter außer einer ruhigen Breite haben, bekommen sie doch durch diese Bedachung etwas Heimatsinniges. Sie sind schön zur Erde eingeduckt und breit und still mit dem Lande verbunden.

[Havelberg, Westwerk des Domes]

[Lettner im Dom von Havelberg]

Man bildet sich ein - und es ist wohl auch etwas Richtiges daran —, daß man gleich anfangs, wenn man in eine neue Gegend und vor allem in ein neues Stammland kommt, am meisten die Andersartigkeit der Charakterzüge oder doch der Gestalten und Gesichter erkennt, die uns Deutsche leicht und doch bestimmt auseinander trennt. Jedenfalls ist man gleich anfangs am empfindlichsten dafür, während man später etwa die Einzelheiten der Sprache verfolgt. Und so, wie sich das Geographisch-Physiognomische des Landes schon bald mit einigen wenigen Zügen abzeichnen will, in welche sich später noch die Seen hineinbetten, so erscheinen auch die Gestalten oft groß und jedenfalls in klaren, auch etwas schweren Formen bestimmt, über welchen die Gesichter zurückhaltend kräftige und auf sich selbst gewandte Züge haben. Auch schienen es Gesichter, die zu einer breiten Erde gehören; und die Augen schienen darüber oft gleichmütig und ohne eifrige Nähe hinausgetragen. Es ist nicht Unbeweglichkeit, aber Gelassenheit, was man zu beobachten glaubt, und man glaubt es, weil man gerade einen Mecklenburger solcher Art kennt, dessen Gesicht man nun vermehrt zu sehen glaubt. Man glaubt es auch, weil solche Züge auf die beiden Seiten des Landes hinweisen, auf das Bauerntum mit breiter Scholle und auf den Blick des Seemanns, der über die bewegte Nähe hinausträgt.

Dann erinnert man sich, daß Fritz Reuter der eingeborene bürgerliche Dichter dieses Landes ist und mit seinem »Unkel Bräsig«, mit »Dörchläuchting« und vielen anderen, auch fraulichen Typen dem ganzen stofflichen Hunger einer breiten Anlage genug tut, in deren seelischem Bedürfnis zugleich der Humor beschlossen ist. Man liest dagegen auch, daß Heinrich Voß, der Dichter der »Luise«, ebenfalls ein geborener Mecklenburger, sein engeres Vaterland einst zornig hinter sich ließ, indem er mit gewaltigem Schimpf auf das Adelsgehabe im achtzehnten Jahrhundert, so wie er es in seinem Entwicklungsgang erfahren hatte, zurückblickte. Aber als Dichter der ländlichen Idylle scheint er doch auch stammhafter Mecklenburger geblieben. Der ihm zeitgenössische Dichter und Landsmann Kosegarten aber sprach die stolz-anhänglichen Worte: »Ich bin ein Obotrite, bin meines Landes wert.« Fritz Reuter ist am meisten deutsches Lesegut geworden. Aber wer sich die Mühe gemacht hat, sich in das für den Süddeutschen noch schwierigere Platt der Jugendgeschichte »Kasper-Ohm un ick« von John Brinckman einzulesen, der lernt daneben noch einen obzwar weniger ausgiebigen, jedoch körnigeren Mecklenburger schätzen. Heimatdichtung dieser Art gehört in eine[r?] Zeit bürgerlicher Liebhaberei zum Volkstum.

Das schöne Schwerin

Für uns aber kommt nun ein richtig vornehmer und schönbehaglicher Aufenthalt in der Reise. Schwerin ist vor uns, gleichzeitig ein vielteiliger Seeanblick, ein obzwar moderner, doch romantisch fürstlicher Schloßanblick und der Anblick eines hohen gotischen Domes. Dies alles zusammen in engem Kreise und doch durch das Wasser ins Land idyllisch großartig hineingelagert ist Schwerin. Wir hatten dieses zwischen Wasser gebettete und teils um das inselhaft im Schweriner See aufsteigende Schloß gelagerte Stadtwesen, indem wir auch auf einem Damm wieder zwischen Wasser ins Land hinausgerieten, auf halb freiwilliger Labyrinthfahrt sofort kennen gelernt, als es uns vorerst nur um ein gutes Mittagessen zu tun war. Aber das Gute lag nahe, und als wir es fanden, waren wir wieder mitten in der Residenz.

Eine kleine Gesellschaft, die am nächsten Tisch saß und die einer Dame mit hohem weißem Haar den Ehrensitz gegeben hatte, war in der leise gewandten und erhoben familienhaften Art wie eine Verbindung von Großvaterzeit und Gegenwart. Auch wie sie von ihren Angelegenheiten sprachen, wobei unwillkürlich zu hören war, daß man die Ahnenkarte noch mit den Eigenschaften der Großeltern und Urgroßeltern ausfüllen müsse, das wies auf Herkommen und auf einen festgezeichneten Lebenskreis. Man nahm sich auch vor, indem man aufbrach, den Schloßpark zu besuchen. Und wir unsererseits hatten, als wir nachher die zweispännigen Chaisechen noch wie Vorzeiten über die Brücke und, den Schloßbau umrundend, in den Park und am See entlang fahren sahen, die Idylle der alten vornehmen Residenz mitbehorcht und angesehen.

»Alt« indes sieht Schwerin nicht aus. Schon das viele, in der Sonne lebendig spiegelnde Wasser mit seinen offenen Flächen läßt eine Stadt nicht alt erscheinen. Und Residenzstädte, besonders kleinere, machen oft gerade nicht einen althistorischen Eindruck, wozu noch kommt, daß hier das Schloß zwar mit alten Bauteilen, aber wesentlich und im ganzen Anblick rundum mit vielen Giebeln, Erkern, Türmen, Vorbauten oder Vorsprüngen und aufgegipfelten Dächerzieraten ein Bauwerk der Fürstenromantik des mittleren neunzehnten Jahrhunderts ist. Die ganze Vergangenheit ist in dieser Zeit oft wie eine Einheit zusammengebaut worden, aber mit allzuvielen Enden. Doch all dies hier auf der Schloßinsel schön verankert, wie anderseits auch die in der Stadtmitte gegenüberliegende, gotisch steile und mit dem neuen Turm gewaltig hochzeigende Domkirche, stellt lauter geordnete und etwas vornehme Vertikale gegen die städtische Baufläche und gegen die spiegelnden Gewässer und Buchten. So gehen Landschaft und Anlage zum stilvollsten Bild einer neueren Residenz zusammen.

Und doch hat Schwerin eine alte Geschichte und ist als Stadt etwa so alt wie München; es hängt an demselben geschichtlichen Faden. Schwerin ist die erste deutsche Stadt, die in Mecklenburg — der Name ist von der alten Obotritenfeste Mikilinburg (Wiligrad) — im Verfolge der Germanisierung des blutig widerstrebenden Wendenlandes durch Heinrich den Löwen 1161 gegründet wurde. Der Wendenkreuzzug 1147 hatte die Eroberung des Landes noch nicht erreichen können. Der Wendenfürst Niklot hatte die Herrschaft über den engeren obotritischen Teil inne, und er hatte auch dem Zorn des Löwen, den er schwer gereizt hatte, in der Nähe des Schweriner Sees in Sümpfen erfolgreich widerstanden. Zwischen Verhandeln und Kämpfen ging es weiter, bis bei neuen Anschlägen der tapfere Niklot in einem Hinterhalt, den er selbst gelegt hatte, unter heimlich gepanzerte Futterknechte des Gegners geriet und erschlagen wurde. Gunzelin von Hagen, ein braunschweigischer Edler, erhielt von dem Löwen die Statthalterschaft in Obotritien und den Auftrag, die von Niklot verbrannte Wendenburg Schwerin nach sächsischem Muster als deutsche Stadt wieder aufzubauen. Der Löwe hatte auch das Bistum Schwerin im Zuge seiner Pläne gegründet; und so vereinigten sich der kirchliche und der fürstliche Sitz in der Stadt, was ihr bis zur Gegenwart baulich die historische Zeichnung, wenn auch nach vielen Zwischenstufen in ihrer weiteren Geschichte, gegeben hat. Von Niklots Söhnen wurde Wertislaw nach einer neuen Empörung durch den Löwen hingerichtet; Pribislaw lauerte weiter. Da sah sich der Löwe durch seine Kämpfe mit den Sachsen gezwungen, mit Pribislaw einen Vertrag zu schließen, wonach dieser 1170 Reichsfürst in Obotritien wurde. Pribislaw war der Stammvater des bis 1918 regierenden mecklenburgischen Fürstengeschlechts.

Wir sind auf dem Schloßplatz von Schwerin. Theater, Kunstgebäude, das Fürstenschloß auf seiner abgezirkelten Wasserinsel, alles ist still im milden Sonnenwinde. Ein Schiff fährt ab, man sieht einzelne Segel, und das Wasser leuchtet. Wir hören in der Nähe Platt sprechen, etwas gequetscht und doch wohlklingend. Straßen und Plätze sind heiter vornehm. Die mit hochgeschlitzten Mauern umschlossene Domkirche steht als eine gotische Vielzahl und hohe Summe des Backsteinwerks zwischen den städtischen Häusern. So hält sich das Mittelalter groß, reinlich und fast zeitlos in der schönen Hauptstadt des Landes. Gotik überhaupt scheint hier in Ostelbien Anfang und Zeitlosigkeit zugleich zu bedeuten. Sie ist hier nicht wie ein Stil der Geschichte, trotz aller Vergangenheit.

[Havelberg, Madonna um 1400 an der südlichen Chorschranke des Domes]

[Alte Speicheranlagen in Wismar]

Zum alten Wismar an der Ostsee

Schönheit der Backsteingotik

Heute kam, indem wir, durch Mecklenburg querend, den Blick nach Norden richteten, die Erwartung eines Stückes vom Meere. Wir denken voraus und freuen uns. Indes, was ist in dieser Erwartung stärker, die Freude der kommenden Ausschau oder der Gedanke einer nicht mehr eingegrenzten Erhebung? Gewiß ist, daß an einem südlichen Meere die Erhebung des Sinnes im Entzücken der Anschauung selber dahinschwindet. Das nördliche Meer aber wird uns, so ahnen wir, ins größere Ungewisse und damit stiller in die Tragweite unseres eigenen Wesens erheben. Die Anschauung wird sich in ein schweigenderes Gefühl hineinverlieren. Viel Land und viel Bauwerk, das darin ist, haben wir durch eine Reihe von Tagen, seitdem wir aus Süddeutschland weggefahren sind, sich täglich vor uns erneuern sehen. Nun werden wir bald an dem gedächtnislosen und doch immer weitertragenden Meere stehen.

Norddeutsche Backsteingotik

Ein Rückblick aber ist noch notwendig, indem wir von Schwerin kommen, da der Schweriner Dom ein ähnlich großartiges Werk jener norddeutschen Backsteingotik ist, wie wir sie in Wismar bald in einer stattlichen Dreizahl von Kirchen und dazu noch in verschiedenen herrlichen Profanbauten antreffen werden. Den Dom von Schwerin mochte man in einer Weise als fast zeitlos empfinden. Die hohen Schiffe sind mächtig gekreuzt, und gerade auch der Teil des Längsschiffes, der zum Chor hin sich über das Querschiff weiter erstreckt, ist lang und schlank wie eine selbständige Baulänge. Dadurch wie durch die Wirkung des Ziegelbaues überhaupt wird man auch darauf aufmerksam, wie sich die Teile des Baukörpers als selbständige konstruktive Erscheinungen aufgliedern und dann zusammenschließen. Auch die polygonen hochschlanken Ecktürme an den Kanten der Querflügel, die sich ansehen lassen wie eine steile Wache von zwei hochaufgebauten Speeren, verstärken diese Wirkung der selbständigen Teile. Dabei ist es aber noch besonders merkwürdig, daß der Ziegelbau bald nur eine reine Nutz- und Zweckmäßigkeit in seiner Wirkung bis zur nüchternen Deutlichkeit zu zeigen scheint — jene Wirkung, über welche man mit einer Erneuerung so schwer hinwegzukommen vermag —, bald aber wieder ganz im Gegensatz zu einer fast bis zum Zwecklosen reichenden technischen und geistigen Spielform übergeht. Und in dem Zusammenwirken nun dieser beiden, nur für sich verfolgten Gegensätze von Raumkörpern und Einzelzügen, von gewaltiger Masse und zierlichen Spielreihen, scheint besonders der Charakter der norddeutschen Backsteingotik gegeben.

So ist sie ein geschichtliches Stildokument von unübertrefflicher Echtheit, aber nicht ganz in dem gleichen Sinne wie in Süddeutschland, wo an der Strenge oder Schwere oder Gewogenheit des anderen Steinmaterials auch der Ziegelbau teilnimmt und im Spiel von Gewicht und Aufhebung auch mehr einen geschichtlichen Ausdruck gewinnt. Die Empfindung für das geschichtliche Gewicht scheint in Norddeutschland mehr weggefallen. Es verliert sich in dem Auseinandergliedern und Zusammenfügen von Raumplan und Spielformen. Und so entstehen, obwohl es das Wesen des Gotischen ist, das Zeithafteste betont oder den geschichtlich bildhaftesten Stil gefunden zu haben, doch hier Gebilde einer eigentümlich ruhigen Zeitlosigkeit oder sonderbar gleichgebliebenen bürgerlichen und volkhaften Zuständlichkeit. Die Gotik will hier geradezu als das einmalige und gebliebene geschichtlich-bürgerliche Bild erscheinen; und während sie doch sonst auch der Ausdruck der weitesten Spanne von Einzelseele und Gemeinschaft in einem zeitlichen Raumbilde ist, sinnbildet sie hier vor allem die Summe einer wohlgezählten und ordnungsbereiten Gleichhaltung. Es erscheint hier also auch statt der geschichtlichen Schwere des Ausdrucks eine im Einzelnen leicht fortbeschwingte, im Ganzen aber auf sich bezogene und regelgroße Raumharmonie, welche etwas von einer freudigen geistigen und seelischen Gleichmütigkeit an sich hat. Wenn dies nun auch eigentümlich dem Material des Backsteinbaues, dem Summieren und Teilen in kleinen Mitteln entspricht, so läßt sich doch heute, wie der neue Turm von Schwerin zeigt, diese Rechnung aus der Genauigkeit schwer mehr zur Vision einer geistig-seelischen Wirtschaft hinaufsteigern. Dem Mittelalter haben sich aus diesem Tun die gewaltigen Raumschiffe, die Lichtfreuden der hochschmal aufgeschlossenen Fenster, die »perlenden« Schönheiten der profilierten Pfeiler, die spielenden Läufe der Zierfelder und Giebel im reichsten Maße geschenkt. Welche Vielteiligkeit ist das gewesen, um doch hier am Zweck der Kirche nichts anderes als das Gleichgewicht eines zeithaft bürgerlichen Hauses zu bedeuten. Warum war es die Gotik, welche in ihrer Blüte mit dem Geschichtlichwerden dieses Landes hier (ähnlich wie in Ostpreußen und wie also schließlich an der ganzen Wasserkante) zusammentraf, um dieser Anfangsgeschichte die bleibende Sprache zu geben? Gegenüber den romanischen Bauten jedenfalls bedeutet die Gotik mehr das Gesetz der Gemeinschaft als das Gesetz der Geschichte. Das gotische Baugeschlecht ist nicht wie der Kampf um einen in sich selbst aufgespaltenen Zeitraum, nicht wie das Sinnen um eine noch innerlich unbekannte, jungfräuliche Not der Weltanschauung, sondern um ein Ordnen im bewußten Ziele, das, je mehr es Ziel und darum faßbar, auch um so mehr bürgerlich und angemessen wird. Aber eben das spricht sich auch aus den Bauformen der Gotik hier heraus wie mit den prismatischen Wendungen eines reichen Spiegelwesens, das uns wohl als bürgerliches Bild am Meere den besondersten Genuß macht. Es trägt die schönste spiegelnde Behaustheit zur unbehaltensten Weite. So ist uns alles Land an der Wasserkante ohne seine Gotik, als ob ein innerstes Gesetz der Zusammengehörigkeit darin sei, nicht denkbar. Und so stehen hier näherhin in Schwerin und Wismar wie in Rostock und am höchsten in Lübeck mit der Marienkirche diese gotischen Baubilder im Lande, um einen Charakter und ein Geheimnis des nationalen deutschen Wuchses in sich zu verbergen.

Wismar in Sicht

Wismar besonders aber wird uns trotz mancher Zerstörung noch ein altes Bild von solchem Zeit- und Volkssinne zeigen, zumal es bald nach 1200, als deutsche Stadt nach der Wendenzeit gegründet, auch schon die drei Kirchspiele hatte, die uns heute noch in den gleichnamigen Kirchen entgegentreten. Auch Wismar war übrigens im früheren Wechsel der Fürstensitze, nicht immer mit Willen der Bürger, schon Residenz gewesen, während Schwerin als altes Bistum erst nach dem Dreißigjährigen Krieg unter die Hoheit des Herzogtums kam. Jedoch durch den gleichen Frieden ging dafür Wismar für Mecklenburg bis beinahe in die Gegenwart verloren, indem es an Schweden abgetreten werden mußte. Und so können wenige Angaben eine Ahnung geben von der blutig rüttelnden Geschichte, welche auch nach den grundstürzenden Bewegungen zur Wendenzeit das Land am Meer wieder erfaßt hatte. Vor allem der Dreißigjährige Krieg, während dessen Wallenstein auf kurze Zeit, übrigens aber mit dem genialen Glanze dieses geschichtlichen Meteors, Fürst von Mecklenburg geworden war, hat das Land in furchtbares Verderben geführt. Die zwei Seiten, die Mecklenburg hat, nach dem Binnenlande herein und nach der See hinaus, sind lebhaft bewegte Spiegel der Zeiten gewesen zu der schönen Idylle, welche wir heute durchfahren.

So schon einiges von Wismar vorwegnehmend, gedenken wir aber auch noch gerne des Weges dahin, der gekreuzten Giebelzieren, die ihre Köpfe in die Luft zeichneten, der Stroh- oder Schilfdächer, die sich in das gekrümmter erhobene Land einschmiegen. Eine Gruppe von ganz neu wirkenden Ziegelhäusern, die mit Rohrdächern zu einem Gehöft zusammenstehen, erhält trotz der roten Ziegelfarbe durch die silbern schiefermatten und gelblich schafgrauen Töne der Dächer eine ganz unglaubliche Stille fürs Auge. Im Vorblick sind die Höhen nun lebhafter geworden. Das Land gibt sich noch einmal die vollen Formen ihrer eigen tragenden Schönheit, bevor der Blick an der Fläche der See die Bewegung der Erde verliert.

