Konrad Weiß: Deutschlands Morgenspiegel (Teil 2.5)
Kapitelinhalt
V: Preußenfahrt
Die Sterne über dir und das Gesetz in dir
Zum Grabe Heinrich von Kleists
Auf langer Straße durch Pommern
Aus der pommerschen Landesgeschichte
Das deutsche Stadtgesicht an der Ostsee
Die Marienburg im deutschen Osten
Das ritterliche Baubild eines Ordensstaates
Stimmung einer Grenzlandfahsrt
Marienwerder — Neudeck — Tannenberg
Zwischen Mittelalter und Gegenwart
Über Marienwerder und Osterode
Bilder von ostpreußischen Straßen
Heldengräber — Neidenburg — Ein russisches Klösterchen
Der Heldenfriedhof von Waplitz
Der Geburtsort des Gregorovius
Zur Hauptstadt der alten Preußen
Dämmerung über dem Heldenfriedhof
Der erkennende Geist und die Geschichte
Frauenburg, die Stadt des Koppernikus
Frauenburg, ein gotisches Baubild
Von einem deutschen Grundgefühl
[Berlin, Denkmal des Großen Kurfürsten von Andreas Schlüter]
[Klosterkirche Lehnin]
Von einer Reise durch Sachsen kann man unmittelbar in eine Reise durch Preußen übergehen. Das will sagen, daß keine auffälligen Grenzen zu überschreiten sind und daß man sich auch in ähnlichen Bedingungen des Werdens der Geschichte und ihrer Bilder weiterbewegt. Aber eben das geschichtliche Gefühl wehrt sich doch gegen den gleichgültigen Übergang. Es will einen Abstand einschalten, ein kräftiges Bewußtsein wecken und sich an eine sichtbare Grenze halten, die auch als Symbol wirkt beim Betreten eines Landes, das nach den späten und verteilten Anfängen seiner Geschichte die entscheidendste Rolle in Deutschlands Weitergang zu spielen berufen war. Man will noch am alten Saume Preußens, näherhin seiner märkischen Geschichte, verweilen. Dieser Saum aber, der wie ein Symbol ist und durch die Mitte Deutschlands zieht, ist die Elbe. Ihr Lauf kennzeichnet ein neueres Deutschland wie der Rhein ein älteres.
So traf es sich richtig, daß unsere frühere Reise, die durch die Lausitz in den Spreewald und also nahe an das Herz der Mark geführt hatte, als eine runde Sachsenfahrt abschloß und uns zurück nach Leipzig brachte? Danach begann die große Preußenreise. Aber an der Elbe griffen beide Fahrten zusammen.
Wir waren also aus den dunklen Spiegelungen des Spreewaldes westlich in offenes weites Land gekommen. Die Straße hatte alsbald einen Wegweiser links auf die kleine Stadt Kalau zu. Das wird natürlich zu einem launigen Knoten für das Gedächtnis; denn man darf wetten, daß jeder fragen wird, ob von diesem Orte wohl das Wort und der Begriff des »Kalauers« herstammt. Man glaubt zu wissen, daß der Kalauer gewöhnlich von dem französischen Wort »calembour« für Witz abgeleitet wird. Man vergewissert sich aber weiter und liest, daß doch allen Ernstes dieses Kalau hier in Betracht kommt. Man habe in Kalau eine besondere Sorte von derben und groben Stiefeln verfertigt, und das habe den Berlinern den Anlaß gegeben, einen derben und schlechten Witz als einen »Kalauer« zu bezeichnen.
Die Straße aber führt in großer Linie südwestlich weiter über Luckau, Herzberg, Torgau und Eilenburg. Nördlicher würde man gleich anfangs an dem flachen Höhenrücken des Flämings entlang kommen, von dem man nun aber abbiegt, um über ein großes Ackerbürgerland mit breitliegenden Ortschaften hinzureisen. Man hat Gespannen auszuweichen, Knechte sitzen auf schweren Gäulen, welche stetig dahinschreiten, überall ist Feldarbeit und beackerte Erde, und die Straße selber trägt die Spuren der Ackerfarbe.
Aber der Gedanke an die Geschichte ruft uns wieder. So wie der Fläming seinen Namen von den flämischen Siedlern hat, die mit anderen Siedlern von Albrecht dem Bären aus dem Westen in die Mark gesetzt wurden, so geben uns Torgau und nachher noch Eilenburg Daten und Gefühle der Geschichte. Zu Eilenburg wurde Albrecht der Bär 1123 von Herzog Lothar von Sachsen, dem späteren Kaiser, mit der Ostmark belehnt. Und später, 1134 zu Halberstadt, folgte durch den gleichen Lothar jene Belehnung Albrechts mit der Nordmark, aus welcher die Mark Brandenburg und das märkische Herrscherhaus der Askanier hervorgingen. In den Anbau des geschichtlichen Gefühles aber kamen wir schon vorher, als wir gegen Torgau her über die Elbe fuhren. In Torgau selber, das am linken Ufer des wichtigen Elbüberganges liegt, saßen gerne die sächsischen Kurfürsten; und am Ende der großen Brücke über den Strom wird der Blick zuerst von ihrer Gründung aufgehalten, von dem mächtigen, mit eindrucksvollen Geschossen und verschiedenen Türmen aufstrebenden Renaissancebau des Schlosses Hartenfels, dessen Kapelle 1544 von Luther geweiht wurde. Die Stadt sodann hat jenes helle und ausgeräumte Gesicht, das wir auch sonst in sächsischen Städten treffen und welches anzeigt, daß der Übergang zur Renaissance hier zugleich einen deutlichen Abschluß gegen das Mittelalter gebracht hat.
Wir werden, wenn wir erst ein Stück durch märkisch-preußisches Land gekommen sind, uns wieder an dieses Stadtgefühl erinnern. Aber mit einem Gegensatz: denn die kleinen Städte weiter im Norden haben viel mehr von der stillen Beschlossenheit ihres mittelalterlichen Ausdrucks behalten. Der ganze Norden, wobei man natürlich von Ausnahmefällen der geschichtlichen Prägung wie Berlin und Potsdam absehen muß, ist viel konservativer geblieben, und es kann etwas Rührendes haben, wie man in der zur Schlichtheit bestimmten Raum- und Bausinnigkeit seiner Orte doch die Gehobenheit der gotischen Züge sorgfältig erhalten sieht. Von da aus läßt sich auch schon, wenn dieser Sprung zum dichterischen Wesen vom geschichtlichen her verstattet ist, etwas vom Sinne Heinrich von Kleists bedenken: nämlich die erstaunliche Tatsache, daß der Preuße die gotische Innigkeit des Käthchens von Heilbronn gedichtet hat, wozu ihm, wenn er auch den Schauplatz nach dem deutschen Süden verlegte, doch die Anlage von Blut und Land her gegeben sein mußte.
Erinnerung und Anhauch des Gefühls aber bringen uns wieder zur Elbe. Als wir auf der großen Torgauer Brücke standen, als der Fluß nach starkem Regen breit und etwas lehmig, leise wühlend und gegen die grüne flache Uferbiegung drückend, groß und doch mit seinem Abschnitt im Ungewissen kommend und gehend unter uns hinzog, während sich ein Frachtschiff dagegen aufwärts schaffte, da empfanden wir wieder die besondere Sprache der Elbe. Ähnlich hatten wir sie in Magdeburg empfunden, trotz der lebhaften großen Stadt, und ähnlicher noch bei der langen Brücke über die schweigenden Triften vor Tangermünde. Das ist das Schweigsame der Elbe, das wir lieben lernen: der Fluß, welcher dem arbeitsamen Leben dient wie der Rhein, der dabei aber nicht durch den Wechsel der Landschaft in eine heitere Gelöstheit hinüberschwingt, sondern immer In gleicher Stummheit fortzieht. Stetigkeit der Bewegung und Gleichmut der Pflicht, so zieht, indes der Rhein immer noch das uneinholbare Echo einer älteren Welt mit sich trägt, die Elbe wie ein Symbol, eine Grenze und Mitte zwischen älterem und jüngerem Deutschland.
Aus den Landen um den Harz brachen die Kräfte auf, welche das Ostelbische Ufer überschritten und hier ein neues Deutschland anlegten. Die Sorbische Mark Karls des Großen, die längs der Saale bis zur Mündung der Havel in die Elbe sich erstreckt hatte, war zerfallen. Da begann unter den sächsischen Kaisern vom Harz her die neue Eindeutschung. In dem Landstrich, wo einst die germanischen Semnonen gesessen waren und nun die wendischen Liutizen und Heveller saßen, gelang es Heinrich I., Fuß zu fassen und die Feste Brennabor zu erobern. Der große Kaiser Otto, sein Sohn, setzte mit seinem Markgrafen Gero die Erschließung Ostelbiens tatkräftig fort, und Brandenburg-Brennabor war 948 zum Zeichen der Einverleibung ein Bischofsitz geworden. Aber schon bevor man das Jahr tausend schrieb, war alles wieder ins Gleiten gekommen, und trotz stetiger Kämpfe weiterhin auch unter den salischen Kaisern bestand doch, was Otto geschaffen hatte, meist nur noch dem Namen nach.
Nun war man schon im zwölften Jahrhundert, als die Hohenstaufenzeit begann, als Heinrich der Löwe von Braunschweig aus zur Ostsee vordrang und als der kleine Rest, der noch östlich der Elbe im Anschluß an die linkselbische Altmark deutsch geblieben war, zu einem neuen deutschen Lande zu wachsen anfing. Wir blicken wieder nach dem Harz und nach dem Landraum zwischen ihm und der Elbe. Hier liegen die kleinen anhaltischen Lande, und von hier erwuchs aus dem Hause der Grafen von Ballenstedt, die noch mit dem Recken Gero verwandt waren, das Haus der Askanier. Von dem Grafen Otto stammte Albrecht der Bär, dessen tapfere Mutter Eilecke die Tochter des letzten Billungers, des Herzogs Magnus von Sachsen, gewesen war, weswegen es später auch Kämpfe zwischen dem Bären und dem nunmehrigen Sachsenherzog Heinrich dem Löwen gab. Diese Jahrzehnte waren ja reich genug an Kämpfen der Deutschen untereinander, als neben dem Kaisergedanken einzelne Fürsten neue deutsche Aufgaben ersahen. So schälten sich auch die neuen Gebilde im Osten immer deutlicher heraus, und das deutlichste war wohl schon 1170, als Albrecht starb, die Mark Brandenburg geworden. Die brandenburgische Linie der Askanier — der Name kommt von dem Stammschloß bei Aschersleben — erlosch aber schon 1320. Und die nächsten brandenburgischen Herrscherhäuser kamen dann aus Süddeutschland. Es waren auf kurze Zeit durch die Macht Kaiser Ludwigs des Bayern die Wittelsbacher, und dann durch das Dazwischenspiel des Luxemburgers Kaiser Karls IV. die Hohenzollern mit dem Burggrafen Friedrich von Nürnberg. Im Sommer 1412 traf Friedrich zunächst als Statthalter mit seinen fränkischen Rittern in der Mark ein; 1417 wurde der neue Markgraf feierlich belehnt.
Nun versetzen wir uns in eine Deutschlandreise mit dem Kraftwagen, die schräg durch das ganze Reich, etwa vom Bodensee bis nach Königsberg mit einer leichten Ausbiegung über Westfalen gemacht wurde. In Magdeburg sind wir noch kaum halbwegs. Aber wir haben, wenn wir allein etwa an Hildesheim denken, reich und dicht mit Kunstwerken besetzte Orte hinter uns, die nun spärlich werden, wenn das Land der späteren Geschichte uns aufnimmt. Dafür kommen wir allerdings wieder in den Bereich der norddeutschen Backsteingotik und ihrer sparsamen und doch auch sonderbar gereiften Schönheit. Aber weiter: wie ist das kurze Stück Weges, das uns, wenn wir von Magdeburg gekommen sind, vollends von Brandenburg nach Berlin bringt, klein im Vergleich zu dieser längsten Schräglinie eines Reiseweges durch Deutschland! Wie unscheinbar ist zunächst wenigstens auch das Havelland! Aber wie ansehnlich und denkwürdig erscheint diese Strecke — und gleichsam als ein geschichtliches Metermaß —, die von dem früheren Brandenburg zu dem späteren, um 1230 als Doppelstadt gegründeten Berlin im Lande liegt und die auch eine Entfernung vom Mittelalter zur Neuzeit bedeuten kann. Die neue Zeit des staatlichen Aufstiegs aber begann für Berlin nach dem Dreißigjährigen Krieg und mit dem Großen Kurfürsten.
Berlin ist ja nun kein Ort, den man wie einen anderen in Deutschland in eine Reise »einbeziehen« kann. Um so mehr aber wird man eine leise Neigung haben, einmal durch Brandenburg zu kommen, und man wird, wenn man Deutschland sehen will, den altertümlich still gebliebenen Ort nicht missen mögen. Still ist die ganze Gegend von der Elbe zur Havel, und still ist auch die Stadt, woran der Anblick der Kasernen und des Militärs, gleichsam eines alten und solid erneuerten Inventars, wenig ändert. Wir haben von Magdeburg her Genthin erreicht. Nordwärts kennen wir schon die Fahrt zu dem herrlichen Ziegelbau von Jerichow, nach Tangermünde, wo die Markgrafen eine Burg hatten, nach Havelberg, wo das hohe Wahrzeichen des Domes steht, und in die Mark Prignitz. Jetzt also geht es genau ostwärts in die Mittelmark. Bei Plaue kommt man an die Havel, und bald fährt man durch das alte Brandenburg, das auch aus zwei Städten entstanden ist und mit Kirchen und zwei Rathäusern und einer Dominsel einen Bezirk ausmacht, dessen Gegenwart noch in seinen alten Bildern ausruht und der überall am Flusse ländliche Durchblicke hat.
»Dies Brandenburg ist schöner, als ich es mir vorgestellt habe«, sagt unser Freund später, und er spricht damit aus, warum es so im Gedächtnis bleibt. Da ist vor allem die schöne Gotik der Katharinenkirche mit einem filigranhaft reichen Maßwerk märkischer Ziegelbaukunst. Da sind alte Befestigungstürme, so sparsame als kräftige Stadtzeichen. Aber der Dom mit dem Burghof fesselt doch am meisten ohne viele Merkmale. Er hat Größe, die nicht rauh ist, weil der Ziegelbau immer maßvoll bleibt, und wobei doch das Gefühl diefes ältesten Grundstockes von Brandenburg erweckt wird. Rosetten und andere Spielformen, darunter ein Fries mit Reliefen aus der Tiersage sind ziervoll mit erzählerischen Beigaben. All dies wirkt um so stärker, je steiler, strenger und sparsamer das Stilwesen im ganzen ist.
Und alsbald glaubt man eine wesentlich märkische Eigenschaft zu empfinden. Es ist diese bis zur Zierlichkeit verfolgte, sachliche Vernünftigkeit des Daseinsgefühls. Es ist eine technische, schnell mitteilbare Zierlichkeit, nicht so sehr jenes pflanzlich gotische Wesen, das anderwärts imstande ist, das Geschichtliche sinniger zu fühlen, aber auch wieder zu verlieren. Diese technische, »geräthafte« Sinnigkeit der Formen hier beschränkt sich dagegen mehr auf ihren Platz, indem sie aber einer offenen Größe des Ganzen nicht hinderlich ist. Man steht nicht in der gotischen Fülle, aber man findet den genauen Willen zum eigenen Zeichen und Gesetz. Sachlichkeit und Erzählung, diese Eigenschaften scheinen einen Widerspruch in sich zu bergen; aber man stellt sie vielleicht nun öfter vor den großen und kleinen Dingen der märkischen Gotik fest. Man beobachtet, wie die Menschen hier sich etwas mitteilen oder erzählen. Das geschieht, etwa auch bei Späßen, nicht als eine kurze, aber umgreifende Bemerkung, sondern wird gerne und mit Geschick eine kleine anschauliche Redeform. So werden auch die Formen dieser Gotik, die Maßwerkfelder, zu einer anschaulichen »technischen« Erzählung für das Gesicht. Die Dominsel hat noch einen romanischen Grundstock. In der Stadt sieht man alte schöne Häuser, auch in den geordneten Reihen, die zum Kennzeichen des örtlichen und menschlichen Zusammenhangs werden. Und wenn man noch von der Havelbrücke die Kähne und die Netze dazu sieht, hat man, wenigstens flüchtig, eine eigene Art erkannt, die dauerhaft blieb und die einst den Ansatz zur Größe gab. Die Figur des gotischen Rolands, naiv und hoch, reckt darüber das Schwert.
Nahe Brandenburg liegt in der Landschaft, welche die Zauche heißt, das altberühmte Kloster Lehnin. Man kennt es vor allem durch die sogenannte Lehninsche Weissagung. Es geht dahin durch die karge Landschaft, die man nicht so leicht in Worte faßt wie eine reiche; und das ist wie bei den sparsamen gotischen Bauten. Aber man hat eine Neigung für ihren zugleich weiten und gedämpften Ausdruck. Baumgruppen stehen in den Ufertriften, Windmühlen drehen sich in der Ferne, Schilf steht im mageren Lande, Kiefern besetzen den Sand, in den Ortschaften sieht man Strohdächer. Da taucht zwischen Bäumen mit einem spitzen Dachreiter das gekreuzte Ziegellanghaus des Klosters Lehnin auf. Man geht in der friedlichen Hofanlage auf die Apsis mit ihren zweigeschossigen romanischen Formen zu, die auf das Alter der Anlage mit den askanischen Anfängen weist. Albrechts des Bären Sohn Otto I. ist der Gründer von Lehnin, wo nun auch die Markgrafen teilweise ihre letzte Ruhestätte fanden. Im Innern der Kirche, wo die älteren romanischen Formen wie ein hohes, planvoll gezeichnetes Baugefäß den Raum in sich halten, sieht man tief in den Stufen zum Chor einen versteinerten Baumstrunk stecken. Er gehört zu der Sage, wonach der Markgraf unter dem Baume schlafend von der Jagd auf die Hirschkuh träumte, deren wendischer Name Lanye den Namen Lehnin ergab. Dann steht man noch im gotischen Hauptschiff und vor der hohen Westseite mit den schmalen, rhythmisch wechselnden Blenden und Öffnungen; auch die Erneuerung kann hier mit ihrer neugotischen Sparsamkeit den früheren Begriff der Form leicht fortsetzen. Heute ist in Hof und Kreuzgang des Klosters das friedliche Dasein von grauhaarigen Stiftsdamen.
Was die Lehninsche Weissagung angeht, so erzählt Fontane in seinen »Wanderungen« von dem Mönche Hermann von Lehnin, der um das Jahr 1300 gelebt haben und von dem die Weissagung herstammen soll. Die Frage nach dem Alter und der Absicht dieser Weissagung ist indes nicht entschieden worden. Wir nehmen aber einen solchen Zug der dichtenden Geschichte um so lieber mit, als uns die Landschaft hier karg und über den Fleiß der Bebauer hinaus nicht lebendig zu sein scheint. Und sonach mag das Dasein hungrig werden nach geschichtlichen Gesichten. Hier mußte sich die Geschichte zu einer neuen Zeit erwecken, und doch wird dieses Land immer nur wenige Spuren davon aufnehmen. Und also haben wir den Eindruck von Lehnin. Wie schlicht reimt sich hier in der Mark alles zusammen gegenüber der Schwere solcher alten Orte am Harz! Aber wie echt ist diese Idylle auch noch, die schon so nahe ist bei Berlin, der Weltstadt!
Am Abend des langen und reichen Tages, der uns von Hildesheim über Braunschweig, Magdeburg und Brandenburg gebracht hatte, sind wir in der Anfahrt auf Berlin.
Wird wohl — denkt man, indem man sich auf Reisen durch die deutschen Landschaften befindet, um mit ihrer wechselnden Geschichte ihre alten Denkmale, ihren Geschichtssinn und ihre Kunstsinne zu erleben und so ihr Bild im deutschen Gesamtgeiste zu sehen und zu befragen — wird Berlin ein Mittelpunkt sein, in welchem unser fragender Sinn gesättigt und vielleicht im tiefsten erfaßt wird? Und welcher Art kann dieser Mittelpunkt sein?
Denn natürlich stehen wir mit einer anderen Stimmung zu dieser Frage als sonst Reisende, die in die Reichshauptstadt kommen, um ihre gegebenen Zwecke zu erledigen. Wir kommen ohne Zweck und ohne eine Absicht, wenn nicht mit dieser, uns mit einem innersten deutschen Wesen zu berühren. Und Berlin ist uns in diesem Falle nicht die allvermögende Stadt, welche Lebenskräfte im großen umsetzt und welche Kunstdinge aus aller Welt in sich gezogen hat. Wir suchen nicht das Schaltbrett der Gehirne und nicht das unerschöpfliche Museumswerk alter und neuer Zeiten, was beides den ungeheuren Lebensraum der Gegenwart ausmacht, aber nicht im Bereiche einer Reise liegt. Wir suchen nicht einmal die spärlichen Bilder des altgeschichtlichen Daseins der Weltstadt. Denn obzwar diese Absicht reizen kann, um zu sehen, welche gotischen Züge die spätere, um 1230 entstandene Doppelstadt Berlin-Kölln im Verhältnis zu Brandenburg noch zeigt, so stehen doch die ziegelsteinernen Formzeugnisse dieser kolonialen Gotik in keinem Verhältnis zu jenem eigenen Wuchse und jenem Wesen von europäischen Maßen, das sich hier selber aufpflanzen mußte und das Wurzeln trieb, die tiefer reichten als die Weite des brandenburgischen Sandes.
Berlin setzt langsam erst ein, als das alte deutsche Wesen sich im eigenen Bilde gleichsam verloren hatte. Neue Kräfte und neue Pflichten, die in ihrer schärferen Begrenzung zu neuen Wesenheiten werden, setzen sich in die Rechte des älteren geistigen Bildes. Man könnte sich auf Treitschke berufen, um diesen Gegensatz von alter und neuer deutscher Zeit aufs stärkste zu betonen. Dieser Gegensatz muß auch sicher zum Ansatz werden, womit wir in der Erkenntnis der deutschen Form- und Geistesgeschichte hier aus dieser neueren Mitte heraus, und da wir im Begriffe sind, weiter nach dem deutschen und preußischen Osten zu reisen, Halt und Fortschritt finden.
[Berlin, das Zeughaus]
[Berlin, die Wache]
Und trotzdem, da wir an diesem Vormittag noch in der alten deutschen Zeit von Hildesheim waren, kann uns dieser Gegensatz nicht so unüberbrückbar erscheinen. Jene Bronzeflügel der Bernwardstüre in Hildesheim, die um das Jahr tausend gleichsam den Blick in die unbekannte deutsche Zukunft öffnen, haben in den Reliefen ihrer Lebensbilder eine solche fast blinde Kraft und Gewißheit der Selbstdarstellung, daß hier die Zeit um ihre Rolle kommt. Sie kann nur darüber hinglänzen wie die Sonne über ein täglich erwachendes Morgenfeld. Solch ein Morgenfeld mit den ehernen Geistern eines zeitlosen, das soll heißen, in der Zeit immer möglichen Beginnens ist ja die deutsche Geschichte immer wieder gewesen. Und immer haben sich auch die reicheren Bilder ihrer Zeiten wieder entzündet. Wichtig aber ist, ob das reichere Bild und die tiefere Kraft zugleich ganz in der Gegenwart und ganz in der menschlichen Tiefe gründen und Wirkung haben kann. Denn daran erkennt man gegenüber einem kosmopolitischen Standpunkt das Zeichen der deutschen künstlerischen Natur. Kein Künstlergeist aber ist deutscher als der Heinrich von Kleists
Immerhin wissen wir erst ungenau, was wir in Berlin suchen: ein Gesamtbild oder einen einmaligen Eindruck, ein Gedenkwerk, einen Gedanken oder das Grab eines Genius? Langsam und stetig fängt aber ein Gedanke an, sich mit einem Grabe zu verbinden. Und wo hier am Wannsee einst der elende Tod eines großen Herzens war, da werden die ganzen Schauer der Geschichte und eines Daseinsgefühls, das in diesem Herzen unbegreiflich verlassen enden mußte, über uns herkommen.
Der Weg von Brandenburg nach Berlin ist nur kurz, aber er ist so groß wie die ganze Spanne, die zwischen der alten Gotikstadt und dem Symbol Potsdam, dem Symbol des in der zähen Rokokogröße und der klassisch-romantischen Begeisterung heraufgestiegenen Preußengeistes, zeitlich und ausdrücklich vorhanden ist. Wohl denkt man vor der Gotik im alten Brandenburg schon an den späteren preußischen Stil, indem man erkennt, wie die Schnellkraft zur Höhe hier nicht aus Überschwang kommt, sondern aus einer Art Sparsamkeit, richtiger aus einer Beschränkung gefunden wird, die man mit kristallischen Bildungen vergleichen kann. Wie die Kristalle in sich verdichtet zu Gesetzen und Spiegeln ihrer Materie werden, so sind die brandenburgischen Stadttürme; sie sind nicht so sehr Trutzbilder, sondern klar und schön gesetzte Wehrbilder. Und so weist hier in den Marken schon die Gotik auf die spätere politisch-preußische Stilform. Aber die Spanne erscheint doch groß zwischen den beiden Zeiten. Sie kann wie eine Kluft erscheinen. Oder ist in der preußischen Geschichte zugleich das tapfere Herz, dessen Vorbild und Sinnbild jener edle römische Jüngling Marcus Curtius ist, der geharnischt zum Opfertod in die Kluft sprang, die sich auf dem Forum nicht mehr schließen wollte? Dieses Herz ist da, wie es in solcher politischen und geschichtlichen Sinnkraft in keinem anderen deutschen Stamme da ist. Und wieder kommen wir auf den Namen Heinrich von Kleists.
