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Konrad Weiß: Deutschlands Morgenspiegel (Teil 1.4)

IV
Auf einer Reise durch Sachsen

Die Tenne des Wortes

Ausgangspunkt Leipzig

»Bild« und »Wort«

Die deutsche Reiserichtung geht mehr vom Norden nach dem Süden als umgekehrt. Und heute ist es wohl wenig üblich, vom Süden her nach Sachsen auf Reisen zu gehen. Vielleicht weist dies auch auf eine Sinneswandlung im Zeitlauf.

Verhältnisse im Volksgeist

Wir denken an die mittel- und ostdeutsche Landschaftsromantik, die in dem Dresdener Ludwig Richter ihren anschaulichen und gemütvollen Verkünder gefunden hat. Sie war wie ein Spiegel gewesen, in dem, durch Richters Schaffen verdeutlicht, sich Ausdruck und Einbehausung eines gesamtdeutschen bürgerlichen Daseinsgefühls kundgetan hatte, eine nachfühlsame Weise, welche, wenn anderwärts ebenfalls, so doch in Sachsen besonders als eine deutliche geistige Zeithaltung erscheint, die in der Folge zurückgesetzt wurde. Nachdem im klassischen Zeitalter die Lande Thüringen und Sachsen die künstlerischen Sinne von ganz Deutschland auf sich gezogen hatten, und nachdem Leipzig im besonderen schon im achtzehnten Jahrhundert den Anspruch hatte erheben können, die gebildetste Stadt in Deutschland zu sein, war diese bürgerliche Landschaftsromantik noch wie ein Ausklang und Nachhall der großen Zeit. Die Höhen der Bildung verteilten sich, und ihre Proportionen wurden mit dem bürgerlichen Bedürfnis nach einem stillen Leben geringer und kleiner.

Man kann sich wohl einmal, wenn man Ludwig Richters feine Schönheiten betrachtet, fragen, warum die Menschen bei ihm klein geworden sind, als ob sie das Bedürfnis hätten, nur noch einen bescheiden gezimmerten Raum in dem Paradiese der Kinder zu bewohnen oder in der Erinnerung des Alters zu behalten. Es ist ein Gegenteil von dem faustisch und heroisch früher Gedachten, und das Gesetz einer gegensätzlichen Notwendigkeit in der Vernunft scheint sich hier anzuzeigen. Das Gemüt baut seine kleinen Häuser auf der Bühne des großen Geistes. Und wenn sich eine kleine Bildersumme dann groß vermehren kann, so kommt dies doch von einer »sozialen« Unverbindlichkeit in der Grundlage, die aus dem früheren Zustand erklärbar ist. Wenn der Geist sich der Geschichte und ihren Vorgeboten entzieht, um selbst die beherrschenden Maße anzugeben, dann verschieben sich die Proportionen des einfachen wie des wesentlicheren Lebens. Es bilden sich zwischengeschichtliche Verhältnisse. Wenigstens scheint hier die Frage zu walten, ob nicht im Nachgang und Gegenspiel zu der freien geistigen Abstraktion sich der Volksgeist verkleinert hat. Innerhalb der Gegensätze zwischen Klassik und Romantik haben jedenfalls solche Fragen Platz, die auch dahin zielen, daß immer erst die Geschichte den Volksgeist vergrößert. Als Zeitspiegel mögen diese kleinen Bilder aber auch das Zusammenziehen auf die enge Wärme und Wahrheit des natürlichen Menschseins bedeuten, das sich dabei aber weniger im persönlichen Sein als in der gruppenhaften Verständigkeit behaupten kann, während bereits das Zeitalter der Technik und der sozialen Aufreißung begonnen hat. Es war noch das Grundsuchen im Heimatlichen und Behausten nach dem genialen Auskreisen ins Weltweite, was so der sächsische Künstler zeigte und womit er ein Deuter des deutschen Volksgemüts für einen noch mannigfach nachwirkenden Zeitraum wurde.

Vielleicht ist hieraus etwas Wesentliches zu verstehen, womit sich der mitteldeutsche und der sächsische Geist kennzeichnet und womit er ein Stück entscheidenden Deutschtums vorgelebt hat. Sind es nicht die stärksten Ausspannungen und Zusammenziehungen, die den geistigen Gefäßen des deutschen Volkskörpers zugemutet werden konnten und die sich also im Mittelraum Deutschlands vollzogen haben? Wenn wir dazu noch weiter zurückschauen, so ist da der Kampf um die Reformation und um die religiöse Wortwerdung, welcher ebenfalls die beiden Notwendigkeiten des Daseins, die ausgreifende und die zusammenziehende, die messende und die werdende, die bildhafte und die worteigene, umspannt hat. All dies hat auch den sächsischen Sinn und die sächsische Bedeutung bestimmt, und man wird es nicht so sehr zunächst äußerlich sehen können als innerlich verstehen müssen, wenn man nicht nur mit dem Sinn der Neugier, sondern auch mit einem größeren deutschen Sinn durch Sachsen reist.

Die Sachsen selber gehören zu den reiselustigsten Menschen, und gerade sie sind es nicht am wenigsten, welche die deutsche Reiselust nach dem Süden lenken. Jedoch sind die Sachsen Befahrer aller deutschen Reisewege, und mit Abrechnung der jeweiligen Provinznummern kann man feststellen, daß nach dem Berliner und einem rheinischen Wagenzeichen auch immer noch die sächsischen Zahlen auftauchen, die den Dresdener oder Leipziger Wagen kennzeichnen.

Aus der sächsischen Reiselust nun aber zu schließen, daß es dem eigenen Lande an Reisenden mangle oder daß das sächsische Land geschichtlich und landschaftlich nicht fesselnd genug sei, das wäre falsch. Es gibt da noch genug landschaftliche Schönheit für sich, so daß der Arbeitsraum und die soziale Verdichtung dem Zufluß der Weile Suchenden wohl nur wenig wehrt. Man muß an Feiertagen durch das Land gefahren sein und etwa den Menschenstrom gesehen haben, der sich an der Elbe von Dresden nach Meißen bewegt, und man muß etwa in Bautzen kaum noch eine Unterkunft bekommen haben, um von der Wanderbewegung in dem industriereichen Lande zu wissen. Dazu muß man aber auch die einsamen Schönheiten des Erzgebirges empfunden haben; und die Sächsische Schweiz ist ja des allgemeinen Preises gewiß. Also ist es nicht an dem, daß man, indem man den Blick heute auf unser altes Deutschtum einwärts richtet und ihn gegenüber der Nordsüdrichtung nun verstärkt auf eine Südnordrichtung lenkt, das dazwischen liegende Sachsen nur aus Pflicht mitansehen müsse. Sachsen ist ein schönes Land, auch noch außerhalb der internationalen Schönheit von Dresden. Und Orte wie das ottonische Meißen sind Fußpunkte alter deutscher Geschichte, auf die man selbst einmal seinen Fuß gesetzt haben muß.

Gewiß, wer aus einer durch Natur oder Geschichte noch stärker geprägten oder von der Industrie noch weniger aufgelösten Heimat kommt, der wird manches Stück des schönen Landes durch Fabriken neutral gemacht und manchen alten Ort der Kunst beengt und bedrängt finden. Das Leben der Zivilisation muß der alten Geschichte eines Landes viele schöne Sichtbarkeiten rauben. Um so mehr wird man tiefer blicken und jene eingangs erwähnten Wesentlichkeiten der geistigen Geschichte bedenken, welche einen Volksgeist unruhig machen können und ihn zwischen Kleinheit und Größe bewegen. Die äußeren Bilder begleiten innere Verhältnisse. Gerade die Geistesdinge des neueren Deutschtums sind nicht mehr so sichtbar geworden wie die Dinge des Mittelalters; sie haben sich dafür in Wort und Buch niedergelegt; und das weist ja nun voraus auf die deutsche Buchstadt Leipzig.

»Worttenne« im mittelostdeutschen Raume

Leipzig ist der Mittelpunkt des mittelostdeutschen Raumes. Eine solche Bezeichnung klingt trocken, und doch gibt sie eine geschichtliche und kulturelle Anschaulichkeit. Wir können uns den Weg wie ein Gefälle vorstellen, auf welchem wir etwa von München über Regensburg durch die Oberpfalz und weiter durch das Plauensche Land in jene Tieflandbucht hinabreisen, die als ein Ausläufer der norddeutschen Tiefebene Leipzig umfängt und von der aus diese Stadt auch geistig sowie wirtschaftlich ihren Einfluß auf den weiteren Norden besitzt. Fügen wir noch hinzu, daß hier bei Breitenfeld und Lützen Gustav Adolf die entscheidenden Schlachten schlug, die schließlich sein eigenes Leben forderten, und ferner, daß um den Mittelpunkt Leipzig sich das Ringen der Völkerschlacht abspielte, in welchem die nationale Wirklichkeit und die nationale Romantik zum Beginn einer neuen Zeit sich die Hand reichten, so gibt dies zusammen mit dem alten Geistesrufe Leipzigs eine Vorstellung, die an sich schon stärker ist als jedes Denkmal.

Doch sind dies Tatsachen, welche die Vorstellung mehr äußerlich vergrößern. Aber ein anderer Gedanke kam dem Schreiber dieser Betrachtung, als er plötzlich in Königsberg Veranlassung fand, sich an Leipzig zu erinnern. In Königsberg steht gegenüber der Universität »Deutschlands größte Buchhandlung«, nämlich das durch mehrere Stockwerke reichende Buchhandlungshaus von Gräfe und Unzer. Ist es nicht sonderbar, daß in diesem östlichen Teile von Deutschland das größte Buchhaus steht? Und ist es nicht vielleicht damit sonderbar verwandt, daß ebenfalls in diesem Ostteile Deutschlands seine größte geistige Abstraktionskraft mit dem Philosophen Kant ihre Wirkung begonnen hat? Von hier aus nun kann der Gedanke auch auf Leipzig fallen. Wie kommt es, daß gerade im mittelostdeutschen Raume Deutschlands die große Buchhandelsstadt sich entwickelt hat? Ist es nicht, etwa nach allen praktischen Erwägungen, noch merkwürdig genug, daß nicht im Westen, sondern nach dem Osten hin, wohin sich das Deutschtum wieder auf dem Wege der mittelalterlichen Kolonisation eines frühen Mutterbodens vorgeschoben hat, sich auch die stärksten Vergeistigungs- und Abstraktionskräfte, also wiewohl nicht ungeschichtliche, so doch kritisch unsinnliche Anlagen, gebildet und anbehaust haben? Hier scheinen die geschichtlichen Baubilder und Sichtbarkeiten nicht mehr so wichtig wie im Westen. Und Leipzig selbst hat sich als Stadtbild sehr davon entblößt. Jedoch hier haben andere geistige Verhältnisse Platz gegriffen; sie weisen auf geschichtliche Verschiedenheiten zwischen Bild und Wort, zwischen Kunst und Gedanken in der Zeit und in den deutschen Gegenden.

Und wenn dies zunächst nur ein flüchtiger Gedanke scheint, so muß er doch alsbald nachhaltig beschäftigen. Denn dazu gesellt sich auch die Tatsache, daß für Luthers Bibelübersetzung das Sächsische zum sprachlichen Element hatte werden können. Das »meißnische« Schriftdeutsch wurde ein geistiger Wortleib, und der flüchtige Gedanke erhält schließlich die tiefsten geistigen Beziehungen. Wir müssen bald in die letzten Fragen zwischen Alt- und Neuland, zwischen Westen und Osten geraten, die sich wohl am nächsten mit dem Unterschied von einem mehr bildhaften oder mehr worthaften Dasein in der Geschichte — ja geradeaus zu sagen versucht: zwischen westlicher »Bildwohnung« und östlicher »Worttenne« — aussprechen lassen. Ja steht nicht überhaupt der Mensch in einer Proportion zu seiner Geschichte, je nachdem diese ihm bald mehr »Bild«, bald mehr »Wort« ist? Und der Sinneskraft Luthers war das »Wort« jedenfalls in eine außerordentlich natürliche Nähe gekommen. Seine Tat ist eine geschichtliche Proportionsfrage zum Religiösen hin von innerster Art.

[Wechselburg, Schloßkirche]

[Triumphkreuz in der Schloßkirche von Wechselburg]

Anfahrt im Regen

Kann man so den Geist durch geschichtliche Verhältnisse bewegen, so liegt doch die unmittelbarere Bewegung in den Kräften der Kunst. Die Abfahrt, zunächst mit der Bahn nach Leipzig, geschah im ersten Frühjahr; es regnete, und Oberbayern schien dadurch noch weiter und gelassener, Regensburg noch stiller und steinerner, die Oberpfalz noch getragener und durchsichtiger. Im Regen wendet sich das Gefühl nach innen, und im ersten Frühling sieht man eine gleichsam vom Wasserströmen verletzte und duldende Erde. Es entsteht eine Passion des Schauens, die doch nicht nach außen treten kann; und dies ist wie eine Musik, die sich selbst verzehrt, indem sie sich selbst erfüllt.

So erfüllt sich das Gemüt mit sich selber und ist betroffen, daß es sich selber zum Inhalt nehmen kann. Aber damit kommt der Gedanke an Johann Sebastian Bach; — ist es nicht das Nächste und Größte, was Leipzig dem Ankommenden entgegensenden kann, nämlich den Gedanken an seinen großen Thomaskantor? Konnte sich nicht die Musik bei ihm zu ihrem eigenen Inhalt nehmen, ohne noch einen weiteren zu haben? Und wie war es trotzdem möglich, daß gerade diese Musik zum Ausdruck aller anderen großen Passion der Seele werden konnte? Und ist nicht in dieser unsichtbaren Welt, in dieser schwingenden Welle der Musik das Ausgespannteste, das Größte und das Kleinste vereint? Ist aber nicht, wenn Musik das sich selber Verzehrendste ist, diese barocke Musik doch zugleich das wie in festen seligen Worten Bekernteste, das sich nicht weiter verzehrt, sondern einen neuen Einbau gibt? Und was ist hier also an neuer Proportion des Seelischen gewonnen? Eine raumlos sich aufstauende Wesenheit war wohl seit Anfang in dem bildhaften Erdergreifen der Deutschen. Leipzig aber ist für das übrige Deutschland vor allem die Stadt der Bachschen Musik. Wenn die übrigen Kräfte im Kampfe bleiben, so ist dagegen die Musik die Löserin, sie, die zugleich stärkste Freiheit und stärkstes Gesetz ist aus der Maßkraft der eigenen Bewegung.

Aber während dies zu den inneren Geheimnissen des deutschen Wesens führt — eines Wesens, das gerade in der Musik, selbst bei Verlust des zeitseelischen Antriebs, durch Disziplin und Kultur noch immer nachgeholt werden kann —, rückt die Außenwelt den Gedanken wieder an seinen einfacheren Ort. Der Anblick Leipzigs oder schon die längere Ankunft gegen die Stadt hin ist wie das Einfahren in eine große Tenne. Im Vogtland, als der Regen aufgehört hatte, ging der Blick über Kämme mit weiten Hängen und tiefen Einschnitten. Jedoch das Naturbild, das den Sinn fortzieht, leidet durch die Fabrikwerke, die in die Nähe zwingen. Dann kommt die Industrielandschaft um Leipzig, und alles ist wach und voll Dingen der unternehmerischen Arbeit. Dies ist anders als die oberbayrische Ebene, welche schweigt; hier ist alles von einer vielfertigen Lesbarkeit.

Die Stadt des jungen Goethe

Leipzig ist eine Stadt des Gedankens und des Lebens und nicht eine Stadt des einmaligen geschichtlichen Bildes. So wie der junge Student Goethe auf dem Boden dieser Stadt in Gedanken und Leben hineintrat, beschreibend, wo ihn die Gegenwart berührte, und zugleich in die Gesellschaft gerichtet, welche dem Leben Wirkung gibt, bis er nachher in Straßburg dem Gewicht eines geschichtlichen Sinnwerkes, einer »Bildwohnung« aus der Gotik, sich öffnete, so würde auch wohl in Goethes Weise dieser Stadt noch immer die angemessene Darstellung geschehen können. Sein »klein Paris«, die fördernde Galanterie der »zahmen Schäfer an der Pleiße«, dazu die immerhin erstaunliche Anregung, die er gerade aus dem Charakter der Markt- und Messestadt mit ihren fremdartigen Trachten zog, dies nährte seinen Lebenssinn, bei welchem die Beschaulichkeit für die Geschichte nie stärker ist als die augenblickliche, zum Theater des menschlichen Geistes durchdringende Kraft. Damit stellt er auch fest: »Leipzig ruft dem Beschauer keine altertümliche Zeit zurück; es ist eine neue, kurz vergangene, von Handelstätigkeit, Wohlhabenheit, Reichtum zeugende Epoche, die sich uns in diesen Denkmalen ankündigt.«

Wenn dem Beschauer auch heute dieser Haupteindruck bleibt, so kommt doch ein eigenartiges geschichtliches Gefühl hinzu. Städte dieser deutschen Gegend, soweit sie nicht im stärksten Zusammenstoß von Mittelalter und Nachzeit stehen geblieben sind, haben mit der Geschichte stark »aufgeräumt«. Aber es ist ihnen gerade ein nachmittelalterlich bestimmter Charakter eigen geblieben. Er macht sich hauptsächlich auf den Marktplätzen mit den Rathäusern daran spurbar. Man mag ihn sehr stark in Naumburg empfinden, aber auch in Torgau und anderwärts; und so auch in Leipzig am Markt vor dem alten Rathaus. Es ist der Übergang von der Renaissance, der in diesem »aufgeräumten« Charakter spürbar bleibt. Man möchte wieder von einer »Tenne« sprechen, da diese Räume eine bestimmte geistige Stempelung haben, welche sie zu einem bestimmten Volksgefühl, zu einer bildloseren Neigung im geschichtlichen Zustande gehörig zeigt.

»Theodizee«

Dieser Gedanke der »Tenne« kann noch mehr bedeuten, und er will uns auch beschäftigen durch die Tatsache der großen Geister, die hier entstammt sind und denen wir Leibniz voranstellen, der in Leipzig seinen Geburtsort gehabt hat. Indem wir den Unterschied zwischen Westen und Osten, zwischen einer mehr in der Geschichte »bildhaften« und einer mehr im Geiste »worthaften« Haltung auszusagen versuchen, fragten wir überhaupt, wie gerade im späteren Osten der abstrakte Gedanke wuchs, gleichsam mit einer Beeilung gegen die ältere Bildhaftigkeit im Westen. Wie ist es näherhin nun auch, daß das barocke Zeitalter, das anderswo in Deutschland die Sichtbarkeit der Formen vermehrt hat, hier vor allem zu klärenden Gedankenwelten drängt und diesen, die sich erst recht vermehrt haben, als die Formen wieder zurückgingen, das beherrschbare Dasein zuordnet? Wie die Musik die Bewegung des Augenblicks beherrscht, so möchte der Gedanke ein Sein beherrschen und ein allgemeiner Herr sein über den Zwiespalt des Lebens in Raum und Geschichte. So bilden sich gedankliche Mächte im Osten, in Sachsen wie in Ostpreußen. Es ist, als ob der geschichtliche Weg nach dem weiteren Osten abgeschnitten und aufgestaut sei und sich dafür in diese abstrakte geistige Aufgipfelung umgesetzt habe. Damit bestellt sich auch ein menschlicher Begriff, der nicht so sehr ein geschichtlicher, als ein gemeinschaftlicher, gesellschaftlicher, humanitärer oder moralischer ist, obwohl anderseits gerade dieser Osten sich praktisch der Geschichte aufs stärkste ausgesetzt hat. Und also ist die doppelte Tatsache vorhanden, daß die kritische Abstraktionskraft sowohl als der nationale Gedanke sich aus dem »kolonialen» Ostraume erhebt.

Leibniz ist auf rein barocke Weise die große Konkordanz, der Vereinbarungsausdruck aller Geisteskräfte, die in diesem Sinne zusammenstrahlen. Der Begriff der Wissenschaft gleicht bei ihm noch dem Abglanz eines göttlichen Sinnes, der sich nicht bloß zwischen Inhalt und Form im eigenen Vorhaben befruchtet, sondern in echt barocker Empfindung die göttliche Raumkraft um die gesellschaftliche Erde zusammenzieht, so daß darin alles gesteigert und in einer spiegelhaft prästabilierten Weise mit einem glücklichen Atem den Beengungen der geschichtlichen Not entziehbar scheint. Auch scheint dabei die Verhaftung der vorhandenen Welt durch eine Methode, Organisation, Akademie lösbar. Der große Gedanke der Theodizee erhebt sich in diesem Strahle der Wissenschaft und will ohne die Zäsur denkbar sein, welche die Geschichte dem Dinglichen und Menschlichen zufügt, womit sie das göttliche Licht bricht und die stummeren Sichtbarkeiten der irdischen und zeitlichen Formen schafft. Merkwürdig, wie der Geist selber sich gegenüber der Geschichte einsetzt und wie er eine nicht sowohl bildhaft kreaturierte als gedanklich geordnete Welt anstrebt. Darin ist gleichsam mit einem paradoxen Widerspiel eine größere Eile zu einem bleibenderen Dasein als in den alten westlichen Gegenden.