Dann aber kommt der Luftumriß des alten Wismar in Sicht. Da erheben sich nun hohe, dunkle und doch wie durch Schwere scharfe Raumkörper über der noch ungewissen Gleiche der Stadt. Es sind drei solche gewaltige Raumkörper, und besonders zwei davon haben je einen mächtigen Turm, deren jeder wie hinaufgewürfelt und nun in seinen vier starken Kanten festsitzend erscheint und mit seinen vier Seiten zugleich wie ein wehrhaftes Gesicht gegen alle vier Himmelsrichtungen ausblickt. So bewachen sie auch die zügige Straße, auf der wir hereinkommen. Dann sind wir in der kühlen Ruhe der alten Stadt, auf deren Marktplatz, welcher ein wenig erhöht ist, der Chor der Marienkirche herüberblickt, während rückwärts hinter seinen wie Bügel einer Krone rundum gefügten Strebebögen hoch der Westturm aufragt. Dieser schaut uns ins Gesicht wie aus der Höhe herab die versteinte Macht einer größeren Zeit. Und bei uns an der Seite steht ein zierlicher Rundbau der Renaissance mit Haube und Laterne; es ist die »Wasserkunst« auf dem Markte. Dazu zeichnet sich jetzt der Anblick norddeutscher Staffelgiebel.

Ein Stückchen Ostsee

Uns aber eilt es, zum Hafen zu kommen und ein Stück der Ostsee zu sehen. Schiffe, Eisenbahnwagen, Geleise, Krane, Schuppen, die Ruhe der Zweckmäßigkeit; und dann hebt man den Blick gegen den leisen Wind in der silbernen Luft des Nachmittags auf die Bucht und die Wasserfläche hinaus. Gegeneinandergreifende Landränder leiten die nächste Ausschau; zuletzt stehen noch Bäume und technische Gebilde über dem Spiegel empor, bis der Blick in die Kippe gerät, wo Wasser und Luft einander die Grenze nehmen. Es ist hier nur ein kleiner Ausschnitt, aber wir empfinden den Atem der größeren Erde. Was ist es, das wir im Anblick des Wassers suchen, welches dem Himmel seinen Spiegel entgegenhält Es ist eine sonderbare Art von Frieden und von einer Ruhe, in welcher zugleich Ruhelosigkeit ist, weshalb wir den Anblick des Meeres suchen. Die Sonne leuchtet auf das Wasser, und ihre Gegenwart vermehrt hier noch die Vergessenheit, welche sich um alles breiten will, was unseres Daseins ist.

[Wismar, Mittelschiff der Marienkirche]

Der kleine Ausschnitt der Ostsee bei Wismar hat hinter sich eine alte Geschichte. Es ist die Zeit der Hanse, in welcher Wismar eine führende Rolle gehabt hat. Und in jener Zeit ist einer großen Verbindung Mecklenburgs mit dem Norden zu gedenken, damals als der Sohn Herzog Albrechts II., den man den Großen nennt, sogar die schwedische Königskrone errungen hatte. Im Kampf mit der dänischen Margarete, dem »König Hosenlos«, aber unterlag Albrecht III. 1389. Schweden fiel ab, und nur Stockholm hielt sich einstweilen noch zu den Deutschen. Zu seiner Verproviantierung hatte man im Kaperkrieg die »Vitalienbrüder« (Viktualienbrüder) eingesetzt, die mit ihrem Raub in den Häfen von Wismar und Rostock Zuflucht fanden. Die kühnen Seeräuber, eine Art spätmittelalterlicher Wikinger, beherrschten teilweise noch die Ostsee bis ins fünfzehnte Jahrhundert. Das Mittelalter aber blieb Wismars große Blüte. Im Frieden von 1648 kam es, wie gesagt, unter die schwedische Herrschaft, und erst 1803 konnte es wieder eingelöst werden, zunächst pfandmäßig, bis erst 1903 die endgültige Zurückkunft erfolgte. Und nun ist Wismar ein altdeutsches Stadtbild in Mecklenburg, da es sich während seiner Ausgliederung wenig verändert hat.

Die gotischen Dinge der Stadt

Abends und morgens gingen unsere Wege durch das alte, von Gotik »gestirnte« Wesen der Stadt. Zunächst war da die Beschäftigung mit den drei großen gotischen Kirchen, mit der hohen Sinn- und Sinnenklarheit von St. Marien, mit der wuchtigeren, im Innern sich mächtiger umsetzenden Raumkraft von St. Jürgen und mit der überhohen, übersichtigen, geistigen Räumlichkeit von St. Nikolai. Hier bewegen wir uns zuletzt im sinkenden Abend unter dem Anhauch ihrer steilen Höhen und Querausbauten, die zum bleichenden Himmel ein reiches Werk von Giebel- und Fialenzieren schicken. Dann sehen wir mit der ganzen Lust, die das norddeutsche Ziegelwerk in Zinnen und schmuckvoll übergriffenen Dächern geben kann, die »Alte Schule« als ein ausnahmlich schönes mittelalterliches Hausbild. Nicht weit davon ist, voll von gebundenen Fenster- und Gewändezieren, der zonenhaft mit Figurenfriesen gegürtete Fürstenhof der Renaissance, zu dem man den Bruder des berühmten Regensburger Malers Albrecht Altdorfer, namens Erhard Altdorfer, in Verbindung gebracht hat, weil dieser von 1512 bis 1552 als Hofmaler und Baumeister des Herzogs Heinrich des Friedfertigen von Mecklenburg tätig war und auch vom Herzog ein Haus in Schwerin zum Geschenk erhielt. Wir sind noch in die Nacht hinein unterwegs, die nun ein »gotisches« Dunkel bringt, in welchem Türme und Türmchen, Giebelchen und Fialen, Firste und offene Strebebögen rhythmisch über uns hochhin laufen und sich verlieren.

Nur kurze Wege waren es gewesen zu den Großbauten der Kirchen, deren Raummassen zugleich wie unausfüllbar und alles ergreifend und damit wie richtige Sinnbilder des mittelalterlichen Bürgerbegriffs und dann doch wieder wie zierliche Geräte sich ansehen ließen, wenn man sie in ihren Gliedern verfolgte. Dieser Sinn, daß ein Bauwerk zugleich wie ein Gerät zierlich und brauchfertig aussehen könne, wird aber besonders auch durch die Profangotik geweckt, die in den Bürgerhäusern sich aufgiebelt. Ihre aufgebrochenen Wände mit den gestuften Giebeln sind zwar so schöne Hausgesichter, als ob das ganze Haus erst in dieser Giebelstirn sein gewachsenes Leben zeigen könne, und gleichzeitig so sehr fertige Gebilde für sich, daß man sich wundert, weil doch die Zwischenöffnungen zugleich Fenster sind und Hausungen hinter sich bergen. Die »Alte Schule« bei St. Marien ist vor allem ein solches Haus»gerät« und Juwel der Gotik. Hier ist besonders auch über den Dachrand hinauf die Neigung der Ziegelkunst vollzogen, immer über den Raumkörper spielend wegzuschießen, sich selbst dabei zu bekrönen und umhegte Orte zu bilden, welche nichts sind als ein Spielraum von Lust und Licht. An der »Alten Schule« ist auch der reiche Glanz der Glasuren des Ziegels wie noch an einigen schönsten norddeutschen Rathausbauten. Im ganzen aber ist diese Gotik wie ein hoher Formengarten, sie hat hier eine letzte Folgerichtigkeit erreicht. Daß diese Folgerichtigkeit aber doch aus der Gotik und nicht aus dem Ziegel kommt, das zeigt als Gegenbeispiel der für die Kunstgeschichte Deutschlands stilistisch hochwichtige Fürstenhof, dessen Renaissanceform dem Ziegelbau die geräthafte Freiheit nimmt, um eine bildhafte Anwendung mit Pilastern und Reliefen auf eine Palazzoform hin in allerdings schöner Weise zu erzwingen.

Am Abend und am Morgen mochte man aber auch dem Leben zustreben. Da war in den »Alten Schweden« zu gehen oder zu anderen Gelegenheiten, wo das Dasein behaglich wird und auch das nicht vergessen ist, was das Meer an guten Dingen bietet. Es gibt in Wismar auch eine Rotweinkultur seit alters. Und schwedische Tafeln sind schon für das Auge ein genußreicher Anblick und offenbar kein schlechtes Erbe der Schwedenzeit. Morgens aber mußte man die Fische sehen, die mit Karren und Körben von der Bucht auf den Markt gebracht waren. Wie große fleischige Blätter liegen die grausilbrigen Schollen noch lebend in den Körben. Gleich Blattstielen werden die Köpfe von den Frauen nicht ohne Mühe mit Messern herausgeschnitten, bevor die Ware an die Käufer übergeben wird. Die stummen Fische sind immer ein eigener Anblick und können dem Sinne, wenn er eben von den sternklaren Gebilden der aufwärts gestiegenen Zeitwelt zurückkehrt, als die immer doch bleibende Hilflosigkeit der Erde erscheinen. Wir blicken auf die Fische wie manchmal auf das krause und doch klare Leben eines Reliefs an den Bauten.

[Wismar, Der 1553 von Herzog Johann Albrecht I. erbaute Fürstenhof]

Von Wismar nach Doberan

Ein gotisches Idyll

Während wir wieder des Weges fahren, beschäftigt uns immer wieder der Sinn der Gotik. Wie groß ist ihr Übergewicht in diesen norddeutschen Ländern geworden! Die Bürgerstädte sind ganz davon bestimmt. Breit auf den Grund gelagert und mit der Geradheit des Perpendikels in den Luftraum gehängt, so blicken die zackig gegliederten Bauten weit über den ebenen Umkreis. Ebenso lose als regelhaft, so spielend wie vernünftig sind sie voll ihrer aufgesetzten Zieren. In ihnen aber ist die Neigung zum allseitigen Durchblick, zu einer zentralen Lichtoffenheit in den großen, hohen Langschiffen und in den hallenartigen Querschiffen. Alles ist voll zweckmäßiger Vernunft, und in ihr ist doch ein beschaulicher Sinn und ein stilles Herz. Aber immer wieder erscheint diese Gotik auch wie ein deutsches Wesensschicksal. So umfassend sie wuchs, so lag doch nahe, daß sie sich ins Zweckhafte festlegte und ins Erzählerische verschwendete, und daß die Waage der Tatkraft in diesen Gegensätzen stehen blieb. Die bauliche Rechnung war groß, aber nicht mehr wuchtig, sondern eigentümlich sinnig. Und so empfand man auch den Ausdruck eines Hochaltars wie in St. Jürgen, eines Hauptwerkes unter den späten Schreinaltären der Gotik. Man mußte daran zurückdenken wie an ein goldenes, mit Körnern besätes Ährenfeld Diese Gotik hier oben ist eine merkwürdige Reife zwischen Sinnigkeit und Vernunft. Warum mußte es in dieser Art auf einmal mit ihr zu Ende sein?

»Dobr, Dobr«

Die große Straße geht wieder nach Osten und bringt uns bei guter Fahrt alsbald zu einem wirklichen gotischen Idyll. Plötzlich sind wir da und treten unter hohen alten Bäumen auf Rasenplätze hinaus, die ausgelichtet sind und noch mit wenigen Bauten umstanden. Vor uns hebt sich wieder ein gotischer Dom mit den geraden und steilen Maßen der Schiffe und mit dem von einem Kapellenkranz eingerundeten Chor. Er steigt aus dem beschaulichen Rasen hoch in die blaue Luft. Die weitere Umgebung zeigt parkartige Schönheit. Ein altes Kloster ist hier ein Ort der Ruhe geblieben und hat zugleich seit alters die Zuneigung der mecklenburgischen Fürsten genossen, die hier in großer Zahl mit anderen Geschlechtern des Landes sich ihre letzte Stätte bereitet haben. Diese geschichtliche Idylle ist das alte Kloster Doberan. Noch am Ende der Wendenzeit unter dem Fürsten Pribislaw hat es einen Anteil an der Germanisierung des Obotritenvolkes gehabt. Auch Pribislaw selber, der kühne Gegner und dann halbwegs versöhnte Gefolgsmann des welfischen Löwen, der bei einem Turnier in Lüneburg Ende 1178 von seinem Pferde zu Tod gestürzt war, wurde später von seinem Sohn Heinrich Burwy hierher zur Bestattung gebracht, woran die Pribislaw-Kapelle im heutigen gotischen Dom erinnert. Als Hinterort des Ostseebades Heiligendamm, das seinen Namen einer Klosterlegende im Anschluß an eine zerstörende Sturmflut verdankt, ist Doberan auch außerhalb seiner kunstgeschichtlichen Bedeutung bekannt.

»Dobr, dobr«, soll ein Schwan im nahen Röhricht gerufen haben, als die Bauleute zauderten, ob es angebracht sei, an dem sumpfigen Orte ein Kloster zu gründen. Daher soll der Name Doberan kommen, was auf wendisch einen guten Ort bezeichnet. Außerdem spielt auch hier in der Gründungssage wieder ein Hirsch eine Rolle, weshalb in der Kirche heute noch ein Hirschgeweih gezeigt wird. Dies nur als Beispiel, daß dieser Dom auch sonst voll von Legenden, Anekdoten, humorigen Grabsprüchen, wie auch von prächtigen Grabstätten, Ritterfiguren, Schnitzwerken und manchem Bilde eines überraschenden religiösen Inhalts ist. Die Mischung von klösterlichem und fürstlichem oder landesgeschichtlichem Geiste macht, daß Doberan schon allein als Sehenswürdigkeit besucht wird. Und die gleiche Mischung gibt auch seinem hellen und hohen Dominnern eine heiter und aufklärerisch gesammelte Blütenstimmung der Zeiten mit einer Zahl hoher mittelalterlicher, aber auch humoriger und drolliger und später leise bombastischer Werke der Ausstattung. Und dabei wirkt diese Ausstattung doch nicht museal, sondern wird von der hohen Schlankheit der Schiffe und von dem ungeheuerlich lotrechten Aufwuchs der Pfeiler erstaunlich beherrscht oder beinahe zugunsten der alten Größe ausgeschieden.

Eines Tages waren wir auf unseren Fahrten unvermutet zwischen Gandersheim und Corvey zu der herrlichen mittelalterlichen Gebäudeanlage von Amelunxborn bei Stadtoldendorf gekommen. Und nun wurden wir hier wieder an Amelunxborn erinnert, da Doberan nach seiner ersten Gründung alsbald von den Wenden 1179 wieder zerstört und, nachdem es 1186 etwas entfernt wieder im Aufbau war, von hier aus mit einem neuen Konvent versehen wurde, der deutsche Kaufleute und Handwerker mit sich brachte. Vom ersten romanischen Bau, dessen Grundrissen man in den letzten Jahren nachgegraben hat, ist wenig mehr erhalten. Die Kirche steht da als ein steiles gotisches Werk des vierzehnten Jahrhunderts, mit jener etwas einsam gewordenen struktiven Reinheit der Erhaltung, die wie ein stehengebliebenes Uhrwerk erscheinen kann. Das dreischiffige Innere mit den Pfeilern und den Rundstäben daran hat den Charakter des Trockenen und Blühenden zugleich. Die Querschiffe sind wie öfter hier wieder hallenhaft, und jeder dieser Seitenräume hat in seiner Mitte einen hohen achteckigen Pfeiler von unglaublicher Schlankheit, der solcherart mit geometrischen Mustern bemalt ist, daß sie den Blick hemmungslos hinaufjagen. Es genüge, mitzuteilen, was der Volksmund sagt, daß die Kirche »von oben nach unten gebaut« sei, um den Eindruck noch mehr anzudeuten. Und von der alten Ausstattung sei noch der große Hochaltar und im Westen ein großer Laienaltar mit kolossalem gotischem Kreuz genannt, dazu das reich geschnitzte Mönchsgestühl und eines der frühesten Sakramentshäuser in Eichenholzschnitzerei. Außerdem bringen Chorumgang und Kapellen noch die Grabmäler der Fürsten und Geschlechter.

Allerlei Humor

Niemand wird diese Kirche auch vergessen wegen ihrer humorigen Inschriften, die manchmal an einen religiösen Galgenhumor streifen. Zum Originellsten gehören die Verse zum Gedächtnis eines Bülow — das Geschlecht der Bülow, auch mit dem General aus dem Weltkrieg, hat eine eigene reiche Kapelle —, welche lauten:

Wiek, düwel, wiek, wiek wit von my,

ick scheer my nig een hoar üm dy.

ick bin een mecklenbörgsch edelmann,

wat geit die, düwel, mien suupen an?

ick suup mit mienen herrn jesu christ,

wenn du, düwel, ewig dösten müst,

un drink mit öm soet kolleschaal,

wenn du sitzst in de höllenqual,

drum rahd ick: wiek, loop, rönn un gah,

efft by dem düwel ick tau schlah.

Diese geharnischte Zechererklärung soll sich auf den Wendengott Radegast beziehen, auf den sich der Ahnherr der Bülows weigerte, sein Methorn zu leeren.

Von weiteren Grabinschriften ist diejenige einer alten Dame wohl bekannt, aber immer wieder von bester Prägung:

Hier ruhet Ahlke (Adelheid) Ahlke Pott

Bewahr my leve Herre Gott,

Als ick die wull bewahren,

Wenn du währst Ahlke Ahlke Pott

Un ick währ leve Herre Gott.

Da ist auch der Spruch auf einen Orgeltreter:

Hier ruhet Peter Knust,

Gott zu Ehren hat er gepust,

Bis er selbst den Pust bekam,

Und Gott ihm den Pust benahm.

Schließlich noch ein besonders kräftiger Spruch:

Hier ruhet Gottlieb Merkel,

In sien Jugend was hei’n Ferkel,

In sien Oeller was hei’n Swin.

Mien Gott, wat mag hei nu woll sin?

Und schließlich noch eine Anekdote von Herzog Friedrich Franz I., gestorben 1837, der sich um Doberan und Heiligendamm besonders verdient gemacht hatte. Wenn der Küster, der die Kirche mit einer rechten Hingabe und manchmal auch mit einem leisen Humor zeigt, zum Grabmal dieses Herzogs kommt, erzählt er angesichts des stumpfwinklig abgedeckten Steinmonuments: »Man sagt, der Herzog selbst hätte diesen schrägen Deckel gewünscht, damit niemand seinen Hut und Mantel auf den Sarg lege... oder nach den vom Volksmund überlieferten Worten: »Mi sall keiner den Haut upp ’e Snuut leggen.« Hatte er doch in Ludwigslust gesehen, daß die Bauern, wenn sie dort zum Altare gingen, ihren Zylinder und Mantel auf den dortigen flachen Sarkophag legten. Man sieht, daß die mecklenburgische Idylle der Gotik in Doberan auch mit der Empirestimmung um 1800 noch nicht zu Ende gegangen ist.