Wir haben die Frage vorangestellt nach der Größe eines geschichtlichen Gefühls, das wir von Berlin erwarten. Wir hätten umgekehrt erzählen können, wie wir mit Wald und Havelbuchten und Seen nach Berlin kamen, wie viel und wie wenig ein Tag dort bringen kann, was die Gespräche einer Abendgesellschaft fließend macht und geschichtlich bestimmt, und wie zuletzt ein fast stummer Morgengang zum Grabe Kleists das Herz bewegen mußte, daß es den Unglücklichen nicht nur betrauert, sondern diesem großen preußischen Herzen ganz nachfühlt. Dies letzte also wird das Erlebnis sein, das Berlin dem Reisenden durch die deutschen Landschaften als tiefstes unverlierbar mitgibt. Wenn wir aber statt dieser Reihenfolge die Frage vorangestellt haben und das Erlebnis als Antwort dazu geben, so deshalb, weil wir unlängst in einem Lande waren, das viel auffälliger in Begriffen und Formen am deutschen Sinne gewirkt hat, nämlich Sachsen mit Namen wie Leibniz, Lessing, Fichte, außer den Meistern der Musik, und weil wir jetzt in ein Land reisen, das ähnlich geistig von großem deutschem Stile ist, nämlich Ostpreußen mit Kant, Hamann und Herder. Man fragt: womit werden die Marken, die dazwischen liegen, gegen diese Aufgebote bestehen? Wird ihre besondere Fähigkeit zum politischen Einsatz allein gelten müssen innerhalb der umständlicheren Ausgestaltung der deutschen Geisteswohnung? Und da ist nun der dichterische Geist, der in keiner Umständlichkeit der Begriffe, sondern bereit und schnell wie ein Kämpfer und ein Politiker unmittelbar aus dem Triebe seines Herzens sein Schicksal erlebte, Heinrich von Kleist.
Der Weg von Brandenburg nach Berlin ist kurz; aber man kann ihn mit Gedanken erfüllen, die jedem Deutschen die wichtigsten sein müssen. Übrigens wird diese märkische Landschaft, durch die wir von Lehnin weg kommen, auffallend schön. Auf große Ackerbreiten kommen große Baumfelder, dünenartige Höhen heben sich an, und man blickt auf das hoch in Bäumen eingebettete Werder hin. Der Schielowsee tut sich auf, und an Wasserblicken ist kein Mangel mehr. Seen und hohe Waldsäume geben eigentümlich weite und doch wieder flachgedrängte Perspektiven, die man auch in Leistikows Bildern auffallend findet. Die Sonne taucht gelbrot hinter leichtem, rauchigem Gewölke in die dichtraumige Landschaft, und wir finden einen schönen Abend bei einem Freunde, der in Wannsee seine Behausung hatte.
Was soll man erzählen oder aus den Eindrücken wählen, damit es die Richtung unseres Sinnes unterstütze? Am Vormittag nach der Fahrt in die Stadt und, nachdem man den Rammarbeiten an der Museumsinsel zugesehen hatte, fand man sich im Kaiser Friedrich-Museum. Die deutschen Ausgrabungen altchristlicher und byzantinischer Kunstdenkmäler geben dem Sinn jene spiegelnde Weite, welche gerade nur Museen in dieser zeitvergessenen Ruhe geben können. Aber dann erwacht wieder der Sinn nach der Stadt, nach jener Stadt, die mit dem Brandenburger Tor von Karl Gotthard Langhans kurz vor 1800 die Einleitung zu einem neuen Zeitgefühl erhält. Was sind es für sinnbildliche Unterschiede, die Türme im beginnenden Mittelalter, welche bildhafte und vorbildliche Ziele sind, und der offene Torbau einer Gegenwart, für welche er wie eine These der Säulen und wie ein monologischer Durchgang zu einem noch unbekannten Drama wirkt? Vorher war man bei Schinkels Neuer Wache als der heutigen Gedächtnisstätte des Weltkrieges gewesen. Man sinnt über die dorische Schärfe und wie sie in der Romantik sich mit dem gotischen Begriffe fast ohne Gegensatz begegnet. Es ist wieder diese Spanne, die in dem Dichter Kleist sich vollendete. Dann nimmt man aber als eigentlichste Berliner Note das Schlütersche Denkmal des Großen Kurfürsten und seine Masken der sterbenden Krieger am Zeughaus in den Sinn auf. Trotz eines »Restes« von barockem Zuviel in ihrer Prägung sehen wir sie mit Augen vom Schicksale Kleists. Aus Blut in Geist und Tod entflammt und im Sterben ein reiner Tribut der Naturgewalt des Schmerzes, dessen letzte und schwerste Zuckung erbittert ist gegen den Geist, so ringen sich diese Antlitze in ihren Ausdruck hinein. So rang sich und bettete sich Kleists Haupt, edler noch, in den Sinn des Todes wie in einen mitfühlenden Schild.
Was will uns Berlin außer seiner Unerschöpflichkeit noch sagen? Daß der Kampf um das Dasein nicht im Geiste allein ausgetragen werden kann. Mit Kleist starb nicht nur ein persönliches, sondern auch ein politisches Leben. Es liegt an den Soldaten und an den Dichtern, wenn die Welt nicht in einem dumpfen Ringen niedrig umkommen soll; aber das Letzte allen Daseins wird doch tragisch unverständlich bleiben. Als sich am Abend bei C. S. eine kleine Gesellschaft versammelt hatte, fiel ein eigentümliches Wort. Einer der Herren sagte, zwei Dinge müsse man von seinem eigenen Leben wissen: seine Geburt und sein Grab. Das Wort scheint eine unmittelbar klare Kraft des persönlichen und des geschichtlichen Lebenszustandes vorauszusetzen. Aber was ist es dann mit diesem Kleist, der, aus pommerisch-preußischem Edelgeschlecht zu Frankfurt an der Oder (1777) geboren, am Ufer des Wannsees (1811) von eigener Hand starb und sein Grab fand? Es war in der Zeit, als Preußens Freiheit hoffnungslos darnieder zu liegen schien. Kann zu einem großen Leben ein solches Ende und Grab gehören? Und wenn nicht, was treibt uns dann, es nun gerade zu besuchen, als ob es unsre Pflicht sei, diesem Grabe eine Genugtuung zu leisten, als ob eine ewige Schuld immer wieder die Anwesenheit geringer Menschen am Grabe eines solchen Geistes verlange?
Heute ist die Gegend am Wannsee, wo Kleist ruht, eine Gegend von schönen Waldanlagen und Landhäusern. Wo Kleist die Gefährtin, Frau Vogel, die gleich ihm den Tod suchte, und sich selbst erschoß, die »Stelle, wo der Mord und Selbstmord geschah«, liegt in halber Höhe, wo man zwischen Gärten auf gekrümmtem Wege zum Seeufer hinabgeht. Da liegt vom Wege ab ein kleiner, ebener Raum, und dieser Raum hat nicht viel mehr Ausmaß, als daß eben das vom eisernen Staket eingezäunte Grab unter hohen Bäumen seinen Platz hat. Ein Bänkchen ist noch da, und in die Baumschatten irren die Sonnenlichter von oben herein. Weiter unten würde man an die glänzende Spiegelfläche des Sees kommen. Auf dem Steinwürfel des Grabes liest man nur die Geburts- und Todesdaten unter dem Dichternamen »Heinrich von Kleist«. Und dann liest man noch eine Inschrift: »Er lebte, sang und litt in trüber, schwerer Zeit; er suchte hier den Tod und fand Unsterblichkeit.« Farne wachsen auf dem Grabe, und ihr Wuchs kann die Betrachtung sonderbar anregen. Wie der Farn sich aufrollt und auszweigt, wie er die feuchte Erde kühlt und leert, die um ihn ist, wie sein Wuchs leicht und ganz in Freiheit mündet, so muß uns die Luft über diesem Grabe werden, je mehr wir in das Wesen dieses Dichters dringen. Jedoch der Anblick dieses Grabes kann auch eine schwere Einsamkeit alles tiefsten Menschlichen nicht verleugnen.
[Berlin, Denkmal des Großen Kurfürsten]
[Berlin, Maske eines sterbenden Kriegers von Andreas Schlüter am Zeughaus]
Der junge Heinrich von Treitschke hat dem Dichter Kleist eine längere Darstellung gewidmet, die stark getragen ist von der Verehrung des Preußisch und deutsch Gesinnten für den ähnlich gerichteten Geist. Und doch kann sie einer wirklichen Verehrung dieses Genius keineswegs Genüge tun. Die Liebe zu der wahren und furchtbaren dichterischen Größe kann nicht richtig Anteil werden, wenn die Voraussetzungen der Erkenntnis falsch sind. Wenn Treitschke von Kleist sagt: »Er haßt nicht bloß die Phrasen, er flieht die Ideen«, und wenn er ihn gegen einen Klassiker zurücksetzt, weil jener Klassiker mit seinem Geiste in Ideen lebe und Probleme suche, »die für alle Zeiten wahr sind«, so fehlt hier ganz die Erkenntnis, daß ein Dichter um so weniger Ideen braucht, als er selber Idee ist. So wie die geschichtliche Kraft gegenüber humanitären Allgemeinheiten selbst ihre Idee und ihre Gerechtigkeit trägt, so ist das Wesen des Dichtergeistes Kleist. Dieser Dichter sendet nicht Ideen an die Gottheit, sondern nur einen einzigen Boten, nämlich sich selber. Sein Tun wird ihm, wie es im Kerne auch das Wesen der Geschichte ist, ein Ordal.
Kleist ist viel mehr als eine Idee, die sich überall vertreten läßt, weil er gleichsam weniger oder weil er bestimmter ist. Er ist der große Dichtergeist im Mittelsinn des deutschen Wesens. Er, der Dichter der »Penthesilea«, des »Käthchens von Heilbronn« und des »Prinzen von Homburg«, hat auf preußischem Boden das ältere und das neuere deutsche Wesen, den mittelalterlichen Bildsinn im Weibe (das heißt, der auf die Geschichte blind vertraut) und die neue Wortkraft im Manne, das gotische und das dorische Wesen vereinigt und in innigster Weise wahr gemacht (wenn auch das dorische überwiegt). Seine Ideen, seine innersten Gefühle sind in gewissem Maße seine Frauengestalten. So wie diese vertrauen, wie sie Glanz geben und empfangen, wie sie ohnmächtig und doch als innerste Mächte in Gleichnis und Geschichte stehen, ja wie sie mit Penthesilea zwischen Natur und Geschichte das innerste Band der Liebe nur im Kampfe oder auch wie in einer Erblindung erkennen, so ist alles bei Kleist Weltanschauung, aber nicht Weltanschauung als Idee, sondern als Geschichte und Wirklichkeit, oder als die reinste Vertrauensfrage zum Dasein. Liebe vor allem ist in diesem Daseinsgefühl bei Kleist kein Gretchen-Schicksal um die persönliche Beglückung, sondern zutiefst noch der Kampf um eine reine Selbstaufgabe, um ein untrügliches Vertrauen im Ursprung, dazu ein ungeheurer Ausgleich zwischen Gott und Welt, ein Sinn des deutschen Geschlechterkampfes und das traumhafte Innenwesen der Geschichte. So steht der Preuße Kleist in der Mitte des stärksten deutschen Sinnwillens.
Man übersieht wohl leicht, daß nur die Geschichte die Macht hat, das, was man Leben nennt, zu vertiefen. Und wenn die Geschichte die zu ihr gehörigen Menschen wählt gleich Sinnbildern, welche ihr das innerste Wesen geben und sich dabei verzehren, und wenn es dafür kaum ein Beispiel von ausnahmlicherer Deutlichkeit gibt als eben Kleist, so kann in diesem Zusammenhang aber auch die von ihm verehrte Königin Luise von Preußen nicht vergessen werden. Gleich dem Dichter hat auch sie die Tage der Erhebung nicht erleben dürfen. Und auch sie ist nicht nur ein politisches Bild ihrer Zeit, wie umgekehrt der Dichter nicht nur ein privates, sondern mit ihrer geschichtlichen Erscheinung verbindet sich etwas Sinnbildhaftes. Aus ihren Tagen geht ein Anhauch jenes Sinnes um sie, in welchem Kleist Geschichte empfunden und in welchem er in seinen Dramen die Frauen als Bilder von Macht und Ohnmacht geschaffen hat. Es ist mitten in der Zeit Napoleons; und es ist jene Romantik, die sich speist vom Blute der Wirklichkeit. In der Gestalt dieser Königin Luise hat sich etwas nachgeholt, was in dem zum achtzehnten Jahrhundert gehörigen Geschichtsgeiste Friedrichs des Großen noch nicht war und was gleich einem dichterischen Wesen in der Geschichte ist. Zu dem weiblichen Gefühl in der romantischen Dichtung kommt hier ein zeithafter Kern.
Wenn Josef Nadler das »Stammhafte Gefüge des deutschen Volkes« darstellt, so gibt er dem Namen Kleist einige Zeilen, wie sie auch andere, kleinere Namen erhalten. Auf diese Weise hat er die alten und neuen Gegenden und Stämme Deutschlands auf bestimmte eigenschaftliche Summen in einer gestrafften Darstellung gebracht. Dieses Verfahren muß aber bei einem Genius wie Kleist doch ganz versagen, dessen Wesen es geworden ist, in dem Lebenspunkt des Volkes wie im eigenen zu stehen. Hier mißt sich das Deutschtum nicht nach der Ausdehnung, sondern nach der Tiefe.
Dieser Kleist, wie starb er, der so sehr im geschichtlichen Sinne lebte, eines solch elenden privaten Todes! So wird an ihm unser Sinn ein einsamster gerade in dieser bevölkertsten deutschen Stadt. Was gibt dem Menschen seine Lebensform? Wie gründet er in sich oder in der Gemeinschaft? Oder ist der, welcher am meisten in der Gemeinschaft, das ist im Sinne der Geschichte, gründen will, am meisten auf sich selbst zurückgeworfen, je mehr er das genaue und bildlose Gehaben der Menschen untereinander überschreitet und das eigene Leben im Schöpfungsgefühl erkennen muß? Das also wurde das Erlebnis in Berlin.
Wer aber will dieses schwere Herz ermessen, als es, von keinem Geiste mehr gebändigt, in die Tiefe rollte. »Die Erd' hat nichts mehr Schönes. Laßt mich sein!« sagt einmal der Graf Wetter vom Strahl und weint. So, nur noch furchtbar vermehrt, war der letzte Schmerz Heinrichs von Kleists.
»Alt und jrau können Sie wer’n, nur nich frech jejen mir!«
Man muß Berlin doch wohl zum Dank für guten Aufenthalt mit einem lustigen, der Berliner Zunge mehr als uns geläufigen Worte verlassen, besonders wenn man die ganze Stadt mit dem Wagen glücklich im dicksten Gewimmel durchmessen und hinter sich hat. Die große Schräge brachte uns von Südwest nach Nordost, von Wannsee mitten über Potsdamer Platz und Leipziger Straße nach der Berliner Allee und in die Richtung Bernau. Man lobt es, wenn man wieder hinausgeschüttet ist in die uns schon gewohnten, randlos weiten Straßen des Reichs. Unser Freund und Doktor, der sonst auf schwierigen Landwegen steuert, muß unsere gespannten Augenpaare auf sich gefühlt haben, ob es ihm gelingen werde, »strafpunktfrei« durch den dicken Strom zu kommen. Aber er leistete seine Aufgabe weder gewagt noch schüchtern, sondern gleich einem zuverlässigen Berliner. Zu dem Ende einer Spannung gehört auch ein lustig lösendes Wort. Und dies erbrachte unser anderer Freund, der westfälische Bildhauer, wenn er von seinem Rücksitz zu uns nach vorne berlinerte: »Alt und jrau können Sie wer’n, nur nich frech jejen mir!« Das Wort ging in unseren Reiseproviant über und dünkte uns so gut wie mancher Schluck aus einer Flasche vom »Danziger Lachs«, deren einige unsere spätere Reise mitmachen durften.
Also waren wir wieder im freien märkischen Lande und hatten die Richtung nordöstlich nach Eberswalde. Es war da viel flaches Gefilde, einiges Wasser, und von Ortschaften niedere Häuser und manchmal ein alter Turm. Man sucht nach einem Begriff für das Gefühl der Wohnorte. Man glaubt sagen zu können, daß sich die Orte hier nicht in einem bildhaften süddeutschen Sinne zentrieren. Man müßte dieses Ortsgefühl allerdings noch weiter klären, wie man es in der Mark gerade trotz des Bedürfnisses zu Reihung und Zusammenhang sonderbar unverbunden und doch mit dem Altertümlichen darin akzentkräftig empfindet. Das Bodenständige gibt hier ein anderes Gefühl. Halb freibleibend und halb zwingend gereiht, so scheinen hier die Orte ohne feste Bilder, kühl und genau geschart, und dabei ist wenig »malerischer« Bezug. Im Vergleich scheinen uns die süddeutschen Orte mehr bildliche Zwischenformen zu geben, worin sich auch die Menschen wohl mehr annähern. Dafür bleibt hier der Eindruck einer nicht unbehaglichem klaren und räumigen Sicht.
Und wie die Orte einfach begegnen, wie die Häuser keinen reicheren oder überflüssigen Bezug haben, so glaubt man auch die menschlichen Verhältnisse einfach und geradezu zu sehen; man ist aber auch, nachdem man es bald und mehrmals erlebt hat, nicht überrascht, daß in dem sachlichen Dasein viel Humor mittut. Möglicherweise ist dieser Humor mit allerlei Schärfe gepaart. Man hat ja auch vom Kraftwagen aus Gelegenheit, den Humor von Fußgängern kennen zu lernen, denen man irgendwie »zu nahe« gekommen ist. So auch in Eberswalde, als uns, während wir vor dem Rathaus anfuhren, ein alter Märker, der es mit dem Regenschirm in der Hand eilig hatte, vor den Wagen geriet. Leider konnte ich mir seine drollige Anrede an uns nicht merken. Die knappe Wortstellung würde dazu gehören, mit der er versicherte, daß er uns nicht überrennen wolle. So behielt er auf lustige Weise gegen unsern Wagen und unsre Anzahl die Oberhand. Eine kleine Beobachtung, gewiß! Aber sie schien uns doch, etwa gegenüber einem Schwaben oder Bayern, der sich wohl kräftiger verlautbart hätte, für den Märker charakteristisch.
Auch fällt uns hier im volkhaften Sinne noch etwas anderes auf, nämlich daß wir selbst hier mehr, als wenn wir sonst durch Deutschland fahren, auf den unmittelbaren menschlichen Bezug (wogegen anderwärts mehr auf die Farbe des Sinnes dazu) achtgeben. So wird uns auch der junge Mensch im blauen Monteuranzug, der uns aushilfsweise in Lehnin geführt hatte, im Gedächtnis bleiben. Er schoß uns seine Worte im Schnellfeuer vor, schwer zu verstehen in der scharfen Mundart, aber mit dem vollen Ernst, welcher im Augenblick nur die eine Aufgabe hat. Man mußte es sympathisch empfinden. Merkwürdig aber wiederum, daß wir, die wir sonst, was Weltanschauung ist, in seinen geschichtlichen Formen suchen gleich großen, über das Menschliche gesetzten Sinnesspiegeln, hier das rätselnde Wesen weglassen und auf die menschliche Schlagfertigkeit horchen. Aber ist nicht ein solcher Gegensatz und Zusammenhang auch bei Kleist, der mit seinem dichterischen Willen in den großen Sinnesspiegeln wie in Gewittern waltet und in seinen Anekdoten auf nichts als die menschliche Haltbarkeit im Dasein gespannt ist?
Nach Eberswalde war wieder zu bemerken, daß sich die Gegend nicht wie eine südlichere durch solche Bildungen, die einen Reiz zusammenfassen, auszeichnet, sondern daß sie nur durch ihre allgemeine Verteilung, wie eine Landkarte, im Eindruck bleibt. Aber das war diesmal die richtige Vorbereitung auf einen sehr schönen und dazu durch reinste mittelalterliche Ziegelbaukunst gehobenen Landschaftsblick.
Als die Straße aus waldigem Gelände herausführte, da lag links, vom wenig tieferen Grunde wieder gegen leichte Umwaldung ansteigend, eine große, sofort merkwürdig klar und offen in den Blick fallende Bauanlage des Mittelalters. Man sah, daß noch viel Beschauliches da war, daß, wie wir gegen die Südseite herkamen, drei schöne, verschieden zugehörige und mit Blenden und Stäben überkleidete Giebel uns entgegenblickten, daß Klarheit, Ausdehnung und vor allem auch eine schlanke und ziervolle Höhe beim Nähertreten immer mehr wuchsen und daß hinter den Bäumen ein heller See in den Rahmen dieses mittelalterlichen Klosterbildes sich mit einschloß. Das Kloster mit der Kirche als Hauptsache ist eine Ruine. Aber selten wird man bei einer Ruine von einem solch klärlichen Nachbild der ersten Schönheit empfangen.
Hier ist ein weniger geschichtlich, aber baulich berühmter Ort der alten brandenburgischen Zeit erhalten. Und wenn wir eben noch gedacht hatten, daß diese Gegend nur wie eine Landkarte im Eindruck bleibe, so hatte sich jetzt mit dem Grün von Grund und Bäumen, mit den schlanken Längen und Höhen der roten Ziegelwände, ihrer Hochfenster, ihrer Giebel und Giebelchen und mit dem im Nachmittag verdunkelten Glanz des Sees ein halb ernstvergangenes und doch idyllisch bestehendes Bild aus der Landkarte erhoben. Und Maße sowohl reiner Größe wie reiner Zierlichkeit waren an dem Bilde beteiligt. Bald nach 1270, als die Gotik erblühte, war hier mit dem Sitz des Klosters Chorin begonnen worden, nachdem eine frühere Gründung im nahen Parstein-See nicht haltbar gewesen war.
Zwischen Kloster Lehnin bei Brandenburg und Kloster Chorin im Süden der Uckermark vollzog sich ein Stück Lebensgeschichte des ersten brandenburgischen Herrscherhauses der Askanier. Markgraf Otto I., Sohn und Nachfolger Albrechts des Bären, hat um 1180 das Kloster Lehnin gegründet, das restauriert und heute als Stift benützt, auch noch Anteil an der romanischen Stilform hat. Unter den nächsten Askaniern haben die beiden zusammen regierenden Brüder Johann I. und Otto III. ihr Gebiet in der Mittelmark, Uckermark und auch über die Oder hinüber erweitern können. Und Johann I. hat auch das Kloster Chorin gegründet, das, heute eine Ruine, als »bedeutendstes und edelstes Werk« der frühen norddeutschen Ziegelgotik gilt. Wie Lehnin war nun auch Chorin eine Begräbnisstätte der Askanier geworden, woselbst nach dem Gründer auch die bedeutenden letzten Askanier bestattet wurden. Das waren der Markgraf Otto IV. »mit dem Pfeil«, so genannt, weil er an der Stirn mit einem Pfeil verwundet worden war, der erst nach einem Jahr entfernt werden konnte, und dann der letzte Herrscher, Markgraf Waldemar. Dieser Waldemar, nochmals ein echter, tapferer und mächtiger Askanier, starb 1319; und als nach einem Jahr noch ein letzter Sproß gestorben war, da hatte das Geschlecht und Erbe Albrechts des Bären keinen Nachkommen mehr.
Die Sage erzählt, daß einst neunzehn Markgrafen von Brandenburg auf dem Markgrafenberge bei Rathenow versammelt gewesen seien, und sie hätten gefürchtet, daß das Land zum Unterhalt ihrer großen Zahl zu klein sei. Nun war das Haus, dessen Stammvater Albrecht die Mark Brandenburg aus den noch uneroberten Ostgebieten herausgeschält hatte und der 1170 gestorben war, schon 1320 gänzlich erloschen; und das beherrschte neue Gebiet war in der Gefahr der Zerteilung. Da griff aber der deutsche König Ludwig der Bayer nach der Mark Brandenburg und machte seinen minderjährigen Sohn Ludwig zum Markgrafen. Die Folgezeit war reich an Wirren unter dem Einfluß des mächtigen Luxemburger Hauses, auch infolge der Vermählung des neuen Markgrafen mit der Gräfin Margerete Maultasch. Und zu allem hin sollte auch der Name Waldemar nochmals eine langwierige, störende Rolle spielen.
Eines Tages war am Hofe des Magdeburger Erzbischofs zu Wolmirstedt ein alter Pilger erschienen. Man bot ihm einen Becher Wein, und der Pilger sandte den Becher mit einem goldenen Siegelring, den er hineingeworfen hatte, an den Erzbischof zurück. Dieser habe auf dem Ringe Wappen und Umschrift des Markgrafen Waldemar von Brandenburg erkannt. Auf Befragen habe sich der Alte als den noch lebenden Waldemar erklärt: er sei auf einer langen Pilgerfahrt abwesend gewesen und an seiner Statt sei ein anderer im Kloster Chorin begraben worden. Alsbald erhoben sich die Feinde der Wittelsbacher Partei — Ludwig der Bayer war kurz zuvor 1347 gestorben —, indem sie den falschen Waldemar anerkannten. Weil dann Karl IV. wieder auf die Seite des Wittelsbachers trat, konnte der falsche Waldemar zurückgedrängt werden. Von seinen Beschützern verlassen, entsagte er endlich 1355 seinen Ansprüchen auf die Mark und starb dann 1357 an seinem Zufluchtsorte in Dessau. Die Kämpfe gingen indes weiter, bis von 1373 ab die Mark an das Haus der Luxemburger angeschlossen war. Kaiser Karl IV. hatte eine schöne Residenz in Tangermünde. Die Ordnung aber begann, als Friedrich von Nürnberg, der Hohenzoller, der zuerst Verweser war, 1417 mit Brandenburg belehnt wurde.
Das ist also die Zeit, während welcher das Kloster Chorin erwuchs und sich einer blühenden Vergrößerung erfreuen konnte. Das Kloster verstand es, sich in keine Fährlichkeiten der Zeitläufte einzulassen; und in Fontanes »Wanderungen« kann man dessen scharfes Urteil über die Diplomatie nachlesen, mit der man sich etwa während des bayerischen Interregnums, auch in der Sache des doch in Chorin begrabenen echten Waldemar, immer dem Stärkeren zuneigte. Die Zisterzienser, deren arbeitsame Ordensrichtung die Herrscher damals gerade zur Urbarmachung des Ostens einsetzten, wandten in Chorin ihre ganze Tätigkeit auf ihre große Landwirtschaft. In der Reformation wurde um 1545 das Kloster aufgehoben. Die Romantik hat sich dann der zur Ruine gewordenen Anlage wieder angenommen, und heute ist Chorin ein Ort von wunderschöner Zeitstimmung.