Was ist es aber weiter mit diesem Gegensatz gegen die anderen Gegenden Deutschlands, die mehr der Antike nahe gestanden sind und von daher mit einer mehr natürlichen oder sinnlich stetigeren als gedanklichen Substanz eine andere Sichtbarkeit oder sozusagen Bildwohnung gewonnen haben? Man kommt auf die Fragen, inwiefern das Germanische zu einer eigenen Bildkraft vom Südlichen her Beisteuer erhalten habe, inwiefern die Wortkraft als noch eigenere Wesenheit sich dagegen einsetzen konnte, inwiefern dazwischen eine fraglose Stetigkeit der eigenen Welt zu finden und zu bejahen sei, welche Verhältnisse (Proportionen zwischen »Bild« und »Wort«) also in der geschichtlichen Zäsur oder in der Volkwerdung durch Natur und Geschichte hin sich bilden können und in welch verschiedener Weise sie den deutschen Sinn dabei fruchtbar gemacht haben. Wenn Goethes Gestalt wie ein freies, fast willkürliches Zwischenspiel zu diesen Fragen in Deutschlands Mitte steht, so führen Lessing, Herder, Kant diesen Gedanken nach dem Osten zu immer stärker fort. Der Übertritt in den Osten ist also auch ein Übertritt im Sinne der Geschichte. So ist es gewiß schon vom Reisegefühl aus merkwürdig, daß, während man im Westen allein mit der Vertiefung in die Schaukraft sich »begnügen« kann, der Weg in das neuere Deutschland zu solch beunruhigteren Lösungen im Wort und Gedanken hinbringt.

Wir sind wieder am Abend durch die Stadt gegangen, und es hat sich getroffen, daß aus der Thomaskirche eine Bachsche Passion herausschallte. So tragen die echten Formen den religiösen Anstoß weiter. Im Museum ist am Vormittag die Bilderwelt des Leipzigers Max Klinger zu betrachten. Ihre Farben sind nicht Schmuck aus der verwandelten Erde, sondern Erklärungen des Gefühls. Ihre Richtung steht nicht in dem Sinne, welcher will, daß das »Wort« wieder »Bild« werde, wie etwa in Munchs Epik. Es ist aber eine erstaunliche Ausgiebigkeit der empfinderischen Disziplin, welche diese Bilder zu beredten, von seelischer Neugier befragten Gesichten macht. Der Augustusplatz zeigt heute besonders, was Goethe von dem Stadtcharakter früher aussagte. Goethes gedenkend, geht man über den Naschmarkt und in Auerbachs Keller. Man wird auf vielerlei aufmerksam gemacht; aber der Haupteindruck wird immer bleiben, daß hier mit Aufzählen wenig getan wäre, und daß Leipzig eine Stadt ist, welche ihre Erinnerung der Gegenwart eingefügt hat und nicht die Gegenwart der Erinnerung. Stunden schöner Gespräche gab es im Rosental, wo die Pleiße hindurchfließt mit einer Farbe des Wassers, die man die »Tinte der Klio« nennen kann, und wo die prächtigen hohen Bäume daran denken lassen, daß der Name Leipzig von dem wendischen Wort für »Linde« kommen soll.

Wechselburg

Ein Kleinod altdeutscher Kunst

Wir kommen im Kraftwagen über die Ebene der Leipziger Bucht und nähern uns einem schönen und wechselnden Hügellande, welches die Landschaft der Mulde ist. Über den Tälern der Mulde werden sich Burgen erheben, und die Mulde selber, welche nach der Elbe der größte Fluß Sachsens ist, fließt zusammen aus der Zwickauer und der Freiberger Mulde, welche beide, einen großen Teil des Erzgebirges umfangend, mit der breiten und langsamen Abdachung dieses Gebirges gegen die Mitte Sachsens hereinfallen. Aus einer an die Felsen gepreßten Schlinge der Zwickauer Mulde, wo das Wasser düster und silbern blinkend ist, wird mit dem Städtchen Wechselburg die altberühmte Klosterkirche der spätromanischen Zeit aufsteigen. Und anderseits bringt der Name der Freiberger Mulde von selbst das Gedächtnis an die nicht weniger berühmte »Goldene pforte« in Freiberg, an jenes große Bau- und Bildwerk, das in dieser noch etwas östlicheren Stadt erhalten ist und dessen edle Figuren eben in Wechselburg ihre Verwandten haben.

Wir werden es uns bewußt machen, daß wir jenseits der Saale und später auch der Elbe sind, daß hier im Grenzkampfe etwa von 800 bis 1100 und länger der germanische Kulturkreis sich erst seine Baustätten erringen mußte und daß, nach dem Gebirge zu, das Kulturleben mit der Bergwerksarbeit im Silbererz und den dazukommenden Siedlungen noch später erst einsetzt.

Aus Flußtälern, aus Wäldern und schließlich unmittelbar und schnell aus erst noch unwirtlichem Berggelände hob sich gleichsam Schicht nach Schicht jene sächsische Kulturlandschaft heraus, die heute, zum Beispiel um Chemnitz, das Bild ausmacht, das uns im Hindurchfahren auf eine lange Strecke einbehält und das eine über alles natürliche Gelände hinweggreifende industrielle Profilierung der Landschaft erreicht hat. Dahinter aber wartet der Kamm eines Gebirges, dessen Maße in einer bildlichen Beherrschbarkeit gleichwie im Verhältnis mit den menschlichen Kräften bleiben. Und davor, weiter draußen in der Schräge, zieht die Elbe gegen Norden. Sie ist ein stummer Fluß; aber in Sachsen bildet sie mit Dresden einen hellen, musikalischen Raum in der Geschichte.

Zum Rochlitzer Berg

Wie wir schon bald nach der Abfahrt bemerken, daß ein erheblicher Wechsel des Landes uns umfangen werde, so gehörte es auch dazu, daß die Gedanken, die Eindrücke und die Erinnerungspunkte alsbald sehr verschiedenfältig wurden. Noch fiel der Blick zurück zum Völkerschlachtdenkmal, und der Gedanke ward rege, wie schwer es den Spätgeborenen geworden sei, die Erscheinung einer monumentalen Größe ohne die Mühe einer monumentalen Last darzustellen. Aus Raum, Bild und Zeichen erhebt sich ein vielstufiger Umriß. Die architektonische Form wird von der plastischen Bannung überwältigt, und diese, als massiges Zeichen endend, läßt das Gewicht wieder zurückfallen an die Erde, so wie es auch im Innenraum des Denkmals, im pathetischen Ansteigen und wieder Herabgleiten von Sicht und Absicht ist. Man kann natürlich keine Kirche oder Burg des Mittelalters damit vergleichen. Aber man kann doch bedenken, wie verschieden, ausschließlich in sich gestellt und doch nicht an sich leidend, orthaft gebunden und doch frei die geometrische Raumkraft alter Architektur gewesen ist. Sie zertrennt die Luft ohne Lastgefühl; sie setzt Steinbilder an, ohne davon beschwert zu sein, denn Plastik ist ihr nicht zugefügt, sondern scheint aus ihr entnommen. Die Form scheint ohne Gewicht zur Erde. Es ist die Lust eines aufgehobenen Daseins, das uns in den alten Dingen und Formen erwartet; und Zierlichkeit steht nicht fern, auch wenn gedankliche Lasten darin eingebettet sind.

Man fährt hier keine langen Strecken ohne Neugier, und kaum daß wir zurechtgerückt eine Zeit durch die Landschaft in Bewegung sind, kam Grimma, dessen Name eine der drei sächsischen Fürstenschulen nennt, mit seiner parkartigen Landschaft. Und darüber lag eine blaß-sonnige, mehr als sonntägliche Ruhe — es war nämlich heute Karfreitag —, in welcher die hohen Bäume, noch kaum in ihre Knospen gesetzt, und doch mit vielem leisem Schimmer vom Lichte angezündet, wie Kandelaber im Morgen standen. Und weiter kam dann Kloster Nimbschen, eine Bauanlage, deren längliches Geviert, noch mit einer hohen Giebelwand abgeschlossen, aber dachlos und ganz zur Ruine verwandelt, im tieferen Angergrunde zwischen übergewachsenen Bäumen bald nur noch hingezeichnet ist. Man geht sonderbar gern immer über Stellen, wo sich die Geschichte selber einen Ort wie ein Grab gesetzt hat. Hier aber ist noch eine andere Erinnerung angezeigt. Denn an einer Mauer der Ruine liest man auf einer Steintafel: »In diesem Nonnenkloster weilte 1509—23 Katharina von Bora. Befreit wurde sie durch den Ratsherrn Leonhard Koppe aus Torgau am 4. April 1523, vermählt mit Dr. Martin Luther zu Wittenberg am 13. Juni 1525.« Der Ort hier ist sonst eine Ausflugsgegend, aber an diesem Vormittag war es noch so still wie die Luft zwischen den regungslosen Bäumen, welche über die Ruine hinwegsahen und noch keine Blätter hatten.

In dieser Gegend blieb auch das Andenken an die Kaiserin Kunigunde erhalten. Es steht da in Rochlitz, wohin wir später über Colditz kamen, eine gotische Kunigundenkirche, und da ist auch noch ein resthaftes Schloß. Wir aber fuhren auf den Rochlitzer Berg, der aus dem Tal der Mulde herausragt und große Porphyrbrüche hat. Ein roter Sandsteinturm erhöht die Aussicht in das weite mittelsächsische Land. Es lag auf der Grenze vom Vorfrühling zum Frühling. Der Himmel war noch blaßblau mit einem dünnen, weitum reichenden Wolkenkranze, der leicht an ihm hing, und die große Sehrunde schien aufgehoben wie ein Kronleuchter, der im Schweben noch ein wenig nachzitterte. Krümmungen und Schnitte waren in der Landschaft wie von einem Netz, in dem sie festgehalten lag. Ortschaften lagen verbreitert und auch ameisenartig geschart, so daß sie wie kleine Tennen mit Häusern schienen, die ihre Dächer wie viele Schalen auf sich hatten. Die Gegend war schön beherrscht von stillen Farben. Die Wiesen hatten noch kaum Gras geschoben, aber die Äcker waren hell von Saaten, oder diese hatten auch schon ein dunkleres Grün und dazu, soweit sie frisch gepflügt waren, ein zartes Violett oder einen rötlichen Hauch der noch feuchten Krume. So war die Karfreitagsstimmung, die noch nicht glänzt, und derart lag die Gegend ausgefächert in ein Stückwerk von so milden als deutlichen Farben. Dazu war Wald da und verlief in Tälern, welcher noch halb düster den ersten farbigen Anflug empfing. In allem war noch der Mangel des Lebens, und doch gab überall der erste Keim der Regung eine besinnliche und empfindliche Fülle. Sie wird in der Erinnerung bleiben mit diesem Rundblick über das mittlere Sachsen.

Das alte Wechselburg

Uns aber erwartete ein noch farbigeres Frühbild der Kunstgeschichte des Landes. In großen Um- und Gegenschwüngen trägt die Straße in das Muldetal hinab. Das Wasser ist verdüstert, wie es im späten Vormittag in seiner beharrlichen Krümmung am Berge beschattet hinzieht. Und da wir in der Mischung des ersten Frühlingstages mit der Karfreitagstimmung bleiben, so ist uns das eisengraue Wasser der Mulde, gegen den Berg einbuchtend, gleich dem Fährwasser für den Nachen des Charon. Und dazu die Stadt und das Schloß und die kernig schöne Steinkirche in die Mittagskraft des nun blauen Himmels aufsteigend, will das Ganze wie eine romantische Karfreitagserfindung scheinen, als ob ein deutschsinnig auch mit der vordeutschen Welt schaffender Maler von dem dunklen Wandeln im Grunde bis zu dem hellen, in rötlich festen Farben schweigenden Stein auf dem Felshügel ein Sinnbild gebaut hätte.

[Annaberg, Die »Schöne Tür« in der Annakirche]

[Annaberg, Chor der Engel vor der »Schönen Tür«]

Auf der Höhe der kleinen, sauberen Stadt, im Zugehen nach dem Schloßhofe der Wechselburg, wo die Klosterkirche ist — in diesem Lande »nach Verlust mancher anderer für unsere Anschauung das typische Bauwerk« (Dehio) —, auch da ist es zunächst noch mehr das Naturbild, das uns an diesem Tage fesselt. Der rötliche Sandstein, in welchem sich die Rundbogenfriese der Wände, die genauen Runden der Apsiden, die Fenster und alles Gegliederte in einer wahrhaft figürlichen Klarheit zeichnen, berührt uns im gleichen Blick mit einer Kiefer, welche gegen das hohe Blau steht. Die blaurote Kraft schweigt hin im starken Grün der Äste, und dazu kommen noch andere hochstämmige, aber kurz in den Ästen gekappte Bäume, welche sich eben leise grünend beblätteln. Es schließt sich ein schönes Bild auf engem Raume um den alten Bau, der doch so gegenwärtig aussieht wie nach seinem ersten Plane, und hinter dem sich da, wo einst das Kloster war, auf dessen Resten die Trakte des neueren Schlosses aufstellen. Während das Städtchen Wechselburg selber noch eine in die Landschaft weit sichtbare Kirche hat, ist die turmlose alte Klosterkirche für sich abgeschlossen und gehört in den Besitz des alten Geschlechts der Grafen von Schönburg.

Aus Wechselburgs Vergangenheit

Wer in der ersten Jahreshälfte 1935 nach Wechselburg kam, fand sich auf Zetteln eingeladen zu Veranstaltungen, mit welchen man die Siebenhundertundfünfzigjahrfeier der Gründung Wechselburgs beging. Dieser Name datiert allerdings erst von dem Übergang der Klosteranlage aus den Händen der sächsischen Herzöge, indem Herzog Moritz das 1539 in der Reformation zum Staatseigentum gemachte Kloster 1543 an die Herren von Schönburg vertauschte. Diese errichteten im achtzehnten Jahrhundert den Schloßneubau und setzten 1843 und in späterer Renovierung auch die Kirche wieder in ihre alte Aufgabe ein. Am Karfreitag war so die Kirche das Ziel der zerstreuten Katholiken der Gegend.

Im laufenden zwölften Jahrhundert aber, als im Vollzuge der mit Heinrich I. und Otto I. begonnenen deutschen Durchdringung eine ganze Anzahl von Klöstern gegründet wurde, war auch 1174 an dieser Stelle von Graf Dedo von Groitzsch und Rochlitz, Sohn Konrads des Großen aus dem edlen Geschlechte der Wettiner, das 1184 dann geweihte Kloster Zschillen gegründet worden, wie es mit seinem mittelalterlichen Namen hieß, der wendisch und soviel wie Bienengarten ist. Dedo, nach der Überlieferung ein sehr dicker Herr, der, im Begriffe, den Stauferkönig Heinrich VI. 1190 nach Italien zu begleiten, starb, hatte seine und seiner Gemahlin Mechthildis Gruft hier gewählt. Das schöne spätromanische Grabmal der beiden Gestalten ist in der Kirche. Später kam Zschillen an den Markgrafen von Meißen. In der Zeit des Propstes Wilhelm nach 1200 oder noch um einiges später sind die berühmten Skulpturen im Innern, nämlich der frühere Lettner, der heute verändert ist, und das Triumphkreuz, entstanden. Das Kloster ward 1278 dem deutschen Ritterorden übergeben und in die Ballei Thüringen einverleibt. Im fünfzehnten Jahrhundert geschah ein gotischer Umbau im Innern, der sich besonders auf Gewölbe und Chor erstreckte. Die Nachrichten sind im übrigen spärlich erhalten.

Die berühmten Werke

Man betritt die Kirche, die ein schönes Nordportal mit Reliefen und den rätselhaften germanischen Bandverschlingungen hat, wie einen steinernen Schrein. Und das Innere des Schreins erschließt sich zu einem Haus nicht so sehr mächtiger als maßvoll und tönend getragener basilikaler Ordnung. Eigentümlich, wie sehr man fühlt, daß dem romanischen Raum die ansteigende Stufung des Chores heute mangelt, die in der Gotisierung eingeebnet wurde, wo ja der Bausinn immer mehr zum Garten der Erde als zum Thron der Geschichte sich neigte. Damals wurde auch die schöne Kanzel mit ihren Figuren vom Lettner getrennt und dieser als Altarwand, wodurch er zu einer Schauwand geworden ist, rückwärts gegen die Mittelapsis gerückt. An ihr sind noch weitere Skulpturen, und darüber ist das Triumphkreuz in der Wölbung, das mit seinen Seitenfiguren zu den stehenden Werken der deutschen Kunstgeschichte zählt.

Darf man zuerst sagen, daß man vielleicht herkam mit einem »Aber« gegen die restlose Vollkommenheit des figuralen Anblicks, wie man sie aus Abbildungen empfangen hat und wie sie dem bloß restaurativen Nachahmersinn in die Augen stechen wird? Doch dann muß man sich das Werk, das hoch hängt, nahe vorstellen und dazu begreifen, wie der Kreuzbaum und die Figuren von Maria und Johannes, alles mehr als lebensgroß, aus einzelnen ganzen Eichenstämmen hergestellt sind; und dazu muß man die bewegte Zierlichkeit bedenken, die besonders auch auf die Endfiguren an den Kreuzbalken und unter den Standfiguren übergeht. Dann wird die gewaltige Form- und Sinnschönheit um so mehr aufgehen, je mehr sie schon im Gegensatz zu der monumentalen Massigkeit der Arbeit empfunden wird. Aus einer Verbindung von stämmiger Grundform, loser Fügung und außerordentlicher vordergründiger Schönheit des Figurenausdrucks erhebt sich eine unglaubliche Freiheit edler und bedeutender Bewegung. Diese ist so, wie sie auch gegen die deutsche Renaissance hin wieder versucht wurde, und man mag sagen, daß die geschichtliche Triebkraft dabei zurücktritt und ein lebhaft schöner Lehrsinn sich einstellt. Werke von solcher Mischung pflegen immer ihre Geltung zu erreichen. Aber hier ist eine körperliche Raumfähigkeit zugleich gewonnen, die das Werk schon als Leistung immer zu den ausgezeichnetsten Schöpfungen alter deutscher Kunst gehören läßt. Es hat auch eine sprechende seelische Bezugsfähigkeit, welche den Raum meistert, als ob er ein freies Bild wäre.

Der Sinn, eingeteilt in die Absichten des Ausdrucks wie in Gelenke, fließt und knotet sich mit einer unglaublichen Fähigkeit der körperlichen Einholung. Das Leben der Bedeutung ist ein Spiel, welches den Stoff der Natur wie etwas Totes in sich nachholt, um ihn vom Sinn her wie von einer äußersten Berührung doch bis ins Mark herein, daß dieses gleichsam »ermittelt« scheint, dann zu erwecken. Also sucht die Kunst hier das Leben nicht im Abbild der Natur, sondern sie begegnet ihm wie in einem Lichtstrahl darüber hinweg oder wie mit einem Wissen, welches das Äußerste zum Zierlichsten macht — und so ist auch die Schönheit der Umrisse schon deutend vorhanden, bevor der Körper wirklich ist —, aber welches mit dieser Zierlichkeit auch das Hintergründige mit Schwebung und sinnfälliger Durchblickbarkeit erweckt. Dies Wissen ist wie ein Vorwissen vom Bilde, welches sein muß, damit das »Wort« des Lebens wie ein nachwachsender Kern eintritt. Daß sich hier die Zierlichkeit zugleich mit den schwersten Formen verbinden kann und ihnen ohne Unterliegen dient, das ist eben noch das besonders Erstaunliche eines solch großen Werkes.

Uns aber führt ein schöner Nachmittagsgang noch durch den herrlichen Park des Schlosses. Mächtige und seltene alte Bäume stehen in der ersten Frühlingssonne, eine alte Einsiedelei hat als romantisches Spiel an der Mulde ihren Platz, drüben steigen Felsen auf und erschauern unter der ersten warmen Luft. Und dann geht die Fahrt weiter, und es gibt noch eine kurze Rast auf der Höhe bei dem alten Bergschloß Rochsburg, womit sich die Bilder des Muldetales noch um ein weiteres bereichern.