Leuchtturm Darßer Ort

Ein Aufenthalt auf dem Fischland

Manchmal erzählt ein Stück Erde sich so sehr selber, daß man nur horchen möchte, wie das gleichmäßige Meer an das Land schlägt, und fühlen, wie der Wind die blasse Luft immer in Bewegung hält, und schauen, wie darunter landeinwärts noch silberne Wasserspiegel liegen. Einzelne Häuser und Dörfer mit Rohrdächern stehen zwischen Baumgruppen und wenigen Feldern aus sandigem Grunde. Ein Urwald ist durch die Dünen schreitend stehen geblieben. Und das Meerwasser löst sich von seiner unabsehbaren dunstigen Fläche wie in Furchen ab und treibt in langsamen,langhin rauschenden Zeilen heran. Man befindet sich an einem Rande des Lebens und wünscht nichts, als zu horchen, zu fühlen und zu schauen.

Das Stück Erde aber, von dem wir jetzt sprechen, ist das Fischland an der Ostseeküste von Mecklenburg. Es ist eine schmale Nehrung zwischen dem Meer und dem Saaler Bodden, ein Streifen Landes, der für eine kleine Bevölkerung und für ein zuwartendes Leben die Heimat bildet. An dem zuwartenden Leben aber, das hier möglich ist, haben ihren schlichten Anteil einige Bauern und Feldbesteller, noch mehr dazu in der gleichen Ruhe der Zeiten die das Meer bestellenden Fischer, und dann noch am meisten die Seeleute und Matrosen, die zu fernen Erden hinpflügend hier ihr Teilchen Heimat wissen. So ist das Fischland ein kleiner Zweig des mecklenburgischen Landes. Es zweigt ab bei dem alten Orte Ribnitz, dessen Name Fischort bedeutet; und es führt, heute sogar mit einer schönen Autostraße auf festem Damme zwischen bescheidenen Feldern und zwischen den Wassern der hinter Dünen treibenden Ostsee und des flachen großen Boddens, zu den Halbinseln Darß und Zingst und damit hinüber nach Pommern. Am Ostseestrande haben sich in der Gegenwart die Bäder angesiedelt, und im Bodden spiegeln sich alte Ortschaften mit stumpfen festen Türmen. An der äußersten Spitze ins Meer hinaus aber hebt sich der Leuchtturm Darßer Ort.

[Wismar, Alte Schule und Kapelle St. Maria zur Weiden]

Traum der Landschaft

Es war wie ein Traum der Müdigkeit, als wir an den Anfang dieses Landes kamen. So als ob sich das Daseinsgefühl gabelte, begann sich die Sicht zu spalten in Nähe und Weite. Das Land ging auf in silbernen Flächen und schien die feste Richtung zu verlieren. So auch, wie der feste Zusammenhang wegging, vermehrte sich zuerst noch leichtspielend hinter Bäumen das Wasser, und dann aber geriet das Auge in seine von ferne her blitzenden Bahnen. Was da weithin mit Duft und vogelgleich schwebender Ruhe den Umkreis des Landes in sich sog und ränderte, was seine Wellen noch gegen Buschwerk und Baumwuchs hertreiben ließ und mit seinem Wasser an kleinen Ackerbeeten anleckte, das war aber nicht das Meer, sondern der Bodden. Erst auf jener anderen, linken Seite kam die große See, wo die Bäume zurückgewichen waren, wo man auf die Dünen hinaufsprang und im Sande zurückrutschend sich an dem langen und harten Grase hielt, das in Büscheln scheinbar nicht wuchs, sondern bloß in den trockenen Böschungen vorhanden war. Aber war es mehr der Bodden, der das Auge mit einem Zwiespalt aus der festen Nähe in eine wiegende und doch leere Ferne hineinzog, oder war dies zwiefache Fühlen an der leise bespülten Küste stärker? Der nahe Rand läuft zu den Seiten ziellos hinweg, und die Weite will uns, je mehr wir ihre Wirklichkeit spüren, hinausziehen mit einer träumerischen Gewalt. So sehr scheint die Ferne wirklicher zu werden, daß wir die Nähe nicht mehr empfinden und alles nur in der gleichen gläsernen Sichtbarkeit. Wir stehen im Traume der Ostsee.

Fahrt durch das Fischland

»Dobr, dobr, gut, gut«, so schien der Ruf des Schwanes aus der alten Sage des Klosters Doberan hinter uns nachzuklingen, als die weichen Räder wieder leise schütternd auf der großen Straße rollten. Wir waren durch Rostock gekommen, das ebenso wie Wismar als alte deutsche Stadt nach der um 1200 zu Ende gehenden Wendenzeit gegründet worden war, und dessen gotische Marienkirche wieder eines der machtvollen Backsteinwerke an der Ostsee ist. Auch diese Hansestadt hatte schon im dreizehnten Jahrhundert ihr heute noch mit Kirchen festgelegtes inneres Stadtbild bekommen. Die gotischen Baubilder, aus der alten Geschichte in die neueren Stadtbilder eingeriegelt, greifen nun, nachdem wir sie immer wieder sahen, mit ihren hochschlanken Bogen träumerisch nach uns aus. Das Hafenleben des Nachmittags an der schon seeartig erweiterten Warnow bringt wieder eine Weile des Selbstvergessens, bis wir uns umdrehend wieder die fremde Stadt erkennen und dann den Wagen suchen, um, fast müde von der Lust des Schauens, noch mehr von der Fremde im deutschen Lande zu finden. Es kommen zunächst einige von den alten Dörfern, deren Namen auf »hagen« auslauten, also von den im Walde durch Rodung von den deutschen Kolonisten angelegten Hagedörfern. Und dann dreht der Wagen bei Ribnitz, das auch ein altgeschichtlicher Ort ist, nach links hinaus auf das Fischland.

Was war nun da von einzelnem, das auffiel und das auch wieder, durch den gläsernen Traum des Daseins belichtet, in die Erinnerung kommt? Da waren an den Seiten der festen Dammstraße flache Wiesen, die so flach waren wie der Bodden, der herüberschimmerte; sie waren blaß und fast etwas fröstelig von der dünnen Nachmittagssonne; sie wurden kahl, je mehr das zweite Heu von ihnen genommen wurde. Das Heu wurde mit Gabeln auf die Wagen geladen, und dies war wie auch sonst im Bauernlande, nur daß alles hier silbriger, blasser und gleichsam durchsichtiger war. Und dies schien hier auch deshalb unwirklicher, weil, wie man sah, die Männer mit den Gabeln weiße Matrosenmützen auf den Köpfen hatten. Einem Bauern in unserm Binnenlande möchte dieser Anblick im Traume wiederkommen. Und ein solcher Zustand der Empfindung war es auch, in welchem man das geschäftige Tun mit den Gabeln und die weißen, leichten Mützen sah, die zur Meerfahrt gehörten. Man wollte den Geruch des Heues spüren, aber dieser schwand in der zügigen Luft dahin, welche unter einem langhingehenden Himmel das Land unter sich einschluckte. Alles blieb seltsam still gleich einem fortziehenden Schiffe. Und so war das kleine Bauernleben hier wie ein Traum im Atem der See.

Dann war da das stille Fischerdorf Ahrenshoop, das von Badegästen besucht wird und auch eine Künstlerkolonie hat. Und dann blickte man auf die freie Ostsee hinaus, die bewegt und auch gefangen schien von ihrem gleichmütigen Heranrollen zum Strande und die auch kaum von den Gezeiten verändert wird. Das Land am Bodden nahm uns wieder auf, man sah manchmal eine Frau mit ihrer Kuh auf einer Wiese und erfuhr dann, wie sie allein ihre kleine Wirtschaft treibt und die Heimat hütet, während ihr Mann für lange Zeit in dem fernen Meer ist. Und später war man in der Nähe der kleinen Häuser mit ihren abgewalmten Rohrdächern. Man fuhr und ging im Sande, und leise rauschten über den Gehenden die hohen Bäume, als ob sie ein Echo in ihren Blättern hätten von dem eben gehörten lauteren Rauschen der großen See. Man kam zwischen die kleinen Häuser eines verstreut liegenden Dorfes und machte dann selber Besuch in einem solchen kleinen und wohnlichen Hause.

[Doberan, Abteikirche]

»Lütt pludereck«

Da saßen wir nun im kleinen Gartenhaus, und vor uns war das Wohnhaus, dessen dunkles Rohrdach bis zu unsern Schultern herabreichte. Das Rohr lag in dichter Schicht und war rauh und kräftig; die Hausräume waren von ihm gut eingedacht und gingen innen behaglich durch den kleinen Hausgang zusammen, dessen Tür in das Dach von außen einschnitt. Um das Gartenhaus war ein Kartoffelfeld. Einiges Buschwerk war noch in Blüte, und ein hoher Birnbaum glänzte mit seinem grünen und zitternden Laubdach gegen den blauen Himmel. Hinter uns, da wo die Felder zu Ende waren, schimmerte groß und matt hinausgegossen der Bodden. Einer der Freunde, der uns nach Wismar entgegengekommen war, hatte uns an diesen Ort hergeholt; seine Frau und sein Töchterchen waren mit zum Urlaub da; und außerdem lebte da ein Maler wie ein Einsiedler. Er sah aus wie ein Matrose, und seine kurze Pfeife rauchte dazu, als wir plaudernd beim Kaffee saßen. Es war das nächste, daß wir von der Möglichkeit sprachen, hierzulande Brunnen zu haben, und er wies auf den runden Brunnen, dessen Schacht nahe dem Hause in die Erde ging. Unten im Schachte lebt ein Aal zur Reinhaltung des stehenden Wassers. So hatten wir es auch schon in Italien gesehen, als wir in einen Brunnen blickten. Ein Fisch schwamm darin und sah aus wie ein lebendiges Messer.

Bald wurde nur noch von dem Lande gesprochen, in dem wir hier waren; und da wurde es deutlich, daß nicht mehr das Landwesen, sondern das Seewesen hier herrschte. Es ist ein Land der Mutigen, die ein gefährliches Leben haben. In den Häusern und so auch in der Wirtschaft, in der wir nachher wohnten, haben die Stuben Andenken aus aller Welt. Es ist, was die Matrosen kaufen, Ansichten und kleine Dinge, weniger, um beschaulich nachzufühlen, sondern zur Erinnerung und zum Ausweis, daß man auf der weiten Erde zu Hause ist. So stehen die kleinen Häuser recht eingehüllt in ihre Heimat unter dem Rohrdach und doch wie am Rande der Volksheimat, und durch ihre niederen Fenster scheinen die Dinge der Erde hereingeflogen. Auch von dem Rechte auf das Strandgut wurde erzählt, das von gescheiterten Schiffen angeschwemmt wurde, und von dem seltsamen Brauche, daß früher in den Kirchen um reichliches Strandgut gebetet wurde wie anderwärts um eine gute Ernte. Von alten Piratennestern wurde gesprochen und von dem in der Sage lebenden Störtebecker aus Wismar, der sich den Vitalienbrüdern angeschlossen hatte und den 1401 die Hamburger hingerichtet haben. Und hier kann man auch an den wilden Herzog Karl Leopold erinnern, der, nach seinen Untaten vertrieben, vom Fischland aus 1730 mittels Kleinkriegs und eines Landaufgebots sein Land wieder erobern wollte, aber dann später in Dürftigkeit starb.

Als wir in später Nacht aufbrachen, war der Wagen vom Tau benetzt wie durch Regen. Der gestirnte Himmel lag hoch über dem buschig-dunklen Lande, in dem nur der Sandweg bleich vor uns her schien, der zu unsrem kleinen Gasthause führte. Am Morgen schlug der Glanz des Boddens wieder herein, und die Blätter der Bäume lispelten und rieselten unaufhörlich in dem fließenden Windstrom. Wieder sahen wir die Häuser, und manche erschienen mit ihrem Dache unter der Sonne, um einen barocken Ausdruck zu gebrauchen, wie schön »gestrählte Fräulein«. Andere sahen aus wie gute sorgliche Mütter, und manche hatten einen First, der ihnen einen Anblick gab wie von der geschorenen Mähne eines Pferdes. Am Ufer lag ein großes Schiff mit Holz beladen, und der junge Schiffer sprach mit Gleichmut davon, daß der rechte Fahrwind heute kommen könne oder erst nach Tagen. Ein Leben der Gelassenheit hofft auf sein Fortkommen und seine Nahrung. In der Nähe setzte sich eine Windmühle langsam in Gang und schlug ihre Kreise.

Darßer Ort

Das Nahe erzählt sich selber, aber die Worte werden schwierig, wenn die große Leere eines einzigen Ausblicks kommt. Der alte Urwald, dessen große Kiefern oft als »Windflüchter« schief und zerzaust zur Seite hängen, entließ uns aus tiefen Sandwegen zu unruhigen Sandhügeln und zum abgeschwemmten Strande. Einige niedere Häuser stehen noch da, und der Leuchtturm Darßer Ort ist hier aufgerichtet als ein hohes und massives Seezeichen. Man steht nun ganz oben bei seiner Laterne und hat unten einen kleinen Sandfleck Erde und rings einen Umkreis wie von einer verschütteten und wieder ausgeflächten Welt. Wohl ist da noch der starke Wald und entfernter das bewohnte Feld und dahinter der bleiern hinausgelagerte Bodden. Und auch die Ostsee, zur anderen Seite ins Unbegrenzte tragend, ist nur langsam bewegt, wiewohl sich rechts draußen die weißen Kämme unaufhörlich brechen. Dies ist, wie man uns sagte, ein Ort der scheiternden Schiffe.

Der ganze Umblick behält eine über die Zeit gebaute Ruhe. Land und Wasser sind darunter in ihren ausgeflächten Schichten zueinander wie das Bild einer ewigen Zerstörung. Und das Gefühl möchte uns sagen, es lebe der Mensch eigentlich am Rande einer immerwährend durch sich selbst zerstörten Natur. Draußen aber zwischen Luft und Wasser scheint eine lange Linie zu glimmen, welche manchmal leise herlichtet.

[Stralsund, die Bechermachergasse]

Richtung Pommern

Jomsburg und Hanse

Da war wieder ein Morgen voll Sonne, und der Blick hob sich in die Weite, denn die Losung dieses Tages hieß: nach Stralsund.

Abschied vom Fischland

Indes wollte das Land an der Küste, wo wir waren, noch alle unsere Sinne festhalten. Der Luftstrom rauschte leise und lief unaufhörlich und mit unzähligen Blitzen durch die besonnten Blätter. Auch die hohen Bäume von ferneren Gruppen sah man bei längerem Hinblicken immerfort zittern. Das Gras war noch voll von Tau, aber der Sand der Wege hatte schon wieder sein trockenes Leuchten. Die kleinen Häuser, die da und dort waren, schwiegen mit hellen Fenstern unter ihren dunklen Rohrdächern. Jemand kam, um Fische auszubieten; der Wirt brachte Gras herein für sein Vieh, und wir saßen im kleinen begrasten Wirtsgarten vor dem Hause zum Frühstück.

Wir hatten das Fischland in seinen Richtungen befahren, hatten den uralten Kiefernwald mit seinen tiefen, mit Sand wie beschütteten Fahrgeleisen durchquert und waren an der Spitze der Halbinsel, am Darßer Ort, vor dem Luftraum der Ostsee gestanden. Dann war noch der Badestrand von Prerow besucht worden, und während der schärfere Abendwind über den Wellen zu blasen begann, saß man hinter den großen Scheiben eines Saales auf dem höheren Saume des Strandes und trank dunkelroten Wein. Im deutschen Norden liebt man seit alters die roten südlichen Weine. Während der Himmel und die See gegen die Dämmerung hin erblassen, bis sie sich dann zusammen schnell verfinstern, und die ersten Lichter draußen vor den Häusern sich von dem Sande kaum unterscheiden, bis sie gegen die Nacht aufglühen, bekommen die Gläser, die wir vor uns haben, ein tieferes Leuchten. Es ist von einem in ihnen gefesselten großen roten Funken. Spät und lange war man nach der Zurückkunft noch in der Malerklause unter dem Rohrdach gesessen. Und ganz spät hatte es dazu gehört, auch noch die Gaststube der Wirtschaft zu besuchen, wo die kleinen Matrosenandenken aus der Ferne standen und hingen. Und dazu hatte auch noch gehört, mit den Branntweinrunden zu beginnen, deren spätere Runden immer schneller werden als die erste. Man mochte sich freuen, wenn nach einem langen und lebhaften Tage die Zungen noch lebhafter wurden, und die Nacht, die draußen war, um so stiller.

Nun also saß man beim Frühstück vor dem Hause; und auf dem Tische waren zwischen dem Kaffeegerät die anderen Teller kaum zu sehen; so waren sie mit großen Scheiben beladen. Da war nichts Künstliches; aber die viereckigen Brotscheiben hatten »homerische« Maße, und darüber ragten die rohen Schinkenscheiben, die Scheiben der Wurst und die Schnitten des Käses noch hinaus. Der Süddeutsche muß sich erst daran gewöhnen, und außerdem hat man in anstrengenden Reisetagen nicht die Muße, um dem Gebotenen die Ehre anzutun, die Art und Behagen verlangen. Aber wie ein Sandland leicht eine halbe Wildnis bleibt, so machte uns das große Stilleben des Frühstücks diese Stimmung mit dem Gefühl einer halben Fremde noch landechter und trefflicher. Die junge Wirtin, kräftig, blond und rosig, war wieder bei ihrer Arbeit hinter dem Hause. Der junge Wirt ging ab und zu. Er war schon weit in der Welt gewesen, hatte die etwas losgehenkten Bewegungen des Matrosen, war von Körper schlank und untersetzt zugleich und zeigte im Sprechen die Zähne in geraden und kräftigen Reihen zwischen den Lippen, in einem Gesicht, das, stark von Kinnbacken und um die Augen wie leicht gepolstert, übrigens nicht das eines Blonden war. Kurz, man konnte denken, daß er im Faustkampf nicht zu kurz käme. Auch konnte man sich vorstellen, daß er in fremden Häfen seiner Art gewiß war, so selbstverständlich, wie er jetzt hier sein Anwesen betreute.