Ein sonderbar schönes Raumskelett eines Zeitalters, so ist der Haupteindruck heute, da sich Zweck und Idee, Wirtschaft und kirchliches Baubild auseinander getrennt und doch den ersten Plansinn erhalten haben. Man kommt zum Durchgang des Pfortenhauses, dessen hohe Wand mit spitzen Wimpergen sich zu einem Fries von Blendnischen und zu einem zierlichen Takt von Giebelchen hinaufschickt. Dann ist man im Kreuzgang und im Hofe und hat links die südliche Seitenflanke der hohen und langen Kirche. Vollständig ausgeleert, ist sie mit ihren schlanken Spitzbogen, den oberen Fensterreihen, dem ganz durch hochschlanke Fenster aufgeschnittenen Chore, mit der auffangenden Ruhe des Querhauses und mit dem dreifachen Licht des Abschlusses im Westen, wo hier kein Portal ist, alles in allem wie die Summe einer vielfältigen und doch ganz durchsichtigen Rechnung. Man heftet den Blick unwillkürlich auf das Mauerwerk der einzelnen, noch sehr schönen Ziegelsteine. Aus diesen Werkteilchen summiert sich der ganze bauliche Laut, der reich und doch leicht ist und aus lauter Teilungen besteht, die sich zu einem heiter großen Charakter mit aufgesetzten kleinen Zierensummen zusammenschließen, überhöhen und bekrönen.
Die Zeit hat allerlei weggenommen und das Gerippe deutlicher gemacht. Und fast möchte man behaupten, daß eben dies der Begriff dieser frühen und reinen Gotik sei. Die Bauglieder scheinen voneinander weggenommen, eins scheint dem andern entzogen, und die Folge ist, daß sich wie in spielendem Zwange der wegnehmenden und doch hochführenden Rechnung Raumgruppen bilden und rhythmische Ordnungen aufbauen. Besonders die Westfront der turmlosen Kirche ist wie ein ersetzendes Turmspiel oder ein Spiel mit Turm- und Giebelmotiven, die aus großen und kleinen Geraden und Schrägen doch fast wie ein Räderwerk zusammenschießen und so zu der Rosettenblende in der oberen Wandstirne durchaus einstimmen. Dazu dann die kleinen Giebelblumen, und dann wieder der Blick durch den großen, langen Kirchenraum nach dem reich aufgeschnittenen Chore — so begegnet sich in diesem nordischen Ziegelbau die kleine genaue Summe mit einem groß aufgetanen Raumwesen, der Raum hebt sich auseinander und schließt sich selber auf; und so ist das Wesen des Baues ein Sinnbild der gleichzeitigen Geschichte dieses deutschen Landes. Aus knappen und genauen Verhältnissen entsteht eine Summe größerer geschichtlicher Räume.
[Chorin, ehemalige Zisterzienserabtei]
[Chorin, Blick in den Hof des Zisterzienserklosters]
Man beeilt sich nicht, von einem solchen sinnreich klaren Orte fortzukommen, und ergeht sich in Hof und Kreuzgang mit alten Mönchsräumen, am Friedhof gegen den See und wo immer der Anblick schön ist. Gerade das, was Fontane tadelt, daß diese Ruine nicht »malerisch« und daß sie kein landschaftliches »Genrebild« sei, in dem es sich träumen lasse, das wird hier zur Freude des Sinnes. Das religiöse Zeitgefühl hat hier die sonderbare Beschaulichkeit einer seelisch geborgenen Rechnung oder von Raumzahlen, in welche die Gemeinschaft geordnet und eingeteilt ist. Zahl und Geometrie gehört zur Beschaulichkeit der Gotik. Dabei hat der Ziegel auch etwas, das nicht alt wird, und ebenso hat das Gefühl der Zahl eine stetige Gegenwart. Darüber läßt sich hier zwar nicht mit Worten träumen, aber mit den Augen immer wieder wie über eine sinnreiche Zahlenreihe hinspielen. Inzwischen gehen Besucher ab und zu, und eine Gesellschaft märkischer Mädchen singt in dem hohen Raume ein kleines Wanderlied.
Unsere Fahrt geht nordwärts, zur Oder hinneigend, weiter. Die Landschaft wird schön mit bewegten Ackerbreiten, die zügig und unaufhaltbar über lange Hebungen hinweglaufen. Es geht durch Angermünde und später durch Schwedt. Die Landhebungen werden noch ausgiebiger. Auf unbegrenztem Acker reckt sich ein Dampfpflug wie ein mächtiger Balken mit seinen freien Pflugscharen über eine Krümme herwärts, während seine andere Hälfte ihre vielen Furchen wühlt. Auf einem anderen Acker sieht man mit ihren Fuhrwerken nicht weniger als sechzehn Pferde; es ist wie ein Manöverbild. Auch sieht man große Tabakfelder, üppig in ihrem Grün, dazu große Trockenscheuern — und dann in den Städten alte Türme und Tore, und dazu Marktplätze, als ob sie nicht zu den Häusern gehörten, sondern die wie Exerzierplätze sind. Wir sind durch das altertümliche Gartz gekommen, und hier hatte man auch, zwischen Auen zu beiden Seiten, weit aber ruhig herschwingend, den Anblick der Oder.
Manchmal nach der Fahrt über weites Land, wenn man, so wie wir jetzt, von Berlin nach Stettin gekommen ist, will der Sinn des Sehens nicht sofort wieder sprechen. Das heißt, daß wohl die Schaulust noch bleibt und daß sie so regsam ist wie das abendliche Leben selber, das uns jetzt nach der Stille des Landes umgibt. Mit der Neige des Tages findet man sich hellsichtig und eher noch hellhörig dazwischen. Aber man nimmt nun die Eindrücke, ohne sie zu werten oder weiter zu Gedanken zu bilden. Orte zwar, wo ein Werk aus alter Zeit noch mächtig herrscht, werden den Sinn alsbald wieder gefangen nehmen. Nicht so eine Stadt wie Stettin, wo die alte Geschichte stark aufgesogen ist und in Tun und Bildern sich die tätige Gegenwart bekennt.
So fahren wir gleich durch die Stadt zu dem Hafen mit seinen Anlagen an der Oder. Der Vorhang vor den Augen geht auf mit der Geräumigkeit über dem Wasser, und die Stadt, die etwas höher an der linken Seite der gegabelten und eingefaßt fließenden Oder gelegen ist, empfängt davon einen mächtigen Zuwachs. Die geschichtliche Bedeutung zeigt sich mit der wirtschaftlichen an, und man spürt den größeren Zusammenhang. Die Richtung strebt nordwärts. Die weite Wasserrinne zieht ihrer Mündung zu in das große Stettiner Haff, und dieses gegen die Inseln Usedom und Wollin. Dies sind die ausgeprägtesten Bildungen, welche die teils ausgeglichene, teils aber durch ihre Bodden, Inseln und Nehrungen überraschend reiche Küste der Ostsee hat. So macht man sich die Karte im Gehirn zurecht. Aber jetzt ist man mit dem ins Weite geöffneten Vorhang und mit dem erreichten Orte zufrieden. Man findet sich geborgen unter den Menschen der pommerschen Stadt an dem behaglichen Abend.
Am Ende wollen wir auch von der Hauptstadt Pommerns nur den Haupteindruck, und dazu gehört die Oder. Aber kleinste Anhalte können doch dem Sinn noch Richtung geben, die sich dann in bestimmter Art weiter entwickelt. Als wir auf dem Paradeplatz anlangten, der, auf einem Teil des alten Festungsgrabens sich erstreckend, die ältere Stadt gegen die Oder hin einriegelt, gab uns der stramme grüne Polizist eine Auskunft, die uns in die Luisenstraße wies. Er fügte von selber zur Erklärung den Namen der Königin Luise bei. Im Dahinkommen ersah man kurz das alte Ständehaus mit den genauen preußischen Formen des souveränen Stils aus dem früheren achtzehnten Jahrhundert. Diese Bauweise ist noch weiterhin bemerklich und gibt etwas Bezeichnendes auch von der neueren Stadtgeschichte. Sie erinnert an einen entscheidenden Abschnitt, da Stettin erst 1720 von Schweden, zu dem es im Westfälischen Frieden geschlagen wurde, endlich an Preußen zurückkam. So war schon eine Richtung des Sinnes festgelegt, nämlich die preußische, die somit stärker geworden war als das Gedächtnis an das mittelalterliche Herzogtum Pommern. Schließlich ging auch, daß das Hotel einen sehr preußischen Namen hatte, gefällig in diesen Zusammenhang. Und dazu lesen wir noch auf einer Schrifttafel in der Halle: »Im Jahre 1846 wohnte in diesem Hause Otto von Bismarck und schrieb hier am 21. Dezember 1846 seinen Brautwerbebrief an Herrn von Puttkamer-Jerichow.« So fand man sich mit kleinen Anhalten schon ein wenig geschichtlich eingerichtet.
Aber auch eine Notiz, die nichts weiter als das Wohlergehen des Reisenden betrifft, darf hier Platz haben. Der Süddeutsche kommt wohl wenig nach Pommern. Man befindet sich hier aber, soweit wir zur Wahrnehmung Gelegenheit hatten, in einem guten Lande. Wie man wohnt oder bedient wird, das mag man sich wie auf einem Gutshofe vorstellen. Der bejahrte Kellner mit weißem Kittel und mit dem etwas gekrümmten oder durch Gewohnheit gutmütig gebeugten Rücken, der dabei doch wie ein alter Wachtmeister aussah, behandelte mit dem Gaste das Essen-Bestellen nicht als ein Geschäft, sondern als ob er beiläufig die Gepflogenheiten des Hauses hinsichtlich der Mahlzeit mitteile. Neben anderem schien dann im besonderen die Käseplatte, die mit kleinen und großen Blöcken besetzt war, dem Lande Pommern angemessen. Kurz, was man hier und später als Gast empfand, war nicht nur ein angenehmer Aufenthalt, sondern noch ein Stück Volkstum.
Unzweifelhaft wird gegenüber Stettin das inselhafte Stralsund mit dem Anblick seines mittelalterlichen Stadtbildes viel mehr dazu reizen, der alten pommerschen Geschichte nachzutrachten. Aber Stettin ist für die Germanisierung und zu dieser die Christianisierung der Pommern ein Fußpunkt und Mittelpunkt gewesen. Als nach dem früheren Zugreifen der Polen und der Dänen der Bischof Otto von Bamberg auf seinen beiden Reisen im Jahre 1124 und wieder 1128 nach Pommern kam, konnte er sein Unternehmen schon auf der ersten Fahrt in Kammin und Wollin und dann, indem er über das Haff nach Stettin zurückkam, auch an dieser Stätte des wendischen Gottes Triglaw verankern. Es bezeichnet die Zeitverhältnisse, daß kurz vor Otto ein spanischer Wanderbischof auch in Pommern zu wirken versucht hatte, aber mit seinem armseligen Auftreten ohne Erfolg. Dagegen war der Bamberger in prächtigem Zuge gekommen, und er hatte auch die Unterstützung des Fürsten Wratislaw von Stettin gefunden.
Otto starb 1139. Was mit ihm angebahnt war, nämlich daß Pommern statt der Richtung nach Norden oder nach Osten die deutsche Richtung empfing, das haben dann Heinrich der Löwe und Albrecht der Bär, der die Brandenburger Ansprüche auf das Land gründete, festgemacht. Wichtig waren noch die Neffen des pommerschen Herzogs Ratibor, Casimir und Bogislaw, welcher nach dem Sturze des Löwen 1181 durch Friedrich Barbarossa Reichsfürst und Herzog von Pommern wurde. In der weiteren Geschichte ist noch ein wichtiges Datum die Schlacht von Bornhöved 1227, durch welche die Dänen endgültig ihre Herrschaft über die Ostsee-Wenden verloren. Stettin wurde 1243 durch Herzog Barnim I. eine deutsche Stadt. Das pommersche Fürstenhaus erlosch mit Bogislaw XIV. nach sechshundertjährigem Bestand 1637 während des Dreißigjährigen Krieges. Nun traten die Brandenburger die Erbfolge an, mußten aber zunächst infolge des Westfälischen Friedens sich mit Hinterpommern begnügen. Erst 1720 erhielt Preußen ein weiteres Stück mit Stettin und 1815 das ganze schwedische Pommern zurück.
[Chorin, Blick durch die Ruine des Langhauses in den Kreuzhof des Klosters]
[Das Königstor in Stettin, Feldseite]
Was wir am Abend noch vom Stadtcharakter gesehen haben, das blieb auch am andern Morgen unser näheres Ziel. Es war wieder das Ständehaus, wo das Museum ist und wo in der Vorhalle das Denkmal Friedrichs des Großen in Marmor steht, während sein früherer Standort am Königsplatz durch eine Bronze-Nachbildung ersetzt ist. Das Werk von Schadow ist ähnlich wie Werke Schlüters vorbildlich für die Art, wie in Preußen gute Denkmäler der Geschichte aufgefaßt werden. Es gibt einen nationalen Ausdruck von einer bestimmten, rhetorisch und gedanklich gespannten Wirkung, wenn man auf Plätzen, die oft wie Exerzierplätze sind, nur eine einzige Figur in der Haltung des Fürsten oder Soldaten aufgerichtet sieht. Die Wirkung ist hier nicht in einer allgemein menschlichen Auffassung mit einem antikisch beruhigten Übergewicht gesucht, sondern sie ist aus dem Dienst und Berufe des Königs oder des Soldaten in einem lebhaften Augenblick hervorgerufen. So ist auch hier in dem schönen Marmorwerk die Gestalt Friedrichs durch eine Naturechtheit, durch eine starke Betonung der sprechenden Teile in den souveränen Eindruck erweckt und hineingesteigert. Gegenüber einer allgemeinen Größe bildet sich dadurch mehr das überzeugende Ansehen der zähen und wirklichen politischen Kraft. Der Ausdruck der Natürlichkeit dient unmittelbar der geschichtlichen Form; es tritt nichts weiteres dazwischen. Und wie man weiß, hatte Schadow auch für diese seine berlinische Auffassung gegen Goethe zu kämpfen.
Da wir nun am Königstor sind, das wie das Berliner Tor nach 1725 durch den König Friedrich Wilhelm I. errichtet wurde, finden wir vielleicht in seiner barocken Überkrustung und Bekrönung trotz der Gedrungenheit eine ähnliche beredte Stärke im Relief des Anblicks herausgearbeitet. Das Tor hat im übrigen als Denkmal den Charakter eines Festungstores bewahrt, wozu die raumvolle Massigkeit des Materials gehört gegenüber der mehr ideellen Auflösung oder auch »monologischen« Absicht späterer Tore. Wir aber sind nun zu den Bäumen auf der großen Hakenterrasse hinausgelangt und blicken über den ausgedehnten Treppenaufbau zum Wasser hinab, wo am Oderbollwerk hin dann weiter hinten jenseits der Lastadie im Freihafen Rumpf an Rumpf die Schiffe liegen, wo sich Schlote und Masten und höher noch die Krane heben und der Rauch gleich Wimpeln in der zügigen Luft hinflieht. Ein helles Hochhaus, Hebeanlagen, Sirenentöne, da und dort noch Ländestellen, Fuhrwerke und Pferdegetrappel, ein unruhig umschlagender Wind, aber ein unbewegter großer und grauer Luftraum, so sehen wir den größten deutschen Ostseehafen vor uns hinab und hinaus liegen.
Sofort könnte man über das Haff zu den Bädern mit schön klingenden Namen und über Swinemünde weiter nach Rügen fahren. Wir begnügen uns mit einer Hafenrundfahrt an den Werft- und Industrieanlagen hin. Dabei genießt man die Beschaulichkeit des Fahrens mit dem Anblick des großen Werktags, der sich in all den Anlagen kund gibt, deren Formen zwischen Wasser und Himmel ganz in ihrer zweckhaften Zone für sich allein sind. Reihen von Ladekranen recken sich mit ihrem luftigen Gestänge; da sind die großen, mit Kranen überlaufenen Dockanlagen der Oderwerke, dann wieder schaukelnde Bootsplätze und weiter die Anlegestellen von Segelschiffen des Jachtklubs Pommern an der Tirpitz-Insel. Industriewerke und chemische Werke haben ihre Schuppen und Verladeplätze. Mais wird aus einem Schiffe ausgeladen, rauschend schießt er in die Boote. Und dann sieht man wieder, wie Sack für Sack auch Getreide ausgeschüttet und umgeladen wird. So ging es hin und her. Und auch der Freihafen mit den fremden Schiffen mußte unseren Umblick noch ergänzen, bis wir das mit den Kranen oft fast abenteuerliche Bild der Hafenstadt wieder verließen. Noch ein kurzer Gang zum alten Stettin, wo das Schloß und dann die Johannis- und die Jakobikirche mit anderer schöner Gotik noch dazwischen steckt; und nun brechen wir den Aufenthalt ab.
Schnell schwindet Stettin hinter uns weg; und um noch ein großes Stück des pommerschen Landes hinter uns zu bringen, müssen wir darauf verzichten, nach links auf Kammin und Stolberg zu, wo die Geschichte Pommerns weitere Ankerorte hat, abzubiegen. So wird unsere Fahrt nach Osten ein reiner Landweg, ein Landweg allerdings, wie er der langen pommerschen Seeküste entspricht und wie man ihn nicht leicht wieder in dieser unvergeßlichen und fast gleichmäßigen Weite Stunde um Stunde durchfahren kann. Nun ist, was die Technik heute morgen als Gegenwartsbild gezeigt hatte, schlechthin vom Naturraum der Erde hinweggeschwunden, und was allein noch da ist, das ist die unaufhörliche Feldung. Wohl sind verschiedene Städte auf der langen Strecke, die mit ihren Flüssen auch schon der nahen See zugewandt sind. Aber sowie sie durchfahren sind, herrscht wieder allein das Land; Und was man dazugehörig empfindet, das sind die Gutshöfe und was um sie ist mit dem großen Bauwesen für die Landwirtschaft und mit den Kleinbauten dazu für die Landarbeiter. Auf weite Strecken nichts von einer Siedlung, und dann wieder die Hinweise auf ein Gut, das abseits ist, so ruht dies Land hier in sich und in seinen Jahreszeiten; und es sieht aus, als ob dies immer so gewesen sei und nie anders sein würde.
Immer wieder blickt man gleichmäßig hinaus, und auch, was man als Tagewerk mit Gespann und Menschen sieht, kann kaum mehr vom Landgefühl zum Einzeldasein ablenken. Das Landgefühl aber kann hier übergehen in ein Erdgefühl; und dies ist ein nordisches Erdgefühl. Denn das Land scheint manchmal auch selbst so von sich eingesogen, als ob Arbeit und Dasein nur vor der großen Schwere eines Nichts bestehe, welches dahinter dauert. Ist es nicht, als ob alles, was man tue, nur in einem Vordergrund bestehe, und als ob auch der Blick auf unsere nähere Erde nur wie auf eine farbig schöne Verhüllung sei, hinter welcher, wenn sie aufgerissen würde, als eine helle und große Frage, als eine weiße und schweigende Leere der Grund des Seins den Schauenden anstarrte? Gibt es nicht solche nordischen Werke? Und kann uns nicht bei zwei Künstlern, welche geborene Pommern sind, bei Philipp Otto Runge aus Wolgast und bei Caspar David Friedrich aus Greifswald, eine zwar mildere, jedoch ähnliche Empfindung überkommen? Gewiß dichtet gerade Runge an der farbigen Symbolik der »Tageszeiten«, und Friedrich sucht mit Andacht die farbige Hülle der Erde im weiten Raum. Aber bei beiden fühlt man ein hintergründiges Wesen, das ihnen selber dauernder ist als die Schönheit der nahen Schöpfung. Beide schreiten nicht fort in der Geschichte, sondern sie suchen zurück zu einem Naturwesen. Und wenn sie nur den Charakter eines Baumes oder eines Gesichtes zeichnen, so schreiben sie leise etwas Runenhaftes. Beide sind Künstler gleichsam »am Rande der Schöpfung«.
Dieses Gefühl also darf hier, während wir durch die Habhaftigkeit des pommerschen Landes hinfahren, als eine andere seelische Seite nicht vergessen werden. Inzwischen aber ist der Nachmittag lang geworden. Wir sind über Naugard und Plathe gekommen, manchmal liegt ein kleiner See flach im Lande, und in den Städten zeigen klassizistische Hausformen wohl die Verwandtschaft mit dem Stil von Gutshöfen. Ackerer auf den Feldern, einmal mit sechs Pflügen und zwölf Pferden, schwarzgeflecktes Vieh auf den Weiden, auch Schweine am Wege und Herden von Gänsen, aber auf der Straße eilt unser Wagen meist allein dahin. Die leere große Straße läuft unaufhörlich von Osten her entgegen, und man freut sich, daß auch Deutschland so an einem immer gleichen weiten Raum der Erde seinen Teil hat. Rechts würde es nach Schivelbein und zur »pommerschen Schweiz« gehen. Wir sind durch Körlin und später durch Köslin hindurch, wo es nicht weit zur Ostsee wäre, und dann kommt Schlawe. Gutsflecken, weites, unaufhörliches Land, dann wieder das Viereck eines Marktplatzes mit Gleichheit, Strenge und Stattlichkeit, selten eine größere Hebung in der Gegend, so geht es ostwärts. Ein Regen war vor uns hergezogen und hatte die Straße benäßt, von dem auch das Land noch erglänzte, während die Sonne von Westen immer schräger ihre Strahlen hinter uns her schickte. Es war dadurch eine fast gelbgrüne, gläserne Abendluft über der langsam in das Dunkel sich verlierenden Weite. Mit dem letzten Lichte waren wir aber nach Stolp gekommen und konnten noch sehen, wie diese Stadt die kräftigen Bilder der anderen zusammenfaßte und mit älterer Größe erhöhte.
Der Schluß aber war eine Mahlzeit, wie sie die guten Erdgeister dieses Landes besorgen. Und der Kellner war eine ganz alte, dabei aber schwarzhaarige Soldatenfigur, als ob er von Napoleons Feldzug von 1812 übrig geblieben sei. Ganz mild fragte er, ob man zum »Korn« noch ein »Bierchen« wolle. Es klang wohl seltsam zu dem großen Lande.
[Das Ständehaus in Stettin]
[Danzig, Blick in die Brodbänkengasse mit der Marienkirche, links Rathausturm]
Wir werden uns bewußt, in eine besondere deutsche Geschichtsbestimmung hineinzufahren, je mehr wir aus unserem Süden und aus der deutschen Mitte nach unserem fernen Nordosten reisen.
Aller Betrachtung völkischen Daseins, aller Dramatik der Geschichte müßte man ein Lied, einen Prolog auf das unbekannte, aber starke Wesen der Geschichte selbst vorausschicken. Das große geschichtliche Theater ist unausgesprochen voll von dichterischen Worten, welche die mächtigen Gefühle, die sich in der Geschichte erwecken, insgeheim tragen und feiern. Zwar mag man sofort sagen, daß doch alle Geschichte voller Verhängnisse und ungesühnter Reste im Zeitverlaufe geblieben sei. Und trotzdem bleibt ein Reichtum der Geschichte an einem dichterischen Gehalt, der, gleichwie die Vergangenheit gewesen sei, immer wieder in ein eigenes großes, unbeirrtes Wesen der völkischen Zuversicht ausmünden will.
Danzig hat unter den deutschen Ostseestädten das eigenste Schicksal. Man müßte deshalb nicht erstaunt sein und ist es doch, zu bemerken, daß man bei einem Vergleich mit ihren Nachbarinnen selbst veranlaßt ist, gerade diese Stadt als die schönste und deutlichste Bühne der Geschichte an der Ostsee zu bezeichnen. So stark war das geschichtliche Wesen, von dem sie hier im Mittelalter geprägt wurde, aus der deutschen Bestimmung heraus an der Weichsel geworden, daß kein Schicksal mehr diese Züge ausgelöscht hat. Eher scheinen sie mit den Zeiten noch deutlicher geworden; und während die Marienburg sich in ein stummes Steinbild alter Wehrhaftigkeit zurückverwandelt und während Königsberg die Züge einer neueren Landeshauptstadt angenommen hat, ist Danzig nach dem bürgerlichen Gesetze, nach welchem es einst angetreten ist, zugleich alt geblieben und neu geworden. Dabei ruht es in einer seltenen Einheit von Natur und Geschichte. In dem Bilde Danzigs ist eine sachliche Genauigkeit und eine heitere Klarheit und über der mittelalterlichen Größe der weitgezogene Himmel von Land und Meer. Die wohlgeregelte Innenräumigkeit der Stadt hat fast noch einen Charakter wie von alten Kaufmannskontoren und ist dabei doch von der durchsichtigen Zeitluft des nachmittelalterlichen Geistes beherrscht. Und an das Weichbild ist nun gleich Auslagen und Borden die Richtung gegen die See hin angesetzt, die den Blick über die engere Heimatgeschichte hinausschickt.
Als heimlicher Ausdruck ist dazu aber noch am stärksten der Charakter einer Schwelle oder eines Denkmals innerhalb der Zeiten selber. Hier fällt es nicht schwer, sich in den großen Prolog der deutschen Geschichte mit der Völkerwanderung zu versetzen, als die Stämme der Goten aus dieser Ostseelandschaft nach dem Süden und zur Donau hin vorbrachen. Nicht bloß Vorstellung aber bleibt es, sondern die wirklichste Geschichte wird sichtbar, als die germanische Gegenbewegung wieder vom Süden her einsetzte, und als durch die Macht des Deutschen Ordens, nachdem ihr soeben Danzig eingefügt worden war, nun auch um 1309 der Hochmeistersitz von Venedig nach der Marienburg in das Preußenland verlegt wurde. Danzig zeigt das Gesicht der Ordensherrschaft und wächst dabei mächtig, indem es nächst Lübeck zugleich zu den reichsten und stärksten Hansestädten gehört. Es hat seinen Teil an den schwierigen Verhältnissen, welche diese Himmelsrichtung hier oben kennzeichnen, wo nicht Mächte und Männer gleicher Art, sondern die Heftigkeit der Rassen, die Kämpfe von Gedanken gegen primitive Ordnungen, der Gegensatz von geistlichen Ordensgewalten gegen stammhafte Neubildungen das geschichtliche Feld bestimmen.