Annaberg im Erzgebirge

Ein Abend und ein Morgen

Zwischen dem sinkenden Nachmittag, dessen mattsilberne Bläue jetzt über der alten Rochsburg und dem gewundenen Muldetale schwebte, und dem abendlich dunkelnden Anblick des Erzgebirges lag die Gegend von Chemnitz, welche zu durchfahren war, und damit also ein weites Arbeitsland, so wie es in Sachsen heimisch geworden ist und vor welchem die Natur und die Geschichte zurückweicht. Um so mehr durfte sich Burg und Tal als Bild einer alten Zeit und Gegend im Hintergrund des Gedächtnisses einprägen. Die neue Sonne lockte, Jugend strömte zu dem alten Tore der Rochsburg, die Leute bewegten sich beschaulich auf den Bergwegen, und über dem ganzen Landschaftsbilde war die Durchsichtigkeit verschiedner Zeiten.

Da war mit den flachen Fenstern das sehr hohe Gemäuer der gotischen Burg, von deren Wohnstöcken hinweg sich noch zum Überfluß Mauern fortsetzen und deren steile Gewände die Neigung haben, als Türme hervorzutreten, während die Dachungen auch eine Mehrzahl von Giebeln tragen, womit die alte Burg in die weite Runde Blick und Anblick bietet. Über den geraden Schluß der Firste aber reicht noch der runde Bergfried hinaus und schließt ab mit einer hohen Haube. Wenn nun von dieser gotischen Höhe der Blick in die Windung des Tales hinabfällt, wird er an der Seite aufgehalten von dem kleinen Bau einer romanischen Dorfkirche, deren runde Apsis sofort die Ruhe eines früheren Baugesetzes in den Sinn prägt. Die Beschlossenheit des kleinen Baues ist hier im besonderen ein Stempel geschichtlicher Frühe, indem sie auf die Zeit der Erschließung des Sachsenlandes hinweist. Und so bietet sich hier noch ein sehr reines Bild alter Geschichte. Indem aber die ersten Farben des Frühlings dazukommen, die, leise über die noch kahlen Baume und Hänge gezogen, doch schon eine neue Gegenwart haben wie der Glanz in den Knospen, so ist das Bild alt und neu, stumm und aufschließend in seiner Ruhe und doch wie angefallen von der neuen Frische; es tragt das Wappen des jungen Jahres.

Unterwegs durch Chemnitz

Die Wiesen waren an diesem Karfreitage, während sie morgens noch unansehnlich schienen, wohl zusehends vom Mittag bis zum Abend grüner geworden. Und es mußte wohl so sein, daß unsere Fahrt im ersten Frühjahr durch Sachsen ging. Denn so empfanden wir, in der Frische der jungen Zeit, auch die Frühbilder der Geschichte stärker, die noch hier waren und die uns um so mehr anziehen, je mehr sie vor dem Andrang des ausgebreiteten Arbeitslebens gerettet erscheinen. Wie sie aber jetzt weniger angetastet erschienen, so erschien sogar die Arbeitslandschaft, in die wir nun kamen, weniger abgebraucht. Das machte die ergrünte Nähe und der feine Duft der erwachten Ferne, wodurch jener überreife und wie ein kahler Herbst ausgeleerte Eindruck nicht überwog, der sonst die ganz ihren Gesetzen unterworfene Industrielandschaft kennzeichnet.

Wir kamen durch Chemnitz, dessen Umgebung uns schon länger hineinzog und dann länger nicht mehr hinausließ. Indessen machte es sich an diesem Feiertage weniger bemerklich, daß wir durch eine der »dichtest bewohnten Gegenden der Erde« fuhren. Wir konnten uns nicht länger verhalten, als um am Bahnhof einen lieben Fahrtgenossen von der Leipziger Oper abzusetzen. Aber dem Reisegedächtnis soll es doch einverleibt sein, daß Chemnitz, die drittgrößte Stadt Sachsens, bis zur deutschen Kolonisationsgeschichte der sorbischen Gaue zurückreicht, nämlich auf eine Klostergründung (1136) Kaiser Lothars, der unmittelbar vor der Hohenstaufenzeit sich die Kolonisation nach Osten und Norden nochmals sehr hatte angelegen sein lassen. Unter den plastischen Arbeiten der Chemnitzer Schloßkirche, deren spätgotische Eigenheiten mit Räumen und Werken von Annaberg und Freiberg zusammen genannt werden, befinden sich auch Figuren Lothars und seiner Gemahlin Richenza. Ihrer beider Erbe ging durch ihre Tochter Gertrud, welche mit dem Welfen Heinrich dem Stolzen verheiratet war, an Heinrich den Löwen über. Um jene Zeit, schon etwas vorher und unterstützt ebenfalls durch Lothar, war auch das Geschlecht der Wettiner mit der Macht über die Mark Meißen in die Höhe gekommen. So tut sich auch hier, wo jetzt die Arbeit alles zur bloßen Gegenwart heranzwingt, doch ein Blick auf in die alte Zeit zu den Niedersachsen und in die örtlichen Ansätze der obersächsischen Geschichte.

Zum abendlichen Erzgebirge

Und nun, indem wir dem nach Norden und uns entgegen flacher herabsinkenden Erzgebirge näher kommen, mögen wir uns das Bild des Landes gleichzeitig wieder als ein Stück Geschichte anschaulich machen. Das nördliche flachere Land am Fuße des Erzgebirges war einst von Schlesien herein bis zur Saale im Nachzug abwandernder Germanen von Slawen, hier hauptsächlich Sorben, besetzt worden. Aber in das während dieser Frühzeiten kaum bewohnte Gebirge haben sich in verschiedenen Siedlungsperioden, sooft wieder ein »Berggeschrei« von neuen Erz- und Silberfunden ausging, sowie auch mit der Förderung der Fürsten die deutschen Besiedler eingenistet. Sie kamen aus verschiedenen Stämmen und bauten an dem gemeinsamen Arbeits- und Kulturcharakter ihrer neuen Gebirgsheimat. Schon im Mittelalter und vor allem nochmals gegen sein Ende hin haben sich mit den Funden des Erzes die Schächte und die Orte vermehrt, und der Bergsegen hat in Volkstum und Kultur gleicherweise Früchte getragen. Damals wuchsen die Kulturbilder der Bauten und ihrer Künste zusammen mit der Arbeitsvermehrung in den Bergen, und, abgesehen von dem durch Frühwerke ausnahmlicheren Freiberg, ist uns die Vorstellung, die Annaberg gibt, am meisten zum Begriff der erzgebirgischen Kultur geworden. Er gibt ein zeitalterliches Bild.

Dieser Begriff ist für den Fremden merkwürdig mit gemüthaften Vorstellungen verbunden. Bergwerke im Gebirge bekamen für uns als Kinder schon eine eigene Lebensproportion. Wir lieben die Vorführung kleiner mechanischer Werke, die uns auf Märkten das Leben der Bergleute zeigen. Leicht mischen sich dabei religiöse Gefühle und solche eines bedrängten Lebens ein, Gefühle, die auch in den oft seltsam schön erfundenen Namen der Bergwerkshalden zum Ausdruck kommen. Diese besondere Proportion, die Vorstellung eines Miniaturlebens, wie sie etwa auch mit Weihnachtskrippen verbunden ist, hat wohl Züge, die nicht ohne weiteres erklärbar sind. Wie zu einem Spiel um stillere Sicherheit begibt sich der Mensch in einen geringeren Kreis. Es spielt die besondere Überschaubarkeit der Lebenszusammenhänge mit; und es ist auch die soziale Stimmung, die an der Berührungsgrenze des bürgerlichen und des Arbeiterlebens sich bildet. Und wieder wird man jetzt auf Ludwig Richter aufmerksam, und wie sehr er, ohne im einzelnen die betreffenden Inhalte darzustellen, im ganzen mit dieser gemüthaften Berührungsgrenze und Lebensproportion ein ähnliches Erleben gibt und ein echter und aufschlußreicher sächsischer Künstler gewesen ist.

Aber die religiöse oder krippenhafte Vorstellung kommt bei der Entstehung Annabergs auch mit geschichtlicher Eigenart zur Geltung. Es gibt Annaberg, und in der Nähe ist auch Joachimsthal, dazu dann Marienberg und Jöhstadt, soviel wie Josefstadt. Man wird durch ein Reisebuch auf den Zusammenhang dieser Namen gewiesen, und dabei fällt ein, daß dies ja eine ähnliche Tatsache sei wie die, daß in der Kunst der Spätgotik mit Vorliebe die Heilige Sippe dargestellt wurde. Dies zeitalterliche Sich-verbildlichen in eine religiöse Sippenschaft weist aber wohl auf eine baldige Krise, da es der eigenen Zeithaftigkeit am Ende des Mittelalters zu viel Atem nahm. Jedenfalls paßt Annaberg ganz in diese spätgotische Stimmung. Der Annenkult näherhin war im Bergbau Ende des Mittelalters aufgekommen und hat sich auch am Harz festgelegt. Und auch Annaberg wurde erst 1496 am Orte von reichen Silbergängen gegründet.

Abend und Morgen in Annaberg

Und nun, während der Abend hereinsinkt und während unser Wagen in großen Zügen steigend und fallend gegen das Gebirge eilt, hat sich die neue Blickwelt aufgetan. In breiter Schichtung heben sich die großen Hänge hinauf, und der freie Umkreis nimmt in dem Maße ab, als der Anstieg der Höhe mächtig wird, der sich in Schrägen zu einer ahnbaren Firstlinie des Gebirges aufbaut, aber noch vorher beherrscht wird von einigen großen und ruhigen Kuppen, von denen der Pöhlberg und der Bärenstein die nächsten sind. Die aufsteigende Landschaft sinkt doch mit schwer verdunkelten Farben in den kühlen Rauch und Duft des ersten Frühlings hinein. Über gefächerte Felder und Waldstücke hinweg sucht der Blick die Lage der Stadt, und gegen den höheren Hintergrund des Pöhlberges sieht er sie hochhin ausgelegt, und trotz der industriellen Aufmachung hat sie noch eine Orthaftigkeit behalten, die man gotisch und altgetreu nennen möchte. Dies geht sehr auf die Herrschaft der berühmten Annenkirche, die etwa so alt ist wie die Stadt selbst und in der sich die ganze breite Lage mit einer klaren Größe aufgipfelt. Nochmals geht es in steilen Zügen hinauf, die große Tenne des Marktplatzes mit der kräftigen Schlichtheit des Rathauses tut sich auf, während seitlich noch eine steile Gasse zu dem großen gotischen Kirchenbau weitersteigt. Wenn wir vorhin von einer Miniatursinnigkeit um das Bergwerksleben sprachen, so finden wir dagegen jetzt Lage und Bau der Stadt von breiten Maßen beherrscht. Und Annaberg gehört, das hat sich schon in der Ankunft gezeigt, zu den deutschen Landschaftsbildern, bei denen Geschichte und Lage sich ganz durchdringen.

Mit der verschwindenden Helle des Tages wird dies Gefühl noch deutlicher. Aber es wendet sich alsbald auch, da wir an den Platz vor der Annakirche herausgekommen sind, mit einer weiteren Verdichtung nach innen. Die Annakirche, das Datum und Denkmal Annabergs, ist wie das Kastell einer geschichtlichen Seele. Und obwohl in einer Zeitblüte erbaut, die das Innere räumig machte und dazu reich ausstattete, ist dies doch eine Kirche auch für das unruhig gewordene religiöse Gemüt, wie es in der Spätgotik beginnen konnte und wie es gerade mit dieser Sonderart im Übergang zum ärmeren sozialen Gemüt auch noch immer leben kann. Indem wir noch als verborgene Zuschauer in die halbdunkle Kirche getreten sind, haben wir auch eine solche religiöse Stimmung erlebt. Das Bedürfnis der Gemüter, die Geschichte oder der Ortsgeist einer im Laufe der Zeiten stark bewegten Gemeinschaft schien sich in einer größeren versammelten Gruppe auszudrücken. So wenigstens empfanden wir die stille abendliche Karfreitagsfeier der Protestanten, die wir im Chore vor sich gehen sahen und die mit dem Gesang dazu einen auffallend liturgischen Einschlag hatte. Man konnte sich fast in eine Mönchskirche versetzt glauben, bis man den mehr familien- oder laienhaften Charakter sah, der auch auf eine religiöse Zeit wie um das Jahr 1500 hinweisen konnte, als die Bauzeit der Kirche begann. Und über dem leeren Raum der hohen hallengleichen Schiffe lief in der halben Hellung das zugleich leibhafte und kahle Gewölbe mit seinen Rippen hin »wie ein Geflecht von Weidenruten«.

[Annaberg, die 1499-1520 erbaute Annakirche mit der reichen Emporenbrüstung des Franz von Magdeburg und dem reizvollen Taufstein aus dem 1. Viertel des 16. Jahrhunderts]

[Annakirche, die Kanzel von 1516]

Dagegen zu lesen, daß das Äußere von »fast ärmlicher Schlichtheit« sei, will uns nicht in den Sinn. Es steht vielmehr groß und im Gewände mit eingezogenen Streben ebenso schmucklos geschlossen wie in den Fenstern hoch und willig aufgehellt und ist ein steinernes Volksgehäuse, dessen Turm in der beginnenden Nacht mit seinem Übergang ins Vieleck den Eindruck eines großen Raumgefäßes noch höher trug. Eine besondere Fähigkeit ist an diesem Raum verkörpert, aus Lagen von zahllosen Bruchsteinen ein glattes und nur am Chorumriß reicheres Gewände auszubauen, das sich zusammenschließt zu einer Festung der Bedürfnisse der Gemüter. Es ist eine Art von Verschalung, in welcher sich die Schlichtheit frühester und die Schmucklosigkeit spätester Formen vereint zu haben scheint. Und doch ist das nichts weniger als ärmlich. Es ist etwas Regelloses in dieser aufgebauten Stilsumme und doch wieder die gesammeltste, in den hohen Kanten schön gefaltete Regel. So im Äußeren zusammengetragen und geglättet, im Innern von einem gleichen, geistig hungrigen Zuge bewegt, in welchen die umlaufende Empore ein volkhaftes Bilderband hineinzeichnet, scheint die Annakirche der echte Bau einer Bergwerksgegend. Sie hat wohl etwas Symbolisches für das Erzgebirge; und man kennt noch besondere seelische Schwebungen der spätgotischen Bauformen nicht, wenn man sie nicht gesehen hat.

Alles, was der Abend gezeigt hatte, vermehrte sich in der klaren Morgenhelle. Es ist nun Karsamstag. Die Morgenluft streicht um die hohen Flanken der Bergkirche. Die Gedanken treiben zwischen Licht und Luft um die orthafte Erscheinung des Baues; und unvermittelt mag man sich, an die Fragen in Leipzig denkend, einfallen lassen, wie es denn eigentlich mit dieser »Tenne« eines Volkes, mit dieser »Worttenne« sei, auf welcher die Verwaltung oder Bereitung der höheren Geister sich aufbaue, daß es ein durch Gemeinschaft beredt, wenn auch eben damit in den Gemütern oder im Bekenntnis zerbrechlich und beweglich gewordenes Volk, daß es vielleicht auch ein Volk von ärmeren Leuten oder der sozialen Parzellierung gewesen sein müsse, welches in dieser Weise die geistigen Güter trägt. Man bleibt dabei stehen, daß dies ein Einfall sei, der sich schwer weiter verfolgen läßt. Aber man fühlt sich selbst in dieser Weise verfolgt durch das Gesammelte und Stummberedte dieses hohen und scheunenhaften Gemäuers.

Man sieht den Bau immer wieder an, so außen wie innen. Vielzahl, sparsame Gesinnung, Verständigkeit und doch eine Summe von Schönheit, Rechnung und Gemüt und ein Wesen, das sich fortspielend selbst verfolgt, so faltet sich die Betrachtung wieder auseinander. Das Zusammenspiel von Begriff und Gemüt zum Gemeinschaftsraum ist wichtig. Und doch will auch alles, wie es zum Ganzen flieht, so im einzelnen beredt werden. Der Raum ist hallenhaft und doch noch in Lichtbahnen, die ihn zerschneiden wie bei gotischen Bildern; er ist geräumig fassend und doch hungrig nach Worten, nach Menschen, Bildern und Geschichte. Er ist in Vernunft gesetzt und doch unter dem Gewölbe hingetrieben. Er horcht nach der Gemeinschaft des Wortes und ist unruhig eben durch die nahe Gemeinschaft. Die Kirche steht in einer Beziehung zum Lichte, aber nicht, daß beide einander kräftig widerstehend stärken, sondern eines geschieht aus der Filter des anderen nur wie zu sich selber. So ist man um diesen Bau mit der Morgenluft in Bewegung.

Die Linde des Adam Riese

Nun gibt es in Annaberg eine schöne Sage von einer Friedhoflinde, die eigentümlich zu dieser gotischen Stimmung paßt. Wer kennt nicht aus seiner Schulzeit den Namen des Rechenmeisters Adam Riese (oder Ries), dessen Geburtsort Staffelstein ist, wo man sein Geburtsdatum 1492 am Rathaus angeschlagen sieht. Dieser Lehrmeister der praktischen Rechenkunde ist später Bergbeamter in Annaberg gewesen, woselbst er 1559 starb. Nun erzählt die Sage, daß Adam Riese sich auch mit religiösen Fragen beschäftigt und Zweifel an der Auferstehungslehre gehabt habe. Da habe der Geistliche, mit dem er stritt, ein Lindenbäumchen aus der Erde gezogen und es verkehrt wieder hineingesteckt. Und dieser kleine Lindenbaum habe seine Wurzel als neue Zweige in die Luft getrieben. So habe sich das Gesetz der Natur überwunden gezeigt. Drollig ist, daß für den trockenen Rechenmeister diese Legende gedichtet wird. Anderseits gehört sie doch sonderbar zu dem gemüthaften Bestande dieser Bergstadt, die schnell aus der Erde wuchs. Und ähnlich geht der gleichnishafte Versuch mit dem Baume in die begriffliche Stimmung der Spätgotik hinein, wo auch die Bauformen in eine Verwurzelung und Verästelung zugleich überschlagen und mit solchen Naturförmigkeiten sich gegen die Vertrocknung wehren.

Einzelnes und Humoriges

Es ergeht dem Besucher schließlich, wie es jener Zeitwende von 1500 im ganzen erging. Er wendet sich von dem Gedankengang der Zeiten zu der Erzählform des Einzelnen und Kleinen, womit damals auch das Volkstümliche zum Rechte kam.

Solches ist auch vom Inhalt der Kirche zu merken. An der Kanzel ist der Bergmann mit dem Schlägel. Unter den von der Spätgotik zur Frührenaissance gehenden Altären ist ein eigener Bergwerksaltar voll von stofflicher Anschaulichkeit der Bilder. Von Wichtigkeiten der Kunst ist noch vor allem die »Schöne Tür« zu nennen, weiter ein Sakristeiportal und der Taufstein. Im Gedächtnis bleibt auch die Dicke der Gewände, so daß während der politischen Unruhen 1923 die breiten Fensterbänke in der Sakristei von den Soldaten als Nachtlager benutzt werden konnten.

Noch ein Stück gotisches Volkstum soll nicht unerwähnt bleiben, das sich mit einer Reihe heiter-satirischer Darstellungen in den farbigen Reliefen der Emporenbrüstung ausgesprochen hat. Es ist ein Humor der Lebensalter in Tierbildern, und zwar mit Vierfüßlern für das männliche, mit Vögeln für das weibliche Geschlecht. Da gilt also für den zehnjährigen Knaben das Kalb, für den Zwanzigjährigen der Bock, für den Dreißiger der Stier, für den Vierziger der Löwe, für den Fünfziger der Fuchs, den Sechziger der Wolf, den Siebziger der Hund, den Achtziger die Katze, für den Neunzigjährigen der Esel und für den Hundertjährigen der Tod selbst. Und die andere Reihe beginnt mit der Wachtel für das Mädchen, dann kommt die Taube für die Jungfrau, die Elster für die Dreißigjährige, der Pfau für die Frau von vierzig und die Henne für die Frau von fünfzig Jahren, die Gans für die Sechzigerin, der Geier für die Siebzigerin, die Ente für die Achtzigerin und die Fledermaus für die Neunzigerin, und mit hundert Jahren macht wieder der Tod den Schluß.

Jedoch gebührt in Annaberg einer Frau das letzte Wort wegen einer guten sozialen Tat. Als der Bergsegen zurückging, hat Barbara Uttmann, eine gebürtige Nürnbergerin, gestorben in Annaberg 1575, die Klöppelkunst eingeführt, damit die Armen wieder Brot finden konnten. Ihr Denkmal steht auf dem Marktplatz.