[Stralsund, Marienkirche]

Heerfahrt — Meerfahrt

Für uns kam jedoch nun die weitere Fahrt. Und wenn dieses Gesichts eines Einheimischen und Matrosen besonders gedacht wurde, so auch deshalb, weil nun nach Pommern hinein und in Stralsund uns nicht selten Gesichter eines ähnlichen Wesens zu begegnen schienen. Es handelt sich da um eine äußere Entschlossenheit im Ausdruck, die in einem kurzen und zusammengerafften Wesen an der Grenze von Heimat und Meerfahrt gültig werden muß. Wir sind ja auch in der Linie und Richtung, in welcher die Hansestädte Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund und Greifswald liegen und von wo aus sie schon seit Ende des dreizehnten Jahrhunderts ihr Bündnis und ihre Macht entfalteten.

Das Land hier, wo wir nunmehr nach Zingst fuhren und weiter nach Barth, wobei eine lange Brücke über das Wasser kam, bleibt dem Gedächtnis merkwürdig. Da ist wohl die feste Straße, aber man kann wahrnehmen, daß auch nach der Binnenseite hin etwa ebensoviel Wasser ist, als wir gerade Land vor uns haben. Das Land ist selber einem Schiffe vergleichbar, das in verschiedenen Richtungen gegen das Wasser ankreuzt. Und wenn Pommern nach der slawischen Wortbildung von po-morie das dem Meere Anliegende bedeutet, so sind wir aufs augenscheinlichste in diesem Zusammenhang. Wir werden bei Barth aus dem gegenwärtigen Boddengebiet hinausfahren, aber Stralsund selber wieder als den richtigen Inbegriff dieses Ostseelandes und als eine fast abgetrennte Stadtinsel finden, welcher gegenüber die zerrissene Insel Rügen liegt. Und indem wir auf der Karte zu Usedom und Wollin und zu den Haffen von Stettin und weiter noch zu den Seen im Rande der nunmehr ausgeglichenen Küstenlinie Pommerns fortdenken, so ist auch dies ein Saum, wo Land und Meer einander die Herrschaft nehmen. Unwillkürlich vereinigen sich die Gedanken hier zu dem Gleichklang: Heerfahrt — Meerfahrt. Und vom kleinen Landsaume, vom nahen Grenzkampfe und der näheren deutschen Geschichte geht der Sinn hinaus in die Ferne des geschichtlichen Entstehens.

Streiflichter der Geschichte

Wir sind im Bereiche alter geschichtlicher Herde und Kampfhand- ' lungen. Wir nähern uns den Küstengebieten von Oder und Weichsel, wo sich Hauptstämme der Germanen abgelöst haben und in den Fluß der Völkerwanderung geraten sind. Die Goten haben sich von hier aus in südöstlicher Richtung bewegt. Die Burgunden, die Semnonen, die Rugier und Skiren zogen aus und räumten einander den Platz. Sie gerieten teils in die Kampffelder Attilas, eroberten sich Sitze an der Donau, und der Rugier Odoaker vernichtete 476 das weströmische Reich. Er selbst fand seinen Tod in Ravenna durch die Hand des großen Ostgoten Theoderich. Es sind germanische Schicksale, deren Jähheit uns oft deutlicher wird als ihre Größe. Den germanischen Stämmen an der Ostsee aber waren allmählich wendische Stämme nachgerückt. Die Geschichte verdunkelt sich in der Folge zu unbekannten Jahrhunderten, die sich erst im Beginn der Karolingerzeit von Westen her wieder erhellen. Aber auch die nächsten Jahrhunderte reifen nach dem weiteren Vorstoß der Sachsenkaiser über die Elbe nur langsam der deutschen Geschichte entgegen, bis der Arm Heinrichs des Löwen sich nach Mecklenburg und Pommern reckte, wo nun die Pommernfürsten Kasimir und Bogislaw, dieser später Reichsfürst geworden, sich veranlaßt sahen, Kriegshilfe zu leisten. Zur gleichen Zeit und in der gleichen Richtung hatte der Dänenkönig Waldemar der Große gekämpft, der auch 1168 die Burg Arkona der wendischen Ranen auf Rügen eroberte und mit dem Tempel die Bildsäule des Gottes Swantewit zerstörte. Schon seit Jahrhunderten hatten die Dänenfürsten gegen Pommern auszugreifen gesucht. Und die Geschichte Pommerns wird auch dadurch nicht einheitlicher, daß zu dem in zwei Stämmen regierenden eingeborenen Herzogshause noch die Fürsten von Rügen kommen, und vor allem noch dadurch, daß die Herzöge von Polen, die der Sachse Heinrich II. schon mit Mühe gedämpft hatte, ein immer größeres Reich im Osten anstreben. Etwas Überraschendes hat übrigens die Tatsache, daß die Christianisierung der wendischen Pommern vor Heinrich dem Löwen mit dem Bischof Otto von Bamberg, einem schwäbischen Adeligen, zusammenhängt, der an der Grenze der Slawen von Süden herauf in zwei Zügen bis nach Kammin und auch nach Wollin oder Julin gekommen war, wo man heute wieder den Ort der alten Feste Jomsburg gesucht hat.

[Stralsund, Kopf des Gekreuzigten aus der Nikolaikirche (Anfang 15. Jahrhundert)]

Jomsburg-Vineta; die alte, sagenhafte, vom Meer verschlungene Vineta und die Jomsburg der Jomswikinger, die etwa um 950 gegründet wurde, beschäftigen heute die Forschung und die Liebe der geschichtlichen Gemüter. Während allerdings jetzt auch auf Rügen nach den alten Spuren gesucht wird, hat noch Julin oder Jumne, woraus man Vineta hat entstehen lassen, den auch auf Ausgrabungen gestützten einstweiligen Glauben für sich. Der Begriff einer Stadtburg für Meerfahrer, die gegen Ende des elften Jahrhunderts von den Dänen zerstört wurde und hinwegsank, hat sich in »Vineta« wie in einem Symbol erhalten. Es ist eine eigentümliche Verklärung des Seefahrer- und auch des Freibeuterwesens, das bald im Lichte der Geschichte und der Hanse wieder mit den Vitalienbrüdern auflebt. Die Hansestädte hatten dagegen zu kämpfen, wie sie auch gegen die Fürsten, die ihnen den freien Aufschwung mißgönnen wollten, zu kämpfen hatten. Es entsteht ein ähnlicher Seefahrergeist der Städte, der sich in diesen Kämpfen reinigt und emporringt. Neben Lübeck hat Stralsund den stärksten Anteil daran bekommen. Stralsund hat in seinem Bürgermeister Bertram Wulflam in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts seinen größten Hansepolitiker gehabt. Als die Hanse den gemeinsamen Krieg gegen die nordischen Landmächte gewonnen hatte und 1370 der Friede in Stralsund geschlossen wurde, war dies der Höhepunkt der städtischen Seemächte. Und so möchte man, falls es gestattet wäre, die versunkene Vineta in einer ähnlichen Vorstellung mit dem gotischen Bild einer Meerstadt, einer Insel- oder Holmburg wiederaufleben zu lassen, dafür nun Stralsund nennen.

Stralsund in Sicht

Inzwischen haben wir der Halbinselwelt von Barth weg den Rücken gekehrt, und die großen Ackerländer geben uns hinterher noch im Gegensatz das Gefühl, daß wir ein Land der Fischer verlassen haben. Barth selber gehört zu Pommerns ältesten Städten, deren beträchtliche Zahl insgesamt zwischen 1200 und 1300 in den Jahrzehnten der nun durchgeführten Germanisierung gegründet wurde. Barth war auch lange ein pommerscher Fürstensitz. Es ist bezeichnend, daß auch Fürsten wie Barnim VII. von Barth aus die Seeräuberei gegen die Städte begünstigten. In Barth hatte auch der letzte pommersche Herzog Bogislaw XIV. gewohnt, bis er in der schwersten Zeit des Dreißigjährigen Kriegs die Herrschaft übernehmen mußte. Stralsund hatte 1280 die heftige Belagerung Wallensteins trotzig und erfolgreich abgewehrt. Gustav Adolf, der Schwedenkönig, war 1630 an der Küste von Usedom erschienen, Bogislaw stand mit dem Versuch der Neutralität zwischen den Mächten der Zeit; da starb er 1637, und mit dem Frieden von Osnabrück 1648 konnte die brandenburgische Anwartschaft auf Pommern, die schon bis in die Zeit des ersten Vasallen zurückreicht, ihr Ziel erlangen. Aber wichtigste Teile kamen erst in langem Zeitverlaufe von Schweden an Preußen. Der Große Kurfürst kämpfte hier umsonst. Der Zug und Heldentod Schills, der im Frühjahr 1809 in Stralsund endete, die Befreiungskriege mußten noch hingehen, bis 1815 mit dem ganzen Pommern auch Stralsund wieder dem deutschen Lande angehörte.

Arndt und der politische Stil

In die Richtung Pommern hinein muß aber noch der Name Arndt fallen. Vielleicht erkennt man an dem Tun, welches Arndt vor und nach Preußens Niederbruch der deutschen Auferstehung weihte, solche Merkmale, mit denen nicht nur das Datum eines einzelnen politischen Lebens sich ausgewirkt hat, sondern die ein norddeutsches Wesen überhaupt und damit auch die Art seines geschichtlichen Ausdrucks deuten lassen. Ziel und Inhalt ist bei Arndt in das Pflicht- und Ehrgesetz des Volkes verlegt. Und noch eine tiefere Ahnung steckt in dem deutschen Kampfe, wenn Arndt gegen das »erhabene Ungeheuer« Napoleon ausspricht, daß es »das Hohe der Menschheit nie gedacht, von der Bildung und dem heiligsten Verhältnis Europens keine Idee« gehabt habe. In dieser kämpferischen Anschauung reichen sich, wenn man es so ausdeuten will, Klassik und Romantik die Hand gegen den rücksichtslosen Anspruch des französischen Empire. Arndts nächster Ansatz aber ist die innere Wehr; von Ort zu Ort, von Mann zu Mann wird eine neue persönliche Verantwortung getragen; so durchruft er den »Geist der Zeit« und ist der Helfer des Freiherrn vom Stein mit einer politischen Wortform, die dem umfaßlicher schwingenden Zeitwillen ebenso wie den Leitgedanken der Tage angemessen war.

[Stralsund, die hl. Anna Selbdritt aus der Nikolaikirche]

Ernst Moritz Arndt, als Sohn eines schwedischen Leibeigenen 1769 auf Rügen geboren, in Stralsund Schüler, in Greifswald Professor, mit vielen Zwischenfahrten nach Bonn gekommen, wo er hochbetagt 1860 starb, diese Daten umfassen ein Leben, das nach Spanne und Anteil ein Stück deutscher Geschichte ist. Die ganze Frage nach dem Sinn und Bild des Reiches, eines Reiches des Geistes oder der politischen Kraft, oder in welcher Form sich beides bindet und findet, ist in dieser Spanne. Ein Sinn der Geschichte, welcher einfach scheint und doch seltsam sein kann, sagt uns, daß man das, was man ohnehin sei, erst recht sein müsse, daß also, wenn man ein Deutscher sei, man es »trotzdem« oder erst auch noch mit Absicht sein müsse. Die Folge davon ist, daß man nicht das Vereinbarliche, sondern das eigene Besondere suchen und anstreben müsse. Und die oberste Form davon ist, daß der Mensch nicht lebt als »Typus Mensch«, sondern in dem natürlichen und geschichtlichen Accidens oder als der Sinnerfüller der ihm zugeteilten Kreatur in der Zeit. Dies wäre die weitere Sinnführung zu dem einfachen Worte, wenn Arndt sagt: »Ihr müsset Teutsche sein wollen!«

Mußte nicht, wenn nun die politische Forderung in die Mitte aller trat, auch ein neues Gesicht in den Zeitformen entstehen, in welchem Idee und Welt, Sinn und Bestand sich wiederfinden? Arndt und auch Kleist haben mit der Form des »Katechismus« die Vielzahl der Einzelgewissen aufgerüttelt, sie haben Zahl und Geist neu ineinander gewogen und die Zeit zwischen dem gesamten Gesetz und den einzelnen Menschen in Bewegung gebracht. Es sind die beiden Elemente, die man nun künftig zueinander in Bewegung sieht, je mehr die Masse selbst in das Recht des vaterländischen Mitwissens tritt, während Überlieferung und Kultur den Sinn der älteren Formen zugleich festhalten und erneuern. Dies waren nun die Fragen des künftigen politischen Geistes; und man kann hier je nachdem einen Zwiespalt aufklaffen sehen, der durch den Begriff Staat geschlossen wird, der aber bestehen kann zwischen einer mehr thetischen Form für alle und einer mehr geschichtlich kreatürlichen, die in der Zeitform mit der Pflicht zugleich das gewordene Bild der eigenen Geschichte wahrnimmt. Oder statt dieses möglichen Gegensatzes können wir auch, mit einem starken Sprunge, wie man vielleicht sagen wird, die Begriffe »dorisch« gegen »gotisch« einsetzen. Wieso aber wir auf diese Begriffe kommen? Ja eben darum, weil hier in diesen deutschen Räumen, in denen der nationale Wuchs sich fortgesetzt hat, die Gotik wie eine anschauliche Ernte des Daseins bildhaft geworden ist. Und hier ist auch die nationale Forderung besonders deutlich geworden. Wir möchten etwa sagen, in Arndt sei etwas Gotisches und Dorisches zugleich, wie es unfraglich in dem Dichter Kleist zu seiner allgemeindeutschen wie besonderen preußischen Romantik zusammenwirkt. Das Dorische scheint besonders im deutschen Osten in einem wirkenden Vorgebot gegen einen neutralen klassischen Begriff zu stehen und gehört in die geschichtliche Sinnführung. Sie ist im Osten enger und genauer als im Westen, wo die älteren Schweren den Begriff des Ausgleichs statt der Auswirkung oft gefährlich nahe legen, aber auch die weitere Spanne offen halten. War indes nicht, wenn wir nach Ostpreußen und zum Deutschen Orden weiter denken, auch in seinem Tun heimlich etwas von dieser Zweiheit lebendigk

Stralsund, die Pommersche Inselstadt

Baubilder — Seefahrer

»Und wär sie mit Ketten an den Himmel geschlossen!« Man muß wohl lachen, wenn man während der Anfahrt nach Stralsund von diesem Wort und Rhythmus aus Schillers Kapuzinerpredigt verfolgt wird. Jedoch das Wort hat, nachdem man das Lagebild von Altstralsund gesehen hat und die Vorstellung von einer Aufnahme aus der Vogelschau vollends nachholt, etwas unmittelbar Anschauliches. Durch fünf Dämme ist die ungefähr dreieckige Inselstadt mit dem Lande verbunden und liegt so, zwischen großen Teichen und dem Strelasund verankert, ringsum im Wasser.

Anblick im ganzen

Für die Fahrenden weicht aber nun das Schillersche Wort aus dem Gedächtnis; denn die Gegenwart beginnt. Drei hochragende Bauten, halb nordisch denkmalhaft scheinend, halb südlich schwebend, stehen in der Luft. Sie stehen in jenem gotischen Geiste, der seinen Ort so bezeichnet, als ob er keinen hätte, als ob das Ziel nur sei, bestimmte, in einer geometrischen Rechnung geregelte, schwerelose Körper oder vielmehr nur Umrisse und Blenden davon in den Luftraum als Gesichte zu zeichnen. Jedoch diese gebauten Luftbilder sind, gerade im Ziegelbau, auch wieder ganz frei vom Spielen und bilden ein Gesetz der Türme und des Raumes, das, wie durch einen Wettbewerb mit dem eigenen hohen Raum körperhaft geworden, mit starken Anker- und Ortskräften die Erde betritt. Man fängt immer mehr an, das Gotische als nordisch zu erkennen, es nicht mehr geschichtlich, sondern als den unmittelbaren Sinn einer Erscheinung zu sehen, welche vor dem Geiste schwebt, um ihn zu einer Messung im Blicke herauszufordern. Man sieht immer mehr diese Zweiheit der Verkörperung und Entkörperung, eines durch das andere sich ergebend, und worin das Sichtbare auch kein Körper mehr für sich sein will, sondern ein Zeichen am Rande des Erkennens. Es ist ein eigentümlich nordisches Wesen, das sich weniger raumhaft »behaupten« als sinnhaft »ermessen« will, und man sieht, daß die Gotik davon ein Bild und Zeichen in sich hat.

Indem man dann in die alte Stadt kommt, erfährt man auch die Altersbilder der Wohnhäuser und der kleinen Gassen. Man sieht vollends die drei großen Kirchen dazu und denkt, daß alles, was lebte, sich hier noch mehr, als daß es lebte, in formhaften Schriftzügen festgelegt hat. Das Zeugnis des Lebens ist (paradox gesagt) stärker als das Leben selbst, und wenn das wiederum der geschichtliche Zug des Daseins ist, so möchte man die Art, wie das Mittelalter die Erde bebaut und besiedelt hat, kennzeichnen als ein »Beschreiben der Erde«. Auf der Insel hier mögen wir das besonders empfinden. Und sie ist auch wie ein Dokument oder noch mehr wie ein Siegel daran, das, mit den Bauwerken und ihren hohen Formen und Zierblenden gleichsam in den durchsichtig steilen Schriftzügen des Mittelalters beschrieben und geprägt, am Rande des Landes hängt und doch halb losgelöst seinen deutlichsten Anblick von der freien See her hat.

Wir sind zwischen den Wassersflächen des Knieper Teichs und des Frankenteichs hineingefahren, der auf die innere Dreieckspitze der Inselstadt zustößt, welche gegen die Innenseite des Landes hergekehrt ist, während die beiden anderen Winkel der Stadt den Zusammenhang des Landes gegen den Strelasund festhalten. Im Zwischenraum dieses Dreiecks hat nun die Stadt ihre deutlichen, alles klar und hoch beherrschenden Baustufen. Es ist wie ein über ihrem Grundriß aufgestelltes Prisma, worin die sichtbaren Bauten und Türme, die Kanten, Firste, Kuben und Queren nach einem geheimen Gesetze stehen, als ob sie alle innerhalb dieser gemeinsamen Ganzheit entstanden und erhoben seien. Der Süden hat seine Kuppeln. Hier dagegen ist das Gesetz des nördlichen Himmels, der den Raum von innen her aufriegelt und in Türmen und Helmen eine Reichweite baut, zu welcher der blaue oder blasse Himmel die einzige, gleichsam auf ein gebautes Zeichen herausgeforderte Kuppel ist. Die aufschließenden Zeichen der Formen stehen gegen die zuschließende Kuppel des Himmels. Als die Türme hier noch ihre gotischen, zelthaft spitzen und hohen Helme statt der barocken Hauben und der übrigens sehr schönen würfelhaften Enden hatten, war dieses sich gegen den Himmel mit Raumzeichen schreibende Gesetz noch deutlicher. Und doch hat auch eine solche Bauwelt des nördlichen Sinnes etwas Südliches, und gerade in der Backsteingotik mit ihren Blenden und Durchbrechungen, mit den Stirnwänden und Schauseiten, mit dem Glanz der Glasuren, mit lauter Formen, die, aus dem bestimmtesten Stilvorgang herausgebildet, doch in eine reine, über die Natur in ein Spiel der Vernunft herausgehobene Zweck- und Zeitlosigkeit hineinwechseln. Es ist wie eine Raumschrift, die, über sich selbst Meister geworden, in ihrem eigenen Gesetze hängt, eine Schlüsselform, die sich selbst spielend erschließt. Die Bewegung der Vernunft ist in sich selbst beschaulich geworden; eine Weltanschauung hat sich selbst eingeholt.