Was dabei als Baugesicht heranwächst, heißt Gotik. Es sind die Ordensschlösser und die Kirchen. Wir nehmen diese gotischen Baugesichter als selbstverständlich hin, und doch haben sie den sonderbarsten geistigen Ausdruck. Die gotische Baukunst scheint hier mehr als anderwärts reine Zweckform, dabei ist sie aber hier noch mehr, als dies die Gotik an sich schon ist, ein rein bild- und zeichenhafter Ausdruck. Sie hat nichts von »rhetorischer« Kraft oder von unmittelbarer Schwere, wie antikische oder wie romanische Bauten, und da sie hier auch auf den Überschuß an Zierspielen verzichtet, ist sie in der reinen und erhobenen Stummheit ihrer Bauwerke gleichsam nur beredt und vorhanden für das Auge. Sie steht mit ihren Denkmälern in den Orten, aber sie hält sich noch mehr als ein vielfaches und doch gleichmäßiges Sinnesmal zwischen den Zeiten. Diese stummere Gotik, diese gleichmäßige, richtende Größe ist das Zeichen des Deutschtums im Osten. Es erscheint sonderbar, daß, je reiner und stummer dieses Zeichen in seiner gotischen Form aufgerichtet wurde, es hier um so mehr auch den Ausdruck der Wehrhaftigkeit in seinem Bilde empfangen hat. Hier scheint ein merkwürdiger Sinn der reinen geschichtlichen Form selber und zugleich des besten deutschen Wesens verborgen. Es will scheinen, als ob der innerste Kern alles Formspiels in den Zeiten nur noch eine Wehrform, ein Spiel um das Recht in sich selber sei, und also, daß das gotische Wachstum, welches so sehr zum zeithaften pflanzlichen Ausdruck treibt, zugleich ein zeitloses Gegenteil davon in sich habe. Vielleicht kann man diesen Sinn auch in die Frage fassen: welche Veranlagung und welche »Entselbstung« von anderen Möglichkeiten im deutschen Sinne vorauszusetzen ist, bis sich sozusagen »Bild« und »Schild« zu einem gleichen Wesen nähern konnten? Ob damit der Deutsche hier, jedenfalls der christliche Ordensritter, einen letztmöglichen Inbegriff innerhalb seiner Geschichte erreicht habe, der allerdings zuletzt als ein Widerspiel zu dem zeitlichen Fortgang enden mußte?
Für Danzigs Geschichte ist allerdings dann auch eine spätere Zeit wesentlich geworden, die alles bürgerlich feiner geklärt und aufgeheitert hat. Danzig ist auch nicht nur ein Denkmal im Lande, sondern vor allem auch die Stadt an der Schwelle der See, und die feinsten Schwebungen scheinen über die Kimmung des Meerhorizontes in das erhobene Stadtbild zu kommen.
Welch ein Wechsel der Reise war dies in den zwei bis drei Tagen, bis wir hier einfuhren. Nach Berlin die altertümliche märkische Ruhe, dann Stettin und der unruhige Wind über der Oder, dann wieder die unsägliche Stille für alles Sinnen auf der langen Straße durch Pommern, und nun gehören wir schon in das Leben einer Stadt, welche die Fähigkeit hat, den Ankommenden schnell und vielfach in ihr Bild zu nehmen. Es scheint schon eine lange Zeit vergangen, seit wir heute früh von Stolp wegfuhren. Die große Marienkirche dort mit dem mächtigen Westturm und den Ziegelzieren wollte auf Danzig vorausweisen, aber der weite Marktplatz sagte, daß hier die Natur noch ihre dauernde Gleiche habe. Unterwegs war auch alles wieder Acker und Wirtschaft des Landes, und uns fielen die sehr langen und dadurch schmalen Blätter der Sensen auf, die man hier auf den Wegen trug. Man trug sie wie Sinnbilder des immer wiederholten Wachstums.
Man kam durch Lauenburg, und nun mußte man den Paß bereit machen und an die Rechenschaft über den Geldbeutel denken. An der Grenzstelle Groß-Boschpol wurden deutscher- und polnischerseits die Formalitäten erledigt. Nun ging also die Fahrt durch den Korridor und gab Gelegenheit, die einfache kaschubische Wohnweise zu sehen. Bei Holz- und Schindelhäusern stand noch ein altmodischer großer Galgenbrunnen. Die weite Landschaft steigt jetzt mit dem rechts immer mitlaufenden pommerschen Landrücken bis zu fast bergartigen Waldhebungen an. Nun kommen ganze Siedlungslager in der weiten Talebene, und dann sind wir, umgeben von Neubauten im verschiedensten Fertigkeitszustande, mitten in dem aus der Erde gestampften Gdingen. Das neue Hafenbild zeichnet sich mit Gerüsten und Kranen zugleich wie ein Gespinst in die Luft.
Schnell ist man nun auf dem Danziger Gebiet, und das erste schöne Bild war das Meer am Strande von Zoppot. Mit dem langen Stege links hinaus, eingefangen weit außen von dem bewaldeten und bergigen Hochrande der Bucht, war das Meer voll lieblicher Schwere oder wie ein leise bewegtes und heißes Gesicht mit einem blauen kristallenen Atem. So wie Fenster an einem Hause ein Gesicht bilden können, indem sie die Wand überglänzen, so schien hier ein Gesicht im leuchtenden Raume geöffnet und eingeschlossen. Aber ein fortwährendes leises Rauschen war dabei, und die ganze Fläche war überduftet wie von aufbrechenden Kristallen. Dies ist der Eindruck, den wir nach Danzig mitnehmen, und er machte es nicht zuletzt, daß uns auch Danzigs Stadtbild wie ein Gesicht erschien, über welchem die schwebende Kimmung des Meeres noch weiter lief.
[Danzig-Oliva, Klosterkirche]
[Danzig, Marienkirche]
Die Durchfahrt durch Oliva mit dem einstigen, nach 1170 von einheimischen Fürsten gestifteten Kloster ruft nach Daten der alten Geschichte Pommerellens. Danzig selber, dessen Name trotz der Slawenzeit wohl an eine dänische Gründung erinnert, trägt als erstes Geschichtsdatum das Jahr 997; es ist ein Datum für die Anwesenheit Adalberts von Prag, des »Apostels der Preußen«, der im gleichen Jahre noch auf dem Samland erschlagen wurde. Mit christlichen Einflüssen und den dazugehörigen Eroberungen griffen die polnischen Herrscher, und zwar nach 1000 Boleslaw Chrobry und nach 1100 Boleslaw III., nach Pommern. Der ostpommersche Herzog Swantopolk machte sich 1227 von Polen unabhängig. Mit Mestwin II. aber erlosch dieses Geschlecht 1295. Nun wurde nach einer kurzen polnischen Zeit die Macht des Deutschen Ordens, der seit 1230 von der Weichsel aus im Preußenland tätig war, auch in Pommerellen teils durch Kauf und teils durch Eroberung aufgerichtet. Danzig war inzwischen auch als deutsche Stadt 1224 gegründet und erlebte nun von 1309 bis 1454 seine mittelalterliche Blüte unter dem Orden. Nach dem furchtbaren Ausgang der Ordenszeit stellte sich Danzig unter Polens Schutz, behielt aber als freie Hansestadt, wie vorher in eigenen Kriegstaten, ihre eigene tatkräftige Politik und blieb insbesondere wehrkräftig gegen polnische wie andere Zugriffe. Mit der zweiten Teilung Polens 1793 und nach Unterbrechung wiederum in den Befreiungskriegen war die Stadt dann an Preußen gekommen.
Und nun waren wir in der Stadt und schon am Grünen Tor vorbei mit seiner teils vorgerückten Front von Giebeln, wie sie zur Danziger Renaissance gehören, auf dem Langen Markt eingelaufen auf welchen am schmalen Ende wie mit einem hohen Ausguck der lebhaft geformte Turm des steil-prächtigen Rechtsstädtischen Rathauses herabblickt. Sofort hat man ein Raumbild beisammen wie es für Norddeutschland charakteristisch und doch eben in Danzig mit der Vereinigung schmaler und hoher Schlankheit von Markt und Turm einzig ist. Steil und doch nicht übermäßig in der Strenge, geschichtlich und doch von heiterer Gegenwart, so gibt sich mit den hoch-schmalen, mit ihren kurzen Fensterreihen blanken und freudig gegiebelten Häusern der bildhafte Umblick. Wo will man im einzelnen zuerst beginnen? Da mag es, rein im äußeren Anblick, auffallen, daß diese Stadt schon von alters die Eigenschaft der schönen Wohnfähigkeit hat. Nicht wenige Häuser werden mit Fassaden Dielen, »Hängestübchen«, mit Treppenführung und stilhafter Einrichtung zu den schönsten deutschen Wohnbeispielen gezählt und tragen als Auszeichnung noch ihre besonderen alten Namen.
Aber wir müssen aus der Not eines kurzen Aufenthaltes eine Tugend machen — das Geld für Danzig ist uns sehr bemessen — und müssen für die Empfindung des Stadtbildes selber eine Formel finden. So wie das hohe Rathaus aufgesteilt ist, daß man auch sagen konnte, es sei herabgependelt oder in sich aufgestellt wie ein Pendel, so gibt man dieses Gefühl des Pendels auch allen diesen Häusern am Markte, an der Brodbänkengasse, Jopengasse, Kleinen Hosennähergasse, Langgasse und wie diese alten Gassen sonst heißen. Aber die Ostsee im Sinne, blickt man auch über die zierlichen Ränder der hohen, gleichartig rhythmischen Giebel wie über einen Himmelssaum nach aufwärts, und dann will man wieder das Wort der Horizontlinie oder der Kimmung zur Veranschaulichung nehmen. Pendel und Kimmung, jedenfalls hat man sich, vielleicht etwas sonderbar, mit der Wahl solcher Worte einstweilen für die Empfindung des Stadtbildes geholfen. Dazu bemerkt man noch trotz der Gedrängtheit der Plätze und Gassen eine schöne Ausgemessenheit, eben wieder mit einem entsprechenden Wort eine schön »ausgepeilte« Sicht.
Nicht am wenigsten tragen dazu die »Beischläge«, dieses »ureigenste Danziger Baumotiv«, bei, diese hier vor den Häusern erhöht gebauten Plattformen, mit Staffeln und mit Brüstungen, welche mit Reliefen zur Straße hin verziert sind und über deren Flanken herlaufend die Wasserspeier einst ihre Güsse auf die Straße warfen. Johanna Schopenhauer, die Mutter des 1788 in Danzig geborenen Philosophen, gedenkt dieser Beischläge in ihren Jugenderinnerungen als schöner Spielplätze für die Kinder. Die schmalen Straßen mußten mit diesen offenen Vorbauten früher noch viel wohnlicher erscheinen, die sich auch wie vornehme Umkehrungen Spitzwegscher Idyllen anschauen lassen, da sie die Idyllen aus Hintergärten und Dachstuben auf diese kleinen Bühnen herab an die Straßen bringen, an welche die Dielen des Hausinnern anschließen. Man denkt daran, daß Chodowiecki mit seinem vornehmen Szenenstil ein Danziger war. So betrachten wir die Häuser mit ihren noch erhaltenen kleinen gesellschaftlichen Vorbühnen, durch die sie gegen die Straßen trotz ihrer Schlankheit recht »ansässig« aussehen. Das Stadtbild ist dadurch noch verstärkt ein gleicher Wechsel von Innenräumen, bis man dann durch das Grüne Tor oder durch das noch mittelalterlich dunkel-hohe Krantor auf die Lange Brücke, das Bollwerk mit den Ländestellen an der Mottlau, hinaustritt und die ganze Stadt als eine Bühne gegen die allmählich beginnende Danziger Bucht hin empfinden lernt. Dieser Blick mit der Speicherinsel dazwischen, mit Schiffen und dem Beginn von Werften, mit Leben und Treiben hat die glücklichste Vereinigung von Nähe und Größe. Schiffe kommen in Fahrt, und am Fischmarkt sind die Buden kleine Häuser, welche im Wasser schaukeln. Man freut sich an dem Anblick der Fische in ihren verschiedenen Behältern und möchte die Flundern mit den Seiten eines Buches vergleichen, wenn sie aufgeschlagen in der gekrümmten Hand angeboten werden.
Aber noch warten auf uns die eigentlichen großen und geschichtlichen Schönheiten der Stadt. Danzig hat mit der Marienkirche, in welcher Memlings berühmtes »Jüngstes Gericht», die Beute einer Danziger Kaperfahrt, aufbewahrt ist, seinen gewaltigen geschichtlichen Stempel. Die 1343 gegründete Kirche wird durch den Neubau, der um 1400 beginnt und während des Jahrhunderts fortdauert, in die mächtigen Maße umgesetzt, die heute die Stadt beherrschen. Ein aus der Erde gewachsener Umriß zeichnet sich in der Höhe gegen den Himmel. Der in seinen Kanten gewaltig aufsteigende Westturm hat eine Form erreicht, die nicht mehr wächst und nicht mehr sinkt. So könnte man auch von dem Bau im Ganzen sagen, welcher Maß und Gewicht vereinigt. Aber über Giebeln und Fialen sind noch zehn kleine Türme in dem groß in die Luft gespannten und gekreuzten Aufriß seines Raumes. Sonderbar, wie ein Wille reiner Ausbaudeutlichkeit von selbst gleich einem Kastell und einem Bilde voller Wehrhaftigkeit erscheint. Man betritt das Innere (es faßt 25000 Menschen) mit seinen durchstoßenden und hallenhaften Höhen und Weiten, worin noch die Zeit des Alters hungrig fortfließt. Und nun sagt man sich vielleicht, ein solcher Bau sei nicht bloß eine Stilangelegenheit, sondern eine Schleuse, durch welche Zeit und Volk zu einer Einheit durch- und zusammenfließen mußten. Es ist ein entscheidender Gedanke, der bei den noch schärferen Zügen der Deutschordensbauten dann immer wiederkehrt. Es ist auch ein Gedanke, der bei einem Vergleich von Danzig und Lübeck noch von anderen Empfindungen begleitet ist. Lübecks Charakter scheint noch stärker geschichtlich und dabei mit seiner Marienkirche bürgerlicher. Lübeck liegt auch wie ein Riegel und Schlüssel an seiner deutschen Stelle. Danzig ist dagegen mehr eine Bühne der Zeiten und hat ein mehr gesellschaftliches Bild, das sich in sich selber mit schönem Gefallen spiegelt. Aber das Bild von einer Schleuse der Geschichte will man hier doch nicht vergessen. Indem man die Petri-Paul-Kirche dazunimmt, hat man mit ihrer Westseite wieder den Blick einer Front, wie sie auch sonst an der Ostsee ist und die wie ein Stauwehr in der Luft steht.
Man erhält den schönsten Baubegriff für die Gesellschaftlichkeit der Stadt im Artushof, wo der Mittelpunkt der »Junker«, der Kaufherren der Stadt, seit alters ist. Der große Saal, mit schlank zum Sterngewölbe aufsteigenden Granitpfeilern, ist voll zeitgemäßen und nachlebenden Reichtums dieser profanen Gotik. Man müßte, mit Erfolg, hinsichtlich der Spannweite gotischen Raumgeistes hierher noch die schwebendere, »hellere« Seele eines Remters aus der Marienburg vergleichen. Man bedenkt hier den reinen Begriff sozusagen einer sichtbaren Mittelzone, einer Gotik, die in der schlanken, eingeschlossenen Aufgehelltheit das Kirchliche aufzugeben weiß, da der Raum weder von einem schwebenden Hauche noch von einem zehrenden Hunger mehr bewegt, sondern rein im befreiten Zusammenspiele ist. Außerdem ist der Artushof ein besonderes Beispiel des »Sicheinbildens« der Deutschen in einen Bau wie in ein Bild des bürgerlichen Daseins, wie dies in der Spätgotik immer spielender, so in Rathäusern, beliebt wurde. Der Gedanke des Artushofes spielte im Nachklang zu Englands Artussage auch sonst eine im Ordensland beliebte Rolle. Wie viel ist im übrigen auch von der Renaissance Danzigs mit dem Hohen Tor, dem Langgasser Tor, dem Zeughaus und anderem hiemit nur eben erwähnt. Aber auch die alte Mühle an der Radaune sei nicht vergessen und die bäuerlichen Marktwagen bei ihr, deren schräge Bretterseiten Verzierungen haben, als ob Lichtspiele vom Wasser in eine wellige Gitterform umgesetzt seien.
Auch eine Seefahrt wurde nicht versäumt zwischen Neufahrwasser und Westerplatte hinaus in die Bucht und zum Besuche von Oliva. Und zuerst ging noch eine Abendfahrt zum »Admiral Scheer«. Bei Nachtanbruch sah sich das Schiff, während es mit langen Rohren dunkel in die Luft starrte, innerhalb an wie eine vielfältige Bühne mit leuchtenden Treppen. Am Tage aber bestaunte man es wie ein gewaltiges, luftglänzendes Gebilde, von dem es schien, als ob sich der Donner in den seltsamsten Formen darin verborgen hätte.
[Das Jüngste Gericht, Ausschnitt aus dem Altar des Hans Memling in der Marienkirche zu Danzig]
[Langgasse in Danzig]
Sollte man glauben, daß der deutsche Sinn im Osten nicht abnimmt, sondern zunimmt? Das will heißen, daß hier das Ziel einer deutschen Erkenntnis fordernder wird? Hier sind nicht viele Früchte der Zeitalter; um so geschärfter haben sich Formen herausgestellt, die wie Gestirn und Gesetz sind. Wir treten unter die Sterngewölbe männlicher, gotisch strenger Räume, und wenn wir später auf ein Gesetz treffen, womit das menschliche Innesein sich selber als eine letztliche Pflicht festlegen will, so scheint uns von beidem her eine Auffassung gemeinsam. Etwas Unweigerliches, Unausweichliches, so weit auseinander liegend wie eine Ordensregel und eine Philosophie der Vernunft, will doch die Geschichte und das eigene Dasein zu einem ungetrennten Begriff und zu einer gleicherweise gültigen oder wirkbaren Form zusammenbinden. Die Auffassung der Ordensregel ist in Baubildern sichtbar geworden. Es sind Baubilder die im Wehrsinn ihre stärkste Enthüllung gefunden haben. Ist auch das innere Gesetz der Vernunft, die bloße Pflicht, am meisten erfüllbar im Wehrsinn?
Man denkt an die größere Schwere der älteren Formen unserer Geschichte im Westen und Süden, und daß sie mit einer langen Bildung und Wirkung der kämpfenden Kräfte wie aus einem größeren Ganzen der Welt gebrochen und so wieder zu ihrem eigenen Ganzen vereinigt und verankert sind. Wird man nun nicht überrascht sein, daß der jüngere Osten Baubilder von einer schlagenden Unmittelbarkeit des kämpfenden Geistes zeigen kann die in einem einzigen Beispiel ihren ganzen Ausdruck zusammengetragen haben? Und dieser Ausdruck ist von einer fast zauberhaften Schönheit des Wehrsinnes, eines Sinnes, der schon in seinem Bilde das Maß einer Herausforderung enthält. Dieses Bild ist wie eine letzte Enthüllung geschichtlichen Wesens. Es ist auch, als ob die Geschichte den Mut ihres innersten Wesens selbst erreicht habe und in sich selber, im gemessensten Zweck, in reiner Spannung der Kräfte — wozu alle Wehrformen neigen — frei und zeitlos geworden sei. Eine zauberische Zeitlosigkeit liegt über dem Inbegriff dieses deutschen Geschichtssinnes, über dem ritterlichen Baubild der Marienburg in Ostpreußen und alle guten Gelster wollen wach werden bei ihrem Anblick.
Wir fahren von Danzig weg, erfüllt von dem bürgerlich reichen Bild der Geschichte, das diese Stadt für sich allein darzustellen fähig ist. Da nun, ehe wir noch die Fahrt nach dem weiteren Osten vor uns nehmen, konnte uns noch eine erzromantische Figur in die Erinnerung kommen. In einem Landhaus bei Danzig hat der Freiherr Joseph von Eichendorff, nachdem er 1821 Oberpräsidialrat bei der ostpreußischen Regierung geworden war, seine unvergängliche Idylle »Aus dem Leben eines Taugenichts« gedichtet. Also konnte sich diese doch ausgemacht süddeutsche und österreichische Figur hier oben im Norden in das romantische Tageslicht hineinschwingen, hier oben, wo es dem Dichter doch selber etwas schwer wurde, sich »in die Alltagskost recht einzugewöhnen. Gibt es da noch weitere Beziehungen zwischen dem romantischen Taugenichts und dem alten Ritterwesen, zwischen der ziellosen Wanderlust und jener bestimmteren Lust an kriegerischen »Reisen«, die bald aus Pflicht und bald auch aus Abenteuerlichkeit und jedenfalls aus einem einzigartig noch während des vierzehnten Jahrhunderts fortblühenden Rittersinn von halb Europa nach Ostpreußen hin zur Unterstützung der Ordensritter geschahen?
Wir werden uns hüten, mehr zu sagen und all solch romantisch schweifendes Gefühl zu Gedanken zu befestigen, die nicht wesentlicher werden, als uns dieses Gefühl selber schon ist. Indes haben wir es auch schwer, zwischen Romantik und Wirklichkeit einen Staat zu begreifen, der weder aus dem einen noch aus dem anderen, sondern aus einem geistlichen Kampfwesen erwachsen ist. Der Anblick des kommenden Landes wird seltsam sein, das, besät von der Saat der Kreuzzüge in einem gleichgerichteten Zuge nach Osten, mit den Wehrbildern dieser Saat in einer Aufstauung stehen geblieben ist. Diese Wehrbilder, ob sie auch mehr die Zeichen ihres Gesetzes als der Ortshaftigkeit tragen, bedeuten gerade dieses Land und kein anderes. Aber bedeutet nicht der Deutsche Orden selber ein Umkehren der schweifenden Ziellosigkeit der Kreuzzüge in eine Tat bewußtester Ansässigkeit und Staatsbildung? Und ist doch das Bild dieses Staates nicht darum so rein geworden, weil es als die Schöpfung eines geistlichen Ordens nicht mit den stofflicheren Bildern des Eigennutzes behaftet wurde? Indes, mußte nicht diese geistliche Gotik immer mehr zum bloßen Gestirn werden, während die eigentliche Fruchtbarkeit der Gotik die Richtung auf ein bürgerliches Zeitalter in sich hatte?
Gerade mit der geistlichen Unverbundenheit war denn auch ein Grund für den Untergang des Ordens gegeben. Und so stecken die größten Spannungen hier in den deutlichsten, schlicht-kämpferischen Maßen. Es ist ein seltsames Land, dem wir zufahren, und wenn wir an Eichendorff angeknüpft haben, so ist dies auch, weil unsere romantische Neigung mehr den späteren Bildern des Mittelalters zu gelten pflegt, die doch schließlich unmöglich geworden sind, die aber ohne die dunklere Schwere der Frühzeiten im Spiel von Zweck und Idee reiner erscheinen. So schlägt unser Gefühl hier alsbald an die großen und kleinen Gedanken unserer Geschichte.
Eichendorff hat selber Beziehungen zum alten Ordenslande gehabt, die ins Dichterische und ins Praktische weiterreichen. Die Romantik hatte sich schon früher um das ehrwürdige Bild der Marienburg angenommen. Noch als Student hatte sich 1803 der Dichter Max von Schenkendorf, ein geborener Tilsiter, gegen die weitere Verwahrlosung des Schlosses heftig zur Wehr gesetzt. Und nach den Befreiungskriegen 1815 hat dann der Oberpräsident von Schön die Arbeiten zur Erneuerung der Burg in ihrem ursprünglichen Bestande eingeleitet. Eichendorff hat 1844 in königlichem Auftrag über die Wiederherstellung der Burg der Deutschen Ordensritter berichtet. Auch ein Drama »Der letzte Held der Marienburg« zeigt die Liebe des Dichters in seiner Zeit zu dem romantischen Stoffe; und auch sonst wurde der herrliche Bau zum Mittelpunkt seines Empfindens:
Welch Glanz hat mich umflogen ,
und füllt das ganze Haus,
als pfeilerten die Bogen
ins Himmelreich hinaus!
[Rathaustreppe in Danzig]
[Marienburg, Schloß des Deutschen Ritterordens]
Das Land liegt tief und trägt den Blick unaufhörlich dahin über die Niederung des Danziger Werders. Kaum daß man näher unterscheidet, was Wiese oder Acker ist in der vom Horizont weit umrandeten Fläche. Aber dafür ist der ganze Raum auf der Erde durchlaufen von den vielen Zeilen der rundköpfig geschnittenen Weiden, deren kleine Baumgebilde mit ihren buschigen Kronen das Land durchsetzen und doch in eine gleichmäßige milde Ebene verwandeln. Die Luft ist sehr hell, und die Sonne scheint an der blaßblauen Kuppel des Himmels als eine leicht von Wolken verhüllte, sanfte Scheibe. Indem man so dahinfährt, diese leicht dahinschwimmende Sonnenscheibe über sich fühlend, kann auch die tafelhaft gleiche, sanft begrünte und von den grünen Zeilen bestandene Erdebene wie eine große Scheibe im angemessenen Raume erscheinen, auf der wir uns befinden.
Wir sind im hellen Raumbild unbestimmt gefangen, bis dann alles noch heller und unbestimmter sich zu öffnen scheint und wir gleich einer seeartigen, zart gekräuselten und bläulich blitzenden Bucht den Lauf der Weichsel vor uns haben. Alles ist unendlich mild durchschienen und über der auenartigen Landschaft um die gehöhten Uferränder so durchsichtig, daß die Dinge des wirklichen Lebens, einige kleine Häuser, eine Windmühle, einiges Weidevieh, nur wie kleine dunklere Gewichte mit den Linien ihres eigenen Daseins aussehen. Wir werden mit der Fähre über den Wasserspiegel der Weichsel gesetzt, dessen Schimmer gleichsam um uns in die Höhe geht und sich heimlich über das Land ergießt. Wieder fahren wir in dem Gefühl der Erdscheibe dahin, wenn auch einzelne besondere Dinge, kleine Häuser mit Rohrdächern und dann die Gestalt eines sogenannten Vorlaubenhauses, den Blick besonders fesseln. Das Vorlaubenhaus, mit einem großen Giebelvorbau in Fachwerk, der auf einer offenen, hölzernen Säulenhalle oder Laube — nicht als Wohnstock, sondern als Speicherbau — vor der Längsseite des Hauses vortritt, ist in der hellen Stille des flachen Landes, in dem es eine eigentümliche Bauweise bildet, besonders schön.