[Der 1501 vollendete Dom zu Freiberg]

[Die um 1500 entstandene Tulpenkanzel im Freiberger Dom]

Zu der »Goldenen Pforte« in Freiberg

Landschaft und Kunstwerke

Wir hatten Annaberg, die hohe erzgebirgische Stadt, hinter uns gelassen. Wie der Bergsegen kam und ausblieb, wie er die Menschen satt machte und wieder hungrig werden ließ, und wie gleichzeitig ihre Seelen von Bildern und Figuren satt und hungrig werden können, dies war hier und wurde weiter noch unser Erleben.

Nachgedanken um Annaberg

Wir bewahren heute alte Werkzeuge und Arbeitseinrichtungen der früheren Zeiten; und so bewahrt man bei Annaberg auch das alte Werk des Frohnauer Hammers. Was die alten Dinge zeigen, ist lehrreich für die Geschichte der Technik. Aber sie können uns darüber hinaus noch in eine sonderbare Empfindung versetzen. Sie sind wie ein Stück gewesenes Leben oder gewesener Geist, und der Stolz des Fortschritts, dessen Belege sie sind, paart sich mit dem Gefühl eines Überwundenseins. Ein Stück Zeit ist in ihnen zur Ruhe gesetzt und kann sich nicht weiter erfüllen. Die alten Dinge hatten zugleich eine starke natürliche und handgerechte Bildhaftigkeit ihrer Formen und ihres Zwecks. Diese Bildhaftigkeit ist geblieben, ja sie ist mit ihrem jetzigen Ausruhen fast noch stärker geworden, während der zureichende Zweck verschwunden ist. Davon geht nun ein Gefühl in uns über, das uns eigentümlich beschwert. Die alte schöne Bildhaftigkeit steht nun gleichsam allein und künstlich im Dasein. Gerade die Geräte vom Ende des Mittelalters, die gotischen »Jnkunabeln« der Technik, wenn man sie so bezeichnen darf, können dieses Gefühl wohl am meisten in uns erwecken.

Ein ähnliches Gefühl kann uns wohl auch beim Anblick spätgotischer Figuren treffen. Auch diese haben mehr als die Kunstwerke anderer Zeiten den Ausdruck der Beredtheit einer Zeit, die in ihnen stehen geblieben ist. Mit der Lieblichkeit und Richtigkeit ihres Zeitausdrucks verbindet sich nun ein eigentümliches Versagen. So blieben die Figuren und Bilder zurück in der hohen Kirche von Annaberg wie in den stummen Mauerschalen einer aufgestauten alten Zeit. Und der Gebirgswind oder ein Wind der Zeiten, der um ihre hohen Kanten strich, fächelte auch sonderbar durch unser Gemüt.

Wenn aber dies das Nachgefühl des Besuchs von Annaberg war, so erwartete uns in Freiberg noch ein reicheres Gefühl in dem Maße, als in Freiberg noch ein größeres Kunstwerk älterer Zeit steht, und auch in dem Maße oder mit der Vorstellung, daß der Bergstadt Freiberg und ihrer Bergakademie einst im Kreise der Naturerkenntnis eine bahnbrechende Bedeutung zugekommen ist.

Österliches Erzgebirge

Zunächst aber war das Erzgebirge wieder rein als Landschaft zu genießen, von den ersten Farben überfächert und im ersten Dufte der jungen Sonne, welcher die Weite nur so weit verschleierte, daß sie noch weiter schien. Täler schnitten in diese flächenhafte Weite der Höhen, und es war ein wunderbares Hin und Her und wieder Geradefort, mit welchem der Wagen uns in die reichlich geweiteten und doch wieder plötzlich mit schnell ansteigenden Krümmen zur Höhe eilenden Täler hinwegtrug. Man freute sich immer wieder der neuen Höhen, welche entsprechend der Abdachung des Gebirges zugleich Weiten waren. Auch Äcker gingen überall breit darüber hin. Und wenn so die Äcker an den Hängen liegen und auch über die Höhen hinwegreichen und mit diesen zu anderen Höhen fortstreichen, so erscheint das Gebirge von der Hand der Menschen eingefangen, und auch die sichtige Ferne ist in einem gebändigten Raume. Wenn man auf einer Höhe hinausging, kam man zu alten Grabungen; man konnte an die vielen Halden denken, wo die frühere Zeit überall gegraben hatte, blinkendes Gestein lag umher, das ohne Wert ist, aber dem Kundigen von der Beschaffenheit des Gebirgs erzählt. Während man sein Blinken betrachtete, hörte man die Lerchen aufsteigend singen, und überall auf den Höhen war das gleiche Lüftchen, das unablässig und leise den ersten Frühling begleitet. Das Blau des Himmels war in leichtem Dunste, und so war über der Gegend des Gebirges gewissermaßen mehr eine himmlische Weite als der Himmel selber.

Dies war also ein Blick auf das österliche Erzgebirge. So ging es über Wolkenstein und Marienberg. Immer wieder war man in den hohen Raum hinaufgehoben und sah noch über der gesamten Lage drei bis vier tafelartige Kuppen hoch aufgesetzt, die als Querriegel den weiteren Horizont hinter ihnen öffneten und schlossen. Die breite Abdachung macht, daß das Gebirge zu der Landschaft einer großen Gemeinschaft wird. Aber doch sah man die Hänge und die Wellen des Geländes so fortgezogen, und alles, wenn auch die Täler stark und tief einbrachen, blieb doch so weit offen, daß keine Idylle zustande kam. Und so gehört es ja wohl zum Bild dieses Gebirges mit seinem alten Gewerbe und mit den Schürfungen in der Erde. Die Ortschaften, während sie in der Chemnitzer Gegend die Landschaft überwuchert hatten, sah man hier, neben solchen, die auf der Höhe lagen, gleich Rinnsalen von Niederschlägen in die Täler hineinlaufen und wieder ein Stück daraus heraufsteigen. Die Landschaft wollte weniger in besonderen Graden der Größe nahe rücken, sondern war immer wieder gleichartig weit und fortziehend. Später fuhr man durch längere Waldtäler an zügigen Hängen hin und über andere hinweg. Ein Wasser blieb im Gedächtnis, das in Stufen aufgestaut war, ein lebhafter Flußlauf kam an den Weg, welcher die Freiberger Mulde sein mußte, und dann war man in der alten und mit der Zeit fortgeschrittenen Stadt.

Freiberger Notizen

Wenn auch unser Ziel nur sein konnte, den ältesten Ruhm Freibergs, das noch an der Südseite des gotischen Domes vorhandene romanische Bauwerk der »Goldenen Pforte« genauer zu sehen, so hatte man doch schnell aus den inneren Lagebildern der Stadt einen geschichtlichen Eindruck. Man kam auf den Obermarkt vor dem Rathaus, der auf die ostdeutsche Anlage weist, aber von hohen Häusern umstanden dann zu dem körperhaften Hausgefühl weiterleitet, mit dem der Untermarkt als ein in seiner Unregelmäßigkeit typischer Raumblick sich einprägt. Man kommt vor das gegenüber der sonst auch betürmten Stadt turmlose hohe Haus des Domes, dessen großes Dach den Blick hinaufzieht, während aber von dem mächtigen, eine dreischiffige Halle einschließenden Bau ein niedriger Chor gegen den Markt sich hereinsetzt. Man fühlt das Alter der Stadt und bemerkt auch, was man liest, daß nämlich Freiberg die Merkmale westdeutscher Gründung zeige. In seine Stadtgeschichte gehört für einen frühen Teil der Anlage der Name »Sächsstadt«, der auf die sächsischen Bergleute hinweist, die von Goslar zum ersten Betrieb des Silberbergbaues nach Freiberg geholt worden waren. Dies war geschehen durch den Markgrafen Otto den Reichen von Meißen, den Sohn des Wettiners Konrad des Großen, welch letzterer in dem für die Neubildung von Fürstengewalten wichtigen zwölften Jahrhundert die wettinische Macht aufgerichtet hatte. So hat man einen Anhalt von Alter und Bedeutung Freibergs schon im letzten Viertel des zwölften Jahrhunderts, in dem es gegründet wurde.

Der spätgotische Dom bringt noch ein Erinnerungsstück an die sächsische Geschichte durch die Fürstengruft der Albertiner, die ihm und dem Chore eingegliedert ist. Nach dem Vorgang Heinrichs des Frommen hat hier der mächtige Renaissancefürst und Gegner Karls V., Kurfürst Moritz, der in der Schlacht von Sievershausen 1553 siegend an einem Schusse starb, sich seine Ruhestätte bestimmt. Das kleinteilig, aber großartig aufgebaute Freigrab wie die ganze fürstliche Summe der Umgebung ist das Zeugnis einer Epoche, die nicht nur in Figur und Bild, sondern ebenso in Glanz, Pracht und formalem Bau des Materials mächtig sein wollte und für die alles in diesem Sinne zum positiven Ausdruck und Besitz wurde. Wie ganz anders ist das Baubild und das figürliche Spiel der letzten Spätgotik, welches das Dominnere selber bietet! Die Pfeiler sind ohne Knauf zum leicht gleitenden Netzgewölbe hinaufgeschossen; sie sind gekantet und dazwischen eingeflächt; sie saugen den Raum gleichsam an und können dadurch fast selbst wieder rund und kreisend erscheinen und gleich schönen und hohen Halmen in der Halle stehen, um deren Schiffe auch eine Empore herumgleitet, um den Blick noch mehr rundum allseitig aufzufangen. Es ist alles von der letzten trockenen Lockerkeit der Gotik, bevor die Raumkunst der Renaissance neue Blickpunkte setzte und auch den Wuchs von »Halmen« durch »positive« Säulen ablöste.

Und so scheiden sich hier unmittelbar die Zeiten. Die letzte Gotik ist gleichsam negativ, sie will in ihre Formglieder wie in aufschließende Zeichen hinwegschwinden, sie überschattet ihren Ort, indem sie ihn dabei dem Lichte überstellt; und wie der Raum in die Pfeiler hinein, so verliert sich der Himmel in die gebauten Bahnen. Ganz im Gegenteil bringt die Renaissance alles ins Positive und auf sein Postament. Teil setzt sich an Teil in der Ordnung des Ganzen, und die Ordnung geht nicht mehr so hervor, als ob ein Ding und Sinn aus sich weiche, um noch mehr von Ding und Sinn zu sich nachzuholen. In der Renaissance ist dadurch das Innere nicht mehr offen durch Bewegung, sondern es ist eingeordnet und sucht, auch wenn es ein offener Raum ist, die gesetzmäßige Beschlossenheit seiner selbst. Das geschichtliche Gefühl weicht heraus, und der Geist behauptet sich in der gefaßten Schönheit und in der Ordnung des Materials der Welt. So werden hier die Gedanken im starken Umschlag bewegt.

In diesem Kirchenraum steht noch als ein plastisches Kuriosum die Freiberger Tulpenkanzel Es ist, als ob jemand das allseitige, überall hungrig um sich kreisende spätgotische Raumgesicht ganz in sich aufgenommen und nachts davon geträumt habe, nämlich daß er hier eine Pflanze aus Stein gleich einem Stilleben und Symbol hineinstellen müsse. Und dann habe er diese »Tulpe« erfunden. Es scheint nichts Müßigeres zu geben als dieses Zwiebelgewächs, dessen Stengel und Blätter, mehrmals kugelig zusammengebunden und mit Figuren besetzt, zu einer ausgerollten Blätterblüte für den Stand des Predigers sich öffnen. Und doch entspricht ihre Erfindung ganz einer deutschen Neigung, das Wachstum selber aus der Erde zu heben und darüber zu sinnieren. Eine Treppe läuft um die Tulpe hinauf wie eine ebenso künstliche als behelfsmäßige Philosophenleiter. Eine Sage von einem ehrgeizigen Meister, der seinen Gesellen ermordet habe, gehört zu der Kanzel, sowie eine andere, daß die Prediger, die hier predigen wollten, alsbald sterben müßten. Zum Gebrauch ist eine zweite Kanzel von später Renaissance da, deren Aufbau ein Bergmann über seinem Kopfe trägt. Indes wird dies alles überboten durch die Tatsache, daß am Süden des Domes in Freiberg noch die »Goldene Pforte« eingebaut ist, die etwa nach 1230 entstand und von den Dombränden verschont blieb. Aber allerdings, man muß sich die große Wirkung dieser vielfigurigen, in tiefem Gewände herausgebauten steinernen Schönheit, die hier auf erstaunliche Weise im sächsischen Lande steht, erst bis zum vollen Gefühl erwerben.

[Freiberg, Klagende Maria aus der Triumphkreuzgruppe im Dom]

[Die Goldene Pforte des Freiberger Domes]

Die »Goldene Pforte«

Neunmal sind die Schrägen, welche zum Portal hineinführen, abgetreppt, und diese Gewändestufen sind teils mit Säulen ausgesetzt, teils in der oberen Hälfte mit Figuren bestellt. Und in gleich großer Zahl laufen die Bogen über Wölbung und Scheitel des Portals, und an ihnen sind teils kleine Figuren, die eine Marienkrönung und ein Jüngstes Gericht bedeuten, und teils die ornamentalen Brechungen, Windungen und Zickzackformen, welche die tektonischen Bogenläufe auf eine scheinbar widersinnige Weise zugleich verzieren und verletzen. Kurz, hier ist als Portalarchitektur eines der ausführlichsten Werke edler romanischer Art. Und dazu kommt auf dem Bogenfeld des Tores das figürliche Hauptwerk Mariens mit den Drei Königen als eines der ganz großen Beispiele ausgereiftester romanischer Kunst in Deutschland.

Was ist, abgesehen vom Inhalt, das künstlerische Geschehen an einem solchen Portal? Man muß den Sinn eines solchen Werkes wie einen Vorgang fühlen, bei dem die Öffnung nicht einfach mit Figuren ausgesetzt ist; vielmehr hat die Schräge, so wie sie aufgetan ist, schon folgehafte Kräfte von Stufung und Bewegung an sich, als ob von einem Acker, während ihm die Furche eingeschnitten wird, dieses Tun selbst zu einer lebendigen Vorhandenheit wird und gleichsam aus der Furche die Kraft aufersteht. So nämlich sind die Säulen in den Rücktritten des Gewändes. Und dieser Vorgang wiederholt sich in der tiefen Abtreppung, und um so reicher wird die daraus erstandene bildhafte Welt. So ist zwischen Vorder- und Hinterwand eine ganze Welt von Figur, und zwar, als ob, je mehr man vom Gewände mit starkem Zugriff entfernt habe, um so mehr Figur, und zwar Figur eben durch diesen Vorgang, durch Gegensatz in Gegenwart oder wie zu einem »Ja«, zu einem Dasein, durch ein »Nein«, durch ein Wegnehmen, habe entstehen müssen. Oder so, als ob man ein positives, geschlossenes Ganze verletzen müsse, und dadurch entsteht aus allen Teilen eine wahrhafte Fülle. Der Raum und Lebenssinn hier ist in keiner neutralen Freiheit; sondern eben in dieser Verschränkung »zwischen Sein und Nichtsein«, zwischen Position und Negation, entsteht herausgeknospet ein Wirkliches. Es ist, als ob vor den Augen des Kommenden eine steinerne Last abgefallen sei; und vor dem Gehenden befindet sich nun eine stehende Welt. Die Zieren der Windungen, Zickzacke und Brechungen der Bogenläufe sind gleichsam enthüllte Mauerkräfte, welche nun in Freiheit gekommen sind. Man blickt hin und wird auch auf einmal spüren, warum diese Bogenläufe keine glatten Ganzheiten sind, sondern aus ungezählten Brechungen bestehen. Die Ordnung dieser zierenden Brechungen sammelt sich zu einem schweren und doch geistigen Glanz. Die Teile tragen den Sinn des Ganzen zusammen, das Ganze lebt aus den Teilen. Diese Brechungen, diese »Frakturen« geben erst das Lebendige, das mehr ist als »Idee«. Das möchte man als den ersten Sinn eines solchen alten Portals bezeichnen, eine germanische, aus jedem Stein bereite und aus jeder Figur wachsende, ja wie aus einer Sinnesnot reicher erstehende Sinnform.

So ist auch in der sehr deutschen Gestalt der Marienfigur und im Ausdruck ihres Gesichts eine Gegenwart, welche man langsam und immer ständiger fühlt. Auch hier ist es so, als ob die Figur aus einzelnen Blickpunkten zur Hoheit eines einzigen Blickwesens zusammenwachse, um in solcher Steigerung da zu sein. Das ist nicht wie bei den spätgotischen Figuren, die sich in ihrer eigenen schönen Bildhaftigkeit einfangen und dann die starke Gegenwart in der Zeit verlieren. Andere möchten vielleicht die Schönheit einer solchen Figur klassisch nennen. Aber auch hiergegen ist ein Unterschied, der entscheidet. Die Figur im klassischen Sinne entsteht mit dem Anspruch einer positiven und idealen Ganzheit und aus einer kosmischen Natur, welche verpflichten will, ohne in die Beengung und Bedingung des ort- und zeithaften Vorganges gebunden und eingebaut zu sein. Hier dagegen ist eben diese Bedingung entscheidend, und es ist da kein anderer Anspruch und keine Verpflichtung, als eben im Geschehnis selbst und in dieser sozusagen versteinernden Wesenheit, in dieser Fähigkeit, in dieser Bindung an das Gewände gleichsam ausgeschürft in unmittelbarer Gegenwart und wie in einer Wunde zwischen Ja und Nein (in einem Dasein, das weniger aus Idee als aus Geschichte ist) ganz da zu sein und dabei gleich den Steinzieren viele Blicke aufzufangen und in Lebensgefühle umzuwandeln. Viele Blicke zu fangen, dies ist die Macht der dinglich gewordenen Zieren, und die Figuren nehmen mit dem ganzen Menschbegriffe daran teil, indem nicht die Vorstellung einer allgemeinen Natur in ihnen ist, sondern auch ihnen die Dinglichkeit zuteil wurde wie ein aus der Schöpfung errungenes Gesicht. Dieses Gesicht ist kein bloß vergeistetes Naturgesicht, denn es trägt die Zeichen einer noch bestimmteren Sichtbarkeit. Es bekennt sich in der Fähigkeit zur geschichtlichen Kreatur und ihrer Gegenwart.

Hierüber wollen die Gedanken noch weiter gehen. Nämlich wenn wir sagten, daß die Spätgotik immer mehr sich in die von ihr aufgeschlossenen Zeichen hineinverschwendete, wogegen im stärksten Umschlag die Renaissance alles vom Geschehen in den Begriff des Wesens und auf den Sockel einer vollen Bejahung stellte, so gilt hier weder das eine noch das andere und doch auch beides. Auch hier ist Verschwendung oder die Vielheit der Blicke, durch welche der Sinn zu spielen beginnt. Aber die Macht der Gegenwart bricht hier immer und beharrlich zu sich selber durch, gleichsam kämpfend gegen eine Wegnahme. Sie spielt sich nicht wieder hinweg, wie dies bei den weichenden Formen der späten Gotik geschieht. Aber sie ist auch nicht frei zu sich verpflichtet aus der gedachten Bejahung einer immer vorhandenen Wesenheit. Die Gegenwart ist nicht wie ein freies Ganzes, sondern sie bleibt, eben wie gegen eine Wegnahme durchbrechend und so sich stets erobernd; aber indem eben damit ihr die gedachte Freiheit im wirklichen Vorgang genommen und eine andere dafür gegeben wird, bleibt sie ein Teil der Geschichte. Sie verkörpert sich im Aufbruch des Steines wie in einem stets neuen Aufbruch des Sinnes. Sie besetzt Punkt für Punkt einer harten Gegenwart, und daraus bildet sich fast wie durch Schmerz das Schöne der Ganzheit. So sind ja auch diese Figuren; sie scheinen in einem Wesen des Sinnes gehärtet, das sie beharrlich macht und somit dem Blicke aussetzt, mehr als sich eine Natur aussetzen kann. Daran kann, wenn man auch nicht den Vorgang im ganzen empfindet, etwas sonderbar Rührendes sein.

Novalis sagt: »Den Inbegriff dessen, was uns rührt, nennt man die Natur.« Sein Name und sein Wort, indem es nämlich Natur und Kreatur zusammenfühlt und in eine dunklere Weite führt, darf hier Platz haben; denn sein Name gehört auch zu Freiberg, und Freiberg ist ein Ort und Datum auch in der Geschichte des neueren Naturgefühls. Novalis ist einer der großen Schüler von Freiberg. Als daselbst 1765 die Bergakademie gegründet und von A. G. Werner eine neue Lehre und Geologie aus der Erde gehoben war, welche für die einen zum Wissen und für die andern zum dichterischen Ahnen weiter trug, da war auch ein neuer Natursinn und eine neue Gegenwart im Anzug. Zu den großen Schülern gehörten auch noch der Reichsfreiherr vom Stein, Alexander von Humboldt und der Freiheitsdichter Theodor Körner. Damals, als Novalis in Freiberg die »Lehrlinge von Sais« schrieb, öffnete sich wieder in den Zeiten zum Sinn der Natur hin leise eine »Goldene Pforte«.