Vom Altmarkt aus

Nun stehen wir auf dem Altmarkt. Vor uns ist das Rathaus und die Nikolaikirche, die mit ihrem Gegensatz eines würfelförmig stumpfen Turmes neben der barock hochgeführten anderen Turmhaube zu den Wahrzeichen Stralsunds gehört. Die Schauseite aber des Rat- hauses, über der offenen Erdgeschoßhalle und dem Saal des ersten Stockes frei und durchbrochen aufgesetzt, ist wie eine Stirn des Stadtbildes. Was ist für ein Volksgefühl in dieser Fortreihung und Aufbrechung zu gleichen Giebeln? Oder vielmehr, warum fragt oder sagt man zuerst das Wort »Volksgefühl«? Als ob man ein Blatt aus einer alten Truhe nehme, und die alten Zeichen bedeuten, ohne daß man den Inhalt liest, Volkszeit. So ist dies Werk des fünfzehnten Jahrhunderts, und das ist seine Art von Reife. »Reife« ist es eigentlich immer, was die Gotik bedeutet; ihr Spiel der Formen geht zwischen Vernunft und Wachstum; wo dieses Spiel zu vielen Zahlen schöner, gleicher und heiterer, aufgeschlossener Formen sich erweitert hat, da hat offenbar das Volksgefühl eine Sichtbarkeit erreicht, die anderen Stilen nicht gegeben ist. Indes man glaubt sich nicht genug tun zu können, um das Fremdartige eines solchen gotischen Baugefühls, wenn es in seiner eigensten Weise reif wird, zu erfassen und den Ort innerlich zu feiern, auf dem man steht und aufblickt.

Es ist gegenüber repräsentativer Bauabsicht das dem Mittelalter eigene Vermögen der »alltäglichen Feierlichkeit«, was man auf diesem Platze hier erlebt. Im besonderen ist am Rathaus die gleiche Reihung von sechs Schaugiebeln mit Rosetten oder Windlöchern darin, durch welche das milchig bewölkte Himmelsblau durchblickt, und mit den dazwischen gleich Türmchen aufsteigenden hohen Streben und Fialen wie ein Prunk- und Wappenstück der Baukunst. Und dabei ist dies wieder mehr Zahl als Hierarchie der Stufung und damit ein Symbol des Gemeinwesens. Es ist aber auch bei aller wunderbaren Wunderlichkeit zugleich wie eine immer gleiche Zwischenschicht zwischen Erde und Himmel, die sich als Schauwand mit ihrer ausgezackten schwebenden Rhythmik selber trägt. Das Sachlichste selber macht sich zum Zierstück, Und das Zierstück ist das Sachlichste des Anblicks. Gerade das Technische ist gewissermaßen ganz von sich befriedigt. Es fällt nichts auf, und das Ganze ist doch das Auffallendste, das man sich an einem genauen Orte denken kann. Und so gibt es also Wandstirnen ohne Räume in dieser Gotik; und doch weisen sie auf eine ganz räumliche Sinnordnung. Indes: wird ein solcher gleicher Blütenstand von Ziergiebeln, ein solches Spiel der Ordnung nicht zu selbständig, zu lose für den suchenden Menschen? Aber sicher: es ist fähig, eine innere Heiterkeit über die einzelne Seele nach außen zu tragen, damit alle sie haben.

In der Nikolaikirche

Durch die Lauben des Rathauses hindurch betritt man die altberühmte Nikolaikirche des vierzehnten Jahrhunderts. Es beginnt das Erlebnis, wie ein Raum sich von seinem Bau selber lockert. Die Wände sind von dem Raum, dem sie dienen, gleichsam wie große Schalen weggesprengt, die Fenster des Hochgewändes vermehren das große Innere noch durch eigene Nischenreihen in der hohen Raumschicht, die stark profilierten Pfeiler der Scheidbögen der Schiffe scheinen im Vorschreiten zugleich kreisen zu wollen. Alles vermehrt sich mit Freiheiten, während der Chor eine vielzellige, weniger hierarchische als eigenbrötlerische Haltung dagegen setzt. Die ganze Architektur scheint durch sich selbst so viel Raum zu gewinnen, daß sie sich selber außer Bindung stellt. Die Raumseele überspielt sich selber, sie ist überall im Einsatz und zugleich im Entsatz, sie lebt nicht mehr im größeren oder kleineren Sinn, sondern unmittelbar im bewegten und geborgenen Dasein ihrer selbst. Alles ist gefunden und nichts mehr gehemmt. Alles strebt ins Ganze, und die Kirche verwandelt sich in ein großes Beispiel des Volkswesens selbst. Die Architektur also scheint so viel Raum herzugeben, daß sie sich selber außer Kraft setzt; aber dies eigentümliche innere Widerspiel gibt eine unglaubliche Volksnähe des Raumwesens. Und dies scheint überhaupt eine künstlerische Eigenart Stralsunds.

In der Ausstattung der Kirche mit Bildwerken nämlich ist ein frühgotisches Kruzifix, das etwas Kolossales an sich selbst und auch eine »kolossale« Volksnähe hat. Die Seitenwunde ist daran wie ein großes blutiges Vogelnest. Und überhaupt hat das ganze schwere Werk eine Fähigkeit, vielen Anblick zu bieten oder viele Augenpaare auf sich ruhen zu lassen. Es ist sozusagen ein Werk für das vielzählige Volk, und man möchte es als ein Heimatbildwerk für Seefahrer bezeichnen. Und auch das frühgotische mächtige »Anna selbdritt«-Werk ist ähnlich, indem es zugleich etwas von einer Ahnengottheit hat. Auch hier ist der Sinn, einen Körperraum so groß zu machen wie möglich, wozu man die Wirkungsmittel in Bau, Teilungen, Vordergründigkeit verfolgen kann. Es erhebt sich ein Widerspiel von äußerer Massigkeit und Insinnigkeit, eine Spannung von stofflicher Betonung und stiller Bildhaftigkeit, wodurch eines das andere steigert und auch in seltsamer Art jedes dem andern Freiheit gibt. Zwei gotische Werke sprechen noch vor allem zum männlichen Gefühle, ein gehender »Christus mit Kreuz«, der, wie er über die Schulter ruckartig zurückblickt, eine ganz sonderbare Stärke der Verkörperung des Einzelgängers oder jenes ganz aus den Sohn gebrachten, späteren protestantischen Christusgefühles hat. Und ein weiteres Bildwerk »Christus zeigt seine Wunden« entfaltet ebenfalls eine ähnliche Lehre des Gefühls. Es sind sonderbare Werke von männlicher und pietistischer Haltung, die man also gleich mehrfach in diesem Kirchenraume trifft.

Vieles wäre indes noch zu betrachten, Bildwerke, Malereien, Reliefs vom Gestühl der Rußlandfahrer, Gestühl der Dänemarkfahrer, eine gotische Uhr, neben hohen Werken dann auch Erzählendes wie etwa ein ausgestopfter Katzenhai, dann Einbauten aus der Schwedenzeit, Barockes, kurz eine Kirche, die kräftigste Gemeinschaft und leise auch etwas Pietistisches, ein ganzes Zusammenspiel von Seele und neugieriger Welt zusammenbringt. Aber wenn gotische Kirchen oft mit ihren vielen Erinnerungsdingen etwas Museales bekommen, so scheint hier damit aber noch besonders der Sinn der Seefahrer verbunden. Dies ist hier nicht bloß deshalb, weil Einbauten und andere Dinge das Gedächtnis an die schwedische Zeit Stralsunds festhalten und von Meerfahrt und Kriegszielen erzählen, sondern noch in einem anderen Sinne. Die Kirche ist, wie erwähnt, mit einzelnen Figuren bestellt, welche eine starke Mischung von Gebärden und beschaulichem Gefühl, von Ausgiebigkeit auf die anschauende Seele hin haben. Auf anderen Werken geht es lebhafter zu, die Teufel flüstern, eine Jagd wird erzählt, oder es wird bildlich »ein Garn gesponnen«. Und auch das Barock paßt hier in die Neugier der Gotik. Es ist manches Eigenbrötlerische da, eine starke Empfindung, die doch sehr männlich ist und wohl auch die einfache Art von Seeleuten kennzeichnet. Schließlich war einst dieser große Raum und ist heute noch gefüllt wie mit Truhen von merkwürdigen Dingen des Gedächtnisses und der Empfindung. Oder der ganze Bau ist selbst wie eine Truhe solcher Dinge, und man möchte ihn als eine »Seemannskiste« bezeichnen. So wie der Seemann alles in seine Kiste verstaut, nicht nur, was er braucht, sondern auch, was Gedächtnis und Empfindung zugehört, so hat er hier eine große Kirche wie eine große Truhe in der Heimat stehen.

Die beiden andern, über das Stadtbild ragenden Kirchen, die Marienkirche, deren blockhafter zentraler Aufbau des Westturmes einen weiteren Akkord über Land und See bildet, und St. Jakobi mit dem Westturm, dessen vier Seiten in ihren Blenden und vier Ecktürmchen wieder wie vier Gesichtswendungen in die Himmelsrichtungen sind, seien nur noch genannt. Und so muß es auch mit dem Hinweis auf das Katharinenkloster und seinen schön gewölbten, von schlanken Pfeilern in zwei Reihen durchschrittenen Remter genügen, wo heute das Museum für Vorpommern und Rügen zu finden ist. Der Raum des Remters ist mild und licht wie ein ganz aufgeschlagener Blick.

Stralsund ist eine Stadt, zu deren Schönheit auf dem Wasser man aus ihrer Kunst eine merkwürdige, geistig seelische Bestimmtheit des alten Lebenszustandes ablesen zu können glaubt. Und dies trotz des kräftig abweisenden Humors, mit dem an dem Gestühl der Krämer in St. Nikolai geschrieben steht: »Dat ken Kramer ist, de blief da buten, oder ick schla em up de schnuten.«

[Stralsund, Marktplatz mit Rathaus und Nikolaikirche]

Lübeck, die gotische Hansestadt

Zwischen Türmen und Wassern

Es war ein weiter Sprung von Stralsund über Wismar nach Lübeck, über die flache Landschaft mit dem weiten Sehkreis, so daß sie dem Meer gleichen konnte; und auf ihr waren die Pflüger. Das Wasser von den Bodden blinkte wieder herein; dann wurde das Gelände hügeliger oder lebhafter durchschwungen; blauer Duft stieg aus den Mulden und wuchs und war dann nebelhaft durchschienen vom Meerblick bei Wismar. Der ganze Nachmittag war voll von den warmen Strahlen der Sonne, die den Fahrenden blendend ins Gesicht schossen, bis sie im steigenden Abendduft versiegten.

Und nun war ein Morgen voll blitzender Kühle. Wasser leuchtete mit einer kaltklaren oder zornigen Bläue. Es war von einem See, an dem unser Wagen im Gegenwehen eines scharfen Morgenwindes vorbeilief. Oder vielleicht war es schon das Wasser der Trave zur Lübecker Bucht. Und nun trägt unser Morgen zu dem reichsten Stadtbild der Hanse.

Im Morgen der Geschichte

Ein Morgen von stählerner Bläue gehört auch in das geschichtliche Frühbild der Stadt, die seit dem zwölften Jahrhundert als ein seltenes Muster einer planmäßig ausgewachsenen Siedlung auf dem Anstieg und Rücken einer kleinen Halbinsel zwischen Trave und Wackenitz sich erhob und befestigte, nachdem sie unter Kämpfen in wiederholtem Beginn ihren Gründungsort gesucht und auch gewechselt hatte. Einst war in der Nähe eine uralte fürstliche Wendenburg. Dann bezeichnete und gründete der tapfere Graf Adolf II. von Holstein schon 1143 den heutigen Ort Lübeck als Stützpunkt des deutschen Willens. Heinrich der Löwe, auf dem gleichen Wege wetteifernd und mit seinen größeren Kräften eigenmächtiger, gründete zunächst dagegen die Löwenstadt, die sich nicht entwickelte, bis sich nach einem Brande Lübecks 1158 mit dem Wiederaufbau auf dem alten Flecke auch seine Oberhoheit über den Grafen durchsetzen konnte. So ist Lübeck in den Schreit- und Streitbewegungen der Deutschen nach dem Osten entstanden. Wenn die Stadt dann aber in dem Machtkampfe zwischen Heinrich und Barbarossa dem Herzog und Neugründer auch die möglichste Treue hielt, so hat sich doch vom ersten Anfang an im Zuzug westfälischer Siedler das erweckte bürgerliche Wesen entscheidend betätigt. Und als Lübeck 1226 von Friedrich II. zur Reichsstadt erhoben wurde, war dies der Beginn der hanseatischen Blütezeit, während welcher der Kaufmann und Seefahrer mit der Politik der Ostseestädte auch die Kultur vom Rhein und von Flandern und nicht am wenigsten die Kultur seiner eigenen Stadt jahrhundertelang nach Osten und Norden trug.

Lübeck ist der Herzfleck in dieser hanseatischen Kulturperiode an der Ostsee geworden. Sein gesamtes gotisches Stadtbild, das die späteren Stilperioden nur nach innen noch bereichert haben, ist zugleich das vieltürmig aufgegipfelte Stadtmal am Anfang einer großen politisch-geschichtlichen Wegstrecke der Deutschen. Das erstaunliche Werk »St. Jürgen und der Drache«, das der Lübecker Bildschnitzer Bernt Notke 1488 im Auftrag des schwedischen Reichsverwesers Sten Sture als nationales Denkmal der Befreiung Schwedens von dänischer Herrschaft für die Nikolaikirche in Stockholm schuf, hat einen ähnlich hohen Rang in der deutschen Bildschnitzerkunst wie die Lübecker Marienkirche unter ihren norddeutschen Schwestern. Aber während die Lübecker Gotik eine zielklare und große Gemessenheit im Ziegelbau vorgebildet hat, brach in der Schöpfung mit dem Ritter Jürgen eine nordische Romantik von einer fast tollen Großartigkeit durch. Eine zierliche Unbändigkeit, was als ein Widerspruch in sich selber klingt, wird mit aller Macht Herr über den Augenblick und bleibt doch mit einer fast behutsamen Schönheit in sich gefesselt. Auch in den gewaltigen Maßen harrt der zierliche Sinn der Gotik schweigend aus. Das Werk ist noch wie ein Sinnbild des hanseatischen Zeitalters. Als die Stadt Lübeck 1926 ihre Siebenhundertjahrfeier beging, erhielt sie von den Schwesterstädten Hamburg und Bremen eine Kopie dieses Werkes zum Geschenk. So steht es jetzt im Lübecker Museum in der Katharinenkirche.

Rundfahrt und Umblick

Jedoch unser Weg bis zur Beschaulichkeit in der Katharinenkirche war noch weit. Wie sollte man die Summe der Kunsttatsachen schnell erreichen, um dann die tätige Empfindung daran zu hängen, welche uns in den Augenblick hineinzieht, mit dem wir uns sättigen wollen? Denn der Geist hat das Bedürfnis, vom Augenblick und den Dingen der Geschichte verzehrt zu werden, um in ihrem Wesen wieder selber zu leben. Und wenn Regensburg ein steinernes Gesicht zwischen Norden und Süden ist nach allen vier Seiten, wenn Quedlinburg das hochgesetzte Ehrengrab des altdeutschen Königtums über dem Lande ist, so ist Lübeck das Gestirn, das eine deutsche Zeit des nationalen Wuchses bedeutet an dem Orte vieler deutscher Wege, die wieder zu sich selbst gekehrt sind. Alles kennzeichnet in verschiedenen Bildweisen die Sendung des deutschen Menschen im Mittelalter.

Unsere Sorge um die Tatsachen war indes schnell behoben. Die Freunde hatten in der Nähe Lübecks noch einen Freund, der, kunsthistorisch bewandert, jetzt daselbst ein Gut bewirtschaftete. Man besuchte ihn; bald saß er mit im Wagen, und schon ging es über arbeitsdunkles Wasser, das sich zum Bering des alten Lübeck weiterrundet und worin Schiffe ankerten, gegen das mittelalterliche Burgtor in die Stadt. Eine gedrängte Häusermasse am Burgtor läßt das Gefühl lebendig werden, daß man hier den Fuß auf die Erde setzen muß, wo die Stadt selbst in ihrer Frühe Fuß gefaßt hat.

Dann geht es entlang auf der Höhenlinie des Siedlungsrückens, auf welchem sich mit dem Rathaus dazwischen und zufrühest mit dem Dom alles geschichtliche Leben aufgereiht hat. Da ist schon gleich außer der Jakobikirche der Anblick der Giebelreihe des Heiligen Geist-Spitals mit den hohen, von Rundhelmchen gekrönten, turmartigen Fialen, die dazwischen aufragen. Dächer und Fialen — es ist hier wie ein Spiel von viereckigen und runden Zelten über der Wohnhöhe in der Luft, es scheint da ein lustiges Lagerleben als Sinnbild der Geschichte aus den Formen des Ziegelbaues aufgetan, das mächtiger vermehrt über dem Rathaus wiederkommt. Eine große Lust volkstümlicher stadtbürgerlicher Wirkung geht auf uns von diesem Bilde. Und um den Begriff der Bürgerkultur noch voller zu machen, steht hier auch das Haus der Schiffergesellschaft, dessen Staffelgiebel für viele charakteristisch ist und dessen Trinkstube, mit Holz vertäfelt und von den alten Tischen mit hochlehnigen geschnitzten Bänken wie ein Kirchenraum durchzogen, uns später einladen wird. Indes folgt nun mit dem Rathaus und der Marienkirche der berühmte Mittelpunkt der Stadt. Große und kleine Baukörper, Höfe, Durchgänge und Lauben, Gotisches und Renaissanceteile stoßen weitläufig und aufgerichtet zusammen. Fensterreigen ziehen hin, ein oberer Baukörper scheint für sich wie ein zierliches, türmereiches Kastell. Und über die Kubik der Bauten ist noch höher als die Dächer eine Schauwand mit Blenden, eine Kulisse quer gegen den Himmel hinaufgezogen, mit zwei Windlöchern in großen Kreisen geöffnet und mit einem Takt von drei spitzen Turmhelmen bewehrt. Daneben aber steht die alles überragende Gotik der Marienkirche.