Und nun ist uns das Bild der Marienburg in den Blick gekommen. Dort jenseits der Nogat ist langhin am Ufer ein Fleck der Erde bestanden von steinernen Bauten, in der musterartigen roten Farbe des Ziegels, und er sieht aus wie ein gesammeltes Lager von Burgen. Kastenartige große Häuser, Türme mit schweren hohen Dächern, schlanke Türmchen, Giebel, Zinnen, Fenster und Schlitze, der ganze bestandene Raum aber nur wie eine Folge von wehrhaften steilen Kanten, die sich in Raumtakten wiederholen und die verraten, daß hier kein einzelner seinen Herrschersitz hatte, sondern daß hier eine Gemeinschaft in einer großen und genauen Ordnung lebte. Wohl kann man alsbald das Hochschloß für die Ritter und das Mittelschloß mit einem reicheren Zierwerk der Architektur unterscheiden, in welchem der Hochmeister des Ordens wohnte. Aber der Eindruck bleibt, der auf ein gleiches inneres Gesetz hinweist, das sozusagen kein Fleisch angesetzt hat nach einem persönlichen Willen, sondern das wie eine innere mannhafte Aufriegelung ist, eine raum-, mauerund turmhafte Bereitschaft, die sich streng aus Zweck- und Lebensform zu einem Bild reiner Wehrhaftigkeit nach außen auftut und offenbart. Ob es wohl irgendwo noch einen Bau gibt, welcher als Wohn- oder Hausungsbild zugleich so rein das Bild einer Idee und als Bild einer Idee zugleich so schön und unweigerlich das Bild einer Wehr ist? Ob noch ein Land einen solchen Fleck der Geschichte hat, welcher als ein solch reines und zeitloses Wahrzeichen eines heroischen und ritterlichen Lebens erhalten geblieben ist?
Man kommt, indem man hier das Danziger Gebiet verläßt, über die Nogatbrücke, läßt sich die ländliche, umgrünte Milde des Flusses mit dem romantisch reichen Wehrbild unvergeßlich zusammengehen und ist dann bald jenseits auf der langen Ostseite angelangt. Hier scheinen die Hochtrakte und die langen Umfassungen noch steiler über dem Gehenden aufzuwachsen. Und wieder fragt man sich, wie hier ein Bausinn rein aus innerer Aufriegelung und Aufgliederung entstanden ist und wie er aus der gleichen inneren Zucht und Aufriegelungskraft einen erobernden Weltsinn bedeutet. Man fragt sich auch, warum dieses Bauwesen, das doch außer der Strenge seiner wehrhaften Gotik nichts bietet, so stark auf die Phantasie wirken könne. Man spürt wohl auch, was in der Wiederherstellung neu gemacht werden mußte. Und da solche Teile starrer erscheinen, ahnt man im Gegensatz dazu das Gesetz, daß die alte echte Gotik nicht nur einen starren Ort behauptet, sondern daß in ihrem Baubild eine schwingende Zeitstimmung wie eine stumme Musik aufgefangen wurde.
Hier auf der Ostseite ist auch der schlank eingezwängte und ähnlich vorragende hohe Chor der ritterlichen Schloßkirche sichtbar, und in einer Nische gegen Osten das nicht weniger als acht Meter hohe, mit Mosaik leuchtend überkrustete, kolossale Bildrelief Marias mit dem Kind, das den großen Gedanken des Rittertums und des Magdtums, wie es im Sinne des Mittelalters ist, ausdrückt. Es ist wie ein Blickwerk, das nicht vor einem Erdraum vergehen kann. Und als später die Dunkelheit hereinbricht, mochte das hohe Bild halb verschwindend wie eine große steinerne Fahne des Ordenssinnes erscheinen. Die Weite Ostpreußens dehnt sich ahnungsvoll von diesem Burgwesen hinaus, und die Burg der Ritter als ein langhin und hoch gekantetes Lager von Bauten ist nun eine Nachtwache voll dunkler Wucht.
Als letzter der geistlichen Ritterorden war während der Kreuzzüge nach Johannitern und Templern der Deutschorden entstanden. Der Grund wurde gelegt durch Errichtung eines Feldspitals 1190 vor Akkon mit Unterstützung von lübeckischen und bremischen Kaufleuten und des Herzogs Friedrich von Schwaben; aus der Stiftung erwuchs 1198 der Ritterorden der Deutschherren, dessen Zweck der Kampf und die Krankenpflege war. Diese wurde, auch als die Hauptaufgabe der Kampf geworden war, doch mit der Einrichtung der »Firmarie« (Siechenhaus) und mit dem Amt des Oberst-Spittlers beibehalten. Der höchste Rang gebührte dem Hochmeister, der eine Vertretung in dem Großkomtur hatte. Der Ordensmarschall war der Kriegsminister und der Treßler der Finanzminister des Ordens. Dazu hatte noch der Oberst-Trapier für die Ausrüstung der Ritter zu sorgen. Eine Reihe Ämter kam noch hinzu, und zu solchen wurden auch die »Graumäntler« verwendet, die neben den »Weißmäntlern«, als den eigentlichen Ordensrittern, eine geringere Rangordnung hatten. Die Ordensregel war Keuschheit, Gehorsam und Leben ohne Eigentum.
Der weitblickende Hochmeister Hermann von Salza ersah, als der Sinn der Kreuzzüge im Orient nicht mehr fruchtbar werden wollte, eine neue Ordensaufgabe in der Christianisierung der Pruzzen und damit in der Eroberung ihres Landes. Daraus entstand, mit schweren Kämpfen vor allem während der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, zu einer etwa zweihundertjährigen Herrschaft der Ordensstaat Preußen. Anlaß zum Fußfassen hatte der polnische Herzog Konrad von Masowien 1226 durch einen Hilferuf gegen die Pruzzen und durch Abtreten eines Streifens an der Weichsel im Kulmer Land gegeben. Hier drang 1231 der Landmeister Hermann Balk mit seinen Ordensrittern langsam vor. Bei Thorn hatte man angesetzt, und 1255 war man schon zur Gründung von Königsberg fortgeschritten. Dann setzte nochmals ein jahrzehntelanger Rassenkampf ein, bei dem vor allem der südöstliche Stamm der Sudauer den schwersten Widerstand leistete. Die Preußen waren 1283 niedergeworfen, und der Kampf ging nun gegen die Litauer weiter, die hinter Sümpfen und Wäldern saßen, und wohin nun ein ritterliches »Reisen« von halb Europa zum Kampf gegen die Heiden und zum Ritterschlag anhob. Schon 1237 hatten auch die »Schwertbrüder«, die in Livland bestanden, sich dem Deutschorden angeschlossen. Ostpreußen aber hatte nun angefangen, unter der auch wirtschaftlich glänzenden Verwaltung des Ordens ein blühender Staat von deutschen Siedlungen zu werden.
Mittelpunkt dieses Staates war die Marienburg, wohin im Anfang des vierzehnten Jahrhunderts der Hochmeistersitz von Venedig verlegt wurde und 1309 der Hochmeister Siegfried von Feuchtwangen einzog. Die lange Baugeschichte der Burg verzeichnet im vierzehnten Jahrhundert ihre herrlichsten Schöpfungen. Unter Hochmeistern wie Luther von Braunschweig, Dietrich von Altenburg und Winrich von Kniprode verlegte sich der Orden auch auf die Ideale eines ritterlichen Lebens. Wenn der Hochmeister Konrad von Jungingen eine eigene Falkenschule errichtete, so ist dies ein Beispiel, wie, ähnlich dem Kampf, so auch die Jagd nicht mehr ein nothaftes Leben, sondern ein Spiel geworden war. Da brach die Katastrophe über den Orden herein, als der Fürst Wladislaw Jagiello von Litauen eine polnische Prinzessin heiratete und damit auch den polnischen Thron bestieg. Er beendete das Heidentum bei den Litauern und nahm den Kampf gegen den Orden, für dessen Sinn nun die Voraussetzungen weggefallen waren, auf. In der Schlacht von Tannenberg 1410 sank die Ordenskraft dahin. Heinrich von Plauen rettete die Burg. Aber das Verderben ging im Kampf mit dem »Eidechsenbunde« der Preußen und mit den Polen weiter, und die Burg ging im Verrat der eigenen Söldner schmählich verloren. Der Meistersitz kam 1457 von der Marienburg nach Königsberg. Der Hochmeister Albrecht von Brandenburg führte 1525 die Säkularisierung des Ordensstaates durch, und das Herzogtum Preußen ging daraus hervor.
Man muß alle Freude zusammen nehmen, die man beim Besuche von Burgen hat, aber man muß dann alles, was bloß stofflich und »malerisch« reizend ist, wieder wegnehmen, wenn man sich in das Rittergefühl der Marienburg einleben will. Hier ist alles »reich« bloß durch eine große Gemessenheit, und wo diese am stärksten und offensten ist, durch eine kristallhafte Helligkeit des Raumes, so im großen Kapitelsaal und in den verschiedenen Remtern. Man geht durch die Vorburg zum Hochschloß oder dem »Haus« der Ritter durch und dann zum Mittelschloß zurück, das der Bau des Hochmeisters und besonders nach der Nogat hin auch voller Bauzier ist. Der Kreuzgang im Hochschloß, durch die Stockwerke aufsteigend, ist der Mittelpunkt des Sinnes. Das ist hier kein Gedanke der Repräsentation, sondern ein Fleck der Geschichte und der Zucht, das Maß einer Gemeinschaft, die ihre Aufgabe von innen aufnimmt und weiterträgt, das innere Spannungsfeld einer Wehrform, das hier noch stärker als bei den sonstigen Kreuzgängen die Sichtbarkeit einer Gemeinschaft bedeutet, die nicht in sich zentriert und doch um nichts weniger als ein geordnetes Dasein bestimmt ist. Alles, was man weiter sieht, die Räume des praktischen Gemeinschaftslebens, wie sie in Klöstern sind, hat hier diese männliche Form des Raumsinnes, indem alles sich aus der sonderbaren Kraft der Gleichordnung immer weiter spannt. Alles ist in Mauern, Kanten und Pfeilern steil gestellt und ermessen, und wenn ein Gewölbe darüber geht, ist es ein Sterngewölbe, ein gestirnhaftes Gefühl über der festen räumlichen Ordnung und Spannung.
[Marienburg, Hochschloß mit Kapelle und Pfaffenturm]
[Marienburg, Hochmeister-Palast des Ordensschlosses]
In der Tat hat das Ordensschloß der Marienburg die Reinheit eines Sternbildes. Wenn man alles im einzelnen besieht, so wie es zum Mittelalter gehört, die Säle mit dem Gestühl, wie es im Kapitelsaal von der Wand her gegen die freie Mitte blickt, die Pfeiler, die einen Raum wie zu einer Entzweiung durchschreiten, andere Pfeiler, die wie Palmstämme das Gewölbe tragen, so kehrt man immer wieder zu dem Vergleich mit einem Kristall oder zu dem Gedanken an die geheimen Maßkräfte eines Sternbildes zurück. Man denkt, wie im Mittelalter aber auch die zierlose Macht der Dinge zum Geiste gehört, und daß ebenso die Waffe ein mächtiges Ding der Religion war. Man geht über die schmalen Treppen; sie geben kein Gesicht von äußeren repräsentativen Maßen, alles schweigt in der strengen Sichtbarkeit der Räume selber. Die Remter des Meisters im Mittelschloß strahlen auf in einer sonnig hellen Bauweise. Sie tragen das festliche Wesen des Schlosses, und es hat etwas zu der Strenge des männlichen Ritterwesens wie eine jungfräuliche Helligkeit. Solche Räume bringen mit sich den Sinn einer Proportion; keiner solchen, wonach sich ein Raum von höherer Vornehmheit gegen andere und geringere abmißt, sondern einer Proportion im Sinne des Seins und Daseins selber. Das Dasein erhöht sich hier in ein gestirnhaftes Sein. Der Raum wird gleichsam ein Schlüssel der Gemeinschaft, er bedeutet ein reines Maßwerk des Sinnes.
Es ist eine Sonntagslandschaft um die Marienburg, wozu auch die schöne kleine Stadt gehört. Aber man verliert sich aus der Helligkeit der Sonne immer wieder in dem Gedanken, welche Art Einmaligkeit das Erlebnis an diesem Orte hat. Alles hier ist ein »Bild«; aber dieses Bild ist nicht beziehungslos frei: es ist getragen vom Wehrsinn eines Geistes, es ist getragen gleichsam in einem »Schild«.
Der Sonntag hatte mit einem heißen Morgen begonnen. Steiler und stiller noch als gestern stand des Vormittags die Marienburg in dem heftigen Sonnenlichte, und die großen Schatten, die sich an Mauern und Türme legten und die Kanten verdeutlichten, mochten ihr fast ein gewitteriges Nachgefühl ihrer lange schon und schwer zu Ende gegangenen Geschichte geben.
Heute ging viel Leben durch die Burg. Wenn man von langer Betrachtung heraustrat, war man im Freien geblendet, und die Vergangenheit blieb dämmernd zurück. Es war, als ob man in einem alten Buch mit dämmernden Seiten gelesen hätte und als sei dann das Licht der Gegenwart grell auf die vergilbten Blätter gefallen, so daß sie das Auge nicht mehr fassen konnte. Aber ein reckenhaftes Gefühl, wie es hier einst gewesen war, blieb im Herzen bestehen. Im Nachgefühl alter Geschichte wohnt eine sonderbare Geborgenheit.
Hier aber mochte man das Gefühl einer Geborgenheit auch um so mehr betrachten, je mehr man schon auf die Schwere der letzten deutschen Geschichte aufmerksam werden mußte, auf die Ungeborgenheit des Landes Ostpreußen und auf das Schicksal der Flüchtigen, die vor dem Russeneinfall nach Westen und über die Weichsel drängten und deren Zug auch ein neues Bild in der Marienburg im Gedächtnis hält. Kurz, man trat hier schon in das grelle Licht der Geschichte von heute oder gestern, und wenn man an Tannenberg vorausdachte, so war es neben dem Datum vom 15. Juli 1410, als aus jenem Felde der Deutsche Orden gegen die vereinigten Polen und Litauer und durch Verrat im eigenen Lande die erschütternde Niederlage erfuhr, noch mehr das Datum der letzten Augusttage von 1914, als Hindenburg die russische Armee des Generals Samsonow in der großen Gegend fing und vernichtete. Der zweite Schlag Hindenburgs war schon weiter rückwärts an den Masurischen Seen, und die Russen hatten also nicht so weit vordringen können, um die Marienburg zu Gesicht zu bekommen.
Der gläserne Luftspiegel unter dem gewitterig anziehenden Himmel paßte gut in die zwiefältige Stimmung zwischen alter und neuer Zeit, in der wir uns befanden. Nochmals hatten wir am Nachmittag die Marienburg besucht. Man läßt sich die Wahl, ob man mehr die Bilder ritterlicher Einrichtung besehen will, wozu auch die Trinkstube mit der Musikantenlaube oben zum Raume herein gehört, oder auch Dinge wie die abenteuerlich großen Elchschaufeln an der Wand. Oder ob man wieder über die Bauform nachsinnen soll, die ebenso zellenhaft wie in großer männlicher Gemeinschaftsform sich um den hohen Schacht des Kreuzgangs aufriegelt und die nach vier Seiten steil und wehrhaft heransteht. Oder man denkt, wie man das hohe Gefühl von Ritter und Jungfrau auch bei dem geistlichen Orden erkennen kann, der das gewaltige Bild der Himmelsherrin schildhaft nach Osten an die Burgkirche gesetzt hat. Oder wie man in den Remtern das Raumlicht empfinden will, das sich unter den Sterngewölben verflüchtigt, als ob Luft in Licht, eins im anderen, weggesaugt sei.
Die kleine Stadt Marienburg ist von mittel- oder süddeutscher Farbigkeit im Ansehen und Wohngefühl. Ihr schönes Rathaus geht noch in die Ordenszeit zurück. Und hier soll nun, wie es in der Stimmung des heißen Nachmittags liegt, noch ein Blutflecken nicht vergessen sein, der in die letzte Ordensgeschichte gehört. Wie es oft ist, daß ein einzeln vergossenes Blut mehr ins Gedächtnis dringt als der blutige Kampf von vielen, so hat sich in das Endschicksal der Marienburg der Name des Bürgermeisters Bartholomäus Blume eingeschrieben. Als am Pfingstmontag 1457 der Hochmeister Ludwig von Erlichshausen von eigenen Söldnern aus der Burg vertrieben und diese an den Polenkönig Kasimir II. gefallen war, da nahm der Bürgermeister Blume mit Ordenstruppen, die er in seine Stadt einließ, Kampf und Beschießung gegen das Schloß und die Polen nochmals auf. Durch drei Jahre vermochte er diesen letzten zähen Widerstand durchzuführen, da mußte sich die Stadt am 6. August 1460 ergeben, und der gefangene Blume wurde von den Polen enthauptet, ein deutsches Opfer an dem Wege der ostpreußischen Geschichte.
[Marienburg, Konventsremter im Hochschloß]
[Marienwerder, Ordensschloß]
Die Sonne brütet still im weiß überflirrten Himmel, als wir nun in das eigentliche Land Ostpreußen die Richtung nehmen. Wir gedenken es in einem großen Oval, über den Süden an der polnischen Grenze hin, nach dem Osten zu mit den großen Seen, dann nach Königsberg und weiter über die Gegenden der Haffe und des Meeres wieder nach rückwärts ganz zu umfahren, zu queren und anzuschauen.
Mit dem Verlassen des Marienburger Werders wird das Land etwas hügelig bewegt. Nun fahren wir nach Süden in der Richtung auf Marienwerder und sind östlich der Weichsel in einer Landschaft, die, leicht wechselnd und ganz bäuerlich, in den weiten und doch heimlich nahen Frieden des Sonntagnachmittags eingeschlossen ist. Kaum daß man jemand des Weges sieht; nur einiges Vieh ist auf Wiesenstücken; die Gehöfte sind lautlos und fallen dadurch als Bilder von stiller Sichtbarkeit, sofern sie etwas Fremdartiges haben, um so mehr auf. Da sind wieder die Häuser, vor deren Längsform in der Mitte ein mit Fachwerk schön aufgeteilter großer Giebelbau vorgezogen ist, dessen Erdgeschoß aber eine offene, auf Holzsäulen gestellte Halle mit dem Zugang zum Hause bleibt. Das sind wieder die Vorlaubenhäuser, welche Offenheit und Geschlossenheit stattlich und freundlich vereinigen. Außer ihnen finden sich in der Weichselniederung auch die schlichten Bohlenhäuser, Holzhäuser aus geschnittenen Balken, deren schwärzliches Silbergrau unter den Stroh- oder Rohrdächern voll Alter und Ruhe wirkt und uns nun im Osten und Norden häufig begegnen wird.
Eine ländliche Straße führt innerhalb des Deiches hin, durch dessen Höhe die Niederung des Landes vom Flußbett der Weichsel abgeschlossen ist. Wir sind bei Kurzebrack; und hier ist der heute einzig belassene Zugang Ostpreußens zu dem so stillen und gleichsam aus der Geschichte gerückten Strome. Ein Wiesenpfad führt auf die Höhe des Deiches hinauf. Die gewitterige Wärme am Hange wechselt oben in eine leichte Kühle, und vom silbern gewordenen Himmel tröpfelt es leise. Das Gewitter ist nicht ausgebrochen, sondern es ist bei dem flirrenden Gewölke geblieben, das nun matt und groß über der Weichsellandschaft still steht. Der weite Raum liegt halb im Glanze und ist doch auch von Schatten leise überzogen. Und auch der Spiegel der Weichsel, die in einer langen, sanften Krümmung heran- und vorbeizieht, ist glänzend und bleich, halb wie ein überhelles und halb wie ein fast finsteres Silber. Ungleich der Elbe, die stumm ist und von Arbeit rauscht, hat die Weichsel hier die Sprache einer Gelassenheit, die, rein in sich gewendet, wie eine große und doch leise Dichtung dahinzieht und deren Lauf in ihrem Uferbande fast heller scheint als der Himmel.
Die ganze Deichlandschaft scheint voll einer milden, aber unaufhaltsam ausgebreiteten Melancholie. Die Luft fächelt, aber es ist unsäglich ruhig, und nur das Gebrüll eines Stückes Vieh von einer Weide macht manchmal die Runde lebendig. Man sehnt sich, gegen Osten blickend, nach der kernhaften, schwereren Farbe der Äcker; und da sieht man auch ein Stück Regenbogen breit und groß über dem östlichen Lande hängen. So ist man hier herausgekommen, um ein Gefühl der Geschichte zu erleben. Aber alles geht hier über in ein schweigendes Naturgefühl, das den Sinn der Geschichte nicht ersetzen kann und das für uns nun doch immer zum Schicksal des abgetrennten ostpreußischen Landes gehören wird.
Wieder geht es in der Niederung dahin, aber nun schon in der Richtung nach Osten. Bald steht Marienwerder, auf eine Anhöhe gehoben, im Raum. Es ist ein Stadtbild, das mit einem Schlage, und obwohl anders, so doch viel verwandt mit der Marienburg, wieder ein Denkmal der Geschichte ist. Was wäre die Landschaft, wenn sie nicht überragt wäre von Schloß und Kirche, die nochmals den ganzen Traum der Ordenszeit und der Ritterkraft in Auge und Gedächtnis setzen. Marienwerder, 1233 gegründet, war in dieser Landschaft, die Pomesanien heißt, einst auch Bischofsitz gewesen. Ein letzter mächtiger Turm neben kleineren beherrscht die Bauanlage, die, nicht mehr vollständig, doch durch die Höhe und die große Schlichtheit allen Außenbaues auffällt. Das Auffallendste ist übrigens, mit gewaltigen, hohen Bogenschritten in die Ebene herausgestellt, der »Dansker«. Was ist der »Dansker«? Er ist auch bei der Marienburg ein großer, gegen die Nogat herausgestellter Turm, und ist der Ort, wo auch der König zu Fuß hingehen muß, nämlich der Abort des Schlosses. Nun ist die Stadt erreicht. Die kastellhafte Wucht, die ganze einmalige Einprägsamkeit, die Gotik ohne Äußerlichkeit, der Gang zwischen Schloß und Kirche, alles nur wie aus Höhe und Raum zur Wehrform herausgeschnitten, so erfährt man nochmals die Erscheinung eines Hauptortes des deutschen Ordens in Sinn und Gefühl. Der Blick wird emporgeworfen, und die Kraft der Geschichte ist hier wie ein stummer Ruf erhalten geblieben. Der mächtige Turm ruht auf Findlingsblöcken, als ob er darauf rollen müßte. Das Innere der Kirche hat mit schweren Pfeilern und weiten Spitzbogen einen großgeschnittenen, aber strengen und harten Raum.
Der Nachmittag führt uns durch die Stadt, wo sich die Menschen sonntäglich ergehen, in das höher liegende und gekrümmter hängende fruchtbare Land. Über uns ist der von Wolken fahrig überzogene Himmel, die Äcker sind »strudeliger« bewegt, man sieht auch Wald, und die Seen kommen in den Blick, die schon die Nähe des sogenannten Oberlandes anzeigen, das ähnlich der masurischen Landschaft von Seen überall reich durchsetzt ist. Eine Schafherde kommt entgegen mit dem schaligen Geräusch ihrer vielen kleinen Schritte. Die Gegend wird groß und gleichsam lässig mit der gleichmütigen Kraft der Ackerlandschaften. Gutshäuser sieht man einzeln stehen, auch neue Siedlungen und große Scheunen mit Storchennestern. So geht die Fahrt nahe der polnischen Grenze hin. Man kommt durch Freystadt; und während das Acker- und Wiesenland in ruhigen Bewegungsmaßen weitergeht, ohne lauschigen oder idyllischen Charakter, sondern immer in der gleichen Größe, wie die Jahre der Bauernarbeit selber, liest man plötzlich auf einer Holztafel an der Straße das Wort »Neudeck«. Einige Wirtschaftsgebäude stehen rechts im Felde, dann steigt die Anfahrt zum Gutshause etwas an, und hinter einem kleinen Parke liegt der Gutshof, wo der Feldmarschall zuletzt seine Hausung hatte, und von wo der große Trauerzug mit dem Toten die letzte Fahrt nach Tannenberg antrat.
Man hat keinen Zugang, aber es genügt auch, hier das Land, die bäuerliche Größe und die abendliche Stille gesehen und gefühlt zu haben, um die Würde der Geschichte dazu zu empfinden und ausklingen zu lassen. Am Scheitel des Himmels hatte sich ein Gebilde von großen Wolken gesammelt, das aussah wie ein schwerer, lastender Wolkenvogel, der mit breiten Schwingen über der Erde schwebte und alles in seinem starken Schatten verdichtete. Unter diesem Gewölke aber brach der glühende Blick der Sonne von Westen her noch herein und schickte auf alles, was wuchs und ruhte, einen rötlichen und goldenen Schimmer. So verging der letzte Heimatort des Feldmarschalls wieder im nachglänzenden Abend, und im Gedächtnis blieb noch der Klang von Kinderstimmen, die man in der Nähe gehört hatte.
Wieder war das Ackerland offen, und der Gedanke kam dazu, daß der Mensch nach Beständigkeit trachten muß, wie er aus der beständigen und unansehnlichen Treue der Scholle seine Nahrung zieht. Wieder kam ein See, und dann waren wir durch Deutsch-Eylau gekommen. Es ging ähnlich weiter in die Nacht hinein, und da war dann die Stadt Osterode. Vorher hätte man abbiegen können, um nach Mohrungen zu gelangen; die Namen dieser Orte zeigen an, daß einst hierher aus Mitteldeutschland die Kolonisten nach Ostpreußen gekommen sind. Mohrungen ist aber auch der Ort, wo 1744 Johann Gottfried Herder geboren wurde, der im Kreise von Weimar fruchtbar werden sollte. Hier wäre also schon ein Anlaß, der sich in dem Königsberg Kants und Hamanns noch außermaßen steigert, nämlich daran zu denken, daß Ostpreußen, der Schauplatz einer schweren Geschichte, zugleich Land und Ursprung einer großen Geistesgeschichte ist.
Als wir im Lande dahinfuhren, sagte plötzlich einmal unser Freund, der westfälische Bildhauer: »Wenn man es sich so besieht, dann ist alles in Ordnung, und doch fehlt alles.« Das war mehr ein Wort der Stimmung als eines bestimmten Gedankens. Aber in eine solche Stimmung mag plötzlich das Gefühl zusammenrinnen, das man hat, indem man über das offene Land blickt, indem man an das unaufhörliche Ringen von Geist und Geschichte denkt, und wie dann hier oben plötzlich alles einer furchtbaren Schicksalsnot ausgeliefert ist. Plötzlich kann dieses Gefühl ganz ins Bewußtsein treten, und mit diesem Gefühl im Herzen fährt man nun nach Tannenberg.