[Dresden, Der Zwinger, 1711-22 für August den Starken als Festspielplatz von Pöppelmann erbaut]

[Die Hofkirche von Dresden]

Dresden, die barocke Elbestadt

Zum Mittelpunkt einer Sachsenreise

Das Nachgefühl nimmt sich gerne der alten Zeiten an. Und wenn wir, von Annaberg und Freiberg kommend, nun in Dresden einfahren, wird uns im Rückblick ein Stück Mittelalter, das wir verlassen haben, angesichts der barocken Stadt des sächsischen Ostraumes nochmals stiller und stärker spürbar. Es waren Stücke alter deutscher Zeit ins Gebirge gesetzt, die eben darum noch mehr mit Geist und Formen unsere beschaulichen Sinne hatten ansprechen können. Und das Erzgebirge, das uns bis gegen Dresden begleitet, wird, wenn sich die Elblandschaft rund und weit auftut, dazu in unserer Erinnerung nachschatten. Wir wissen nun schon von einem reichen Wechsel im sächsischen Lande. Aber nicht geringer ist der Wechsel in seiner Geschichte. Und Dresden hat das Bild einer Zeit behalten, in der sich Gegenwart und Geschichte noch aufs stärkste vereinigen kann. Es ist jene barocke Zeitlosigkeit in Baukunst und Musik, welche, wenn auch die Gesellschaft jener Tage mehr noch als die früheren Zeiten hinter ihren Denkmalen verschwunden ist, doch mit großer Festlichkeit auf uns weiterwirkt. Dresden ist ein Hauptschaubild dieser Zeit geblieben.

Abschied vom Erzgebirge

Indes wollen unsere Gedanken, indem wir vom Erzgebirge Abschied nehmen, nochmals nach Freiberg zurückkehren und sich mit jenem Natursinn beschäftigen, der mit der Bergwissenschaft Fühlung hatte und zu einer neuen Zeit ansetzte und auch wie aus einer poetischen Schachtarbeit und einem Förderwerk der Geister zu neuer Weltanschauung hintrug. Wir wurden an Freibergs große Schüler Novalis und Humboldt erinnert. Auch Goethe schrieb von Freiberg: »Die Akademie wirkte mächtig auf Sachsen, auf Deutschland. Auch ich war veranlaßt, mich in dem anorganischen Reiche umzusehen, dessen Teile sich aufzuklären schienen und auf dessen Ganzes man mit mehrerem Zutrauen hinzuschauen wagte.« Man mag hier aber alsbald zwei Wege ahnen; denn während Goethe eine immerzu geklärte, aber doch granitfeste Erde zum Grundstein des Geistes liebte, sprach Novalis von der »Natur der Naturen« und wie man sie wahrhaft begreifen könne. Er wollte sie sich denken als »das wunderbare Band der Geisterwelt«, als »den Vereinigungs- und Berührungspunkt unzähliger Welten«. Das Innere der Erde wurde ihm zu Höhlen und Gängen voller Farben und Kräfte. Gewiß, auch er wollte keinen mühseligen Gang verschmähen, wenn die Natur ihm winke. Aber »das Grubenlicht steht am Ende still, und wer weiß, in welche himmlische Geheimnisse ihn dann eine reizende Bewohnerin des unterirdischen Reiches einweiht«. Von Goethes geschlossener Welt im klassischen Sinne ist die Welt des Novalis verschieden gleichsam wie um eine unergründlich geöffnete Erde. — So lassen wir unsere Gedanken von der »Goldenen Pforte« überspringen zu einem Gleichnis, als ob auch der Zugang zur Natur mit einer goldenen Pforte verriegelt sei. Ein neuer Natursinn und ein neues Zeitgefühl hat sie geöffnet. Aber diese Pforte zur Natur hin hat wohl zwei verschiedene Flügel, einen hölzernen für die Nützung der Erde, und einen goldenen, an welchem die Geister der Zeiten ein und aus gehen. Auf dieser Seite aber ist die Natur selber wieder in zwei Teilen. Sie ist in der dunklen Berührung des Geheimnisses der Welten und doch wieder wie ein Schmerz der Schöpfung, daß ihr Sinn uns nur in reinen Augenblicken der Geschichte, als ob sie nur in ihr zum Ereignis werden könne, zugänglich ist. Uns aber, indem wir rückblicken, freut es, daß, wo die schwere Bergarbeit zu Hause ist, auch der Finger der Poesie unter der Erde leise mitpocht.

Aber noch sei erwähnt, daß das Erzgebirge auch ein Boden ist für ein besonderes Volkstum, für Sagen und Geschichten. Gedacht sei nur an ein Bergmannsschicksal in der sogenannten »Langen Schicht von Ehrenfriedersdorf«, wo ein Bergmann verschüttet und nach Generationen so unversehrt gefunden wurde, daß die ältesten Leute ihn noch erkennen konnten. Aber auch Heinrich Marschner, der romantische Komponist, der in Zittau geboren war, gehört in diesen Zusammenhang. In seiner Oper »Hans Heiling« kommt der Fürst der Erdgeister in die kleinen Verhältnisse der Menschenwelt herauf, welche doch so eng zusammenwirken, daß der Naturgeist wieder grollend hinabtauchen muß. So hat auch die Musik ihren Anteil an dem Bilde des Volks und Gebirges.

»Elbflorenz«

Nun aber ist das Gebirge weg, und wir müssen die Augen für einen ganz anderen Schauplatz rüsten. »Elbflorenz«, das »deutsche Florenz«, so ließ sich wohl gerne die Stadt Dresden nennen, zu einer Zeit, da Europa seine schönen Orte auf diese Weise verglich, und zumal, wenn die Bezeichnung aus dem Munde Herders kam. Auch heute noch, wenn wir auch eine Stadt mehr aus sich selber sehen wollen, mag das Wort dienlich sein, weil es uns erinnert, wie das Stadtbild die Elbe einschließt und wie mit erstaunlichen Takten von Baukörpern sich das Raumgefühl bildet, in welchem, was doch selten ist, eine Landschaft tatsächlich erfaßt wird. Nämlich, daß dies nicht nur durch einzelne Bauten in ihrem geschichtlichen Range geschieht, sondern mit Wahl und Beziehung, mit der Kunst in ihrem barocken Begriffe, welche der Schöpfung ein Paroli bieten wollte, dafür ist Dresden ein Schauplatz und Beispiel.

Bei einer großen Stadt wie Dresden tritt das Menschliche und Geschichtliche über in einen weiteren Begriff. Blickpunkt und Wettbewerb in einer erhöhten Welt ist als eigentliches Symbol die Kuppel. Dresden hat den Glanz seines Daseins erhalten vor allem durch August den Starken, der auch König von Polen war. Und dieses Augusteische Zeitalter hat sich unter seinem Sohne August II. fortgesetzt, an dessen Kunstrichtung und Hofhaltung ein Name wie das »Italienische Dörfchen« in Dresden, obwohl nicht an sich wichtig, doch ausgezeichnet erinnert. Es ist das reiche siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert, wo die Kunst des Bauens auf europäischen Wanderwegen war, und wo auch die Sammlungen und Kunstkammern der Fürsten, und dazu in Dresden auch die Oper wuchsen. Winckelmann schrieb von der Regierung des großen August als dem glücklichen Zeitpunkt, »in welchem die Künste als eine fremde Kolonie in Sachsen eingeführt« wurden. Man hört daraus, wie sehr der Begriff der Kunst nun von der früheren Geschichte abgetrennt und ein eigener Bereich des menschlichen Geistes geworden schien.

Wir Heutigen brauchen kaum den Begriff einer solchen Kolonie, für uns ist Dresden die schönste deutsche Barockstadt an der Elbe, die auch noch ein älteres Gesicht hat. Und nur jene Frage kann sich erheben, wie weit diese Stadt eine Schöpfung ihrer Fürsten war, oder ob im Zeitgeist und Zusammentrieb der Kräfte ein besonderes Gesetz zu walten scheint. In Leipzig war zu denken an Leibniz als an den universalen Geist seiner Zeit. Dann sind die großen Meister der Barockmusik zu nennen, die in Sachsen so Leipzigs wie Dresdens Geist bestimmen. Und nun tritt auch für die Kunst neben das darin verhältnismäßig stumme Leipzig das barocke Dresden, eine Stadt von reicher Sichtbarkeit, voll von den barocken Vokalen des Raumes, wie man die Formen dieser Baukunst nennen könnte. Über allem aber hebt sich die steinerne Kuppel der Frauenkirche von Georg Bähr, streng gemessen und doch wie ein großer Raumlaut. Um sie steht das barocke Schauspiel der Formen und scheint neben anderen Gegenden des Barocks auf sein eigenes Gesetz zu weisen, auf eine universale Fähigkeit, die den Abstraktionskräften des Ostraumes auch im sichtbaren Ausdruck nicht fehlen wollte. Zusammen aber ergibt sich, daß Sachsen zu einer Zeit genug von Kräften erfüllt war, um ein Bereich für sich zu sein.

Im Stadtbild von Dresden

Das Gebirge blieb als österliche Lichtlandschaft hinter der Ebene. Tharandt war des Weges noch ein schöner Fleck. Dann kam die belebte Stadt, durch welche hindurchfahrend man zur Elbe hin gleich in die barocke Raumwelt sich versetzt. Da war in der Nähe die Kuppel Bährs, und da ist auch der Zwinger Pöppelmanns, jener von schwingenden Baufluchten umzogene, offene Raum, der, als ein großer Festschauplatz entstanden, seine Offenheit so deutlich macht, daß die Bauform selbst wie eine herrliche gesellschaftliche Zone erscheint und, während sie um die Gehenden greift, den Himmel als eine kosmische Wölbung über die Blicke setzt.

Man kann sich eigentlich, wenn man hier hindurchgeht, nicht als ein privater Mensch und Alleingänger empfinden, man sucht unwillkürlich nach einer großen und vornehmen Typenwelt oder nach einem Schaubild, wie es im Theater ist, an welches man sich mit fremden und erhöhteren Empfindungen verliert. Der große offene Festraum ist von Figuren und plastischen Zieren ringsum zur äußersten Sichtbarkeit gebracht und dazu auch von Pavillonen eingefaßt, die das Gegenteil von einem idyllischen Gehäuse sind, die vielmehr die volle Sichtbarkeit nochmals auf das vielseitigste zerlegen. Er ist damit das Gegenteil einer geschlossenen Kuppel und ist doch mit ihr in einer geistigen Verwandtschaft. Da ist kein Baugelenk mehr, das dem einzelnen Beschauer feste Maße gibt, Ansätze und Träger sind in voller Bewegung; und doch laufen die bestimmten Linienzüge mit fester Starrheit durch; und während man die Bauformen wie starke musikalische Laute in die Höhe geworfen sieht, zeichnet sich für das Gefühl ein heimliches Kuppelgebilde über diese barocke Welt. Daher, wenn man wieder zur Frauenkirche mit der edlen und starken Schlüssigkeit ihrer Kuppel kommt, ist dies wie eine noch schönere Antwort auf das Schaubild des Zwingers. Dazwischen reiht man dann die weiteren Eindrücke ein.

Die berufensten Stimmen haben über die barocken Schöpfungen Dresdens gesprochen, und wenn man auf einer Landfahrt durch die große und schöne Hauptstadt kommt, wird man sich also um so mehr bescheiden. Nur jenen Wechsel will man beschreibend möglichst fühlen, der uns berührt, wenn wir aus einer mittelalterlichen in die barocke Welt treten. Er beruht darin, daß, äußerlich gesagt, die Augenmaße ganz verschieden werden. Im Mittelalter wird der Blick immer gemessen, er hat eine bestimmte Reichweite von Teil zu Teil der Formen, und das Ganze erschließt sich aus den Teilen. Hier jedoch erschließt sich das bewegte Leben aller Teile immer aus dem Ganzen. Das bedeutet auch, daß das Mittelalter einen Drang und Gang zur Geschichte hat, hier aber herrscht das große und triumphierende Gesetz des Augenblicks.

[Der Wallpavillon des Dresdener Zwingers]

[Bährs Frauenkirche in Dresden]

Oder anders und genauer: wenn auch das Mittelalter den Augenblick hat, so ist dieser Augenblick doch nicht so, daß dabei die Kunst und die Natur in eins gesehen wird. Es ist vielmehr gerade die Empfindung des Gegenteils, und der Blick ist, wenn man es so verdeutlichen darf, in sich selbst entzweit oder auch wie von allgemeiner Schöpfung entblößt für ein inneres Bild. Ebenso wie die Geschichte nicht die Schöpfung ist, so ist auch das mittelalterliche Werk nicht Natur. Daher auch unser Gefühl, als ob wir gehälftet oder doch von etwas weggenommen wären, wenn wir durch Räume jener Zeiten schreiten oder vor ihren Werken stehen; oder noch deutlicher, als ob wir einem Urteil unterstünden, sobald wir dieses Gesetz des Sinnes anerkennen. Dagegen ist das Gesetz des barocken Augenblicks ganz anders. Es sammelt und teilt sich unendlich, und es benutzt jeden Ansatz zu einem Fortstoß im gleichen, jedes Nein zu einem noch weiteren Ja, und jeden Blick gleichsam dazu, daß er, weil das Wort nicht mehr ausreicht, im Echo des Himmels wie in einer Kuppel kreist. So ist der Blick kein Urteil und keine Entzweiung, wodurch der einzelne Mensch in sich angerufen wird, sondern er bleibt in der Gesamtheit von Zeit und Gesellschaft, so wie im Bau das große Gesims die Kuppel abtrennend um so mehr trägt. Dies etwa ist die barocke Einheit, und sie scheint wie das Himmelreich über der Natur selbst.

Bährs Frauenkirche

Alles wäre noch zu sagen, aufzusuchen, im einzelnen anzusehen. Doch es ist ein herrlicher Ostermorgen, und es ist schön zu gehen in der heute deshalb leiser bewegten Stadt. Auf die baumächtige Tenne des Altmarktes fiel das Glockengeläute vom Turm der Kreuzkirche, welcher zur Silhouette Dresdens mitgehört, klangvoll dröhnend herab. Es neigt hier Altes und Neues, wenn auch nicht so heiter und volksmäßig wie im barocken Süden, zur breiten und gewichtigen Anlage. Aber wenn es auch erst noch von den bürgerlichen zu den fürstlichen Eindrücken gehen müßte, und wenn man auch gar nicht zum Sehen und Vergleichen kommt, so wird doch ein Haupterlebnis die Frauenkirche bilden. Es war tatsächlich das Haupterlebnis dieses sonnigen Festtags. Ein Rundbau, mit den Stirnseiten quadratisch und abgeschrägt, ringsum nach außen sein Baugesicht herbietend, zwischen den Giebelungen und Aufgipfelungen der Kuppelhals einwärts hochschwingend, darüber die Kuppel, deren Gewicht gleichsam in sich gedrängt und dadurch schwebend scheint, kann man diesen Anblick immerfort betrachten. Wie soll man den Anblick nur näher bezeichnen? So wie etwa ein Laut innerhalb seines Atems und Hauches bleibt, so, wenn auch mit einer Härte, ist auch der Baukörper innerhalb seiner Sichtbarkeit. Das heißt, er scheint einen gewissen Spielraum mit sich selber zu haben. Es ist, obwohl ganz ins Gesetzmäßige gebracht, doch der barocke Puls eines Lebens, das mit seiner Form den Ausdruck nicht bloß äußerlich hat, sondern immer für den Blick neu gewinnt. So wird die bloße und rohe Einheit von Stoff und Form überwunden, und es ist in diesem feinen Spielraum beinahe etwas von der mittelalterlichen Kunst des Wegnehmens und In-sich-Weichens, um dafür eine innigere Wirklichkeit oder hier eine edlere Wucht in sich nachzuziehen und nachzuholen. Man könnte aber auch Vergleiche anstellen mit der Hofkirche von Chiaveri, die ja ihrerseits auch eine unvergeßliche Formsituation an der Elbe hat. Man könnte dabei sehen, wie eine Schöpfung als Form einem Zwecke dient und dabei alles in eine planmäßig hingeführte Sichtbarkeit, in ein großes Schauspiel umsetzt: so Chiaveri; oder wie sie selber Form und Zweck wird und dabei gleichsam alles einem Laute opfert, der sich zentral erfüllen will: so Bähr.

Wie sehr Bährs Schöpfung selber zum Raumzweck wird, zeigt das Innere, das wie ein Wabengehäuse mit Schaurängen in die Höhe ausgebaut ist. Ein netter Zufall ließ uns ohne Umstände hineinkommen. Es war schon Nachmittag geworden, und an diesem Osternachmittage war eine ganze Schar von Täuflingen zu der Hauptkirche hergebracht worden. Mit einem Nachzügler, der still und brav getragen wurde, durften wir ebenfalls eintreten. Die kleine bürgerliche Gruppe fand sich dann in der mächtigen Rundkirche wie ein schlicht gewordenes, verspätetes Barockbild. Im Innern nun wird es noch deutlicher, was es mit der Umsetzung der universalen Blickform dieses Baues in den einzigen Sinn und Zweck gleichsam des »Wortes« auf sich hat. Man möchte sagen, daß hier in Umkreisen das worthafte Widerspiel eines lichthaften Obelisken entstanden sei, also ein Widerspiel zu einer beliebten Barockform, und man möchte das ganze Bauwerk ein »Monument des Wortes« nennen. Aber man muß auch denken, daß dies nur eine sehr einmalige Lösung ist, die sich selbst wieder »entinnert« und die nicht leicht wiederholt und fortgesetzt werden kann.

Indem man sich auf dem Platze noch ergeht, sieht man an einem Hause die Erinnerungstafel an Heinrich Schütz, den großen deutschen Musiker vor Johann Sebastian Bach. Die Musik ist es, die sich selbst erfüllt, indem sie sich verzehrt. Sie ist das Denkmal des Augenblicks und die große Kuppel über dem Wesen des Wortes.

Auf der Brühlschen Terrasse

Der schöne Vormittag hatte uns zur Brühlschen Terrasse bringen und die Altstadt mit der Neustadt zusammenfügen müssen. Da war das ruhige Schloß unterwegs, das noch ein wenig vom verschlossenen Mittelalter in den Formen der Renaissance bewahrt hat. Die Hofkirche mit ihrem hohen Figurenkranz auf den Außenkanten der barocken Raumschiffe war im Innern voll großer schmetternder Barockmusik. Aber wenn man nun auf die Terrasse an der Elbe kommt, verwandelt sich, was man im einzelnen gesehen und mit barocken Lautformen verglichen hat, in ein großes und festliches Raumgesicht Dresdens. Die Elbe, sonst ein stiller und arbeitsamer Fluß, ist hier, zumal an dem blauen Osterfeste, hineingezogen in die Musik der barocken Stadt und ihres geschichtlichen Lebens. Schiffe legen an, Musikanten spielen, das Leben klingt, und die Blicke werden selber gleichsam hallend in dem Raum und Nachhall, der sich überall in den Perspektiven dieses Schaubildes einer vornehmen Stadt gesammelt und bereichert hat.

Was die Kunst großräumig über die Elbe überbrückt und zusammengebunden hat, Altstadt und Neustadt, die schönen Raumbilder, die auch der Hofmaler Canaletto oder Bellotto gemalt hat, das alles war einst ein stilles Land von wendischen Fischersiedlungen, jenseits und diesseits. Dresdens Namen leitet man ab von einem wendischen Worte für Sumpfwald. Die mittelalterlichen Formen kamen von Westen, und der Name Dresden ist erst 1206 aufgeschrieben. Aber ein prachtvoller deutscher Ostblick ist daraus entstanden.

Ein Nachmittag in Meißen

In der Wiege des Sachsenlandes

Also war der Ostervormittag in Dresden gewesen; die barocke Festlichkeit überfiel die Sinne mit einer kräftigen und heiteren Gegenwart, die noch kaum vergangen schien. Nun werden wir den Nachmittag in Meißen sein. Es wird wieder ein lebhafter Wandel von Menschen und Schaulust in Räumen der Geschichte sein; jedoch diese Räume sind Gotik, reiche Gotik, die aber mehr Sprache ist als Musik. In ihrer ziervollen Strenge schweigt und wartet Vergangenheit.