[Lübeck, Marktplatz mit Rathaus]

Stadtbild und Sinnbild

Wir aber biegen nach rechts hinab und sind über das Wasser und durch das alte Holstentor hinaus, das noch schwer und vereinsamt im Grunde sitzt und wie eine geschichtliche Agraffe ist, an den alten Speicherbauten vorbei, nun außerhalb des gotischen Stadtbildes. Dies erhebt sich jenseits wie ein turmzackiger Kronstreifem ein gitterhaft aufgeschlossener Fries von Kirchen bis zum alten Dom am anderen Ende hinaus. Es ist ein Stadtanblick von gotischer, rhythmisch-heraldischer Hebung, wie man noch keinen gesehen. Man bedenkt das unglaublich Deutsche eines solchen aus Bauten entstandenen gotischen Zierstücks, das eine Stadt ist. Zum Wesen aber gehört, wie die Gotik immer die Eigenschaft hat, vom Räumlichen ins Bildhafte hinweg zu spielen. Das Raumbild geht von selbst in ein Zeitbild, in ein Geschichtsbild über. Der Raum wird Sprache, und die Formen bedeuten ein Lager der Geschichte, aus welchem die Zeit hinausgebrochen ist, um sich als sichtbare Ereignung wieder hereinzuholen. Wie die Bauten nach außen aufwuchsen, so haben sich ihre Räume nach innen eingezweigt; wie sie sich nach außen abgeschlossen, gegiebelt und betürmt haben, so haben sie sich nach innen geschlossen, verschränkt, geborgen. Gotik ist nicht zuerst Raum an Raum, sondern Wand an Wand, oder so, daß sich das Äußere mit dem Inneren austauscht und der Mensch sich behaust und ortet, wie er in die Richtung der Erde ausholt. So ist Gotik eine wunderbare Schrift und gleichsam eine Erkenntnisform vom sinnreichen Dasein des deutschen Menschen. Gerade der engere nationale Wuchs, der in einer führend gewesenen Hansestadt wie Lübeck noch so einzigartig sichtbar ist, hat als sein Gleichnis diese geschichtliche Bildform bekommen. Dies Stadtbild hier ist ganz Geschichtsbild. Und nun aber — hat sich nicht die Geschichte verloren, während ihr gotisches Bild am sinnfälligsten wurde? Und ist nicht die Gotik, wiewohl sie uns das deutsche Wesen am sinnhaftesten zu bedeuten scheint, nur ein Zeitraum gewesen? Der nationale Wuchs des Mittelalters ging zu Ende in einer überreichen Formsprache. Welches Geheimnis steckt hinter diesem geschichtlichen Zeitverhältnis? Durch welchen Sinn wird die Geschichte in ihrer größeren Spannung gehalten, so daß sie nicht dem Spiel des Sinnbildes mit sich selber verfällt?

Aber wir kehren zu unserem Standpunkt hier am Wasser gegen die aufsteigende Stadt zurück. So wie hier sieht man nicht leicht wieder zusammen die Schiffe der Kirchen, die an ihren Orten als Bilder der Geschichte verankert sind, und die Masten der Schiffe, die im Wasser ruhen und in der Zeit und Gegenwart immerfort noch schwanken. In der Reihe der Türme aber ist auf der Höhe hin das geborgene Wohnwesen aufgeriegelt. Die schlanken Türme, die über allem mehr Zahlen als Raum bedeuten und die gewissermaßen wieder mehr zu den Menschen gehören als zu den Bauten, nehmen alles, das Beengte wie das Aufgeriegelte, gleich Gestirnen zusammen und stehen ebenso zu ihren kleinen Orten wie zur großen Erde. Sie sind immer wieder am meisten ein Sinnwerk des Deutschtums. Und so schweigt der Anblick Altlübecks vor uns voll Sinnbild und stummer Sprache. Es ist, als ob die Luft erklingen müßte, während wir den alten Rhythmus des Ortes sehen.

[Lübeck, Marienkirche]

Im alten Stadtbering

Jeder der Orte, zu denen wir nun über den Wasserring in die Stadt zurückkehren, müßte als ein eigener Sinnbereich bedacht werden. Da ist zuerst, am anderen Ende der geschichtlichen Stadtlinie, der ehrwürdige alte Dom. Er ist das Werk Heinrichs des Löwen, ein romanischer Bau, 1173 begonnen, ein seltsam starkes und wie aus Wassern der Geschichte aufgeklartes Bauwesen, alle Gliederungen zu sich selbst groß herangenommen, auf daß allein Raum und Richtung frei werde. Der aufgeteilte Raum ist wie ein Gefäß, das zierlos und mächtig nach lebenden Sinnen greift. Das Ticken einer Uhr hackt mit eisenhaftem Ruck in diesem Raumgefühl dahin. Der Chor ist gotisch vergrößert, und auch diese Gotik ist, wie auch Lettner, Triumphkreuz und anderes, nicht blühend erfüllt, sondern in die stumme Schaukraft gesetzt, die dem ganzen Raume eigen ist. Macht es die geschichtliche Grundstimmung oder was sonst, jedenfalls konnte selten der Eindruck so leidenschaftlich werden wie hier, daß ein Raum ein Werk aus Nichts ist, aber hergerufen gleich einer Lautkraft, die nun stumm und sichtbar ist. So ist die Luft um Heinrich den Löwen.

Im Dom aber ist noch, in der Greverad-Kapelle, das große Werk des Flügelaltars mit der Kreuzigung von Hans Memling, das allein eine lange Durchwanderung mit Sinn und Sinnen in seiner ritterlichbürgerlichen Gotik verlangt. Das Schaubildhafte am Ende der Gotik nimmt zu, indem es die Kraft des Inhalts in viele Teilsinnigkeiten oder in das Zunehmen von Menschengruppen umsetzt. Eine vielfigurige Schlankheit hebt das Wuchtige auf in ein tätiges Dasein von fast pflanzenhafter Artung. Die Erde wird nun Landschaft, indem sich die eingehegten Orte mit besinnlichem Wuchse von Gestalten erfüllen, die ihre Heilslehre mit sinnlichem Nachtun darstellen. Es ist nicht mehr die einzelne Schwere und die speziale Widerstandskraft der romanischen Seele, es ist nicht mehr der starke Bau um die Figur, sondern es ist das nachspielende Tun des »genus Mensch«. Es ist eine »generale«, eine bürgerliche Haltung; die Erde geht mit » den Menschen zu Schaubildern zusammen, das Bildwerk wird wie ein Buch zum Durchblättern, die Gegenwart verwandelt sich in eine reine Verbildlichung. Und damit stoßen wir wieder an das eigentümliche Ende des mittelalterlichen Weges.

Die Marienkirche

Ob die Verkörperung von Lübecks hanseatischer Blütezeit, die berühmte Marienkirche, noch einen stärkeren Raumeindruck macht als der Dom? Man steht im Dom noch mehr eingeschluckt und wieder ausgestoßen vom Raume oder in einer stärkeren Gewalt der Brechung. Hier dagegen ist die Raumgröße so, daß man nicht erfaßt wird als ein einzelner, sondern daß die Raumgröße wie die Naturtatsache einer bürgerlichen Größengeschichte in ihrem zeitreligiösen Ausdruck aufgerichtet erscheint. Man sieht, wie die Ströme von Besuchern hindurchgeführt werden durch diesen Raum, der ein Zeitraum ist und der das Vorbild und die Mutter wurde für die Gotik an der Ostsee. Auch der Einzelgänger hat das Gefühl, zu dem fortziehenden Strome zu gehören; denn hier wird nicht das Herz zu sich gestoßen in das Eigen-Einzelne und tritt nicht der Mensch in die Geschichte gleich Wassern eines aufgestauten Sinnes, wie man im romanischen Dome empfinden kann. Es ist in ihr vielmehr eine »zeitewige« und immer gleiche Ernte, als ob der Raum das »Genus« der Menschen so in sich zu einer durchlichteten Ruhe aufgenommen habe. Wenn man das Wort »zeitewig« wohl nehmen könnte, um eine Verschränkung und Entschränkung alles Wesens und Begriffes, alles Gebundenen und Entbundenen, alles Werdens und Entwerdens auszudrücken, um das Maßlose aus lauter Maßen, das nüchtern Hohe aus dem zierlich Gebrechlichen, das Knospende aus dem Kubischen zu benennen, und um den schwebenden Sinn aus allen Teilen zu treffen, die ihre Zahl ungezählt in ihm befestigen, so gibt davon ein Baubild und Zeitbild eben diese große, in sich gestellte und doch ins Unaufhaltsame entlastete und entschränkte Gotik. In dieser reifen Art, noch ohne die geistreichere Verwachsung und zugleich hungrigere Raumauflichtung späterer Gotik, stehen die genauen Linien eines großen und schlanken Gesetzes, gerade im Ziegelbau und in dieser basilikalen Form ohne Querschiff, aus einer Stetigkeit in eine andere oder aus der Längsrichtung in die Höhe geholt und über sich greifend in einer Sichtbarkeit, die alle anderen Sinne auszuschließen scheint. In dieser Art Sichtbarkeit ist auch die Größe eine Eigenschaft, das heißt: die qualitative Empfindung des Seins wird zu einer quantitativen Wahrheit in der Zeit. Teil um Teil ist aus einander entsperrt, daß nichts obsiegt als die Sichtbarkeit, und die Dunkelheit der Geschichte scheint eine reine Eigenschaft und Aufgeschlossenheit der Zeit geworden zu sein. Das ist es ja wohl, warum man die gotischen Dome so groß gemacht hat. Diese Art von Größe ist wie eine ungeheuer aufgeräumte Zahl, welche das Geschlecht der Menschen bedeutet und welche zu einer geschichtlichen Eigenschaft und Formzeit geworden ist. Sie hat ihre Zeit entsperrt und bedeutet eine bürgerliche Welt.

[Lübeck, Marienkirche]

In der Gotik scheint das »genus Kirche« sich selbst eingeholt zu haben. Es ist zugleich das Sinnbild des »genus Haus« geworden. Und so stehen diese gotischen Kirchen als Sinnbilder in diesen bürgerlichen Städten. Gerade hier im Norden, wo man auch mit besonderem Sinne von dem »genus Haus« sprechen kann, wo das Wohnhaus sich aus dem natürlich-bildhaften Ganzen, aus der gemeinsamen Form der Tenne oder Diele erbildet hat, an der die Anräume Anteil haben, hier kann man von einem Indigenat des deutschen Hauses sprechen. Und hier darf man auch das Wort vom »genus Kirche« im verwandten Sinne gebrauchen; die Kirche der Backsteingotik ist hier zu einem besonderen Indigenat geworden. Gewiß darf man im ganzen einen volkhaften Charakter und einen Vorgang von geschichtlicher Stabilierung in solcher Formlage erkennen. Und um so auffälliger ist dies, als wir gerade in den kolonisierten Gegenden stehen, wo also auch überall bis zum weitesten deutschen Nordosten hin diese gotischen Domgesichter ausschließlich stehen und demnach das »genus Haus« auf diese Weise am sichtbarsten gemacht haben. Die Gotik ist die große, generale Form dieses Deutschlandes des nationalen Wuchses geworden.

Noch etwas anderes läßt sich in dieser Gegend der gotischen Ausgelichtetheit bemerken, daß sich nämlich, wo die Entraumung so hell und stark ist, auch ein besonderes Bildbedürfnis als Einsatz und Widerhalt dagegen zeigt. Indem man in der Totentanzkapelle der Marienkirche die große Parade des Totentanzes der Stände betrachtet, kommt man auf den Begriff des Panoptikalen, der sich auch sonst vielfach bewahrheiten will. In vielen Formen, und wenn es selbst nur die seitlichen großen Begleitblumen eines Kreuzstammes sind, will hier, wie in Wismar und Doberan, der Sinn etwas Ausführliches sehen und zu zeigen geben. Dazu kommen noch Einzelschönheiten wie hier die Briefkapelle, die ein sternklares Kleinod ist. Zum Schluß geht der Blick im Innern nochmals über den hohen Querbau des Lettners in den Chorraum. »Großgeteilt und unbeschränkt«, so faßt man nochmals den Sinn einer reichen Verschiedenheit; und so war auch der Begriff des hanseatischen Lebens.

Die Bauten des Domes und der Marienkirche bedeuten gegeneinander, daß Lübeck etwas Zweipoliges hatte. Es ist die Stadt des Löwen, der ihr im Nahkampfe deutscher Geschichte den festen Platz gegründet hat. Und es ist die freie Hansestadt, die im weiten Zeitbering ihrer Einflußkämpfe ihren eigenen Ort bürgerlich in sich geborgen und vermehrt hat. Mit Marienkirche und Rathaus hat sich das Zweipolige umgesetzt in ein Einheitsbild des Mittelalters.

Immer wieder geht man durch diese Baubilder, in denen sich auch Renaissance mit der Gotik in ähnlicher Trachtung, lübeckisch schön, zusammengeordnet hat. Schließlich im alten Hause der Schiffergesellschaft sitzend, möchte man alle die aufgeweckten Fragen zu der einen zusammenfassen: wie lebte der Deutsche in seinem Raume? Was zeigt uns die hanseatische Stadt? Würde man in einem anderen Lande auch geneigt sein, solche Fragen zu tun wie in einem deutschen? Würde man in einem anderen Lande auch auf den Gedanken kommen, daß das Gesetz des Bauens im engsten auch ein Gesetz der Geschichte oder des nationalen Wuchses sei? Hinter allem deutschen Baubild versteckt sich im einfachen und im großen Sinne eine Weltanschauung. Aber welches Schicksal ist es dann, daß aus Weltanschauungen Zeiträume werden und daß die Zeiträume wie unvermittelt nebeneinander stehen bleiben können? So wollen die Gedanken fragend fortgehen, während man in den Bankzeilen des Schifferhauses wie in einem Kirchengestühl sitzt zu einem guten Trunke.

Aber noch ein wackeres Wort zum Schluß vom Wesen der Lübecker Hanse. Die Hanse war wohl wehrhaft, aber sie war noch klüger im Verhandeln. Dies sagt der Spruch: »Latet uns dagen (verhandeln). Wente dat vänlein is licht an de stange gebunden, awer es kostet vel, it mit ehren wedder af to nehmen«.

[Lübeck, Marienkirche nach der Zerstörung durch den Krieg]

[Das Würfelspiel um den Rock Christi, Ausschnitt aus dem Altar des Hans Memling in der Marienkirche zu Lübeck]

Auf den Spuren des Welfenlöwen

Über Ratzeburg nach Lüneburg

Wir reisen durch deutsches Land wie durch ein zweiseitiges Wesen. Das ist nicht wie im Süden, wo aller Raum mit seiner Geschichte in gleicher Weise auf Auge und Ohr einzurücken scheint und wo alles die Richtung zum gleichen Anblick nimmt. Unsere nördlicheren Sinne lieben alles Leben geteilter, sie wechseln zwischen dem stilleren Glanz der Natur und dem heftigeren Traum der Geschichte, und mit brennender Lust wollen sie immer noch weiter in die alte deutsche Zeit eindringen wie in einen Zauberring, der Unerschöpfliches verheißt, steinerne Kühle und heißes Wesen des Geistes zugleich. Ältestes germanisches Sinnwerk ist der Schmuck, ein sonderbares Sinnwerk, in welchem Glanz und Dickicht, Tag und Traum in seltsamen Klärungen und Verschlingungen durcheinander greifen. Dies ist immer noch unser eigentlichstes Erbe. Und wenn das Bild in seiner Übertragung nicht zu kühn und seltsam wäre, möchten wir sagen, daß wir, wenn wir durch unser Deutschland reisen, selber dahinreisen wie in einem solchen alten Sinnwerk unseres Wesens. Wir kreisen aus den innerlich heißeren und leichteren Formen der Geschichte in den stilleren Glanz der Natur. Und alsbald kehren wir in der gleichen Spirale wieder zurück.

Gerade dieser Landstrich, wo wir jetzt über die nördliche Elbe nach der Weser hin unsere Fahrt hatten, kann uns in großen Umschlingungen von Natur und Geschichte erscheinen. Hier, wo wir jetzt aus dem Osten und von Lübeck als einem Herzfleck der Ostgeschichte wieder herwärts kamen, mußten die Spuren der Geschichte wieder voller werden, indem die früheren und schwereren Formen wieder bei ihnen waren. Wir waren wieder in den Spuren Heinrichs des Löwen. Und wie dieser Landstrich keine zentrale Form hat, sondern in die Weite treibt, solch ein Schmuck- und Sinnwerk war auch des Löwen rastloses Umsichwirken und Kämpfen. Besonders in seiner späteren Zeit, als er immer wieder von Feinden umstellt war, gibt das Tun des Herzogs Heinrich wirklich das Bild eines Löwen, der in diesen von ihm eroberten Gegenden seinen Wechsel hatte, der, auf Sachsen und Braunschweig zurückgedrängt, zum befreienden Sprunge ansetzt und dessen Tatze bald in Lübeck, in Ratzeburg, Lauenburg oder Lüneburg auftrifft.

Die Seeinsel Ratzeburg

Im hohen Nachmittag fuhren wir auf zügigen Straßen in einer breiten Landschaft, als die Augen plötzlich auf die Fläche eines Sees niederfielen, der sich langhin zwischen schönen Ufern zog, welche teilweise in waldiger Stille aufsteigend ohne den Eindruck vieler Besiedelung waren. Der Glanz der einsameren Natur weckte uns aus dem Traum der Geschichte. So mochten wir es empfinden, als wir aus dem hellen Traume von Lübeck kamen und nun gegen den Ratzeburger See heranfuhren. Die Natur zog hier einen ruhigen Atem.

So fuhren wir an der Seite des Sees dahin und bekamen schon länger in unseren Weg hinein das Gefühl des alten Bauernlandes, das von Ostholstein hier herüberzieht. Waldig und grün war nun das Gelände und zeigte etwas von einer Unberührtheit, welche in der Kultur der Zeiten schöner wurde, aber im Grunde unveränderlich ist. Es war eine jener Landschaften, welche an ihrer gleichen und stummen Melodie immer weiter dichten.