Es ist ein neuer Morgen, aber die Landschaft ist immer noch groß und gleichmütig wie vorher. Man denkt, Ruinen oder sonst Merkmale zu sehen; aber solche bleiben hier nicht malerisch stehen wie etwa von den Kämpfen in den Alpen. Es ist Naturlandschaft und Arbeitslandschaft, und mit Willen und steter Bereitschaft hat der Mensch hier wieder alles ausgeräumt und aufgebaut. Die Natur zeigt die Geschichte kaum mehr, deren Schrecken über ihr gewesen sind. Aber man wird hineingestoßen in die Erbarmungslostgkeit des Sommers 1914, indem man über weite Ackerlehnen blickt, die von Wald begrenzt sind, indem man später zu den Heldenfriedhöfen kommt und nachfühlt, wie hier plötzlich das Verderben herausbrach, wo heute wieder Frieden ist, wo aber das Gedenken schmerzlich fortdauert.
Wir sind unter heißem Himmel auf dem Wege. Reichenau ist hinter uns, und nun taucht plötzlich und alsbald hochstehend im Felde wie eine mächtige Steinkrone Tannenberg auf. Man ist in der Ordensarchitektur gewesen als der Form einer von innen her messenden Geschichte. Nun hat man den Schritt zu nehmen über das offene und erhöhte Feld zu dem kubischen, aus Mauern und Türmen im großen eckigen Laufe des Umfangs erstellten Zackenreifen. Er scheint sich über der Erde mit Lasten und Gewichten zu wiegen, zu sinken und zu steigen, und so bezeichnet er das Gedächtnis der Zeit. Etwas vom Gedanken alter Steinsetzungen ist in seiner Form nachgeblieben und vereinigt sich mit dem Zwecke eines großen Gedächtnisraumes. Er trägt das Wesen eines soldatischen Baues an seinem Orte.
Der Bau und die weitere Vollendung ist bekannt. Die Vollendung hat sich auf eine noch größere Wirkung der Maße und Stufungen und auf eine noch mehr aus der Erde gehobene Kraft des Anblicks erstreckt. Als wir dort waren, wurde noch gebaut, die Steinschlägel hämmerten, und der Sarg Hindenburgs, mit dem Helm darauf und eingedeckt ringsum mit Blumen und Schleifen, war noch in einem Seitenraum beim Eingang. Man konnte noch alles betreten und die optische und geometrische Erscheinung des Raumes nachmessen. Aber die Neugier im einzelnen will nicht der Zweck des Besuches sein. Sondern man will Abstand nehmen und das Ganze in sich fassen, als ein Bild der Ehre.
In der Nähe ist eine Halle mit einem Panorama, richtiger mit einem beweglichen Leuchtrelief, das den ganzen Verlauf der Schlacht von Tannenberg vom 24. bis 31. August deutlich macht. Auch der Laie empfängt hier ein Gefühl von der großen freischwebenden Kraft eines Krieges und eines soldatischen Denkens.
[Marienwerder, Dom]
[Marienwerder, Ausschnitt vom Reliquienschrein]
Wir haben die große Steinkrone von Tannenberg verlassen. Unsere Augen laufen wieder über die Feldungen, die hier ringsum sind, und streifen den großen Kreis des Himmels entlang, der, wenig von Zwischendingen gehemmt, das bäuerliche und das geschichtliche Land in eine Einheit zusammenschließt. Es ist eine Einheit vor allem des Gedankens und des erinnernden Gefühls. Wäre das große Totenmal nicht, so wäre diese Gegend nicht leicht in der schlüssigen Gewalt eines Datums zusammenzufassen. Nun aber begegnet sich das weite Schicksal mit dem nahen Schlachtgedanken, mit dem genialen Gegenspiel gegen die ängstlichen Unbestimmtheiten eines ausbrechenden Geschehens. Ein Datum ist anberaumt, es springt heraus aus dem Helme, in welchem der Kriegsgott die Lose der Kämpfenden schüttelt. Eine große Erfüllung ist herangereift, und nun trägt eine Landschaft das Zeichen des Todes, des Sieges und der Ehre.
Was ist eine geschichtliche Landschaft? Hier jedenfalls haben die Augen in dem Sinne bestimmter Merkmale nur wenige Anhaltspunkte. Um so mehr verankert sich die Empfindung an dem einen großen Male, in welchem sich das Gedächtnis hier gesammelt hat. Und dann schweifen unsere Augen wieder über die Erde der Bauern, während unser Herz von der Geschichte in diesem deutschen Osten erfaßt ist. Der Himmel ist heute blaßblau und zugleich von einem lastenderen Blau gewitterig durchschattet. Er gleicht einem leuchtenden und doch über seiner Tiefe brütenden Seespiegel, so, als ob der Spiegel eines der vielen ostpreußischen Seen, vielmal als Gegenbild vergrößert, über das ganze Land gezogen sei. Es ist groß und schweigend an seinen Himmel gekettet. Unser Gefühl wird leise befreit und bleibt doch in der schwebenden Stimmung der hier gewesenen Geschichte.
In solcher Stimmung befinden wir uns wieder des Weges, und sie begleitet uns zu den Gräbern der Soldaten. Es werden nun viele solche Gräber sein, die, zu Heldenfriedhöfen geordnet, gleich kleinen Beeten ihre Reihen zeigen. Einer dieser Friedhöfe aber, der nicht fern ist, verlangt ein besonderes Gedächtnis. Denn hier hat der Tod und das Unglück, das zum Schlachtenglück gehört, eine reiche Ernte gehabt. Wir sind durch Hohenstein gekommen und halten jetzt bei einer kleinen eisernen Brücke, die über die Maranse führt. Hier ist der Ehrenfriedhof von Waplitz. Am Eingang zu dem Totenfelde, das wir heute in einem beginnenden herbstlichen Frieden betreten, liest man, daß an dieser Stelle am frühen Morgen des 28. August 1914 ein Infanterieregiment im Angriff aus Richtung Adamsheide verblutete. Es fielen der Oberst, einundzwanzig Offiziere, zweiundvierzig Unteroffiziere, siebenhundertunddrei Mann. »Zu ihrem ewigen Gedächtnis.«
Die dürren Zahlen setzen sich, während man durch die lichten, parkartigen Anlagen des Friedhofes hingeht und zu dem Mittelpunkt kommt, wo ein hohes Kreuz mit kurzen Querarmen signalhaft aufgerichtet ist, in Ort und Anschauung um. Große Ackerlängen mit breiten Beeten schwingen sich gegen den wenig geneigten Hang hinauf. Das ist ein richtiges Land für den Pflug, und in dieses ist nun eine Gedächtnisstätte, ein großer Fleck soldatischen Todes eingeschoben. Ein Stück ist vom fruchtbaren Boden abgerissen, um einen anderen Sinn zu erfüllen. Es berührt immer unser Gefühl, wenn die Erde an einem Orte aufgespart und gepflegt ist, um dem Tode zu dienen. Um wie viel mehr hier, wo in den steten Lauf des Jahres mit hartem Gegensatz ein Stück Geschichte sich eingezeichnet hat. Es war viel Blut, das in überraschendem Schicksalsschlag auf diesen Äckern vergossen wurde. Sanft und mild ruhen die kleinen Totenbeete unter dem großen Himmel. Blumen blühen zwischen wiesenhaftem Grün. Reihen von Hagebuttensträuchern zeigen ihre rankenden Zweige voll reifer roter Früchte. Auf einfachen Holzkreuzen liest man unaufhörlich Namen, aber nicht selten steht nur etwa geschrieben: »Ein unbekannter Reiter.«
Man wird still bei solchem Gehen und glaubt die Luft selber zu sehen, die leise über dem Totenfelde webt und zittert. Eine Libelle schwirrt leicht und schnell durch den Raum, der jetzt nicht mehr fruchtbar ist als Acker, sondern in dem Sinn der Geschichte. Und immerfort hört man auch die Töne einer Zugharmonika, die langsam und klagend bei der kleinen Eisenbrücke gespielt wird. Man sagt, es sei ein Russe, der von jener großen Schlacht her in der Gegend geblieben sei. Die Brücke zeigt noch Spuren der Schüsse und ebenso die Bäume dabei, welche große verwachsene Narben haben. Es kommen noch andere Heldenfriedhöfe; aber hier spürt man am meisten, wie über einen Acker her der Tod tritt.
Mittagsstimmung ist allmählich über die Felder gerückt. Weiher und Seen leuchten von Zeit zu Zeit auf. Eine Gruppe von schwarzgeflecktem Vieh verbringt, unter Schatten im Wasser stehend, ihren Mittag, und andere Herden suchen schattige Plätze auf ihren Weiden. Es geht nahe der polnischen Grenze dahin, und nun sind wir in Neidenburg, das, wie man weiß, vom Kriege überfallen war und heute eine neugebaute Stadt ist. Diese neugewordenen Städte haben aber einen festen Charakter behalten. Und nicht zum wenigsten Neidenburg, das auch noch ein Stück Mittelalter bewahrt hat, indem sich hinter seinem großen Marktplatz auf waldigem Schloßberg noch mit großen Flanken, Giebeln und kantigen Türmen die alte Ordensburg erhebt. Sie wurde nach der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts von dem Hochmeister Winrich von Kniprode als starke Grenzburg erbaut. Heute noch schauen die beiden gedrungenen Türme, die das Tor beschützen, wie eine stetige Wacht nach Osten. Bogenfriese und andere Zieren machen die Bauflächen, indem sie darüber hinspielen, noch stattlicher.
Die Vielseitigkeit der deutschen Geister, deren Geburtsstätte in Ostpreußen ist, wäre mangelhaft gesehen, wenn man des Geschichtsschreibers Ferdinand Gregorovius vergäße, der 1821 in Neidenburg geboren ist. Was für umfassende, schwierig oder breit angelegte Naturen sind diese einzelnen Ostpreußen gewesen, deren Werke in den deutschen Bücherbestand gehören und die auf große geistige und sammelnde Ernten bedacht waren. So dieser Gregorovius, dessen Hauptwerk die »Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter« ist. Der Ostpreuße wurde dafür Ehrenbürger Roms. Mit seinen »Wanderfahrten« ist er fast noch mehr als Goethe ein Urbild der deutschen Italienwanderer. Als ein »Ritter des Geistes« möchte er den »Dom der Menschheit« ereilen, aber er bleibt nichtsdestoweniger ein begeisterter Deutscher. Seine Liebe für das Mittelalter unterscheidet ihn von Goethe. Sicher ist es die Möglichkeit, einen unmittelbaren Erlebnishunger hier am meisten sättigen zu können, was seine an sich humanistische Neigung zu dieser Zeit hingelenkt hat. Die Geschichte ist ihm weniger letzter Sinn als Erlebnisstoff. Und darin ist dieser Ostpreuße, der 1891 in München gestorben ist, ein deutscher Zeitcharakter von erstaunlicher Frische gewesen.
Unsere Straße läuft nun unaufhörlich ganz gerade hinaus in eine ebene Landschaft. Es sind da kaum Ortschaften und nur selten einige zerstreute Häuser. Später öffnet sich ein magerer Birkenwald, und dann biegen wir rechts nach der polnischen Grenze hin ab, wo ein sandiger einsamer Fahrweg durch den schütteren, von Birken und Kiefern dünn bestandenen Wald weiterführt. Nach einer Zeit sieht man zwischen den schlanken Stämmen ein blockhaft aufgesetztes Denkmal, das aus Findlingsteinen zurechtgemauert ist. Eine Tafel ist eingefügt und trägt die Inschrift: »General Samsonow, der Gegner Hindenburgs in der Schlacht bei Tannenberg, gef. d. 30.8. 1914.« Das ist die einsame Stelle, wo sich Samsonow nach der verlorenen Schlacht, haltlos zum Ende seines Tuns und Lebens getrieben und mit der Schwere der Verantwortung im Herzen, erschoß. Seine Leiche ist von dem Orte seines Endes durch die Seinigen weggebracht worden.
Wozu besucht man einen solchen Ort? Die örtliche Anschauung der Geschichte gibt eine stärkere Empfindung als das bloße Wissen. Man legt die Strecke zurück von Tannenberg bis hierher und hat damit eine Strecke von Menschenmaßen zurückgelegt. Man hat die Wucht des Kampfes gefühlt, und wie sich die Ehre des Sieges über das persönliche hinaus in die Ehre des Volkes und in das Zeitgedächtnis erhebt. Und hier schlägt die Größe der Geschichte um in das persönliche Schicksal und in ein ratloses Ende. Es sind zwei Pole in der geschichtlichen Dramatik. Auf diesem grün- und weißmoosigen Waldboden, wo der Blick durch die dünnen Stämme wie durch ein Gitter überallhin und doch ziellos geht, hat sich das andere Ende eines solchen Dramas vollzogen.
Das ebene Land bleibt auch, als wir, statt auf die Johannisburger Heide loszusteuern, nun nördlich nach Ortelsburg abbiegen. Die Ortschaften haben niedrige, kräftige Holzhäuser mit ihrem schönen Wettergrau. Ortelsburg, die neu aufgebaute Stadt, die ihren alten Namen von dem Trierer Ortulf, einem Ordenskomtur, hat, ist breit und auch mit den Zeichen von Industrie in die Ebene gelegt. Man beobachtet seit längerem die ruhigen, festen Gesichter des Menschenschlags. Wieder sind Ortschaften mit Holzhäusern zu durchfahren, und die Frauen sieht man im Freien nicht selten barfuß gehen. Weiter geht es in der Fläche der Ebene, die aber nicht so sehr weitsichtig ist, sondern wie in ihrer eigenen Ebene eingebettet. Überall ist schon ein herbstlicher Glanz. Auch hohe Kiefernwälder kommen wieder, und der Waldgeruch würzt die Luft.
Nun vermehren sich die Seen, und während die Landschaft bisher offen und gleichmütig war, wird nun der Umblick heiter, und auf einmal ist die Umgebung mit vielen Seen sehr schön. Aber alle Anmut ist ganz still und ungestört. Grüne Wiesen und Schilfgrün, kleine blaue Seen, Inseln und Einbuchtungen, Land und Wasserflächen, ein schneller Wechsel von Grün und Blau, dazu Auenweite und durchsonnter Wald, das scheint eine lebhafte Landschaft zu bedeuten. Aber es ist doch anders. Kein Bild sammelt sich eigenwillig, eines hält das andere im Bann, und alle gleiten mit dem natürlichen Bande der Erde, leise gehemmt von ihren eigenen sanften Formen und doch zwanglos, vorbei, so daß davon dem Schauenden ein Wechsel von heiterer Anregung und Entspannung willenlos zufließt.
Aber die Landschaft will sich nicht zu heiteren Idyllen auflösen. Es bleibt ein wenig Schwermut oder ein Zug von Elegie erhalten, und man sucht im Naturbilde selber zu ergründen, wieso dies sichtbar ist. Weil manchmal die Seefläche weit verteilt ist und wie eine blaue Tafel sich entfernt, weil sie manchmal auch in einen Wald geschoben ist und dann der Sonne nicht mehr blitzend, sondern ernst und voll Beschattung antwortet, weil das Band der Erde im leisen Ausgleich schwankt, dadurch wird die Idylle nicht stärker und lächelnder als die elegische Stimmung einer weiter und unbegrenzter unter dem Himmel hinausgerückten und ausgegossenen Landschaft. Eine einsame Sprache bleibt im Raume. Und da ist auch wenig und ganz schlichte Siedelung, und an der Straße kann der Blick noch auf Grabhügel vom Kriege fallen, um welche die ländliche Erde schweigt.
[Das Schloß zu Königsberg]
[Der Dom zu Königsberg]
Das Philipponen-Klösterchen
Wir sind in dem Vorlande der großen Masurischen Seen angelangt. Da gibt es einen ansehnlichen Ort Alt-Ukta. Und von hier aus möchte nun ein Wanderer eine Überraschung erleben, wenn er in der Nähe nach Durchschreitung einiger kleiner, fast patriarchalischer Holzsiedelungen zu einer Einfriedung gelangt, deren Eingangstor und bescheidener Kirchturm von Kreuzen besetzt ist, die er an den drei Querbalken, wovon einer breiter und einer weiter unten ganz schräg ist, als russische erkennt. Wir waren indes vorbereitet, daß es hier in Ostpreußen ein russisches Frauenklösterchen gebe. Und es gehört auch so zu der Gegend, daß es in den Ausflugslisten um die Masurischen Seen eigens genannt ist. Nicht daß man nun glauben dürfe, hier habe sich eine Sehenswürdigkeit für Reisende eingerichtet. Sondern was man findet, hat das bescheidenste Wesen. Aber so darf es gerade zu dieser Gegend gehören.
Es ist hier tatsächlich eine kleine Anzahl von Ortschaften, die von ausgewanderten Russen bewohnt sind. Ihre Zahl wird heute auf fünfhundert und auch mehr angegeben. Es handelt sich um eine Sekte, um eine Gruppe eingewanderter Philipponen, die sich als Altgläubige bezeichnen. Unter Friedrich Wilhelm III. haben sie 1825 das Recht erhalten, sich auf dem Boden des Cruttiner und Nikolaiker Forstes anzusiedeln. Das Klösterchen mit den Nonnen liegt am DußSee bei Eckertsdorf, und dies ist der eingefriedete Ort, den die Reisenden, indem sie durch die Russendörfchen kommen, besuchen.
Unser Wagen hält außen am Wiesenweg, und an einem Grashügel hin geht ein Pfad zur Pforte. Das Anwesen ist von der schlichtesten Bretterwand eingefaßt, die rings über Hügel und durch das Grasland läuft und die kleinen Klostergebäude gegen den stillen, dunklen Seespiegel abschließt. Eine Schwester, die deutsch sprechen kann, läßt die Kommenden ein. Man besucht die kleine Kirche, darf einige Zellen oder Kämmerchen betreten, geht auf den Friedhof, sieht die einfachen Gebäude, und was zum Lebensunterhalt gearbeitet wird, und verläßt das friedliche Gehege dieses fraulichen Lebens wieder. Was war da weiter zu sehen? Und doch war überall etwas Besonderes dabei. Das Kirchlein war innen geschmückt und niedlich gemacht, wie das Nonnen gerne tun; aber es war ein Stück alte russische Haltung durch die Ikonenwand dabei, jene Bilderwand, die sich beim Altar befindet. Die Zellen sind klein, und fast möchte man sie mit kleinen Behältnissen oder Schatullen vergleichen, wie eine alte Schwester eine solche vor sich hatte, die still in den alten Dingen kramte. Und auch hier gab die Bilderecke einen festen Stil. Der Friedhof hatte kleine Grabhügel, die merkwürdig ungepflegt und bloß von einigen Blumen überwuchert und mit den Russenkreuzen besteckt waren. Aber das gab ihrem Dasein eine sonderbar ruhige Ländlichkeit. Auch war dabei ein Bienenstand, um den es fleißig summte, und Obstbäume waren im Anwesen, deren Zucht die Philipponen betreiben.
Die Nonnen haben eine dunkle Tracht, fast wie Bäuerinnen oder Mägde. Auf dem Kopfe war ein schwarzes Pelzchen, und eine Nonne, die zur Kirche ging, trug darüber ein weißes Kopftuch. Unter dem schwarzen Schulterkrägelchen, das rot eingefaßt war, sah man den losen Zopf auf den Rücken hängen. All dies war zugleich bäuerlich und beschaulich, und man sah auch Krüppelhafte, die im gleichen Frieden tätig waren. Das Sonderbarste aber war eine junge, lahme Deutsche, die, betreut von den Nonnen, in einer Zelle saß und nichts tun konnte, als zum offenen Fenster in den grünen Frieden hinausblicken. Sie hatte ganz langsame Bewegungen, die seltsam schön und schwer aussahen. Und ebenso klang ihre langsame und gelähmte Stimme. So war es hier, und die Glocke des kleinen Turmes schlug auch so, als ob sie ihren Laut nicht fortgeben wollte. Dazu glänzte der kleine See feierlich und fast schwärzlich unter der einfallenden Abendsonne.
Der Tag geht hinter uns dahin, indem wir nach Osten fahren, und das Land wird immer gelassener und stiller. Nicht daß es leer würde und ohne Bildungen wäre, ohne Hügel und Geschiebe und erhöhte Randblicke seiner Erde. Vielmehr hebt sich die Oberfläche mit Wällen von einstigen Endmoränen, und der Blick wird von Nähe zu Ferne immer wieder frei und bewegt. Wir wissen, daß nun die Masurischen Seen kommen. Wir empfinden uns, ehe wir noch diese Landschaft und die Ränder überschauen, in welchen das Wasser seine bleichen Flächenspiegel immer wieder fortsetzt, schon unter ihrem Himmel. Es ist, als ob wir in einen Raum hineingezogen würden, der, wo immer auch alte oder neue Siedelung in ihm vorhanden ist, das Maß einer Nähe darüber wegnimmt; und was sich darin behauptet, hat eine stille und in Blicke der Fernen verlorene Lieblichkeit. Die stumme Weite ist stärker als die liebliche Nähe, und so scheint sich das Leben selber zu verlieren in unerreichten und immer wieder fortlaufenden Grenzen. Das ist es, was wir von den Masurischen Seen ahnen und was wir dann sehen.
So ist es in diesem Lande Ostpreußen. Wie reich in starken Gegensätzen und Umschlägen seine im Verhältnis kurze Geschichte ist, so verschieden erleben wir auch einen Umschlag seines Bodens und seiner Natur auf den gedrängten Strecken unserer Fahrten. Da war am Anfang die Marienburg gewesen, wo sich der Naturraum ganz zu dem geschichtlichen Sinne eines getürmten ritterlichen Wehrbildes erhoben hatte. Dann waren langhin Ackerlandschaften zu durchfahren, so wie sie uns Hindenburgs Gut Neudeck ins Gedächtnis gegeben hat, wo das Brot wächst und der beschauliche Aufenthalt nur auf dem Umwege über die bäuerliche Habhaftigkeit Platz hat. Und nun kommt eine ganz große Gegend, die wie ein Irrgarten von Land und Wasser ist, aber doch kein Garten der Beschaulichkeit; denn sie hat etwas Unbegrenztes, das, wenn es den Sinn in der Nähe ruhig macht, ihm doch die Unruhe der Weite zufügt, und das in seinem Bilde etwas immer Anfängliches und Unbeendliches behält.
Unser Sinn geht über das ganze Landbild von Ostpreußen hin, und er will auch schon die in ihren langen Nehrungen offenen und geschlossenen Küsten an der Ostsee hinzudenken. Dies alles ist wie ein sonderbares, in herbe Kürze gebrachtes geistiges Kartenbild von deutschen Trieben und Sinnen geworden. Dies war im Mittelalter das Ziel der deutschen Ritter aus Süden und Westen und Mitte, um hier ein Land einzudeutschen. Und dieser Osten ist das Stammland geworden für den Namen »Preußen«. So mögen unsere Gedanken schweifen, indem wir einer Gegend zustreben, wo aller andere Sinn unterliegen will einer unbegrenzten Naturempfindung. Ringsum hier aber und auch zwischen den Seen waren die Niederlassungen des Ordens und seine Ritterschlösser, welche die deutsche Geschichte in diesem Naturraume für die Jahrhunderte befestigt haben. Die Zahl der Städte ist davon geblieben, deren Namen man im Weltkrieg gehört hat. Unsere Gedanken schweifen von hier zum fernen Süden; dort deutsches Wesen flutend über das Gebirge, hier deutsches Wesen fortdringend im ungewissen Osten. Auch wenn uns von Abstammung das alte Geschehen im Süden am nächsten ist, so fühlen wir doch ganz, daß auch hier alles dem deutschen Blute gemäß ist.
[Königsberg, Schloßkirche]
[Königsberg, Denkmal Friedrich I. von Andreas Schlüter]
Die schöne Seltsamkeit von Luft und Abendsonne, wo mit der Farbe der kleinen Seen auch das Grün des Gefildes überall im Raume um uns zu schwimmen schien, wollte uns immer noch mehr überfallen. Wir brachten die Stimmung von Alt-Ukta und von der kleinen Russensiedlung mit, die war, als ob hier die Zeit zwischen den wettergrauen kleinen Blockwänden der Häuser, den Obstbäumen, den Erntewagen, der ländlichen Arbeit an den Seewiesen und dem dienenden klösterlichen Leben keinen anderen Fortschritt wüßte als nur den bäuerlichen des Jahres. Aber die Stimmung mit Wäldern zu den eigentlichen Seen hin wurde dann größer, und die Idyllen wurden strenger. Das Gastgewerbe mit schönen Häusern — wie ja diese Gegend immer mehr zu einem deutschen Reiseziel wird — kann diese natürliche Art der Landschaft, die jetzt zur unaufhaltsamen, ungebändigten und doch milden Unbeschränktheit übergeht, kaum unterbrechen. Nun sind wir in dem neuen Bereiche. Rudczanny gibt uns den ersten Blick in einen streng schönen umwaldeten Seewinkel, der ein Ausschnitt ist in der zusammenhängenden Folge von Seen, welche, von Süden nach Norden ziehend, den großen Spirding-See zu ihrer Mitte haben, und die sich so wiederholend mit weiteren großen Seen nach Norden hin die gewaltige vielteilige Seenplatte ausmachen. Gleich hier, wo Wald ist, der die Tafel des Wassers ausmißt und hinzeichnet, fühlt jemand, der sonst den Anblick von Seen im Rahmen von Gebirge gewohnt ist, sehr die andere Art der Landschaft, die herb ist, weil sie ohne die Hilfe eines anderen großen Rahmens, nur aus sich selber spricht. Ernst und Kargheit machen dieses Bild vom Wasser, umrandet von geringen Höhen, die mit dem Bestande ihrer Bäume wenig steigen und fallen, gemessen und leise feierlich. Man fühlt aber, wie sich hier eine Heide des Sandes und Waldes, welche die Johannisburger Heide ist, in eine »Heide« des Wassers fortsetzt. Man sieht dies später bei den großen Seen noch mehr und dabei verliert sich, was leise feierlich ist, um über diesen weit hinaus gegossenen Wassern in einer größeren, fast schwebenden Stimmung aufzugehen. Man wird sehen, daß auch Äcker bis in die Ränder bei Seen einmünden, daß Häuser und auch Städte da sind. Aber es wird doch ein Eindruck der Einsamkeit bleiben, die, gleichsam überall hinfliehend, sich doch immer wieder findet. Und es wird auch ein schwebendes Gefühl wie von der frühesten Schöpfung bleiben. Wenn man Seen sonst gerne »Augen« einer Landschaft nennt, so ist das hier anders. Diese Seen sind ein ganzes Gesicht, das einsam ist und mit seiner Landschaft unter dem Himmel dahinliegt.