In Meißen ist, wenn auch kaum noch die älteste Zeit des in die Geschichte erwachenden Sachsenlandes erhalten, so doch ihre Ahnung geblieben und ihr durch das Mittelalter fortschwebender Nachhall. Von Dresden nach Meißen ist keine große Strecke, aber einen solch ausgespannten Gegensatz von Frühzeit und Spätzeit eines Landes mit jedesmal reichem Ausbau findet man wohl selten an einem kurzen Wege der Geschichte.

An der Elbe hin

Die Elblandschaft ist auf den Straßen voll von wandernden und fahrenden Menschen gleich friedlichen Heersäulen. Auf beiden Seiten des Tales zieht sich eine zusammenhängende Rahmung von mäßigen Höhen entlang. Die Sonne ist mild, die flachen Rasenufer des Flusses haben jenes erste Grün, das noch kaum eine Grasdecke ist, aber manchmal wie ein funkelnder grüner Schein das Erwachen der Erde bedeutet. Dazu sieht man, indem wir auf der linken Seite der Elbe dahinfahren, den jenseitigen gleichmäßigen Höhenzug — es ist das Spaargebirge auf ihrer rechten Seite — in den rostroten und violetten, noch rauchigen Farben der kühlen Luft und darüberhin doch so viel weißes Licht, daß die Ortschaften und die Gewerbeanlagen, die man ebenfalls unaufhörlich auf jener Seite vor den Höhen entlang liegen sieht, in den gleichen hellen Schein mit hineingezogen sind. In der flachen Talmitte geht die Elbe als ein gleichmäßiger und großflüssiger Strom, in einem halb dunklen Schein, wie es zum frühen Jahr gehört, wo Luft und Wasser noch hungrig sind und kühl zusammenspiegeln.

Also sind wir unterwegs, und der lebhafte Verkehr um uns wie die Ruhe des nachmittägigen Luftraums bereiten uns auf das Bild der Geschichte vor, das uns in Meißen erwartet. Immer dringt der Eindruck der Industrielandschaft wieder durch, und so erscheint auch, da nun Meißen in den Blick kommt, zunächst sehr das ausgedehnte Bild eines gewerblichen Ortes. Aber der Burgberg, der sich darüber im leichten Dufte zeigt, tritt wie ein epischer Schritt gegen das Tal herein und erhebt sich als ein durch Natur und Kunst gebildetes, großes Spurmal der Geschichte. Dann kommt man näher, hier führt auch eine Brücke über die Elbe herein, Ort und Einzelheiten werden immer altertümlicher, auf dem Rathaus von Meißen klingt das Glockenspiel von Porzellan, auf dem alten Marktplatz stößt der Chor einer gotischen Kirche herzu — es ist die Frauen- oder Stadtkirche —, und durch alte Gassen geht es zum Anstieg auf den Schloßberg, auf welchem Meißens Geschichte ihren Grundstock hat. Die malerischen Häuser ziehen sich teilweise mit hinauf; und zum Schloßberg gehört, durch eine Brücke mit ihm verbunden, im Aufstieg auch noch der Afraberg, dessen Name an das Afrakloster des Mittelalters erinnert, das im Jahre 1543 zu einer jener bekannten drei sächsischen Fürstenschulen gleich Grimma und Schulpforta umgewandelt wurde.

[Der Burgberg in Meißen]

[Meißen, großer Wendelstein der Albrechtsburg]

Der Burgberg in der Geschichte

Der Burgberg von Meißen ist nicht nur lange vor der eigentlichen Stadt ein geschichtlicher Trutzpunkt gewesen, sondern er ist auch der Grundstock der Geschichte Sachsens. Im Jahre 1929 konnte Meißen die Jahrtausendfeier des Datums begehen, an welchem dieser Ort an der Elbe geschichtlich sichtbar wurde oder vielmehr der aufragende granitene Hügel, welcher hier die Wacht an dem Durchzug des Flusses und an der durch ihn gehenden Furt übernehmen konnte. König Heinrich I. hatte, nachdem die Sorben von ihrer Botmäßigkeit gegen das Reich Karls des Großen wieder abgefallen waren, die deutsche Macht an der Elbe von neuem eingesetzt und so auch 928 im Gebiet der Daleminzier die feste Burg »Misni« anzulegen begonnen. Es gelang ihm auch, seinen Machtbereich noch weiter über den Stamm der Milzener in der Oberlaufitz auszudehnen. Heinrichs Sohn, Kaiser Otto I., verfolgte die gleiche Politik mit Hilfe seiner mächtigen Mitstreiter, des Markgrafen Hermann Billung, der nach dem Nordosten vordrang, und des Markgrafen Gero, welcher von Magdeburg aus den Osten und auch über Meißen hinaus das Sorbenland vollends eroberte. In eine Reihe von Marken wurde nach Geros Tode dieses ganze Ostgebiet eingeteilt, und eine von diesen Marken war auch die Mark Meißen im engeren Gebiet der Daleminzier und Nisaner an der mittleren Elbe. Dann hatte Kaiser Otto I. auch eines der neuen Bistümer nach Meißen gelegt, und nun saßen ein Bischof und ein Markgraf auf dem granitenen Burgberge, wozu noch ein Burggraf kam, so daß sich der Meißener Burgberg dreier Burgen rühmen konnte.

Heute ist der Berg außer den zugehörigen geschichtlichen Bauten beherrscht von einer selten schönen, ganz auf ihre Art und ihre geschichtliche Bedeutung bezogenen Baugruppe von Dom und Schloß. Da ist der mit verschiedenen Anbauten versehene, auf edler frühgotischer Anlage aufgebaute Dom, der auch zur Begräbnisstätte der sächsischen Fürsten geworden war, und im Winkel anstoßend die Albrechtsburg, welche aus hellen gewölbten Räumen spätester Gotik auf das sächsische Land hinausschaut. Über dieses Land, dessen Wiege Meißen war, hatte sich gegen Ende des Mittelalters, nachdem auch die Kurwürde über Sachsen-Wittenberg 1423 an den Wettiner Friedrich den Streitbaren und damit an einen Teil des Landes gekommen war, der Name Sachsen verbreitet. Also liegt am Ende jenes Zeitraumes, der mit der kriegerischen Wacht auf dem Hügel und mit dem Vordrang der deutschen Stämme unter Führung der Niedersachsen nach Osten und so auch auf den sorbischen Boden beginnt, die Tatsache, daß nun der Name Sachsen, nachdem er sich inzwischen nur noch in Grenzgebieten an der Elbe erhalten hatte, auf ein neues deutsches Land, eben das obersächsische, übergegangen ist. Es liegt das engere Mittelalter dazwischen, in welchem, nachdem die Burg Meißen um und nach dem Jahre tausend noch verschiedenen Anstürmen von Osten hatte standhalten müssen, in den sorbischen Marken die Wettiner emporstiegen und mit Konrad, dem Begründer ihrer Macht, die Mark Meißen zum Grundstock nahmen. Unter Bischof Withego, welcher 1293 starb, war der gotische Dom auf der Burg begonnen worden. Der erste Kurfürst Friedrich, der 1428 starb, wurde als erster in der von ihm erbauten Fürstenkapelle des Domes bestattet. Sein Enkel Albrecht der Beherzte ließ nach 1471 das neue Schloß bauen. So ist hier ein Ort, an dem im geschichtlichen Wandel die Steine sprechen.

Gegen den Burgberg gehend, gerät man in die Vorstellung, wie schwer die alte Zeit war, von der auch der Chronist Thietmar von Merseburg erzählt, der auch die westlich anschließende Gegend, die fruchtbare Lommatzscher Pflege, halb sagenhaft mit erwähnt. Solche Burgen pflegten zuerst eine Wache von Kriegern, einen Wach- oder Stoßtrupp zu haben, der vom deutschen Hinterlande kam und wieder in die Heimat ging, wenn seine Wachfrist um war. Es war also eine Kriegerschicht da, welche durch die Versorgung, welche sie benötigte, dann mit einem Markte sich verwurzelte. Der Dom, das heißt, was vorausging und der geistlichen Macht zum Haltepunkt diente, bildete dann die weitere Verwurzelung. Aber erst 1205 kommt die Nachricht von der Gründung der Stadt. Diese selber zeigt dem Ankommenden schnell, daß sie an alten Werken ebenfalls reich genug ist. Und später hat sich ihr Name mit dem Ruhme des Porzellans verbunden, das aus den Versuchen Böttgers und mit den Namen Herolds und Kändlers heraussprang. Und nun ist es ein reizvoller Gegensatz, sich vorzustellen, daß der Standort einer kriegerischen Wache hier oben nun zur Werkstatt der launigen und zerbrechlichen Erzeugnisse einer damals alles beherrschenden Geschmackskultur geworden ist.

Die Burg Meißen gehört auch in die Lebenserinnerungen Ludwig Richters, des Künstlers, der in die größere Geschichte eine gemüthafte Wohnlichkeit einzubauen wußte. Richter war 1828 bis 1835 an der zur Porzellanmanufaktur mitarbeitenden Kunstschule auf der Burg tätig, von wo er sich in seinen Geburtsort Dresden zurückzog. Man kommt nach den Staffeln zur Burg an seinem Haus, an dem »alten Genist« vorbei über die hohe Burgbrücke und durch den Torbau auf den Domplatz. »Man verweilte immer gern zwischen den hohen Brustwehren dieses Übergangs und genoß die Aussicht von da herab in das einsame, stille Meisetal, oder nach der anderen Seite hin über die unten liegende Stadt, mit der Elbe und den Spaarbergen, über das reiche, weite Elbtal bis Dresden und zu den fernen Bergen des böhmischen Hochlandes.« Und dann steht man »vor der im reinsten gotischen Stil ausgeführten Domkirche und der Albrechtsburg, einer der wenigen noch erhaltenen gotischen Palastbauten. Der kunstreiche Turm mit der Wendeltreppe, ein Meisterwerk altdeutscher Kunst, führte zu den im zweiten Stockwerk gelegenen herrlichen Räumen der Kunstschule, wo die Plätze der jugendlichen Insassen sich wie Sperlingsnester am Hochaltar ausnahmen«.

Erst nach Richters Zeit, seit dem Jahre 1903, hat man den Meißner Dom auf seiner Westseite, deren reichem, mit zierlicher Fülle besetztem Portal übrigens die spätgotische Fürstenkapelle vorgelegt ist, mit zwei Türmen ausgebaut. Damit ist die Höherentwicklung erreicht, aber die Bildhaftigkeit nicht vermehrt worden. Das Dazugekommene hat jene regelrechte Sichtbarkeit, welche sich summiert, ohne sich zu steigern. Immer fragt man bei solcher Restaurationsgotik wieder, warum die Ergänzungen nur als ein zahlenhaftes Bauwesen, aber nicht auch als ein »Geschlecht« von Formen, nicht vom Garten der Zeitwelt befruchtet wirken. Was vorher als Westseite da war und jetzt eingeengt daruntersteht, das ist ein bis in die Spätgotik fortgebautes Stück Zeitgesicht, eine Schau- und Schmuckwand, die, reich und zurückhaltend zugleich, mit dem von Fialen besetzten Maßwerkband, das als Brüstung darüberlief, wie das gekrönte Antlitz dieser Burg Meißen erscheinen konnte. Hinter ihr öffnet sich die fast trockene und doch unendlich vielfach in hohen Pfeilern und mitlaufenden Diensten fortbewegte Raumstille des bis zur Hallenform gesteigerten Innenraums. Es ist ein Raum wie ein von hohen Pfeilern aufgebauter und so sehr eingefaßter Garten, daß das Leben und der Atem der Sprache still steht und alles wie eine sonderbar ruhige Unterbrechung der Zeit erscheinen kann. Wenn man vom Wachstum der Gotik spricht, so vergißt man gerne, daß sie da, wo sie ihrem reinsten Ausdruck nahe kommt, doch auch gerade das Gegenteil des Wachsens, gleichsam ein Ertöten desselben im reinsten Wuchse ist. In der Tat steht die Gotik des Hauptschiffes hier wie ein kristallener Wald von hohen Schäften. Und so ist auch der Lettner mit einem herrlichen Laubreichtum besetzt; und alles wie eine Baumschule reinster baulicher Disziplin oder wiederum wie ein Garten, in welchem die Geschichte eingeholt ist und schweigt, dadurch daß er selber vom Leben nur den Sinn behalten hat.

Der Kaiser und die Kaiserin

Zum Meißener Dom gehört noch viel von Raum und Figur, was, wenn man es schnell erfassen will, sich in den Wald der Sinne zu verwandeln droht, der in den mittelalterlichen Dingen wartet. Es ist wie ein Neid, den diese Dinge an sich haben, daß sie langsam und mit immer neuem Sinne gehegt sein wollen, damit sie nicht zur leeren Summe verwildern. Gegen das Ende des Mittelalters tritt ohnehin dieses Schicksal ein. Ihr eigenes Gesetz, wonach — möchte man sagen — das Wesen der Form viel bedeuten, aber nicht viel werden sollte, hat sich doch zum eigenen Schaden befruchtet. Während sich die werkgerechte Sinnfreudigkeit vermehrt, geschieht dieswie zu einem Neid und Abtrag am großen Sinne. Dies zeigt auch aus das Schicksal der alten Kirche.

Etwas aber muß hier in Meißen, als einzelnes Werk unter vielen, noch zum starken Erlebnis werden. Das sind im Chor des Domes zwei große Figuren etwa von der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts. Sie stehen oben im nördlichen Gewände, und man bezeichnet sie als Kaiser Otto I. und seine Gemahlin Edith (oder wohl seine zweite Gemahlin Adelheid). Sie sind als Gründerstatuen für Meißen zu denken, ähnlich wie die berühmten Stifterfiguren im Naumburger Dom. Man vergleicht sie auch im künstlerischen Zusammenhang mit den Naumburger Werken. Und der Otto läßt auch an die berühmte Reiterstatue Ottos vor dem Rathaus in Magdeburg denken.

[Meißen, Blick in den Dom]

[Kaiser Otto I., der Gründer des Bistums Meißen, von dem Naumburger Meister nach 1260 geschaffen, im Chor des Domes zu Meißen]

Diese beiden Figuren nun sind nicht nur von einer sprechenden Gewalt des ganz deutschen Ausdrucks in Gesicht und Wesen. Sie haben dazu noch eine weitere Gewalt und Wucht der geschichtlichen Erscheinung, die gebändigt und doch unaufhaltsam von der Waage der Schultern her in den schwer und groß bekleideten Körpern herrscht, so daß sie hierin die mehr pfeilerhaft gebundenen und dabei noch einzelner bestimmten Figuren von Naumburg zu übertreffen scheinen. Es geht wie ein Sturm durch die halb gegeneinander gerichtete Wendung der beiden Körper. Dabei ist das mittelalterlich Wesentliche, daß die Körper nicht nur von der eigenen Bewegung und Bildung her bestimmt sind, sondern auch von außen und von ihrer Zweiheit her, von dem Abstand zueinander, einem Abstand, der nicht nur der natürlichen Vorhandenheit der Leiber harmonischen Raum gibt, sondern der sie gegeneinander wie über einen Zwiespalt hinweg und eben dadurch stärker mißt, wie etwa zwei Schriftzüge sich messen, und der so über dem natürlichen Ausdruck den geschichtlichen Charakter befestigt. Dies Zwiefältige gehört ja zum Gesetz der mittelalterlichen Figur, auch wenn sie eine einzelne ist; sie behauptet sich nicht nur aus innerem Wuchs, sondern auch aus einer verstärkten Gemessenheit von außen wie in einem Gegengebot. Von da aus versteht man auch den Ausdruck eines Gesichts, etwa sein Lächeln, anders. Es lächelt nicht nur aus der Natur, sondern aus einem gegenseitig gemesseneren Bezuge. Es ist der unvermitteltere Schlüssel eines Augenblicks, und was lächelt, ist nicht eine natürliche Stimmung, sondern ein beurteilbares Gesicht; und hier nun ist es ein starker Mensch.

Und so hat die Kaiserin in ihrem vom Tuche eingerahmten Gesicht eine fast schalkisch lächelnde Gelassenheit (obzwar man den Ausdruck der Kunst hier nicht zu sehr motivieren darf). Es ist jenes deutsche Lächeln, welches ganz zu einem lebendigen Augenblick und sicher ebenso zum Naturwesen gehört, aber nichts mit einer bloß allgemein menschlichen oder bloß stilistischen Verbindlichkeit der Kunst zu tun hat. Dagegen ist in dem Gesichte des Kaisers selber etwas Stürmendes oder jedenfalls die Fähigkeit gestaltet, sich ganz einem einzigen Ausdruck hingeben zu können. Augen und Lippen sind zu starker Anrede oder Frage geöffnet, und die Form des Gesichts wird zu einer unglaublichen Beredtheit der Züge. Zugleich ist hier auch das Wesen von Mann und Weib in einer Weise ausgedrückt, die nicht eine allgemeine »schöne Menschlichkeit« voraussetzt, sondern sofort die wirkliche Gegenwart sprechen läßt. Die Gestalten sind nicht so sehr auf die Möglichkeit angelegt, etwas zu bedeuten, sondern sie bedeuten unmittelbar. Wir müssen hier eine kurze Prägung wagen: nämlich die, daß die Wirklichkeit solcher Gestalten größer ist als ihre Möglichkeit. Das wirkliche Dasein kommt dem allgemeinen Menschsein zuvor; sie kommen nicht aus der neutralen »Position« des Menschseins, sondern sie gehören sofort in die stärkere »Komparation« des Daseins. Von diesem Vorgebot her ist darum auch die geschichtliche Erscheinung stärker als die natürliche. Solche Figuren sind nicht nur Symbole der Geschichte, sondern wahrhafte und dramatische Gestalten, welche ihre Verwandten etwa noch in Shakespeares Dramen haben.

Unvergeßlich bleibt, wie man den Lufthauch dieser kaiserlichen Gesichter zu fühlen glaubt, wie sich die Luft um den Mund des Kaisers zu stauen scheint, während er die Lippen zu starken Worten ausformt. Wenn man in Magdeburg zu dem Gesicht des dortigen Reiters hinaufblickt, kann man die gleiche Empfindung eines Gesichtes bekommen, in dessen sprechender Gewalt sich die Luft staut. Hier in Meißen, in Naumburg, in Magdeburg sind wir in dem deutschen Saum und in der Wirkungsgrenze der sächsischen Herrscher gegen den Osten. Ist es nicht, als ob hier alle bloß künstliche Schönheit wegbliebe, damit ganz der Ausdruck einer geschichtlichen Triebkraft lebendig werde?

Schließlich wurde noch die Albrechtsburg besichtigt, das von Arnold von Westfalen erbaute spätgotische Schloß, dessen deutsche Art sich im Vergleich etwa zu einem italienischen Palazzo ganz als Gegensatz darstellt. Hier ist nicht so sehr Raum neben Raum gleichgeordnet, sondern jeder öffnet sich auf seinen Pfeilern zu seiner Gewölbeform und zum Lichte wie ein eigener Bereich. Der deutsche Raum ist immer mehr ein Raum im Lichte oder mehr ein werdender Raum als ein Raum an sich oder ein bleibender Raum. Hier sperren ihn die Pfeiler manchmal wie mit Schraubenlinien in seine lichte Räumlichkeit auf. Und dazu gehört nun auch die berühmte große Wendeltreppe, welche, außen hinaufführend, die Geschosse der Albrechtsburg miteinander verbindet. Aber auch das Gefühl einer Zeitwende kreist schon in diesen Formen. Sie treiben noch immer mehr in ihrem Aufschluß, je mehr sie dabei im Lichte den ruhigen Kern verlieren. Als ob der aufgelichtete Wuchs verwildern und zu einem Walde werden müsse, so fielen die Strahlen der niedergehenden Sonne, den Gedanken noch verstärkend, zu uns in die astartig reich gerippten Räume.

Ein Glas rötlich schillernden sächsischen Weines, der an den Hängen der Spaarberge drüben über der Elbe wächst, sollte im Burgkeller den schönen Tag beschließen. Die Bischöfe hatten im vierzehnten Jahrhundert den Weinbau um Meißen eingeführt. Also trinkt man Elbewein und blickt zu Stadt und Strom hinab, wo mit dem dunkelnden Tage die Gegenwart wegsinkt und die Vergangenheit aufsteigt.

[Adelheid, die Gemahlin des Kaisers Otto I.]

[Kaiser Otto I.]

Fahrt in die Lausitz

Von der Elbe zur Spree und zur Neiße

Der Abend legt seine kühle Hand auf die alte Wiege des Sachsenlandes. Die Schatten ziehen vom Tal der Elbe gegen den Burgberg von Meißen. Aber als wir nun suchen, wo wir die Nacht bleiben wollen, ist alles an diesem lebhaften Tage besetzt und vergeben. Da besteigen wir den Wagen wieder, der Freund sitzt am Steuer, und der Wagen zieht an, aus der Stadt hinaus und in die beginnende Nacht hinein.