Aber da hob sich dunkel über dem Wasser ein klotzig gedrungener, aus der Breite kurz hinaufgeregelter Turm; er zeigte die Westseite eines großen und geduckten Baukörpers an, der als starkes Gewicht an dem Ende einer Insel saß. So schwangen sich die begrünten Ufer gegen den See zusammen und leiteten auf die Insel über, aus welcher als eine alte steingewordene Spur das gewichtige Mal der Tatkraft des Herzogs Heinrich auftaucht. Hier, wo der Löwe seinen Gang und Wechsel nach Lübeck und nach Mecklenburg hatte, steht sein Ratzeburger Dom, den er 1173 gegründet hat und der an seine ähnlichen Dome in Braunschweig und Lübeck erinnert, auf der Insel am See. Die Dome des Löwen haben, was auch bei Veränderungen fortzuspüren ist, etwas, als ob der Raum von den Pfeilern und Bogen gleichsam fortgestoßen sei und geschüttelt werden könne in seinem eigenen Begriffe. Wir mögen es auch im Ratzeburger Dom wieder aufsuchen.

Man könnte Anblicke von der Reichenau im Bodensee mit ihren romanischen Bauten beiziehen, um die härtere geschichtliche Wucht zu bestimmen, die in der Gründung des Löwen ist. Wenn diese Weststirne hier, die über das Wasser gereckt ist, zu zwei hohen Türmen ausgebaut wäre wie sonst in Niedersachsen, dann würde auch das Herrschaftliche noch zugenommen haben. So steht von weitem ein unrückbares Gewicht am Wasser. Aber in der Nähe wird man einen schön geregelten und in gebändigten Maßen aufgeschlossenen Bau finden, der später noch etwas von der klaren und mehr aufgeheiterten Ansicht der Gotik hinzubekommen hat.

Auf einem Damme fahren wir zu der kleinen Inselstadt hinein und durch die altfriedlichen Gassen zum Dombezirk weiter. Es sind heute noch zwei verschieden orthafte Bezirke, der Dom und das Städtchen, der Raum der vereinsamten Geschichte und das bürgerliche Dasein. Und auch in der geschichtlichen Zugehörigkeit waren die beiden geteilt, das Städtchen bei Lauenburg, der Dom bei Mecklenburg-Strelitz. Vor dem Dombezirk steht eine Nachbildung des braunschweigischen Löwen, also jenes Standbildes, in welchem die Kraft der Geschichte in einen Tierleib wie in ein Gefäß grimmig hineingeschrieben ist. Dann halten wir an der schön gestuften Südseite des kreuzförmigen Domes. Hier steht er in der rötlichen Farbe des Ziegels, mit der er über den bläulichen, vom Winde gefächelten Seespiegel gegen die grünlaubigen Ufer geblickt hatte. Aber das Ziegelwerk hat mehr die Gesetze und die Massengegensätze des Hausteins. Auch ist die Südseite überraschend, da hier das Portal ist, das unter einem eigenen Giebelbau an die Westseite anschließt. Gotische Ausbauten und neue Instandsetzungen nehmen manche Schwere der alten Regel hinweg. So hat sich auch das Innere gotisch erhöht. Aber das Gedrungene und die im Schreiten befindliche Gliedermacht des Baues ist trotzdem vorhanden und muß einst noch gedrängter und geduckter gewesen sein. Dabei haben die Pfeiler einen sorgsam edlen Schritt. In der Ausstattung wechseln herrliche alte Werke mit pompöser Renaissance und sehr verschiedenen Dingen der Geschichte Ratzeburgs und Lüneburgs.

Ein Wendenring war der burgartige Anfang Ratzeburgs. Es war das Gebiet der Polaben, das an die Wagrier in Ostholstein anschloß. Ratzeburg war schon in den frühen Wendenkämpfen zwischen den Parteien hin und her gegangen, und die sächsischen Billunger hatten darum gekämpft. Dann war Adolf II. von Holstein, welcher Lübeck besaß, mit Heinrich von Badewide übereingekommen, daß dieser Ratzeburg besitzen sollte, bis über beide die stärkere Hand Heinrichs des Löwen hinweggriff, der auch in Ratzeburg ein Bistum gründete. Nun geriet Ratzeburg in die Kampfhandlungen des Löwen mit den Staufern. Und schließlich ging mit Streitigkeiten zwischen Ratzeburg und Lauenburg das Mittelalter zu Ende. Aber mit dem wenig veränderten Dome des Löwen ist die Inselstadt geprägt geblieben.

Abend über der Elbe

Wir blicken noch zum großen Kreuzgang und Stiftsgebäude, wir gehen durch das heimelige Städtchen, wir fühlen nochmals die Luft, in welcher die Ruhe des Alltags mit der Feierlichkeit alter Geschichte beisammen ist. Um den See aber ist Bauernland von sehr altem, bodenständigem Dasein. Und nun sind wir wieder auf der großen Straße. Es geht durch die Stadt Mölln, wo schnell ein wohlhabender alter Charakter mit Fachwerkbauten in schöner Lage uns einnimmt. Die Nähe von Hamburg macht sich bemerkbar. Wir aber sind weiter des Weges nach Lauenburg.

Da sagt einer der Freunde, wenn wir jetzt nach rechts abbiegen würden, kämen wir zum Sachsenwald und nach Friedrichsruh. Der Name Bismarck allein — er brauchte nicht ausgesprochen zu werden — war wie ein großes Abendgefühl. Er schloß eben so ein Stück Deutschtum ein, wie jenes war, auf dessen Spuren wir herkamen. Ein ruhevoller Schatten war in diesem Namen, wie er in aller Geschichte ist, wenn sie zu einem Abendgefühl zusammengeht. Und so wurde nun vollends dieser Abend, indem die Erde unter den langsamen Schatten, die über sie her kamen, gleichsam beständiger wurde, während der Luftraum in ein großes Aufleuchten geriet, zu einem bleibenden Eindruck.

Dieser Eindruck nahm immer noch zu, während wir bei Lauenburg mit der Fähre über die Elbe gesetzt wurden. Die Ufer waren hier höher, und der Fluß, in dessen tieferem Luftbett wir atmeten, während wir in seiner Strömung leise rauschend hinquerten, kam uns mächtig entgegen. Der Himmel war fast süß nachtblau, während die Luft noch ganz hell war und mit rosa Streifen und Wölkchen gleich einer hohen, zur Ferne fliehenden Wölbung alles nur wie in einer Ahnung zusammenschloß. Die grün bebuschten Ufer schienen darunter noch tiefer ergrünt. Das hinter uns aufgestiegene Lauenburg leuchtete mit seinen Ziegelbauten in einem noch tieferen Rot, der Fluß schien die Helligkeit der Luft noch heller in seinem unaufhaltsamen Zuge mitnehmen zu wollen, und die silberne Sichel des zunehmenden Mondes leuchtete jenseits über einem dunklen Baume mit einer reingezeichneten Schärfe. Dann hob uns der Wagen wieder vom Flusse herauf, und das Dunkel kam uns entgegen, als wir in dem flachen Lande weiterfuhren.

[»Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen«. Ausschnitt aus der Kreuzigung des Memling-Altares in der Marienkirche]

Zum nächtlichen Lüneburg

Man sah wenig mehr, aber die Landschaft war noch nicht zur nächtlichen Ruhe gekommen. Man denkt, daß hier nun bald große Weiden sein müßten. Da und dort war noch Bewegung, und dunkle Bauten standen seitwärts heran, welche auch große Ställe und Scheunen sein konnten. Man fühlt den nächtlichen Frieden einer Gegend, wo die Landwirtschaft große Maße hat. Auch tauchten noch plötzlich Leute mit Pferden vor uns auf und erinnerten an die Pferdezucht in der Ebene. Die Nacht nahm aber immer mehr zu, die uns nur ein allgemeines Gefühl von der Erde läßt. Und nun konnten alle die großen Stimmungen dieses Tages rauschend in der Empfindung zusammenschießen. Eigentümlich ist, daß dies der Kraftwagen, dessen Räder unaufhörlich eilen, durchaus nicht hindert. Im Gegenteil wird seine mahlende Bewegung auf der Erde selber noch zu einem Triebwerk des rastlosen Sinnens.

Nun aber standen wieder einzelne Lichter in der Nacht, sie vermehrten sich, indem wir dunklen Häusern nahe kamen, wir kamen zwischen schöne nächtliche Gassen mit hohen Hausgiebeln, welche ihre Stufen steil und zackig gegen den bestirnten Himmel zeichneten, und nun waren wir also in Lüneburg. Der große und wie eine Weide oder Tenne gelassen daliegende Platz, auf den wir kamen und der im langen Geviert von hohen Giebelbauten dunkel umstanden war, hieß »Am Sande«. Jenseits war der hohe Turmhelm einer großen gotischen Kirche, der Johanniskirche, fast verschlungen vom Dunkel; und über uns stieg ein Backsteingiebel mit senkrechten, steilen und schmalen Gliedern und doch schattentief darin eingeschnittenen Nischen und Öffnungen auf, dessen Altertümlichkeit fast festlich und drohend zugleich war. Ähnliches hohes Bauwerk setzte sich, noch dunkler werdend, in dem Geviert des Platzes fort, und wir sahen gerade auch in den nächtlichen Bildern, daß wir nochmals in einer berühmten Stätte der Kunst des Ziegelbaues angekommen waren.

Die nächtliche Fahrt im flachen Lande und diese steil zusammengerückten, nur nach oben gestuften, schattenvollen Hauswände entsprachen sich mit einer sonderbaren Einheit. Aus Dielen oder Tennen und Speichern wächst Haus an Haus senkrecht für sich hinauf. Aber wie die Häuser zusammengerückt sind, das gibt selbst wieder einen großen Eindruck der Aufspeicherung alten festen Lebens in einem Lande ebenso alten Wesens. Es ist das Nachtbild einer Stadtform, in welcher das Einzelwesen und das Gemeinwesen ruhevoll zusammengetreten sind und in welcher noch unerschüttert das Bild des Landes über die Fortschritte der Zeiten die Überdauer hat. Es ist da vielleicht nicht mehr als anderwärts, aber es steht noch unbewegter auf dem Boden. Und es ist da keine Form des Gedankens, sondern der zu gebundenen Maßen aufgewachsenen Erde.

Wir aber fühlen nach unserer langen Fahrt wieder die feste Erde und sind auf den erleuchteten Platz getreten, um aufzuatmen, und die Lichter fielen auf uns, als ob sie unser eigener froher Atem seien. Die hohen Giebel schwiegen nächtlich in ihrem zackigen Reigen zwischen den nahen Lichtstellen des Platzes und den hohen Sternen. Und wir wandten uns zur gastlichen Stätte.

Durch die Westfälische Pforte

In den Landschaften des Welfenlöwen und Widukinds

In der Sonntagsfrühe gehen unsere Schritte durch Lüneburg. Es ist, als ob man dabei das Gefühl des offenen Landes und der Heide um sich habe; so offen und frei wirkt die Stadt trotz ihrer mittelalterlichen Zusammenscharung.

Die Stadt der schönen Häuser

Was hat doch diese Stadt für eine Ruhe und Stetigkeit! Ihr deutsches Gesicht ist so in sich beharrlich, als ob es in der Zeit keine Wandlungen gegeben hätte. Gewiß sind die Wandlungen da; aber die natürliche Stetigkeit ist noch größer. Und selbst das Alter der Stadt, deren Siedlungsname zur Zeit des Kaisers Otto unter dem Sachsenherzog Hermann Billung zum ersten Mal aufgeschrieben wurde, ist nicht bemerklicher als der gemeinsame Zug der aufgeprägten Stetigkeit.

Lüneburg ist gotisch geprägt. Aber das empfindet man hier nicht als einen Zeitstil, sondern das ist hier so, wie wenn es keinen anderen Stil für den Sinn und die Form des Hausbaues gebe. Das Dach wächst im steilen Dreieck über dem großen Hausraum, der ursprünglich oder eigentlich nur einer ist und die späteren Räume in sich eingliedert. Alles entwickelt sich aus dieser einfachen Form zur hochgestaffelten und freien Giebelstirn. In ihrer freien Blende setzt sich die Zeichnung des Hauses fort. Auch spätere Jahrhunderte haben mit Schnecken und Schwingungen der Giebelschrägen doch die gleiche Erscheinung bewahrt. Die hinaufentwickelten Giebel sind wieder von Fenstern durchbrochen, die nun aus der Horizontale in die Vertikale mit hinaufschießen. Hohe schlanke Spitzbogenblenden in schmal vertieften Feldern, die sich selber wieder mit zierlich verdoppelten Bogenblenden beleben, tun das Weitere, um die ganze Giebelwand aufzuteilen. Dies ganz durchbrochene und verzierte Giebelfeld ist eingefaßt und durchzogen von Stäben und Wandpfeilern, welche gerundet, gekerbt und auf alle Weise anschaulich gemacht sind und welche, auch noch mit Kreisen dazwischen, das Giebelbild in lauter sinnklare Aufteilung und Sichtbarkeit verwandeln. Und all dies ist nun vertikal oder horizontal in Reihen gefaßt und schiebt sich hinauf in die Giebelstaffeln, welche die Felder genau und knapp einfassen und dabei mit starken Schritten und Sprüngen zwischen sich hinauf führen. Und dazu geben auch die Unterbauten mit Reihung, Symmetrie, mit dem stillen Glanz von guten Maßen der Fenster und Tore und auch mit dem Vorbau von Erkern im Hausstocke die gleichen Beispiele einer reifen Hausform.

[Dominsel Ratzeburg]

[Lüneburg, Heilig-Geist-Gasse]

Lüneburg ist die Stadt der schönen Häuser. Und in diese bildhafte Reihenschönheit paßt auch die gewaltige Bauanlage, die zusammen das Rathaus von Lüneburg darstellt, das neben dem Lübecker das ausgedehnteste in Deutschland ist. Indem wir es umschreiten, bemerken wir, wie Figuren und Zieren einem ganzen Bauteil einen bildhaften, deutsch-besinnlichen Ausdruck geben können. Und wenn wir leider nicht mehr Zeit gehabt haben, die berühmten Innenräume zu sehen, so war doch diese Beobachtung eine Einführung in den gestaltenden Geist. Mit Schmuckwerken an Bauteilen, mit figürlicher und farbiger Bekleidung von Gewölben und Balkendecken, von Wänden und Türpfosten liebt es der Deutsche, einen Raum in ein ganzes Bildgefühl umzuwandeln, das vom Volksgeist den Atem hat und bewohnbar ist. Es ist die Neigung des Deutschen, gleichsam im eigenen Bilde zu leben. Am Ende des Mittelalters vor allem wollte das Volk sich in seinem geschichtlichen Zustand sehen und besitzen. Es wollte sich im Auge behalten, um sich nicht zu verlieren, als die alte Zeit ihrem Ende nahte (und eine solche Neigung ist ja bis heute geblieben). In diesem Suchen nach einer weiteren, durch die Verbildlichung des Volkstums verbürgten Gegenwart liegt ein gewisses deutsches Schicksal.

Wir gehen durch die mittelalterlich gebogenen Straßen. Und wie die Kirchen von St. Michael, St. Nikolai und St. Johannis nur je einen Turm in starken Kanten hinaufschicken, vor allem aber, wie der Turm von St. Johannis aufgehelmt ist, mit diesem hohen Wahrzeichen der Stadt vervollständigt sich unser Gesamteindruck. Und wieder bleibt es merkwürdig, daß in dem ganzen Dasein dieser Stadt das Altersgefühl, da sie doch einer der ältesten kirchlichen Orte zwischen Elbe und Weser ist, nicht aufkommt.

Das Innere von St. Johannis, aus dem vierzehnten Jahrhundert, ist eine Halle von fünf Schiffen. Man blickt durch die Räume wie durch einen hellen und sternenklaren Wald. Starke zylindrische Backsteinsäulen, an welche kleine Dienste oder Säulchen angeknotet sind, machen die Raumgröße wie mit zeitlosen Schäften offen und fest. Man blickt wieder über das Äußere, über das mächtig große Kirchendach und zu den vier gleichsam hochgesichtigen Giebeln, die zum Turmhelm überleiten und die über die Stadt schauen, welche nicht zuletzt durch ihre eigene Kraft, mit ihrer Salzquelle und ihren Sülfmeistern, den Pächtern der Salzpfannen, groß geworden ist.

Durch die Lüneburger Heide

Aber wir denken auch wieder zu den Spuren des großen Welfenherzogs. Als Heinrich 1181 dem Schicksal der Unterwerfung entgegenging, als er mit Braunschweig seine Hauptstadt und mit Lüneburg den Schutzort seiner Gemahlin sich erhalten mußte, da waren hier für ihn letzte Entscheidungen. Lüneburg hatte übrigens der Löwe auch von dem benachbarten Bardowiek her bereichert, als dieses seinem Zorn zum Opfer fiel, während er den Dom als ein Mahnmal dieser Strafe in der Gegend stehen ließ. Dem verbannten Löwen aber waren auch diese Teile seiner Länder, bis er zurückkam, am treuesten geblieben.

Als Heinrich mit wenigen Begleitern die Lüneburger Heide durcheilte, da war ihm, so erzählt die alte Geschichte, der Kaiser dicht auf den Fersen, und nur Ortskenntnis und die Öde der Gegend retteten ihn. Solche Stimmungen gehören noch in unsere Fahrt, wenn es jetzt ein Stück durch die Lüneburger Heide geht. Im heißen Sonnenmittag schweigt aber die Natur gleich wie das Raunen der Geschichte. Vorher, im fruchtbaren Lande, sah man noch die Bauern, sonntäglich gekleidet, das Gesangbuch in der Hand, auf den Kirchenwegen zwischen den Feldern. Nun aber hat die Stille noch zugenommen in dem Grade, wie die Heide und ihre Einsamkeit um uns wuchs. Die manchmal gewellte Ebene ist weithin rostbraun, das Heidekraut gleichsam niedergebrannt, und nur wenige lebendige Blüten pflückt man noch aus der grünlichen Bräunung. Aber aus der dürren Decke erhebt sich da und dort der Wacholder in seinen grünbuschigen Formen, die klar und fest und glänzend sind. Sie stehen wie wüchsige, sattgrüne Kristalle im blauen Mittag. Über ihnen erheben sich ähnlich versprengt in der Nähe und Weite einzelne Kiefern. Und allmählich erschaut man im Nah- und Weitblick die Heide wie ein in der Bewegung stehen gebliebenes Meer. Da, wo die Bewegung zunimmt, geht es in der Richtung nach dem Wilseder Berg. Diese Ruhe ist sonderbar gut. Sie ist nicht wie im Flachland, das noch des Horizontes bedarf; und auch nicht wie am Meer, welches in sich selber nicht ruhen kann. Sondern die Heide ist gleichsam »von Ruhe zu Ruhe bewegt«; das Gelände gibt dem Blick nur Bewegung, um überall die Ruhe zu finden.