Der Nieder-See zieht sich langhin bis Rudczanny, dann folgt ähnlich hingezogen der Beldahn-See. Hernach, wo es in die schmale Bucht nach Nikolaiken hineingeht, öffnet sich der Zugang zum großen Spirding-See. Wohl handelt es sich nicht darum, viele Namen der Seen aufzuzählen; aber solche einzelnen Bezeichnungen mögen uns doch wie einige Farben dazu dienen, die Karte lebendiger abzuhören. Dem Anfahrenden aber — wir kommen zu Lande gegen Nikolaiken — wird das Land von selber voll einer schweigenden Lebendigkeit im Schauen.
Plötzlich tat sich der Blick auf, als wir hier gegen den See kamen. Landzungen und Buchten gehen ineinander, der Himmel glühte nach von der eben versunkenen Sonne, der See war überall so tiefblau wie der Himmel selber, soweit dieser nicht von der Röte erglüht war und so im Wasser nachspiegelte. Das Grün des Landes, das ringsum noch hell war, fiel widerstandslos in diese Tiefe des Blaues hinein, in welchem das regungslose Wasser und der Himmel sich begegneten. Und dieses Blau schien mächtiger und dunkler als es in der Nacht sein würde, weil es jetzt von dem tiefen Glanz des Abendrots noch verstärkt wurde. Zwischen allem Blau und Rot aber schien Gold zu sein; und die kleine Stadt mit ihren kleinen ziegelroten Häusern und einem hellen Turm schien durch die Farben selber zusammengebaut und schien doch unbedrängt und lose und mit ihrem Land zwischen Wasser und Himmel in einer Schwebung. Alles war spiegelnd stark in dieser Farbigkeit wie von einem blendenden Golde. Und so mochte dieses kleine bebaute Raumbild im See einen Eindruck geben wie von einem Ikon, von einem alten Bilde auf einem Goldgrund, das mit seinen Dingen klar ist und doch raumlos in seiner steten Aufgehobenheit. Oder auch, der See erschien zerflossen und doch tragend wie eine von Bildern bewohnte Wolke. Schwebung und Klarheit war in einem, und man glaubte alles einzelne zu sehen, während man doch nichts empfand als diese zeitlose Klarheit eines schönen Abends an einem der Masurischen Seen.
Wir fuhren noch eine Waldstraße halbnächtlich weiter. Eine Kette Rebhühner schnurrte auf, es ging zwischen hohen nachtgrünen Kiefern hinab, und dann schimmerten von da, wo wir wohnen wollten, die Lichter durch das Geäst. Es waren ruhige Ostpreußen, die an den Tischen saßen und zur Nacht aßen. Zum Essen gehörten auch Maränen, die man erwähnen muß, weil sie, eine kleine Art von Fischen, gebacken und geräuchert ausgezeichnet schmecken und weil sie zum Hauptverdienst der Fischer gehören.
Der Morgen hatte eine feuchte Wärme, es tröpfelte leise von den Kiefern, und der Wind wehte noch von der Nacht her in den Wipfeln. In den Schlaf hinein hatte man ein oftmaliges Donnern gehört, als ob man halbträumend Zeuge einer fernen Schlacht gewesen sei. Hier war ja überall auch Kampfgebiet im Anfang des Weltkrieges gewesen, und weiter nördlich war hier zuerst die Schlacht an den Masurischen Seen und dann schon teilweise weit hinter den Seen die große Winterschlacht in Masuren Februar 1915 entschieden worden. Der unterlegene russische General von Sievers hat sich wie Samsonow selbst getötet. Heute noch, indem man den Frieden dieses Landes der Seen genießt, glaubt man diese heldische Zeit in den Lüften erhorchen zu müssen. So vernahm man im Schlafe das grollende Dröhnen. Es waren aber, wie einer der Freunde sagte, den ganzen Morgen Gewitter gewesen. Die Seeflächen lagen morgendlich bleich unter der dunstigen Wetterwand, die noch im Osten hing. Aber schon war die Sonne darüber hochgestiegen und ließ den Wald der Kiefern erblitzen. Nun fängt das Wasser überall an, silbergrau zu schimmern, und diese Gegend, die ihr Bild unter vielen Wettern nicht verlieren kann, da sie gleichsam dem Schoße und dem frühen Atem der Schöpfung selber noch nahe ist, liegt in ihrer gleichen und inständigen Stille, über welcher der leichte Wind wie ein Flügelwehen hingeht.
So waren wir nun schon zu Schiffe unterwegs. Wir fahren noch nicht die Hälfte des Weges, der sich von See zu See in der Richtung nach Norden befahren läßt, und doch dauert unser Anteil in einer Richtung allein schon drei Stunden. Dies gibt einen Begriff der masurischen Seefahrt, die bei Lötzen aus dem südlichen in den nördlichen Teil mit dem großen Mauer-See überwechselt. Bei Nikolaiken wird ein Stück Märchen im Vorbeifahren sichtbar. Es ist da im Wasser der »Stinthengst« angekettet, eine gekrönte hölzerne Fischfigur, die zu einer Sage gehört. Das lange Talter Gewässer wird befahren und dann mit Zwischenkanälen der Jagodiner-See, bis der ausgedehnte Löwentin-See das Schiff nach Lötzen kommen läßt. Hier, im Mittelpunkt der Seenplatte, kann die Fahrt nach Angerburg fortgesetzt werden.
Was ist die Stimmung einer solchen Seefahrt? Die Anwandung und Ufersicht ist manchmal flach, daß man fast über dem Lande zu fahren scheint. Dann entfernt sich die Erde wieder und ist mit kleinen Hügeln, mit Wiesen und Äckern, mit Büschen, Bäumen und Waldstücken und auch Orten gleich einer sanften, immer fortschwingenden Melodie. See und Land scheint sich in der gleichen Melodie fortzusetzen, und diese ist wie von einer Hirtenflöte, welche nichts Himmelstürmendes hat, sondern nur ihren eigenen Ort rein und ganz durchtönt und erfüllt. Dann entläuft aber der See wieder in eine regenduftartige Weite, und hier ist nun ein Zusammenhang mit dem silbrig blauen Himmel. Wenn die Fahrrinne eng ist, neigt sich das Schilf beiderseits mit der flutenden Spur der Kielwelle ins Wasser, wie wenn das Gras beim Pflügen mit in die Furche gedreht wird. Dann verfolgt man wieder den starken Flug einer Möwe oder einen Fischreiher oder die schwebenden Figuren von Zugvögelscharen, und auf dem Wasser sieht man in großer Zahl die Tauchenten. Und am Nachmittag sahen wir auf einem anderen See, von Arys herfahrend, auch eine Schar wilder Schwäne.
Anders aber als auf anderen Seen wird der Fahrende hier wohl ganz neugierlos; er fühlt sich nur bewegt in der gleichen schwebenden Ruhe; und das seelische Gefühl gleitet leicht dahin in einer leichten irdischen Randwelt. Der Duft des Himmels scheint in sich selber zu regnen, und das Gewölke hat ein leises Licht. Über dem fernen Sehkreis aber zeichnet sich ein dichterer Wolkenring. Man glaubt, das Land könne gedreht werden und habe den Unterschied der Richttung verloren. So ist die Stimmung unbegrenzt und zugleich in sich eingeschlossen.
Andern Tages sind wir wieder auf der Fahrt durch die Mitte Ostpreußens. Es sind die Städte, wo einst der Deutsche Ritterorden Fuß gefaßt hat. Und wenn die Seen uns das Gefühl der Richtung nahmen, so wird es jetzt mit dem Sinn der alten, nachgebliebenen Ordensbauten, mit dem starken, strengen und gleichmäßigen Ostschritt, der sie, jeweils Schloß und Kirche, gemeinsam kennzeichnet, wieder ganz befestigt. Überall sind hier auch Seen, aber diese sind wieder wie »Augen« in der Landschaft, oder sie haben auch, mit dem Umriß etwa wie von Geigen, eine tönende Stille. Das Land ist fruchtbar, man sieht viele Pferde; milde Hügel kommen, über welche die Acker fortlaufen, und flache Tiefungen laufen dazwischen. Orte und Gutshöfe mit ihren Storchennestern sind am Wege. Und dann gibt es eine Überraschung. Da ist, schon zum Ermlande gehörig, ein Wallfahrtsort; er heißt Heiligelinde; und was man hier sonst nicht sieht, die Kirche ist ein äußerst stattlicher Barockbau, mit hoher, von einer oberen Loggia geöffneter und zweitürmiger Fassade. Ein Hallenumbau mit Eckbauten umfaßt das Ganze, das voll und prächtig vor dem Walde steht. Es war eben ein Kirchenfest, das Innere roch von abgeschnittenen Fichtenzweigen unter den Füßen, und auf dem sandigen Anger waren Pferde angebunden. Auch bei dem Ostpreußen E. T. A. Hoffmann, dessen dichterisches Wesen sonst gespensterhaft ungehemmt überall hintreibt, spielt der Ort eine Rolle, an dem er in seinen »Elixieren des Teufels« ansetzt, um dann in tollen Sprüngen der Phantasie durch Gut und Bös, mit allen Verwicklungen seiner heimatflüchtigen Romantik, weiterzueilen. Man möchte bei ihm schon feststellen, wie gerade die Geister dieses Landes über alle Heimat hinwegzielen und hinwegdenken.
Jede der einzelnen Städte, die wir dann sahen, ließe etwas Besonderes sagen. Da war Rössel, mit einer Ordens- und Bischofsburg, die einen dicken Burgfried hat, und mit dem hohen Giebel der gerade abgeschnittenen Chorseite der gotischen Kirche. Fast immer haben auch die Ordenskirchen solche gerade abgeschnittenen Chöre nach Osten, die innen einen strengen, herben und mehr zuchtvollen als mystisch spielenden Ausdruck geben. Kantige Türme heben sich hier kräftig über die Landschaft. Später kommt dann in der Mitte des Landes, als ein Haupteindruck, die Stadt Heilsberg, ebenfalls mit dem Ordensschloß in ihrer Mitte. Das ist wieder ganz das hohe kastenhaft um einen Hof mit doppelgeschossigem Kreuzgang auferbaute »Haus«, diese Kastellform alter Herrschaft, mit nachmittelalterlichen Türmen, die, während einer davon kräftig ausgebaut ist, zierlich über den Ecken sitzen. Der Bau, der neben der Marienburg genannt wird, hat im ganzen noch das Bild des vierzehnten Jahrhunderts bewahrt. Auch ist hier eine große spätgotische Kirche mit starkem Westturm und dem üblichen Sterngewölbe. So fanden wir uns dann weiter in Bartenstein und in Rastenburg, und immer geschah es in den Spuren der alten Ordenszeit. In Rastenburg ist übrigens auch der Dichter Arno Holz, ein richtiger eigenwilliger Ostpreuße, bei dem sich mit der Phantasie eine überlegene Zähigkeit verbindet, geboren.
Nebenzu hatten wir auch noch Zeit und Anlaß gefunden, von der großen Straße abzubiegen und einen Blick in ostpreußische Gutshofanlagen zu tun. Dies ist, als ob man innerhalb des Landes nochmals in eine eigene Landschaft geriete. Von der Straße aus war nichts zu sehen und kaum etwas zu ahnen. Es geht auf ländliche Seitenstraßen, Vorwerke kommen wie eigene Gutshöfe. Dann ist der Hof da mit Gebäuden, die sich um einen Weiher in ihrer Mitte herum fortsetzen, während das Gutshaus abseits mit Parkbäumen zusammen ist. Oder bei einem großen Gute waren die Gebäude gleichsam »hordenhaft«, das will sagen, mit aller Freiheit des Raumes und Zweckes gelagert. Auch der Blumengarten und sonstige Wirtschaftsanlagen waren keineswegs zugerichtet auf die Blicke von Besuchern, sondern alles zeigte, daß man das Land nutzte und fruchtbar machte, während man es doch große Landschaft sein ließ. Man blickte in ein Dasein von breiten Verhältnissen, und die Dienstleute kümmerten sich nicht um den Fremden. Wieder auf unserer großen Straße, sahen wir, wie die Kühe im Freien auf der Wiese gemolken wurden. Es waren Bilder des Friedens.
Nun aber war der Abend gekommen, wir waren in Angerburg und also nun im Norden wieder an den Masurischen Seen. Ein Besuch bei dem großen Heldenfriedhof mit seinem hohen Totenkreuz schloß den Tag. Nächtlich bleich schimmerte der weite See.
Heute früh wurde Königsberg als Tagesziel ins Auge gefaßt. Gestern abend war der Plan noch gewesen, nach Goldap und von da in die Rominter Heide zu fahren, um dann Gumbinnen und Insterburg zu erreichen und mit der Richtung des Pregels nach Königsberg hereinzukommen. Aber heute drohte ein ausgiebiger Regen. Auch lockte nach so viel Landschaft und alter Geschichte des Landes allmählich die Hauptstadt, die den Ansatz einer neuen Zeit in Preußen bezeichnet. Und nicht weniger lockte die Ostsee. Also fiel der Plan nach Rominten aus, und augenblicklich genoß man noch, wenn auch mit trüber werdendem Himmel, einen der schönsten Blicke von Masuren.
Gestern abend, als wir von Angerburg herkamen, war der Besuch des hier nahe, etwas erhöht über dem Beginn der Seen liegenden Heldenfriedhofs bei der anbrechenden Dämmerung noch wie der Aufenthalt in einem schweren und doch schönen Schattenlande gewesen. Wieder las man hier auf kleinen Beeten die gereihten Namen der toten Soldaten, wieder war man noch eigens berührt, wenn man bloß las »Zwei unbekannte deutsche Krieger« oder »Ein Oberst und vierzig unbekannte russische Krieger«. In gleicher Art waren hier über ein halbes Tausend Soldaten zusammen gebettet. Ihre Namen schwanden im wachsenden Abend hin und wollten nichts zurücklassen als den Gedanken an den unbekannten oder namenlosen Soldaten, der sich jener Empfindung wie ein bekanntester nähern kann und dessen Gedächtnis dieser Krieg geboren hat.
Das erhöhte Gelände am See, durch die gärtnerische Anlage gleichsam unfruchtbar und so zum Gedächtnis reif gemacht, nahm den lebendigen Sinn gefangen, als ob der Abend eine Todesschwere empfinden lasse. Und dazu gab die Seefläche, die bleich und dunkel zugleich wurde und die unabsehbar hinausging, während von den Ufern noch Ränder oder Landzungen wie Sicheln gegeneinander griffen, den Anblick oder die Stimmung eines »Weltwassers«. Zuerst hatte die Wasserfläche noch weithin einen metallischen Schein angenommen, während die leichte Wolkendecke, kaum berührt vom wenigen Abendrot, nur mit einigen blauglühenden Rändern in ihrer Wölbung verharrte. Und nun war etwas Mildnahes und Urweltliches zugleich in diesem Anblick vom dunkelnden Land zu dem wesenlosen Gewässer, welches doch mit leichten Wellen durch den Stand des Schilfes in der Nähe plätscherte, während im Raum die Luft stillstand wie ein ewiger Atem über Wasser und Erde. Hier ist tatsächlich eine Urweltstimmung in solchen Augenblicken fühlbar, als ob sich das Land aus dem Wasser erst gebildet habe und noch in dem Nachsinn seiner ersten Bildung schwebend sei. Kein Segel war auf dem Wasser gewesen, und so schwieg ein Gefühl des Andersweltlichen innerhalb der faßlichen Nähe des Landes. Kleine Kiefern aber waren da an den Gräbern, deren stumme, edle Farben gerade eine solche Stimmung aufnehmen.
[Heilsberg, Ordensschloß]
[Frauenburg, Westwerk des Doms]
Nun aber zog auch der Morgen den Vorhang auf zu seinen eigenen silberweißen und großen Stimmungen, die nun den Regen über die Wasserweite brachten. Es war uns, die wir zum Frühstück hinter den großen Scheiben saßen, als ob wir einen Abschied von Masuren zu besprechen hätten. Es war an all die gehabten Stimmungen zu denken von dem Aufbruch zur Geschichte an der Weichsel bis hierher, wo eine oft gleichsam magische Ruhe des Naturzustandes allen Aufbruch des Sinnes beschwichtigen wollte. Man glaubte in dieser Beschwichtigung ein Stück Osten zu spüren. Aber zugleich und noch mehr war auch, indem wir nach Königsberg hin wie über eine Schwelle aus der älteren in die neuere Zeit zu reisen hatten, an die großen Geister zu denken, die aus dieser eng angestammten Erde geboren und doch in die Freiheit der Welt aufs erstaunlichste aufgewachsen waren.
Wie hatte sich gerade in diesem Land, dessen erste Jahrhunderte ganz durch eine ritterliche Ordenszucht im oft wütenden Kampf ihre Form gefunden hatten, der Geist so ganz vom Erdboden lösen können, daß er an der Geschichte vermöge seines eigenen Gesetzes nicht mehr Anteil nahm, jedoch aus der gleichen Richtung seines Wesens heraus nun den kategorischen Imperativ der Pflicht aufstellte! Die Ritter waren Hörige der Geschichte gewesen; ihr Sinn war ein reines Tun, ein Zuvorkommen über das »Geistige«, um die Welt in Bewegung zu halten; ihr Wesen war eine reine Antwort, ohne zuvor die Fragen des Geistes zu stellen. Der spätere Geist hatte dafür kein Verständnis mehr. Man kann Belege dazu auch in den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« von Johann Gottfried Herder finden, dessen ostpreußischer Geburtsort Mohrungen schon früher zu erwähnen war. Indem er die Humanität als den Zweck der Menschennatur erklärt, wird der allgemeine moralische Zweck der Geschichte stärker als die sinnhafte Offenbarung und Ausbildung von Blut und Wesen. Sein Urteil über die geistlichen Ritterorden ist abfällig, und der Sinn für geschichtliche Formen geht entsprechend zurück, während gerade doch das Gefühl für Sprache, Dichtung und Volkstum bei ihm wie für ein schönes Naturwesen der Kultur herangebildet wurde. Ähnlich ist die Stellung Kants zu jenem geschichtlichen Sinn unseres früheren Zeitalters, während er nach der Verankerung des Menschen in seinem eigenen ethischen Bedürfnis strebt und ein solches Wesen dann den Aufgaben der Geschichte gleichsam zur Verfügung stellt. Aber ist der Sinn der Geschichte selber nicht noch mehr, als daß er mit dem Dienst der freien menschlichen Pflicht befriedigt wäre? Ist zwischen den Gestirnen über uns und dem Gesetz in uns nicht noch eine dritte Welt, welche es macht, daß der Sinn, gut oder bös, einen eigenen Fortgang hat? Was schafft aus uns den Zusammenhang der Welt; Welch ein Sinn wird außer uns in den Formen der Zeiten sichtbar?
Leicht gleiten die Gedanken und Worte über die Dinge des Geistes ins Uferlose gleich der weißen Seefläche, die immer heller wird, während sich ein schmaler Damm in die Seen herein unter dem Dichtwerden des Regens verliert. Schön wie selten konnte man hier den Beginn eines großen Regens verfolgen. Zuerst entstand immer mehr eine silberne Helle, während ihr voraus ein dunkler Behang über den ganzen Himmel herwärts zog. Auf dem Wasser schien die Luft düster regungslos, und doch sah man die Schaumkämme sich immer mehr heben. Auch sah man noch ein Stück inselartiges Land grünfeucht in hellster Durchsicht schimmern. Dann löst sich der dunkle Behang auf, ein Wind hat sich fauchend erhoben, und das Wasser stürzt außen gegen die Scheiben, während ein langsamer Donner über dem dichten Erguß des Himmels hinrollt. Es war ein schöner Abschied von Masuren.
Jedoch bis wir abfahren, lächelt wieder die Sonne durch die glänzende Feuchte. Und so fahren wir nun hinter dem ausgedehnten Vormittagsgewitter her, bald vom Regen überprasselt, bald nur im Nachhall des Donners und dann wieder in der vom Blitz blendend durchleuchteten Luft. Feldungen und Orte waren triefend und doch wie ein gläserner Raum, und das Schönste war, daß gleichzeitig ein Manöver stattfand, das wie mit einem Schleier die Gegend besetzt hielt. Einzeln und in kleinsten Trupps waren Soldaten in Bewegung und hoben ihre Gesichter aus dem Regen, Auf den nassen Wiesen weideten Vieh und Pferde, aber auch Enten. Landleute gingen mit sehr großen Sensen, und das Wasser schoß auf den Straßen. So ging es über das neugebaute Gerdauen und über Friedland an der Alle mit seiner erhöhten gotischen Kirche. Und dann verlor sich der Regen.
Zu den jüngsten bedeutenden Namen Ostpreußens gehört der am 17. Juli 1925 in Zandvoort, Holland, verstorbene Maler Lovis Corinth, mit seinem ganzen Namen Franz Heinrich Louis Corinth, oder wie er sich als Bube am Königsberger Kneiphof-Gymnasium in seinem Bauerndialekt zum Gelächter der »Vornehmen« vorstellte, »Caarinth«. Als Sohn eines Landwirts und Gerbermeisters ist er am 21. Juli 1858 in Tapiau geboren. Dem kleinen Knirps gab die Mutter, als er dem Schullehrer sein Geburtsdatum mitbringen sollte, die Auskunft: »Segg, toon Koornaut« (Roggenernte). Diese Auskunft der Bauern und Bauernfrauen, die Lebensdaten mit dem Lauf des ländlichen Jahres zu verbinden, ist auch dem alten Corinth noch bemerkenswert geblieben. Eine schwere und dichte Natur war der Grundstock, von dem sich Corinth bis zur freiesten Malerei gelöst hat.
Das also ist Tapiau wohin man über zwei Brücken, eine über den Pregel und eine über die Deime, kommt; eine gedrungene, etwas ansteigende Stadt mit kräftiger Anlage des Marktplatzes. Da ist auch schon die alte etwas stumpfe Kirche, deren flachgewölbte Decke mit barocken Malereien für den Knaben zu den ersten Eindrücken gehörte. Der barocke Altar hat übertrieben schlangenhaft gewundene Säulen. Und da ist also auch die Sakristei, an deren Wand das große Triptychon Corinths mit Kreuzigung, Matthäus und Paulus hängt. Was Corinths Stärke im Religiösen war, durch den Ausdruck der Natur einen Schrecken in der Wahrheit der Verinnerung und dagegen wieder eine starke protestantische Selbstbehauptung zu erreichen, das ist ganz in dieses Werk hineingearbeitet. Beim Russeneinfall ist das Bild durch Schrapnellschüsse beschädigt worden, was wieder ausgebessert ist.
Auch ein Gang zum Rathaus, wo uns ein grüner Polizist von mächtiger Postur in den Sitzungssaal einließ, brachte noch einige Bilder Corinths vors Auge, nämlich ein Selbstbildnis und die Landschaft mit Tapiau, eine Borussia und das große Bild mit den Mitgliedern des Gemeinderats. Die bürgerlichen Herren sind mit sicherster Natürlichkeit gemalt, und der Polizist macht auch darauf aufmerksam, wie ihnen infolge der Hungerzeit des Krieges die Halskragen zu weit sind. Dann war noch ein Blick auf das Geburtshaus zu werfen, wo die Deime hinten vorbeifließt und auch der Rest eines Ordensschlosses noch im Gebrauch ist. Corinth hat dies alles in seinen Erinnerungen hart und mit der Empfindung, die in seiner ostpreußischen Art war, geschildert.
Nach Königsberg war es nun nicht mehr weit, und bald tauchten seine Türme im Dunste des Nachmittags auf. Hauptstädte haben sonst Merkmale, die sie einander ähnlich machen; und schon die Renaissance, mit der auch die Zeit der preußischen Herzöge beginnt, hat diese Entwicklung angebahnt. Wie schön war es also, daß wir zuerst langher durch das Land fuhren und die Marienburg zuvor gesehen hatten, und daß wir so aus einer geschichtlichen Zeit in eine andere kamen.
Nun sahen wir Königsberg sofort mit anderen Augen und spürten den Gegensatz seiner Geschichte, die noch bis zu einem Grade ausgedrückt ist in dem Schloßbau, welcher sich mit Um- und Aufbauten über dem Grunde der Ritterburg am Pregel seit der Gründungszeit erhebt. Schon 1255 war der mit auswärtiger Hilfe kämpfende Orden, damals mit Hilfe Brandenburgs und des Königs Ottokar von Böhmen, bis Königsberg vorgedrungen, das jetzt gegründet wurde. Nun erst hatten noch die erbitterten Widerstände der Pruzzen, so unter ihrem Anführer Hercus Monte, eingesetzt, bis zum Ende des Jahrhunderts der neue Staat fest stand. Seit 1312 hatte der Ordensmarschall, der oberste Heerführer nach dem Hochmeister, seinen Sitz in der Burg Königsberg. Das alte Land der Pruzzen war durch die Kämpfe der Ordensritter umgebildet worden, hatte, als die Marienburg 1457 an die Polen verloren ging, Königsberg zum neuen Hochmeistersitz erhalten und wurde dann durch den Hochmeister Albrecht von Brandenburg zugleich mit der Einführung der Reformation in ein weltliches Fürstentum umgewandelt, dessen erster Herzog dieser Albrecht 1525 wurde.
So war die Geschichte des Landes gelaufen, aber der Name Preußen war geblieben. Als 1618 keine direkten Nachkommen da waren, kam das Herzogtum an Brandenburg. Der Große Kurfürst hat 1660 die Unabhängigkeit von Polen durchgesetzt, und mit ihm beginnt eigentlich die Geschichte des preußischen Staates. Dann kam das Datum 1701, als sich dessen Sohn Kurfürst Friedrich III. in Königsberg mit dem Titel »König in Preußen« die Krone aufs Haupt setzte. Dies war König Friedrich I., der in den Künsten eine glänzende Tätigkeit entfaltete und dessen Denkmal von Schlüters Hand gegenüber dem Königsberger Schlosse steht. Sein Sohn ist der strenge Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. und dessen Sohn der König Friedrich der Große, der Preußen zu einer europäischen Macht erhob. Der Name Preußen war also auf diesen europäischen Staat übergegangen. Das Denkmal jenes Friedrich I. beim Schlosse, das eindringliche Schaubild einer barocken Herrscherhaltung, steht da als Zeuge einer neuen Geschichtszeit. Es ist erst spät vom Berliner Zeughaus nach Königsberg gebracht worden; aber es bedeutet hier mehr als sonst ein fürstliches Denkmal. Zum Sinnwandel der Zeiten muß man aber auch das große Grabmal jenes Albrecht I. im Dome Königsbergs nehmen. Durch seine Gründung von 1544 hat Königsberg auch die älteste preußische Universität.