Frauenlob

Noch ein Blick zurück nach Meißen, das heißt ein Blick in seine Vergangenheit und zu der Tatsache, daß ein Minnesänger den Namen dieses Ortes trägt. Es ist Heinrich von Meißen, ein fahrender Sänger, der wahrscheinlich auf der Domschule zu Meißen seine Bildung geholt hatte, die er zu reichlichem Spiel mit Natur und Dasein und auch aus der Antike in seinen Reimen zusammenwob. An vielen Höfen von Böhmen und Kärnten bis Brandenburg, Mecklenburg und Dänemark war er gewesen, bis er 1518 zu Mainz starb. Frauen haben ihn zu Grabe getragen, und Heinrich von Meißen war also der berühmte Meister »Frauenlob«. Farben und Blumen reimt er mit den Frauen zu schönen Teppichfeldern oder trauten Gartenbildern, und so beginnt auch ein Lobgedicht: »O wip, trût violgarte«.

Nachts durch Kamenz

Wir aber sind nun wieder ostwärts in der freien Landschaft, die immer weiter scheint, je mehr sie vor uns in die Nacht hineinschwindet, während im Rückblick die Säume des Geländes unter dem letzten Lichte des Westens langgezogen und groß uns nachschwingen. Bald nimmt die Nacht uns die Nähe weg; aber wenn die Straße in einen Wald mündet, wird das Gefühl der Gegenwart wieder stärker.

Unser Weg ist jetzt die alte deutsche Ostrichtung, die durch Sachsens Geschichte auch in den späteren Jahrhunderten noch vertreten wird, in denen es als Grenzmark mit den Slawen immer wieder Kämpfe zu bestehen hatte, während in seinen östlichen Gebieten noch die Herren wechselten. Lange ging es um den Besitz der beiden Lausitzen, bis diese 1635 während des Dreißigjährigen Krieges der Herrschaft der Wettiner einverleibt waren. Und dann ging über August den Starken, der das polnische Königtum in seine Macht gebracht hatte, der innerdeutsche Ausgleich weiter, bis 1815 die Lausitzen geteilt wurden und die Niederlausitz an Preußen kam, während die Oberlausitz mit dem alten Bautzen bei Sachsen verblieb. Zur Zeit Kaiser Karls IV. und mit seiner Förderung hatten die Hauptorte der Lausitz den Sechsstädtebund gegründet, der im späteren Mittelalter ihrer Selbsthilfe diente und zu dem die Städte Kamenz, Bautzen und Görlitz gehörten, die jetzt an unserem Wege liegen.

Wir sind nun über Radeberg gekommen und fahren durch eine Stadt, von der wir in der Dunkelheit nicht viel mehr erkennen, als daß an längeren Straßen die Häuser in niederen Zeilen aneinandergereiht sind, daß ein größerer Marktplatz sich auftut, mit stattlichen Häusern auch eine gotische Kirche hinaufstrebt und daß Alter und Gegenwart im praktischen Dasein ausgeglichen sind. Es war etwa ein Eindruck wie in den kleineren Städten der Mark. Aber diese Stadt war Kamenz gewesen.

Der Oberlausitzer Lessing

Und je flüchtiger der Eindruck vom Orte selber hatte sein können, um so mehr mußten nun die Nachgedanken noch auf Kamenz zurückgehen, da es der Geburtsort Lessings (1729) ist. Schon zu Beginn dieser Sachsenfahrt hatte uns der Gedanke beschäftigen müssen, wie stark das Wesen des neueren deutschen Denkens und besonders die Fähigkeit der geistigen Abstraktion gerade im Osten Deutschlands, auf einem Urboden, der inzwischen Kolonialland gewesen war, herangewachsen ist. Was im Gegensinn dazu weiter erstaunlich wirken muß, das ist, daß einige größte deutsche Musiker auf dem gleichen Boden entsprossen sind oder doch in den thüringisch-sächsischen Raum gehören, also Bach, Händel, Schütz, Schumann, Marschner bis zu Wagner. Unter den großen Denkern aber ist der Universalgeist Leibniz ebenso wie der neue Wegsucher Nietzsche. Dann kommt als Sohn eines armen Webers aus der Oberlausitz Fichte. Und hier in Kamenz wurde Lessing aus einer Pfarrersfamilie geboren, um durch die altberühmte Afra-Schule in Meißen zu gehen, dann in Leipzig den Geist eines neuen Theaters in sich aufzunehmen und in seiner späteren Laufbahn den Begriff eines Schriftstellers und des freien Geistes einer neuen Zeit vorzuleben.

Es war ein neuer Begriff, der mit der Auflösung der geschichtlichen Bindungen in Lessings Geist Gestalt gewann. Kraft und Gefahr dieses neuen Geistes lagen in seinem Wesen dicht beisammen. Die zäheste geistige Fähigkeit fing an, die schärfste Probe auf die genaueste Wirklichkeit des Lebens zu machen und die Vermittlungen herkömmlicher Art dabei auszuschließen. So ward Lessing der Dichter, der den Kern oder Konflikt des Daseins in Blitzen des Dialogs heraushob und das Unerbittliche zum Schicksal werden ließ. Schicksal aber äußert sich hier als eine tragische Abspaltung des Moralischen von der Ganzheit der Geschichte, zugleich als eine tragische Gewalt des Wortes selber, welches eben in dieser Abspaltung eine Art neidsam eigener Befriedigung findet. Affekt und Räsonnement, Hitze und Kälte bedrängen den Augenblick auf das heftigste, sie dringen gegenüber den langsamer wandelnden Rechten und Bildern des Daseins auf eine Nemesis von sofortiger und doch zeitloser Starrheit. Die ewige Vernunft wird zu einer richterlichen Waffe, und das Moralische tritt an den Weg der blinder vertrauenden Freiheit der Geschichte, und diese bleibt auch nicht mehr das Ordal, welchem Natur und Vernunft gleicherweise vertrauen müssen, sondern die beleidigte Vernunft tritt mit Naturrechten dazwischen.

Aber Lessing, der Dichter der »Minna von Barnhelm«, hat auch den wendigsten Humor und Witz in der Begegnung des gesunden Gefühls mit der Notwirklichkeit des Lebens gefunden. Er hat sich ähnlich, was in sein freies und entschlossenes Zeitwesen gehört, als Sachse für Norddeutschland und die sachliche Kraft des Preußentums entschieden. Damit also wirkt die ostdeutsche Aufstauung in dem Lausitzer wieder ganz bezeichnend ins Deutsche zurück. Und doch steht wieder dicht daneben in dieser Geisteshaltung der Begriff der »Erziehung des Menschengeschlechts«; und weiter spricht auch, wie im »Nathan«, zu einer Befriedigung des dramatischen Dialogs, mit welchem das Rätsel der Geschichte weggeschoben wird, eine humanitäre Weisheit, welche im Kampf der Welt keine Wurzeln hat. So rangen zwei Seelen in Lessings Brust um das Gebot der besten Wirklichkeit. Fichte hat wohl noch unvermittelter diese Kluft vom Geist des Seins zur Forderung der Geschichte in seinem Begriff der Erziehung mitgelebt. Beide aber sind Beispiele, wie nahe sich im ostdeutschen Geiste Denken und bildloses Fordern stehen, womit eine strenge Pflicht erstellt wird.

Es sind, wiewohl in eine Methode der Vernunft gesetzt und zurückgestaut, die größten Fragen des immer werdenden neueren Geistes, zu denen man bei Lessing hinstößt. Bedenkend, welche Rolle er auch im Ansatz unserer Begriffe von Dichtung und Künsten spielt, mag man sich wundern, mit welch großen Ausmaßen in seinem Werk die Antike, aber nicht so sehr sie selber als ein Antiquarisches aus ihr vertreten ist, ein Erbe, das man mehr als ein solches der Schule denn einer fühlenden Gegenwart empfindet und das Lessing verwaltet mit einer philologischen Reichweite, die uns Spätere wenn nicht durch den Inhalt, so eben durch diese methodisch-dramatische Verlebendigung bestürzen kann. Der Geist der Zeit holte Brot aus den antiquarischen Relikten. Die Antike scheint immer wieder den Anhalt von Stoff und Gesetz zu geben, und so dachte Lessing nicht aus einem Spursinn der Geschichte her, sondern aus der Zweiheit von Stoff und Gesetz. Hierin, in diesem Gegensatz selbst, befruchtet sich der Klassizismus; dagegen sucht im Spursinn der Geschichte selber die Romantik ihren Weg. Und wenn Lessings erstaunliche Fähigkeit auch für Shakespeares dramatische Wahrheit aufgeschlossen war, so ist doch erst Kleist der Pol dieser ganzen gegensätzlichen Spannweite, da bei ihm in der bildhaften Sinnerfüllung das vorhanden ist, wovon Lessing eine moralische Dramatisierung des Wortes hinweggenommen hatte. Bei Kleist flossen die beiden Seelen der aufgelösten Geschichte wieder zusammen, freilich mit der ganzen Schwere seines eigenen Opfers. Durch Kleist erst wird der Ostraum zu einem Mittelpunkt oder im Ostraum eine deutsche seelische Mitte gelebt.

Lessing aber ist ein außerordentliches Beispiel des auf den Geist der freien Tätigkeit gestellten Daseins. Und sein Geist ist dabei wie eine benervte Saite, die doch auf den Dialog der dramatischen Wirklichkeit immer wieder am stärksten anspricht. So steht er in einem geistigen Angelpunkt, und wenn bei ihm das Wort aus der Vernunft zugleich dichtet und richtet, echohaft und echolos sein kann, so hat trotz allem sonstigen der Vergleich zu Nietzsche nicht weit zu gehen.

Das alte Bautzen

Wir sind des Wegs durch einen Wald; man sieht dunkel eine kleine Gruppe, ein rotes Auto ist über die Böschung in den Graben vor den Baumstämmen gestürzt, es scheint nichts Schlimmes geschehen, man schiebt mit wenigen Worten und ohne die Gesichter zu erkennen, den Wagen auf die Straße zurück, und es geht wieder weiter.

Und nun kommt mit nächtlich aufgebauten Lichtern das alte Bautzen, die Hauptstadt der Oberlausitz, mit ihrer älteren Namensform Budissin, in den Blick. Auch in der Nacht gibt das Stadtbild eine gewisse Übersicht, da es in der Schräge aufwärts liegt und so die darin befindlichen Lichtlinien der Straßen sich selber und dazwischen dunkle Baumassen und alte Türme verdeutlichen. Schon diese Schrägung nach aufwärts mit der Reihung der Hausungen gibt etwas Altgotisches. Indem wir sogleich zum Marktplatz hinauffahren, empfinden wir noch mehr den trotz vieler Zwischenfälle der Geschichte altertümlich gebliebenen Charakter der Stadt, die auch das »sächsische Nürnberg« genannt wird. Das Rathaus, das mit einem eckig-gotischen Turm und barocken Helm in der Hauptsache als stattlicher Barockbau am Markte steht und hinter sich noch einen Platz zur alten Dompetrikirche hin hat, zeigt mit dieser, was die Stadt als Geschichtsbild zu zeigen hat.

Das ist noch die Gotik alter Kirchen, wozu die große Ruine eines alten Klosters kommt. Und das ist noch mehr, wie gesagt, die ganze Lage und gotische Befestigung auf dem steilen Felsen des Spreetales. Diese haben wir auf einer späteren Fahrt von Bischofswerda her nochmals stärker erscheinen sehen, wenn sich vor dem auf der hohen Brücke über die Spree Stehenden ihr altertümlich burghaftes Stadtwesen im ganzen auftut. Dazu kommen aber im Inneren nicht wenige Barockhäuser von schöner Art. Am Rathaus fällt dann ein großes Standbild auf, das in Art einer Rolandfigur, aber mit den kräftigen Spielformen der Renaissance, an die schwere Geschichte der Stadt infolge des Schmalkaldischen Krieges erinnert und das beim Volke »Ritter Deutschmann« heißt. Und noch etwas fiel auf, nämlich an einem Zeitungsfenster der Name der hier gedruckten Zeitung, die »Serbske Nowiny« heißt. Es ist also eine wendische Zeitung für den Rest des wendischen Volkstums, der von hier bis in den Spreewald noch anzutreffen ist.

Am schönen Morgen verstärkten sich die Eindrücke, ohne daß wir sie sehr vermehrten. Man hätte dazu nach den Einzelheiten gehen müssen, während uns die geschichtliche Lage im ganzen als Geschichtsbild beschäftigte, das sich auch sehr festsetzt. Wir kamen von Meißen, also von einer Burg an der Elbe, nach Bautzen zu einer Burg an der Spree. Es ist ein alter Kampfpunkt gegen Osten. Wir kommen wieder in die Stadt hinauf zur großen Petrikirche, die eine lange Baugeschichte und die Eigentümlichkeit hat, daß sie mit einer Trennung durch Stäbe zwischen Chor und Hauptraum für beide Konfessionen simultan gebraucht wird. Die katholische Gemeinde war eben am Ostermontag um den Bischof von Meißen versammelt, der in Bautzen seinen Wohnsitz hat. Man sah hier auch die in kräftigen, aber dunklen Farben — im Gegensatz zum Spreewald — gehaltene, mütterlich schlichte Tracht wendischer Frauen.

[Görlitz, das alte Rathaus]

[Görlitz, die Rathaustreppe]

Dann kommt die schöne »Ortenburg«, ein mächtiges gotisches Schloß auf dem Felsenrande der Stadt, mit Zwerchgiebeln und Ausbau im siebzehnten Jahrhundert. Über dem Tore des Schloßturmes ist in ziervoller gotischer Nische von 1486 eine schöne Figur des ungarischen Königs Matthias Corvinus, der einst auch als Herrscher über Bautzen das Schloß hatte bauen lassen. Die Figur am Turme kann an ähnliche Turmfiguren in Prag erinnern. Das Schloß aber weist als ein resthaft prächtiges Denkmal auf eine sehr wechselvolle Geschichte von Herrschern am Ausgang des Mittelalters hin. Die Hussitenkriege, die Verflechtungen mit Böhmen fallen in diesen Ausgang. Auch der Dreißigjährige Krieg brachte ein schweres Schicksal. Und so erscheint Bautzen als das Bild einer aufgebrochenen Geschichte, auch mit der Klosterruine in der Stadt dazu, sowie mit der Rolle, welche es im Kampf um das Bekenntnis in Sachsen behalten hat. Aber schön ist es als kämpferisches Ostmal. Der Ort, wo das Schloß steht, war auch der Ort der frühen deutschen Grenzburg. Hier hat dann Kaiser Heinrich II. in seinem Kampfe mit dem Polen Boleslaw Chrobry verhandeln müssen und Konrad II. dann wieder für die Deutschen die Oberhand gewonnen. Viel Trotz der Geschichte läßt sich hier nachlesen, während mit den Lausitzer Bergen unsere Blicke weiter nach dem Osten hinziehen.

Nach Görlitz

Auf zügiger Straße zwischen großen Ackergebreiten geht es weiter, während rechts das Waldgebirge ziemlich steil aufsteigt. Die wendische Romantik hat darin eine Zeit lang zwei Bergkuppen für sich herausgehoben, den Czorneboh und den Bieleboh, den Gipfel des schwarzen und des weißen Gottes. Man sieht gelegentlich Strohdächer, und auf den Weiden sind schöne junge Pferde. Fröhlich und zerstreut blickt man in das weite Land, bis plötzlich die Aufmerksamkeit wieder auf die deutsche Geschichte gelenkt wird. Diesmal ist es ein Schauplatz des Siebenjährigen Krieges. In einem kleinen Ort geht es an einem kleinen Wirtshaus vorbei, das ein farbiges Bildnis als Wirtshausschild hat und dessen Bezeichnung heißt »Zum alten Fritz«. Der Ort aber heißt Hochkirch, und dazu gehört das Jahr 1758, also Ort und Datum eines schweren Tages in der preußischen Geschichte. Inzwischen ist im Osten ein neuer Blickpunkt mitten in die Ebene getreten, der sanft und dann steil ansteigende Bergkegel der Landeskrone, welcher hier für sich allein in der Landschaft steht, wie der Zeiger einer Sonnenuhr in der liegenden Fläche. Es geht unmittelbar an ihm vorbei; und bis man rückblickend ihn nochmals ganz ins Auge gefaßt hat, ist auch schon eine neue Stadt im Wege. Es ist, weit und auch innerlich räumlich ausladend, Görlitz, die Hauptstadt der preußischen Oberlausitz. Aus den gleichen deutschen Lebensgesetzen wie Kamenz und Bautzen ist auch Görlitz in den ersten Jahrzehnten nach 1200 als Stadt entstanden.

Unser Wagen bleibt auf einem großen Platze; und da wir nicht mehr gewinnen wollen als einen Eindruck im ganzen, gehört eben die reichliche Weite und eine offene Luft über der stattlichen Wirtschaftlichkeit des altgewerblichen Ortes zu diesem Eindruck. Auch was an geschichtlichen Denkmalen ansteht, ist sehr in das Bild der bürgerlichen Gegenwart gerückt, die sich auf dem Hintergrund einer schönen Renaissance von breiten Fronten zeigt, welche durch den Stadtbaumeister Wendel Roßkopf bis nach 1500 zurückgeht. Vom großen Obermarkt senkt sich die Straße zum Untermarkt, der zum Teil mit alten Laubengängen umgeben ist. Und hier ist ein schöner Angelpunkt die Anlage der Freitreppe des Rathauses, das selbst in vornehmer Renaissance dasteht. Und in der Nähe ist die Renaissance des »Biblischen Hauses«, dessen Fassade von Friesen mit reichem Figurenrelief durchzogen ist. In diesem gepflegten Bild alter Bürgerkultur hat noch die Gotik, voran der Peter-und-Paulskirche als eines bedeutenden Baues Ostdeutschlands, ihre festen Akzente. Alte Tortürme behaupten ebenfalls noch die Vergangenheit, und zu diesen gehört vom Ende des Mittelalters die zinnengekrönte, mächtig gerundete Bastei des »Kaisertrutz«, die als ein Stempel von absoluter neuer Form in der Stadt steht.

»Signatura«

Aber da machen wir uns noch ein Erlebnis besonderer Art. Das war ein Besuch an der Neiße, die hier schwärzlich und still mit unruhigem Lichte hinfließt und wo das kleine Haus steht, in welchem Jakob Böhme, der Schuhmacher und Theosoph, in einer kleinen gewölbten Stube zu ebener Erde einmal von 1599 bis 1616 gewohnt hat. Und dann mußte man auch noch sein Grab besuchen, wo auf dem liegenden Steine des 1624 Verstorbenen eine sonderbare Zeichnung von spirituellen und geometrischen Kraftlinien eingegraben ist. Und die Bezeichnung »Signatura« von einem seiner Werke steht auf dem Steine. Ein schönes Licht des Tages spielt, da wir jetzt hier sind, in der österlichen Luft über den alten, hohen Bäumen des Friedhofs.

Hier also, an der Grenze gegen Schlesien, konnte man dem Geiste dieses Jakob Böhme begegnen, dem alles in seiner gedanklichen Weltansicht zu einer körperlich-geschöpflichen und doch, da nun in seiner Zeitwende eine geschichtliche Grundhaltung verloren war, haltlos »aberwirklichen« Theologie zusammenfloß. Wenig später, als sich in der Bibliothek eines Freundes ein alter Band Jakob Böhme fand, wurde gerade diese Erinnerung an Görlitz wieder wach. Wieder war sein Grabstein gegenwärtig, fast wie mit Spiralen von einer Uhrfeder darauf, die ein Herz bedrängen, das schon mittendurch wie vom Kreuze zerteilt ist. Und wieder verband sich damit der Blick in die alte Schusterstube, das Gemach gleichsam und die Zelle für die Frage, ob dem einfachen Geiste die Bewegung zu Gott gegeben sei ohne den Umweg über die göttlichen Umstände in der Geschichte. Und der kleine dunkle und glitzernde Fluß, unter der Ostersonne erweckt, kam wieder zu der Vorstellung hinzu von dem Schuhmacher Böhme, dessen Herz unruhig und dessen Seele durstig war nach den Geheimnissen des Schöpfungsgeistes. Selbstverständlich und doch geisterhaft war die Welt um ihn. Als Knabe habe er beim Viehhüten auf dem Berg Landeskrone den Eingang in eine Schatzkammer gefunden, den er später nicht mehr habe offen finden können. Das habe auf den ihm zugedachten Eingang in die verborgene Schatzkammer der göttlichen und natürlichen Weisheit hingedeutet. Als Lehrling sei er von einem fremden Käufer, als dieser die Werkstatt wieder verlassen hatte, gerufen worden: »Jakob, komm heraus!« Und dann habe dieser ihm gesagt: »Jakob, du bist klein, aber du wirst groß sein!« Und der Fremde habe doch seinen Namen nicht wissen können. Bei solchen Erzählungen hat man das Gefühl einer Luftlosigkeit oder eines Halbtraums. Und ähnlich ist es mit der bekannten Vision, die er im Anblick eines glänzenden zinnenen Gefäßes hatte und die ihn in die Erschütterung seines Wesens und »zu dem innersten Grunde oder Zentro der geheimen Natur« einführte.