Ein Ortsname kommt, der Munster heißt; er erinnert an das Munsterlager und den großen Krieg. Weiter geht es nach Ilster und nach Soltau. Wie gestern bei Lauenburg die Nähe Hamburgs, so macht sich hier die Nähe Bremens bemerkbar. Dann aber führt die Straße über Visselhövede nach Verden an der Aller. Und während noch die Stille der Heide in uns nachsummt, trachten die Gedanken wieder nach der Geschichte.

Von der Aller an die Weser

Auf den Spuren des Welfenlöwen kommen wir also in die Spuren des großen Sachsenherzogs Widukind. Die Niederkämpfung der Sachsen, die schwerste Zeit deutscher Stammeskämpfe, Niederbruch und Wiederaufstieg — wir kehren in die einfache Stille des Ortes Verden ein. Man stellt sich kaum vor, daß Verden schon seit dem neunten Jahrhundert der Name eines zuerst von Karl in Bardowiek gegründeten Bischofsitzes war. Doch indem wir unter die hohen Bäume auf den großen Platz neben dem Dome kommen, ist uns zu Sinne, als ob wir in die Schatten der Geschichte treten. Das Dach des Domes steigt hinter den Baumkronen schwer hinauf. Der Platz ist voll ruhiger Sichten. Es gibt manchmal solche Kirchenkörper, die sich wie gewaltige kirchliche Hausstöcke ansehen; allein ihre Größe, ihre einsam große Zweckmäßigkeit läßt sie in einem Gefühl der Verlassenheit erscheinen. Sie harren aus wie ein großes Stocken in der Luft der Geschichte. Und gerade die mächtigen Kirchenhäuser des Mittelalters, von denen Niedersachsen die großen Beispiele hat, können ein solches Gefühl erwecken. Das deutsche Wesen hat ein Bedürfnis der Ganzheit, welchem sinngemäß entspricht, daß alle Zerbrechung desselben in den Zeiten stärker nachschattet und nachschweigt. Und nun scheinen gerade auch die Zeugen der früheren Ganzheit wie Ruinen oder besser mit der sonderbaren Schärfe verlassener Sinne in Ort und Zeiten geblieben. In Italien haben weder Bauten noch Ruinen diese Schärfe oder diese »Nachsucht« der Ganzheit von Sinn und Geschichte. Sie sind dort Zeitenschichten.

»Ein Bedürfnis der Ganzheit«, und die Zerbrechungen in den Zeiten! So bringt das Christentum, eingesetzt zwischen Naturzustand und Geschichtszustand, im deutschen Wesen eine andere Richtung hervor als im römischen. Die weltanschauliche Integrität verstärkt in uns und spaltet zugleich ein Bewußtsein geschichtlicher Integrität. Und demnach erlebt unsere Geschichte dann eine unerhörte Aufgipfelung und zugleich ein inneres Gesetz der Aufspaltung mit all den Zerbrechungsgefahren, welche dem höheren geschichtlichen Bewußtsein zukommen. Alles wird verletzlicher, und das Verletzte bleibt empfunden nicht nur in der Einzelkreatur, sondern in den Rechten der Geschichte. Zu Karls Niederschlagung der Sachsen wirkt außer der Furchtbarkeit der Tatsache auch dies Bewußtsein mit, daß die christliche Geschichte sich in unserem nationalen Wesen bis zu ihren stärksten Gegensätzen unausweichlich erfahren und genährt hat. Es gibt tiefe Schattungen in der Geschichte, welche auch in dem hellsten Sonnenlichte sich nicht mehr aufhellen wollen. Da aber, während wir mit solcher Stimmung den Dom betreten, der noch einen uralten Turm hat und an dem die Jahrhunderte in die Gotik hineingebaut haben, bringt unerwartet das Innere des mächtigen kreuzförmigen Hauses eine blumige Idylle. Es war eine Hochzeit gewesen, und entlang dem Mittelgang lag beiderseits auf jedem Bankende eine Tulpe. So hatte das Volksgefühl einen schönen Brautgang durch die Mitte des Raumes geschaffen. Als wir über die Aller fuhren, schwieg im Rückblick das vom Turm nicht überragte Kirchenhaus raumschwer über den grünen Triften.

Die weitere Fahrt ging durch die stattlichen Dörfer Hannovers. Es sind die schönsten Bauernhauser der ganzen Reise. Die niedersächsischen Häuser mit Diele oder Fleet, in welche an der Giebelseite die portalartigen Scheunentore zwischen beiderseitigen Vorbauten hineinführen, zeigen das Giebelfeld über der Vordachung wie ein wappenhaftes grünfarbiges Dreieck, das von den gekreuzten Firstbalken bekrönt ist. Und so stehen die Häuser wuchtig und breit im Dorf und stehen doch jedes einzeln zwischen Bäumen, jedes ein Anwesen für sich. An dem Sonntagnachmittag saßen die Leute in dem Raum, der die Einfahrt zwischen den Vorbauten bildet. Es war, als ob sie im Eingang von romanischen Portalen saßen. Alles wies auf Geschlossenheit, und man mochte auch denken, daß es sich hier schwer einleben ließe, daß man vielmehr hier geboren sein mußte. Selten wird ein Eindruck vom Bauerntum so nachhaltig und stetig sein, wie es hier war.

Der kommende Abend hatte uns aber auch schon die unauffällige, leise schweifende und doch an sich gehaltene und tief in ihren begrünten Ufern gehende Weser gezeigt. Ihr Bild nahm zu, und bis wir am Abend nach Minden kamen, war um sie ein großes deutsches Landschaftsbild aufgestanden.

[Lüneburg, Johanniskirche]

[Westwerk des Domes zu Minden]

An der Westfälischen Pforte

Der abendliche Duft hing sich langsam in die weite Lücke, welche wir südwarts sahen, wo das Wesergebirge östlich und das Wiehengebirge westlich zusammentreten. Wir waren an dem Orte, wo der Flußlauf der Weser in das norddeutsche Flachland eingetreten ist. Die langsamen Wendungen, mit denen er herwärtskommt, verstärken das geöffnete Bild des Abends. Wir waren in Minden und standen mit Beginn des Dunkels vor dem gewaltigen Bau des Domes, der mit der stummen steinernen Macht seiner breiten Westseite emporsteigt, als ob die Stärke der Stummheit der sprechendste Ausdruck aller Zeit und so mit dem elften Jahrhundert ein neues Jahrtausend heraufgestiegen sei. Die fensterlose Wand ist wie ein Stück eines Zeitalters.

Am Morgen, da wir vom Marktplatz mit den altschönen Rathauslauben kommen, galt unser Blick wieder der wie mit einem Vorhang entzweigeteilten Berglandschaft im Süden, die dem Stromlauf die Ebene öffnet. Und wieder hing der weiche Glanz der Weser in der Luft. Die Schleppzüge rauschten im Wasser aufwärts. Und dann fesselte wieder das große Baumal des Domes, und daran zunächst die Fenster des frühgotischen Langhauses mit ihrem Maßwerk, das fast wie Sonnenräder und fast wieder wie Pfauenfedern in üppigen Steinzieren die edlen begiebelten Flanken des Langhauses aufhellt. Das Innere mit Querhaus, mit kuppelhaften Wölbungen, die eine südliche Schwebung in den Raum bringen, zeigt noch mehr die gewaltigen Maßwerke der Fenster. Sie wuchern in ihren kreisenden, radialen Abschlüssen gegen das Licht als sperrende und versteinerte Strahlenkräfte und geben um so mehr dem Licht die Hereinkunft zu vielem Raume, der das Innere selber ist. Maßwerke sind ja immer wie widerpartige Schlüssel des Lichtes; sie wollen, je mehr sie das Licht öffnen, auch selber Körper bekommen; sie sind wie sinnreiche »Neidspiele«, die also hier zu besonderem steinernem Wuchse gediehen sind.

Aber auch das Innere hier ist nicht nur Raum, sondern es ist ein ständiges Raumgewinnen, es ist ein Wesen von vielem Raum. Zunächst mechanischer verglichen, ist es mit seinen Langs- und Querachsen wie in Kraftfelder gesetzt, und die starken Säulenzylinder mit den daran geknoteten alten und jungen Diensten sind etwa wie Räderwerke, welche kreisen können. Man muß aber solche kleinen Vergleiche wegtun, um dafür die gewaltig ruhige Bewegung von Raum und Raumgliedern mitzuleben und sich selbst aussagen zu lassen. Wenn es klassisch ist, daß Form in Teil und Ganzheit als eine reine positive Größe sich behauptet, so ist hier dagegen wieder eine dispositive Fähigkeit, das heißt, Kraft und Größe wandeln, Ort um Ort vertauschend, sich in sich selber um. Das Dispositive ist nicht das Gegenteil des Positiven; es ist ein anderer Vorgang. Nichts ist hier ruhend und bewegt in sich, sondern jede Ruhe bewegt sich aus der andern. Wenn aber in den romanischen Domen Westfalens der Raum mit der Stärke der Kanten, welche wie Schwerter ein Inbild der Mitte rufen, vorwärts schreitet, so ist hier in diesem frühgotischen Hallenbau die Fähigkeit des Schreitens nach allen Seiten verlegt, und sie wird wie ein Umkreisen. Es ist da zugleich eine große Lockerheit, und die Kräfte sind frei und raumhaft wie mit Würfeln geschüttelt. Und es ist dabei das eigentümliche Gesetz der mittelalterlichen Bauwelt besonders deutlich, das Gesetz einer Verschränkung, welches zu heißen scheint: Raum zu hindern oder zu verstellen, um vielen Raum zu gewinnen. Es ist das Gesetz der Raumfelder, welche durch einander fortrücken, und es ist hier aufs stärkste in Bewegung gebracht. Es ist auch eine große Lust der Freiheit dabei, und der Raum wird seiner selbst mächtig wie die große Figurenkunst des dreizehnten Jahrhunderts. Gerade diesem Dome wird auch ein spezifisch westfälisches Proportionsgefühl« zuerkannt (Dehio), und daß ihm unter allen deutschen Hallenkirchen im klassischen Jahrhundert der Gotik die Palme gebühre. Hinzugefügt sei nur noch, daß hier die Gotik eine erstaunliche Fähigkeit hat, den Raum zu einem Lichtkörper zu machen, ohne ihn bloß aufzuschneiden, so daß er samt dem Lichte auch noch seine ganze Schwere behält.

Und dazu kommt nun noch die schönste Figurenkunst. Darunter ist ein spätromanisches Relief in der Vorhalle, das über den Sinn von Gebärde und Gelenk in unserer frühen Kunst wieder nachdenken läßt. Gelenke sind Vorgebote über das Dasein, sie sind blühend im Sinn, das heißt durch ein Bedeuten über das Körperliche vorgerückt und in einer sinnhaft verstärkten Proportion zum Sein. Hier sind es gleichsam erste Triebe der Erde, mit der Ahnung von Frühlingsfarbe. Die Bewegungen erklären nicht so sehr einen Inhalt, sondern sie sind schon aus innerstem Lebenssinn ruckhaft vorgeboten, als ob das Korn des Sinnes in Rückungen offenbar werde, die täglich und doch unvermerklich mehr zur Sonne hin geschehen. So lebt das Körperliche vor seinem Grunde, als ob es aus der eigenen Tiefe gekommen sei und sich selber öffne und schließe.

Der Mindener Gekreuzigte

Aber der besondere Ruhm ist der Mindener Kruzifixus, der eine seltene Verinnungsmacht der Gesetze seiner Form mit der Empfindung hat. Er ist etwas über einen Meter hoch und erreicht mit den ausgespannten Armen fast die gleiche Breite, womit sich das Stockige dieser metallischen Figur schon andeutet, die ihr schwer zur Mitte gesammeltes Gewicht doch in den Armen sonderbar leicht entlädt. Das Werk, in die Zeit gegen 1100 gesetzt, wäre demnach ein entsprechend schwerer Zeitausdruck.

Was bedeutet nun dieser Kruzifixus in seiner Form? Von dem etwas vorhängenden Kopfe fast angestoßen und gehemmt, wird das Gefühl auch sonst in der leiblichen Rückung und Regung wie durch Stockung und Knospung gehalten und bewegt wie durch Widerkräfte, die gegeneinander den Ausdruck eines schweren und dadurch doch entschlosseneren Sinnes fördern. Der Anblick mit wenig Abwendung von der frontalen Gleichmessung bietet sich als ein im Unausweichlichen verharrendes Sein, das sich in der gleichen lösenden »Todfertigkeit« der Arme zu dem festeren Gleichlauf der Beine noch verstärkt. In der Art jenes Vorhängens oder in der körperlichen Plusform ist auch noch jenes Vorgebot an Körperwesen, das oft bei romanischen Figuren wie ein Korn auf der Erde oder zu dem Grunde erscheint. Hier ist dieses Korn der Leiblichkeit aber weniger still in sich, es ist gleichsam in sich hineingestoßen mit einer schergenhaften Ausgebotenheit und Hartnäckigkeit. Man möchte aber zum Ausgleich dieses Ausdrucks gleich sagen, daß es wie bei einem ganz entschlossenen königlichen Knechte sei. Und alsbald sieht man dazu die Genauigkeit des gelöckelten Bartes und die ausführliche Gesträhltheit des Haupthaares, welcher Anblick wie eine bloße Technik, oder noch mehr im Zwiespalt ausgesagt, wie eine sinnesfreudige Zufügung wirkt, aber gerade so den Ausdruck des Verurteilten, des in die Hinrichtung Gehängten auf eine schrecklich gewisse Art dem Sinne nahe bringt. Man wird sich in diese barbarisch-christliche Kunst kraft einer gleichsam technischen Gegensinnigkeit vertiefen, nämlich daß ein dinglich genaues Tun wie etwas Fremdes angebracht wird, um damit einen Sinn noch mehr wie vereinsamt in sein Leben zu stoßen, oder vielmehr ein Leben dadurch, daß man ihm ein dauernd Gleiches antut, gleichsam zum Knechte zu nehmen und in einer Richtung wie in einem Urteil zu befestigen. In der sorgfältigen Schmükkung des Todesopfers erscheint, einer neutral schönen Kunstart gegenüber, die Technik wie eine gute gehärtete Kraft, von der auch die Todsinnigkeit ein starkes Wesen hat.

Aber auch sonst gibt dies Werk das Gesetz tiefster Zweisinnigkeit zu ergründen, nach welchem der Ausdruck sich teilt, gegeneinander kämpft und sich dadurch verstärkt. Wenn man — da hier nicht von positiver »anatomischer Richtigkeit« gesprochen werden kann — bemerkt, wie gegensätzlich etwa die Brust gleichsam in einer panzerhaften Wappnung ist und dagegen die Weichen von so starker Naturmäßigkeit sind, wie wenn sie ein weiches tierisches Leben, fast dasjenige eines Insektes, ganz und gar ausdrücken müßten, so ist darin eine verschiedene Proportion zum »positiven« Leben, die aber den ganzen Sinn der Kreatur zugleich verstärkt und verläßt, entschlossen macht und ausliefert. So ist der Körper auch nicht als ganzer, sondern in Teilschaften und verschiedenen Sinnschaften bildhaft gemacht und erfahrbar, die aber alle zusammen den innersten Sinn gleichsam nicht nur bedeuten, sondern immer noch wie einen Zwiespalt und Vorgang schlüssig werden lassen. Ein solches Bildwerk ist nicht bloß mit der Absicht eines frommen Daseins da, sondern es ist die Geschichte eines Entschlusses, der, in dem tragenden Knechte leidhaft bis zur brütenden Verstockung geworden, sich doch noch verstärkt. Der Sinn des Lebens wird zu einem aus Trotz und Beharrung wirkenden Nachsinn der Geschichte. Der Nachsinn der Geschichte ist schwerer und gespannter als der Sinn des Lebens, er gibt dem einzelnen Leben den Nachdruck.

Widukinds Grabmal

Und nun sind wir wieder unterwegs und fahren durch die Westfälische Pforte. Es kommt das letzte Ziel der Reise, der Besuch bei dem Grabmal des Herzogs Widukind in Enger. Wir fahren durch Herford und nach dem kleinen Orte Enger hinaus, der etwas steiler liegt. In der noch höher liegenden Kirche ist das Grabmal.

Man betritt den Dom, der Romanisches und Gotisches in großen Maßen vereinigt und der auf die Gründung der Königin Mathilde, der Gemahlin des ersten Sachsenherrschers Heinrich I., zurückgeht. Heinrich hatte Mathilde in Herford gefreit. Im Chore nun hinter dem wertvollen Altar fanden wir den Sarkophag, der früher einmal geplündert wurde, und darauf den Grabstein mit der romanischen Figur des Herzogs. Sie wird in das Ende des elften Jahrhunderts datiert, also lange nach seiner Beisetzung, die 807 hier geschah. Man bestieg die steinerne Bank, die herumgeht, und wer die romanischen Figuren liebt, wird lange auf dieses ernste, schwere und innerlich starke Werk, das den Sachsenstreiter bedeutet, herabschauen. Das Gesicht hat eine steinerne Stummheit, welche wie ein sichtbares Wort der geschichtlichen Entschlossenheit ist. Dies geschieht durch jenes einritzende und wegnehmende Bilden, um einen Gesichtsausdruck zu erreichen, durch jenen sonderbar urkundlich und schrifthaft wirkenden Vorgang, der ein Werk zwischen negativ und positiv in Sicht bringt, wozu die Fältelung der Gewänder eine mit gespanntem Reiz fortspielende und auch die Würde festbannende Ausführung bedeutet, während das Material alle Bedeutung so eingegraben wie ausschließend trägt. Hier ist auch ganz jene romanische Kraft, die einen Ausdruck um so beredter werden läßt, je härter und stummer sie ihn macht. Das Gesicht ist in reiner Vorderansicht wie eine Wand und doch voll einer halb schwebenden, halb schweren Schönheit des Ausdrucks. Der Körper ist edel und schlank und steckt in vornehmen, zierlich gefältelten Gewändern, die, wie gesagt, das Spiel der Sicht über dem Grunde fortsetzen. Immer wieder gelang es den alten Formen, nicht nur einen Körper, sondern auch eine große Zeit zu bezeichnen. Wahrheit und Größe der Geschichte atmet in solchen Steinen.

[Kruzifix im Mindener Dom]

[Enger, Widukindgrabmal]