Und doch ist bei Böhme eine begehrlich durchsonnte geistige Luft. Es ist wohl die Luft um eine Seele, die es nach dem erkennbaren Naturbereich verlangt und die lebte, als die der Natur zuvorleuchtende mittelalterliche Wesenheit, die auch als ein Atem auf die Natur überfloß, vergangen war, Nun sucht das fanatische Gemüt die Luft oder den Spiegel, in dem es atmet, oder den Laut, in dem es wohnt. »Dann die Signatur stehet in der Essenz, und ist gleich wie eine Laute, die da stille stehet . . . also ist auch die Bezeichnung der Natur in ihrer Gestaltnis ein stumm Wesen, sie ist wie ein zugericht Lauten-Spiel, auf welchem der Willen-Geist schläget, welche Saiten er trifft, die klingen nach ihrer Eigenschaft. Im menschlichen Gemüte lieget die Signatur ganz künstlich zugerichtet, nach dem Wesen aller Wesen, und fehlet dem Menschen nichts mehr als der künstliche Meister, der sein Instrument schlagen kann, das ist der rechte Geist der hohen Macht der Ewigkeit.« Die Seele Böhmes und wie sie in »Hall« und »Quall« ihr Dasein findet, scheint ein anderer Pol zu der universen Weisheit des Leibniz.

Name und Geist eines Menschen macht viel aus für das Erlebnis einer Gegend, und so bleibt uns die Landschaft hier, über welcher der Kegel der Landeskrone aufragt, durchsonnt von einer schwingenden Helligkeit. Auch schien die bestimmte und begrenzte Stärke in den nachgotischen Baubildern der Stadt, so die Reliefe der Bibel, als ein Element, zu dessen steinernen Feldern sich die Zelle des Naturgemüts wohl in die Nachbarschaft fand.

Aber da war noch ein anderes Grab, und ein Erinnerungsblatt davon fand sich zwischen unseren Notizen von Görlitz. Es ist ein Efeublatt, gepflückt von der still eingehegten Trauerstätte der Minna Herzlieb, die Goethe teuer gewesen war und die später als verheiratete Walch mit verdunkeltem Geiste lebte und 1865 starb. Auf einer Tafel auf dem Grabe, auf dem auch ein Baum steht, liest man die Worte:

Göthes Liebe verklärte Dir einst die glückliche Jugend;

Göthes Liebe, sie schmückt Dir das erlösende Grab.

Das Efeublatt, wie aus drei breiten Pfeilspitzen zusammengesetzt, ist jetzt trocken und ist dabei eisenfarbig geworden. Nur die schön verästelten Adern bilden noch eine grüne Zeichnung, in welcher sich Sinn und Leblosigkeit sonderbar verbinden. Durch ein solch kleines Zeichen wird uns oft die Erinnerung wesentlicher als durch ein seelisches Nachspüren.

Einkehr in den Spreewald

Österliches Landschaftsbild

Nun waren wir in Görlitz gewesen« und mehr, als man zuvor gedacht hätte, waren in der vom Tuchmachergewerbe her wohlhabenden alten Stadt auch Sinn und Herz auf ihre Rechnung gekommen. Und jetzt, da es der Nachmittag des Ostermontags ist, sind wir wieder auf der Fahrt. Es wird eine ziemlich lange Straße sein, sie führt nach Norden, und ihre Richtung weicht dabei etwas nach Westen; sie geht ähnlich und nur etwas östlicher als die Spree; sie wird gerade Strecken haben, und das Land daran ist nicht reich besiedelt. Wir werden, da es jetzt in den Nachmittag geht, eine schöne Fahrzeit vor uns haben, und wenn das Land selber vielleicht im einzelnen nicht an Schönheit auffallend ist, so wird doch die gleichmäßig schnelle Bewegung durch eine gleichgeartete Gegend einen bleibenden Eindruck machen.

Um die Niederlausitz

Jedoch da wir aus einem geschichtlich sehr bewegten Lande kommen, wie es Sachsen ist, so sitzt uns die Geschichte noch im Nacken. Wir sind auch schon im weiteren Atem der deutschen Ostgeschichte. Die ersten Jahrzehnte nach 1400 standen im Zeichen slawischer Erhebungen; und während in Tannenberg der Deutsche Orden 1410 in seinem Stamme getroffen wurde, bereiteten sich in Böhmen die Hussitenkriege vor, die auch in diesen Länderwinkel hier ihre blutigen Saaten hereintrugen. Aber aus der früheren sächsischen Zeit, da der Name Sachsen hier noch lange nicht galt, sondern von Meißen her die Zukunft begann, muß auch noch eines mächtigen Mannes gedacht werden. Es ist der Markgraf Wiprecht von Groitzsch, der unter den letzten Saliern die Ostmark und damit die Lausitzen beherrscht hatte. Unter dem Kaiser Lothar aber, als Konrad von Wettin aufstieg, begann auch der Aufstieg eines neuen Herrn der ostelbischen Marken, des Askaniers Albrecht des Bären, der sich von Heinrich von Groitzsch, dem Sohne Wiprechts, die Herrschaft über sein Lehen erkämpfte und der dann der Gründer der Mark Brandenburg wurde.

Immer spielten die Lausitzen, die später ganz bei Kursachsen waren, in den Fragen des östlichen Deutschtums eine wichtige Rolle. An Städten ist die Oberlausitz, die erst später diesen Namen bekam, bedeutender, von der dann ein Teil zusammen mit der Niederlausitz 1815 an Preußen übergeben wurde. Im Mittelalter war unter dem Namen der Lausitz noch die Niederlausitz allein verstanden, nach dem wendischen Stamme der Lusizen. Noch heute sitzt mit einem katholischen Teil in Bautzen und Umgebung und einem protestantischen Teil im Spreewald ein Rest alten Wendentums im Lande. Er zeichnete sich durch Anhänglichkeit an die alte Tracht aus, und man hatte uns aufmerksam gemacht, daß die farbenbunte Tracht im Spreewald heute am Freitag schön zu sehen sein werde.

Aber während der Fahrt scheint nun auf langer, einsamer Straße der Atem der Geschichte weggeblasen. Das Geschichtsgefühl muß sich hier anders verhalten als im Süden, wo uns das Zugehörige sichtbarer kenntlich ist. Hier weht es über weite und ebene Strecken, über die Wipfelsäume der Kiefernwälder, über Weiden und Felder, über Heiden und Seen und über Grenzen, die immerfort mit politischer Kraft und mit ihrer tätigen Reichweite bewahrt bleiben müssen. Man denkt schon hier wie in der Mark, daß eine ruhige Leidenschaft der Politik, während sie das Einzelne entwickelte, immer ihr Auge auf das Ganze gerichtet halten mußte.

Über Kottbus

Die Landschaft ist gleichmäßig, aber sie hat hier im östlichen Spreewaldgebiet doch einen ruhigen, trockenen Wechsel. Ernst lächelnd liegt sie in weiter Ausdehnung unter der Sonne. Dann kommt Waldung, ein See blickt mit dunklem Spiegel und wenig zugänglich heraus. Die Straße ist eine lange und gerade ausgerichtete Zeile mitten durch den Wald, der nicht dicht ist, aber doch die ganze Welt des heiteren Blühens ausschließt; und die Straße ist von einem gleichen Ausschnitt nach oben begleitet, von der gleichen, langen und blauen Zeile des Himmels. Der Wald hat die stetige und kräftige Farbe der Kiefern, aber die Straße ist eigens von kleinen Birken eingesäumt, die wie schlichte Verszeilen durch den noch winterlich schütteren Bestand hinführen. Die Ebene wird wieder offen, die Wälder schwinden ab, der blaue Himmel faßt alles groß zusammen und steigt auch über mancher Hügelkrümme noch höher ins eigene Licht.

In begrünten Feldungen sieht man unvermittelt die Gruppen kleiner Backsteinhäuser. Sie gehören aber nicht zu einer Fabrik, sondern es müssen die Wohnungen sein für Dienstleute eines großen Gutes. Und dann bringt ein Ort die wenigen, aber deutlichen Merkmale eines solchen Besitzers. Der Ort heißt Muskau, und ein Blick zur Seite zeigt uns, daß hier ein großer Park angelegt ist. Hier hätte man nun anhalten müssen; denn dieser Park ist die berühmte Schöpfung eines zu seiner Zeit merkwürdigen und berühmten Mannes, nämlich des Fürsten Hermann Pückler-Muskau, der 1871 gestorben ist. »Fürst Pückler-Bombe« sagt man wohl als Echo auf seinen Namen. Aber nicht deshalb hat man letzthin (Oktober 1935) seinen 150. Geburtstag gefeiert, sondern um das Gedenken an einen romantisch rastlosen Weltwanderer und Schöngeist wieder aufzufrischen, der mit dem Umriß eines früheren Herrenlebens in seiner Zeit stand. Daß von dieser geistigen Unbändigkeit ein geistvoller Park zurückgeblieben ist, das gehört auch zu dem Stempel dieser Gegend. Jedoch wir sind schon vorbei, und als nun Kottbus auftauchte und schnell um uns war, konnte uns auch diese Stadt nicht aufhalten, in der Altes und Neues in der gleichen Frische wie in den märkischen Städten vor dem Kommenden liegt. Wir wollen den Rest des Festtages noch im eigentlichen Spreewald verbringen.

In die Wendei

Wieder waren Seen und Kiefernwälder mit ihrer getragenen Stimmung dagewesen. Nun wurde die Landschaft mit einem Male lieblicher, alles war ganz eben, aber die Äcker waren nicht mehr große Produktionsflächen, sondern jetzt kleine »häusliche« begrünte Erdstücke, die Wiesen ebenfalls leise grün, und wo Baumzeilen waren, da waren auch kleine Straßen, und alles war farbiger geworden. Die Hauptnoten der Farben aber gaben jetzt plötzlich die Trachten an. Man sah nun bei kleinen Gruppen vor Gasthäusern, dann auf dem Heimwege begriffen zu kleinen einzelnen Gehöften, oder auch auf dem Rade dahinfahrend, die starken bunten Trachten der Frauen und der Mädchen. Wie soll man sie schildern, die bunten Röcke, die Brusttücher, die oft scheiben- oder radartigen Hauben auf den Köpfen! Es war Festtag, und da wurden überall die Trachten getragen. Die Mädchen hatten auch oft bloße Köpfe, und merkwürdigerweise wurde dadurch das blumige Aussehen ihrer Gestalten noch verstärkt. Die Frauen hatten oft ganz große Hauben, so daß, von hinten gesehen, der Kopf kaum noch zu erraten war, bis sie sich umdrehten und, während sich die beflügelte Haube wie ein Dach mitdrehte, Kopf und Gesicht erst unterhalb des Aufbaues freundlich zum Vorschein kamen.

Wie waren dann diese Farben: blau und rot, gelb und weiß, und doch nicht laut, obgleich sie auch im Geblümten sehr reinfarbig waren, sondern hell und noch im Einklang mit einem feinen Rot der Äcker oder mit dem zarten Grün der Wiesen oder von der starken und doch auch bleichen Wirkung farbiger Ziersträucher im Frühling. Ja, es waren eigentlich Farben von einer fast künstlichen Schönheit, so als ob sie zwischen Licht und Wasser wären, und so gehören sie zu dieser Gegend, die zwischen Licht und Wasser voller Spiegelungen ist. Dies alles, das an sich schon mit der innerhalb weniger Tage aufgewachten Natur eine schöne und gleichsam wandelnd gewordene Osterstimmung ergab, war aber jetzt noch auf seltsame Weise farbiger, weil nämlich gegen die sinkende Sonne eine blauschiefrige Wand am Himmel herausgezogen war, auf der schon die weißen Wölkchen eines kommenden Regens heraufwallten. Eine solche beginnende Gewitterstimmung macht gerade solche Farben noch spiegelnder und deutlicher, so daß man überall im Mattwerden und Andunkeln des Lichtes die farbigen Blumen der Menschen sah. Dazu ersah man nun auch das Grün der Äckerchen noch schärfer und die noch unbelaubten Bäume, welche schwärzlicher wurden, und die Häuser, welche mit hellerem Fachwerk oder einfach in der dunkelsilbern ergrauten Farbe des bloßen glatten Holzbaues dastanden.

Wir fuhren in diese bunte und still-lebhafte Welt hinein, dem Gewitter entgegen. Burg war der erste Ort der eigentlichen Wendei gewesen, dann war Vetschau gekommen, und in Lübbenau war noch großes Treiben auf Straßen und Kanälen. Denn nun waren überall auch die Kanäle da, auf ihnen die flachen holzfarbigen Kähne, die erhöhten Holzbrücken, die kleinen Zeilen der Häuser, die mit dünnen Holzgelegen wie mit Kämmen übergitterten Firste ihrer Strohdächer, und alles war noch im Gehen und im Fahren auf den Wässern. Ein ungezählter Schwarm von städtischen Menschen, die von Berlin nach hier ausgeflogen waren, befand sich inmitten. Wir aber fuhren zunächst noch weiter zu dem alten größeren Lübben. Mit dem Eindruck der sauberen und echten Spreewaldstadt nahmen wir alsbald den Weg wieder zurück. Nun kam uns aber auf ungezählten Kraftfahrzeugen der ganze Schwarm der Aussiügler entgegen, der zum Ende des Tages und in Flucht vor dem Wetter nach Berlin zurückstrebte. So fanden wir, wieder nach Lübbenau gekommen, den Ort ausgeleert und in der nun stillen Landschaft mitatmend unter dem düster gewordenen Himmel.

Nahe dem Fenster des gemieteten Zimmerchens stand herausreichend im Hofe ein Apfelbaum, der seine weiße Blüte mit den grünen Blättchen eben erlangt und gleich völlig aus diesen warmen Tagen geschöpft hatte. Er stand nun in weißer Kühle wie bereist und unregsam gegen die Wetterwand, die hinter ihm hing und den ganzen Luftraum belastete und deren schwärzlich und weiß überronnener Überhang doch mit unendlich milden Spiegeln von Blau und Violett angelaufen und behaucht war, als ob das Gewitter selbst sich mit kalten und warmen Blütenfarben verzögere und nicht mit seinem drohenderen Atem ausbrechen wolle. Es kam auch nicht zum Ausbruch, sondern setzte einstweilen Häuser und Dinge vor dem Abenddunkel in eine wartende Stimmung. So trieb es uns noch zu den ebenfalls verdüsterten Kanälen unter ihren hohen Bäumen und zu dem Parke, in dem das Schloß der Grafen von Lynar steht, das einen südlichen Eindruck in die Wetterstimmung setzte. Dann saß man in der Gaststube und aß, wie es ortsüblich war, Aal mit Spreewald-Tunke, und draußen stürzte jetzt der Regen.

Mit der wendischen Gondel

Am Morgen hing noch ein wenig Regen in der Luft, aber bis wir in dem Kahne saßen, der uns auf den Wasserstraßen ein Stück Spreewald zeigen sollte, sickerte Sonnenschein durch die hohen Erlen, die überall gleich Waldteilen am Wasser waren. Nun war es Werktag, und die Trachten waren weg, aber wo etwas einen farbigen und blühenden Schein hatte, da begann es nun wieder, an den kleinen Häusern, in den Gärtchen und in der Lichtluft über den spiegelnden Wasserrinnen, zu leuchten. Der Fährmann, ein kleiner, älterer und sehr lebhafter Wende, hatte den Kahn klargemacht. Dazu gehörte das Einsetzen von Querbänken mit Rückenlehnen; über diese wurde eine bequeme Decke geschickt eingezogen, und dann kam noch aus einem Sack eine Schütte weichen trockenen Schilfes in den Kahn für die Füße. Und alsbald war man schon unter den gewaltigen Erlen unterwegs auf dem Wasserspiegel, der wenig tiefer ist als die Uferränder. Wir saßen hintereinander, der Fährmann steht am Ende, und die Bewegung des Kahnes geschieht mittels »Staken«. Dazu dient eine lange, ruderartige Stange mit Eisenspitzen am Ende, welche gegen den Grund des Wasserlaufs gestemmt wird. Es ist also eine ganz schlichte und beschauliche Fortbewegung in den kleinen und großen Wasserläufen, Kanälen oder »Fließen«.

Manchmal kann man sich — und so war es gleich anfangs —, umgeben von Wiesen, aber waldig überschattet von hohen Baumkronen, vorkommen in einem schwebenden Zustand von sonderbarer Gewichtlosigkeit. Der dunkle Wasserspiegel ist so voll von Luftgebilden, daß er sich, während man gegen ihn anfährt, mit dem Kahn zu heben scheint, und so fühlt man sich in einer ungewissen höheren Schicht zwischen Wasser und Luft oder in einem Spiegel selber dahinfahren. Dazu macht ein Vogelgezwitscher den Raum ringsum noch flötend und klingend. Dann wendet man sich aber den Einzeldingen zu. Man kommt gegen die kleinen Häuser des Ortes Lehde, der mit Leipe zu jenen echtesten Wasserorten gehört, die aus einzelnen Hausinseln bestehen. Kleine erhöhte Brücken, sogenannte »Bänke«, mit Auf- und Abstiegen führen von Zeit zu Zeit über die Wasserwege.

Vor uns fährt der Briefträger stakend hin und reicht seine Briefe rechts und links über die Ufer, auf welchen oft umgelegte Kähne und kleine Beete sind, zu einzelnen wartenden Bewohnern hin. Manchmal gehen die Landungsstellen bis zu den Hauseingängen. Holzbeugen und bäuerliche Geräte sind um die schwärzlichen Holzhäuser, deren Strohdächer oft begrünt sind von moosigem Wuchse. Es fällt besonders auf, daß die hölzernen Giebelzieren hier nicht die gekreuzten Pferdeköpfe sind, sondern sie stehen gegen die Baumkronen wie schlangenhaft gekrümmte Enden, und sie haben dabei manchmal noch Krönlein als Zieren. Wir begegnen einem Kahne, der mit Heu so hoch wie ein kleines Haus beladen ist. An einer Stelle sitzt ein Mann im Kahne, der Gemüse wäscht, und auch sonst sieht man, daß mehr ein gärtnerisches als bäuerliches Gewerbe, mit Zwiebeln, Gurken und Meerrettich, hier den Unterhalt des Lebens gibt. Kinder stehen am Wasser, und wir erkennen, daß der größere Bau hier die Schule ist. Auch sonst gibt es noch Backsteinbauten. Aber das Altertümlich-Zeitlose des Holzes gibt den Haupteindruck im Orte mit einem etwas zarten Wuchs der Natur, der auffällt gegenüber den hohen Bäumen, die hier wie außerhalb darüber aufragen. Obstbäume aber können in dieser gesättigten Luft, wo Wuchs und Verfall doch nahe beisammen sind, nicht alt werden.

Es ist still um die bebauten und bewohnten Erdstücke, die kleinen Gehöfte oder »Kaupen«, welche außer ihren erdsilbernen Färbungen wenig Buntes haben, aber oft mit Schützenscheiben auf die besondere Freude der Bewohner hinweisen. Die Spiegelungen von Wasser und Luft und Licht machen alles noch stiller, und wenn ein Gespräch oder ein lauter Spaß vom Kahn zu einem Haus hin verklungen ist, oder wenn die Hunde sich wieder beruhigt haben, welche der Fährmann zu ärgern liebt, indem er mit dem Staken auf die Wasserfläche schlägt, ist alles wieder im Schweigen. Die Hunde aber warten schon grimmig, daß sie geärgert werden, und wenn einem dieser Gefallen nicht getan wird, so schweigt er noch grimmiger. Da und dort werkeln die Leute auf ihren Inseln wie auf kleinen dunklen Landschollen. So fuhren wir durch Orte und auch durch Felder auf den Wasserwegen, von denen oft ganz schmale abzweigen und welche auch zum Teil sonderbare Namen haben. Da ist die Leipesche Grobla, da ist der Kossoa-Kanal, und auf dem breiten Goroschoa-Fließ kommen wir wieder zurück.

Die spiegelnde Stille der Landschaft ist ganz in unser Gefühl eingezogen.