Also hat Königsberg mit Orden und Fürstentum sofort zwei Seiten des geschichtlichen Anblicks. Aber es ist damit nicht genug. Denn wenn man bei der heutigen neuen Universität das altertümliche, innen wie eine Reihe von Bienenstöcken aufsteigende Buchhandlungshaus von Gräfe und Unzer besucht und dabei in einem kleinen Kantmuseum des Hauses gesessen hat, so weist das auf eine dritte Seite der Stadt. Sie erscheint nun wie der Drehpunkt eines geistigen Winkels vom Osten zurück auf das übrige Deutschland. Mit Neugier aber und mit ebensoviel Anregung sieht man auch die Speicheranlagen und auf den Pregelarmen in der Stadt die vielen Schiffe, eine Lebendigkeit von bürgerlicher Fülle, in welcher das Leben einer tätigen Provinz sichtbar wird. Also vermag Königsberg die frohen Augen des Reisenden mit wechselnden Bildern zu unterhalten, aber die Gedanken noch mehr auf die Frage nach der geistigen Bedeutung der deutschen Osträume zu richten.
Den Gang durch Königsberg beginnt man ja wohl auf dem langen Steindamm. Und dann macht man vielleicht auch einige kleine Beobachtungen, wozu gehört, daß man den Geruch von Räucherfischen wahrnimmt und daß Königsberg die Stadt des Marzipans ist. Alsbald sind davon einige süße Päckchen zu der kleinen Veronika, oder was man sonst Liebes jenseits der Weichsel hat, unterwegs. Ein besonderer Inhalt der Läden ist aber der Bernstein mit seinen Schmuckformen. Die Kunde vom Bernstein ist ja auch die früheste Kunde vom Lande selber. Dann wird man den Gang antreten zu den Merkmalen der Zeiten und des Königsberger Geistes. Überraschend ist der Schloßanblick mit hohen, dicken Rundtürmen und dem im hohen Unterteil noch mittelalterlichen Schloßturm, ein Bau aus verschiedenen Zeiten mit festem Charakter der Renaissance und des Barock, die ganze Anlage um einen malerischen Hof greifend. Die Schloßkirche, die erst der Zeit der Herzöge angehört, ist 1701 die Krönungskirche der Könige geworden. Die Schloßräume sind teilweise von dem reichhaltigen Prussia-Museum (auch mit Bernstein-Sammlung) besetzt, das eines langen Aufenthalts zum Studium des Ostens bedürfte, wozu noch die reichhaltige Kunstsammlung mit der Pflege auch der Gegenwart kommt. Uns beschäftigt der Saal, der eine Sammlung von Gemälden Corinths enthält, am meisten. Scheinbar rein malerisch, gibt sein Werk doch zum Dichterischen hin stärkste Empfindung, und man wird von dieser preußischen Naturkraft her zum Vergleiche mit Heinrich von Kleist gedrängt, während man in der schwingenden Anschauung etwas von der Rastlosigkeit des germanischen Ornaments sehen könnte. Corinth hat eine Unersättlichkeit in seiner Anlage, die ein Künstler kaum bewältigen kann. Er ist ein Gegenpol aus der Natur zu dem Reich der Erkenntnis und der Vernunft, das in Königsberg seinen anderen Pol hat. Die Spannweite zwischen diesen Polen ist zunächst wie ein deutsches Schicksal kaum nachzumessen.
Doch wir stehen noch auf den Pregelbrücken, die vom Wagenverkehr zittern, und sehen nach der Lastadie, nach den alten Speichern am Hundegatt, mit ihren hohen Giebeln von gleicher Reihung, mit ihren Luken und Öffnungen in den gleichmäßigen Vorderfronten. Große Schiffe mit hohen Masten sind davor im Wasser, ein kleiner Dampfer fährt, Möwen fliegen, und über allem ist mit einer treibenden Luft eine prickelnde Farbigkeit wie vom Meer. Und da ist dann noch ein anderes Gestade, und daran wie ein Wohnviertel aus dem Wasser die Gemüsekähne aus der Landschaft Gilge, die im Frühjahr kommen und ihren Vorrat ergänzen, bis sie im Herbst zurückfahren. Sie bezahlen ein kleines Standgeld und haben mitten in der Stadt ihr ganz einfaches Leben.
Unser Weg geht nun zu einem Denkmal des Geistes. Das engere Ziel ist der inselhafte Stadtteil Kneiphof, wo der große gotische Dom des vierzehnten Jahrhunderts steht, der auch durch das weltliche Herzogtum im Mittelpunkt geblieben ist. Er war einst als Wehrkirche begonnen worden und hat heute mit nur einem Turmausbau der sich in kräftigen Takten zur Höhe steigernden Westseite, ganz verschieden und doch ähnlich zum Schloß, eine breite und hohe Anlage oder Stirn- und Brustkraft. Das Gemäuer schließt sich, da man es in der Nähe der Speicheranlagen so sehen kann, auch wie zu einem großen Speicher zusammen. An seiner Nordseite ist eine offene Halle mit Vierkantsäulen, und diese hat die einfache Inschrift »Immanuel Kant«. Unwillkürlich sagt man zu sich in diesem Augenblick die wohl bekanntesten Worte Kants: »Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«
Was ist der Sinn der Geschichte? Müssen wir nicht, indem wir vor dem unerbittlichen Geiste der Vernunft stehen, welcher seine Hoffnung und sein Wesen auf nichts setzt als auf das eigene »unwiderstehliche Gesetz der Notwendigkeit«, jetzt an uns denken, nämlich als Schuldige, welche mit den Formen der Zeiten spekulieren und in den sichtbaren Dingen der Kunst »gleichsam mit Vernunft rasen«? Betreiben wir nicht mit Augen und Sinnen ein »Spielwerk von Wahrscheinlichkeit und Mutmaßung«, welches sich die kritische Vernunft verbittet? Werden wir, indem wir mit den wechselnden Akzidenzen der Zeiten unser Gefühl speisen, nicht ohne alle »Substanz« bleiben? Wenn wir aus dem Sein in die Geschichte und aus der Geschichte in das Sein wechseln, so fehlt uns jeder archimedische Punkt. Ja, wir müssen gestehen, daß wir schuldig sind, auf diese Fragen eine Antwort nach einem vorausgehenden, apriorischen Begriff weder bringen zu können noch zu wollen, indem wir der Geschichte ein Vorgebot in der Erkenntnis oder in der uns möglichen Sinnfügung lassen. Schon indem wir begonnen haben, zu sagen, daß der Sinn der Geschichte wie eine Wunde sei, und daß insbesondere die Formen des deutschen Anfangs mit einer Wunde in ihrer Mitte entstanden sind, bekennen wir uns zu einem vorausgehenden Drama des Sinnes. Wir stehen immer wieder vor den gewesenen Bildern und haben ihnen gegenüber die Worte unseres Daseins. Weder ganz in jenen Bildern noch ganz in unseren Worten, leben wir also gleichsam in steter Bedingtheit zwischen »Bild« und »Wort«. Diese Zwiefältigkeit ist wohl dereinst am meisten im deutschen Schicksal aufgebrochen.
Kant nennt in einem Atem die Gestirne und das Gesetz in der Brust. Das »Bild« der Gestirne und das »Wort« unsres Innersten scheint die nächste und zugleich die letzte und weiteste uns mögliche Spanne. Was ist aber dazwischen geschehen, daß sich das Schicksal der Erde doch nicht in dieser letzten Beziehung, sondern in viel bedingteren Grenzen, das ist eben in einer Geschichte vollzieht, welche immer andere Formen und eine immer andere Sprache gefunden hat? Kleists Dramen, noch fast in der Zeit Kants, spielen um die Voraussetzung eines Irrtums, einer Täuschung, die er bis zu göttlichen Maßen in der Empfindung zwingt, eines Kampfes zwischen dem Abgründigen der Natur und dem schmerzlichen Siegesstrahl der Geschichte, zwischen dem Traum der Seele eines Weibes und dem Widerwillen dazu in der Erkenntnis des Mannes. Alles spielt um einen näheren und unschließbareren Zwiespalt; oder es ist das Spiel um den Zusammenhang der Welt, der wie ein Mangel in dem Raume der Menschen und in der Brust selber nicht schlüssig ist. So werden wir zu unserer Rechtfertigung nichts sagen, als was wir bei dem Dichter ahnen und was uns in noch größeren Maßen die Formen der Geschichte bedeuten wollen. Aber, wenn es erlaubt ist, mögen wir, da wir bei Kleist ein dorisches und ein gotisches Wesen ausgesagt haben, auch die Lehre Kants und wie sie der Geschichte Zutrag leistet, zu dem dorischen Wesen rechnen. Das mag wieder ein Spielwerk des Vergleiches sein, aber es dient uns noch zu dem Hinweis auf Kants Geist in seiner nationalen Wirkung.
Eine Geisteswelt ist um den Königsberger Denker entstanden. Und gleich ihm in Königsberg geboren ist sein ihm persönlich verbundener Gegenspieler im Geiste, Johann Georg Hamann, der »Magus aus Norden«, welcher, während Kant kaum je Königsberg verließ, viel auf Reisen war und in Münster starb. Wenn Kant in der Vernunft die Weltmaßregel ausmachte, so erlebte sie Hamann in der freien Bewegung bildhafter Gedanken, die gleichsam einer schon verlassenen, engeren Dramatik der Geschichte noch um so heftiger nachstürmen, und so erscheinen die beiden wie die Pole einer gleichen Geisteszeit. An den weiteren Ruhm Ostpreußens in seinen Geistern muß man sich eben noch erinnern. Ein Königsberger ist auch E. T. A. Hoffmann, der die Romantik in einer phantastischen Überreife wie in ein Ventil ausleitete, sowie Nicolai, der junge Komponist der »Lustigen Weiber«; auch Zacharias Werner und neben schon Genannten oder auch Neueren noch Koppernikus, Gottsched und Simon Dach. Das Wesen einzelner gleicht sich offenbar in der Unbedingtheit ihres Einsatzes und des Ausbaues ihres Tuns.
An einem Abend, zügig und trübe wie die Luft und das Wasser, worin die vielen Schiffe auf dem Pregel lagen und schwammen, lassen wir Königsberg auf unserer Fahrt wieder zurück. Nun, indem man mit dem Wagen hinauszieht, wie man die Schiffe in der Richtung Pillau hinausziehen sieht, wo sie die Ostsee gewinnen, kommt wieder die Empfindung des Landes. Am inneren Rande des Samlandes sowie zwischen dem Frischen Haff und dem Kurischen Haff gelegen, erscheint der Ort Königsberg in einer landschaftlichen Strahlenform. Noch immer vermehrt sich unser Eindruck von Ostpreußen, da wir zu den Ostseeufern fahren und da uns noch einer der größten Geister der Naturforschung begegnet. Am Rande des Frischen Haffs ist der Gedanke eines Gestirn- und Weltsystems ausgedacht worden; sein Begründer Nikolaus Koppernikus ruht in Frauenburg in der an Gemessenheit und Zierlichkeit schönsten Kirche der ostpreußischen Gotik. Das ist noch eine Figur größten Maßes aus dem klärenden Geiste, der über diesem Boden fruchtbar geworden ist.
Der letzte Eindruck, den wir von Königsberg mitnahmen, war die Totenmaske Immanuel Kants. Es war der stille, kleingewordene, ganz entkräftete Rest eines Gesichtes, über dem mit seinem verschoben aufgesperrten Munde die letzte, unscheinbarste Blässe des Geistes ruhte. Wäre es kühn, zu behaupten, daß bestimmte Gedanken, die der ganzen Menschheit gehören, nur an einem bestimmten Orte entstanden sein können? Und doch würde man auch nicht wagen, das Gegenteil zu behaupten, nämlich daß die Gedanken nicht an Orte gebunden seien und daß sie überall gleich entstehen und wachsen könnten. Sicher sind sie durch den Weg der Geschichte an Orte gebunden für ihre Entstehung; und auf den Reisen durch Deutschland wird uns in Königsberg nicht zum ersten Mal, aber am stärksten die Beobachtung berühren, daß Geist und Gedanke am meisten oder in der abstraktesten Kraft gerade im Osten Deutschlands ausgewachsen sei und sich vor dem Übergang in den weiteren europäischen Osten aufgestaut habe.
Nun sind die Gedanken Kants gewiß Menschheitsgedanken oder eine Denkschule der Menschheit. Aber deutsch ist doch gerade das Grundsätzliche und Ursächliche an ihnen, das ganz und gar zu einem eigenen Anfang in sich selber Entschlossene. Deutsch ist, daß das Wesen des Sinnes sich selber wie zu einer Waffe nimmt. Und dazu würde noch die Überlegung kommen, wieso es in der geschichtlichen Entwicklung selber liegt, daß der Geist sich einmal ihr gegenüber frei machte und auf eigene Füße stellte. So empfindet man es auch nicht als Zufall, daß in Ostpreußen, das als Ordensland in reinster Entschlossenheit zur Geschichte entstanden ist, auch der Versuch der reinsten Weltansicht sein Wort erhob. Es wurde ein geistiges Weltsystem versucht, wie ja auch Kant in seiner Denkarbeit mit der Theorie des Himmels- und Sonnensystems begann. Und nun mag uns, während wir von Kant zu Koppernikus, von Königsberg nach Frauenburg fahren, die Tatsache, wie uns hier in Ostpreußen Orte und Geister nahe kommen, nicht mehr als Zufall erscheinen, sondern wir mögen über einen inneren Zusammenhang erstaunt sein, den wir gerne ahnen, bevor wir ihn zu begreifen versuchen. Der Weg von Kant zu Koppernikus ist eine Spanne von dem moralischen Gesetz in der menschlichen Brust, das dem späteren Bedürfnis einer bildlosen Formel entspricht, zu dem Gesetz des bestirnten Himmels, welches Koppernikus entdeckt hat, mit dem das Weltbild für den Menschen fester geworden war, indem es ihn aber schon aus seiner früheren bildhaften Dichte ausschloß. Es war das Ende des Mittelalters.
Das Land ist schon abendlich einsam, vielmehr die Einsamkeit, die wohl immer da ist, wo das Land still und eben in die ebenso stille Fläche des Wassers übergeht, erscheint in der Dämmerung noch einsamer. Alles ist eigentümlich körperlos, und man wünscht schon fast mehr Dunkelheit, weil in dieser die Dinge der Natur wieder körperhafter erscheinen. Über die Weite des Haffs senkt sich das Zwielicht, einzelne Schiffe liegen scheinbar regungslos in dem Flächenraum des Wassers, das mit der Zunahme des Abends sein Blau verstärkt und dann verliert. Man sieht rechts hinaus über die dunkelnde Wasserruhe bis zu einem Landzug, welcher die Nehrung ist, und man fühlt, daß er hinter seinem schmalen, verschwommen-festen Streifen das weitere Meer hat. Das Haff und der Luftraum darüber wird mit der Dunkelheit ein eigenes Reich, das sich körperlos aufbaut. Es geht, während wir auf der Straße dahinfahren, mit den Blicken nach jener Seite hin in ein verlorenes Dasein hinein, an dessen Rand wir dahingleiten und durch die Felder um uns geschützt sind. Wir sehen da und dort die Blinkfeuer aufleuchten, und während wir ihnen Aufmerksamkeit schenken und den Umblick dabei vergessen, ist vollends die Nacht hereingebrochen, und alles ist in einem bleichen Dunkel, das schließlich nichts mehr als die Straße erkennen läßt.
Dann waren wir durch Heiligenbeil gekommen und saßen in Braunsberg. Diese Stadt gleicht als Studienort für das katholische Ermland einer Oase von gärtnerischer Beschaulichkeit. Wenn man aus dem Geistesbereich von Königsberg kommt, möchte man zu dieser Gegenwart die Frage aufwerfen, ob nicht alle Geisteswissenschaft, wie erd- und ortgebunden, so aber auch durch die Fragen der Zeit immer bewegt und also geschichtsgebunden sein müsse, weil dies doch erst die Stärke und die Bewegtheit des deutschen Kulturwesens ausmacht. Am Morgen sah man noch kurz diese friedliche Stadt an der Passarge, die, eine frühe Ordensgründung, zu den Hansestädten gehörte und eine gotische Kirche im Landesstil mit dem Wahrzeichen des in vielen Geschossen aufsteigenden Turmes hat.
[Frauenburg, Dom]
[Frauenburg, ehemaliger Hochaltar im Dom]
Eine kleine Stadt, aber eine große, burghafte und kirchliche, türmereich wechselnde Bekrönung eines Hügels, das ist der Bischofsitz des Ermlandes und die Stadt des Koppernikus; und vieles ist noch so, wie es zu seiner Zeit war. Der Hügel erhebt sich klein, und trotzdem für dieses ebene Gelände hoch am Frischen Haff, und überall geht der Blick wieder auf das silbern blinkende Wasser. Eine kleine, regenduftblaue Höhe war es von weitem gewesen, die auf die Stadt wies. Nun war ihr erhobenes Bild da mit einer ganz eigenen Mischung von alter Schwere und Lieblichkeit zugleich, von gedrungenen und einzelnen auch hohen Türmen in der Umgürtung, und darin die bauliche Schönheit der Gotik des vierzehnten Jahrhunderts, die in ihrer Größe zierlich und in ihrer Zierlichkeit wach und lebendig ist. In der Tat gibt der Dom von Frauenburg, wenn man nun eine schluchtartige Allee unter hohen alten Bäumen herausgekommen und durch die auch mit Wohnbauten umstellte Anlage in den Hof getreten ist, trotzdem man ihn nun als ein großes und gemessenes Haus, ja vielleicht im Ursprung als Wehrkirche, vor sich stehen sieht, doch den Eindruck einer Lieblichkeit von fast fremdem Reiz.
Und also hat man wieder ein wesentliches Schaubild Ostpreußens. Auch dieser gotische Dom ist ein kastenhaftes Haus wie sonst bei Kirchen und Burgen, das an sich mächtiger wirkt als die Streben, die an ihm aufsteigen, wozu noch kommt, daß kein Hauptturm da ist. Dafür steigen aber wie aus einem kleinen Zeltlager aus den vier Eckkanten vier zierliche Türme auf. Das Gefühl geht über von der Festung zu einer großen mittelalterlichen Idylle. Man möchte sagen, in diesem Bauwesen sei das Gefühl eines mittelalterlichen Minnegartens. Und wenn man dann in der Kirche ein berühmtes gotisches Rundbild sieht, wo Magdalena mit einer Stifterfigur vor Maria mit dem Kind erscheint, die in einer Laube sitzt, so ist das noch wie ein Gedicht in einem Lande starker ritterlicher Geschichte.
Aber der Frauenburger Dom hat noch mehr, was wie ein Gedicht ist. Das ist die ganze Westfront, die über einer Vorhalle mit Backsteingiebelchen aufsteigt, welche in wechselnden Höhen teils streng, teils zierlich zusammenspielen. Der Hauptgiebel aber zwischen den Ecktürmchen ist in seinen Schrägen nach innen von einem großen offenen Bogenfries wie von einem zierlich hängenden Saum begleitet. Und das Mittelfeld ist weiter noch in strenge und schöne Fensterblenden symmetrisch aufgeteilt. Wenn der ganze Dom etwas Südliches hat, so möchte man vor dieser Stirnseite an den manchmal gemäldehaften Eindruck italienischer Gotikbauten, etwa in Orvieto, denken. Es ist etwas zierlich Zitterndes in solchen Formen; und es findet da ein sonderbares Widerspiel im Baugefühl statt. Nämlich, je mehr ein Baubild aufgebrochen und aufgeteilt ist, je mehr es in kleine Zahlen zerlegt ist, desto bildhafter erscheint seine Festigkeit im ganzen. Es wächst durch Zahlen zu schwebenden Bildern. So ist es immer wieder bei der norddeutschen Backsteingotik.
Von bildhafter Raumschönheit ist dann das Innere des Domes. Es hat Sterngewölbe, die auf den Pfeilern wie auf gekappten geometrischen Stämmen ohne Kapitelle sich erheben. Man denkt vor diesen Sterngewölben auch wieder an die wunderbare Aufgehelltheit der Remter in der Marienburg. Aber hier ist das Gewölbe im Mittelschiff doch merkwürdig niedrig und bringt dadurch das Gefühl einer stillen Schattigkeit herein, die im Wechsel mit dem Licht der Fenster den wechselnden Lichtstimmungen über dem Wasser des Haffs nachzuspielen scheint. Auch sind die Fenster der Nord- und Südseite verschieden geteilt, und auch das vermehrt diese räumlichseelische Witterung gleich einer Schwebung von Luft und Licht zwischen Land und Wasser. Noch manches Schöne ist in diesem Dom, so die plastischen Figuren in der Vorhalle, die eine epische Blumigkeit haben; und dann vor allem ein großer spätgotischer Flügelaltar mit einer wunderbaren Mariengestalt in der Art der besten deutschen Meister, während die spätere Ausstattung ein polnisch beeinflußtes Barock ist, das man sonst noch im Ermland findet. Und noch ein auffallender Besitz ist in der Kirche, nämlich eine ausgezeichnete Kopie der Sixtinischen Madonna Raffaels von der Hand Gerhards von Kügelgen, der dies Werk an einen Ermländer Bischof verkaufte.
[Frauenburg, Rundbild im Dom. Die hl. Magdalena empfiehlt den Dekan Borcschow der Jungfrau Maria]
[Konventsküche in der Ordensburg Lochstedt]
Im Frauenburger Dom ruht einer der größten Ergründer des Weltgebäudes, der Domherr Nikolaus Koppernikus, der, in Thorn 1473 geboren, durch die Gunst seines Oheims, eines Ermländer Bischofs, seine Studienbahn durchlaufen konnte und in Allenstein und Heilsberg und dann als Domherr in Frauenburg lebte, forschte und 1543 starb. Man weiß die Stelle seines Grabes nicht mehr ganz genau; und auch der Raum, der heute als Sternwarte und kleines Museum im Koppernikus-Turm am Burghof eingerichtet ist, hat seine Benennung erst aus neuerem Datum auf Grund überlieferter Annahme. Es ist eine stimmungsvolle Raumzelle. Alte astronomische Instrumente sind da, auch Bildnisse und Urkunden von Koppernikus, darunter auch ein Rezept, da er als Domherr zugleich der Arzt des Domkapitels war. Es gehört zu seiner Art von Größe und Lebensleistung, daß man erst länger einem Geiste wie dem seinen nachspüren muß, der in den Vorstellungen der Menschheit einen Umbruch bewirkt und das Wissen vom Weltsystem verändert hat.
Näher sieht man, indem man von der Höhe des kleinen Museums über das Haff hinausblickt, den fast finsteren und zwielichtigen Wechsel im Licht und in fast grellen Wetterfarben, der den Himmel dieser Gegend beherrscht. Es sind Stimmungen, die sich gleichsam am Rande der Fruchtbarkeit in dem Raume einer großen und leeren Schöpfung abspielen. Sie erfassen das Gefühl, aber sie können den Geist kaum beeinflussen. Plötzlich erhob sich ein solcher Geist und vermochte einen ganz neuen Blick auf das gestirnhafte System der Welt zu richten. Es entstand ein neues Datum der Geschichte für den menschlichen Geist selber; die Natur aber blieb unberührt, und nur so tritt sie uns ins Gemüt, daß wir an diesem deutschen Erdrande das Walten eines solchen Geistes stärker fühlen.
Noch eines trümmerhaften Bildes am Frischen Haff muß gedacht sein. Wir waren auf der Rückfahrt nach Königsberg. Da geht es bald nach Heiligenbeil gegen das Haff hinaus und, während der Luftraum ein gewaltiges Schauspiel von Wolken entwickelt, kommt man durch einen kleinen Ort zu einer Kirchenruine und dann, erhöht über dem hell und düster bewegten Wasser, zu den letzten Resten einer Burgruine. Hier stand eine der ältesten Ordensburgen, das 1239 gegründete Balga. Die Ruine wächst gleich einem Felsen wieder in die Erde zurück. Man sucht nicht mehr den Bau, sondern er sucht mit uns die größere Natur. Das ist hier am Haff ein wirksames Ruinenbild, ein Ende in der Geschichte, während der Himmel weiße Haufenwolken gebiert, die wie ganze Welten scheinen und trotz ihrer Helligkeit eine drohende Wucht haben. Schon als an dieser Stelle noch eine altpreußische Erdburg war, stand der Himmel in Schauspielen gleicher Größe, mit gleicher finsterer Glasigkeit über dem Wasser, mit den gleichen grellen Lichtlagen aus sich selber, mit Spiegelchen von Blau, das fast süß war, in seinen höchsten Höhen. Und vielleicht waren auch schon kleine Äcker da wie jetzt, die sich abseits unscheinbar und doch mit der ruhigen Ordnung, die ihnen die menschliche Arbeit gab, bis an den Rand des Haffs heranwagten. Man liebt wohl Vorstellungen von solch ältester Gewesenheit, zu denen die Lagen von Äckern schon die Beständigkeit aller Zeiten hinzufügen.
Der kleine Friedhof des Dorfes zeigte einen beschaulichen Samstagseifer. Um die blumigen, nicht eingefaßten Grabhügel waren kleine Wege, und Frauen waren da, welche diese Wege mit Besen kehrten und den Raum der Toten zwischen seinen Mauern in sauber bestellte Reihen brachten. Diese gemeinsame gleiche Grabpflege mußte uns auffallen. Aber »das ist jeden Samstag so«, sagten die Frauen.
Wo das Land so eben wird wie das Wasser, wo es mit Wiesen und Feldern gegen das Haff zuläuft und mit diesem in den ungemessenen Luftraum über der Ostsee fortmündet, schweben Wolken über dem grauen Umkreis wie Gebirge, als ob sie die ersten Gewalten einer noch früheren Weltbühne seien, da die Schöpfung noch stumm und ungemessener war, aber ihr Anblick drohender als die Donner, die später über die engere Erde fortrollten. So schaut man, klein auf dem Erdboden stehend, gegen die ragenden Luftbilder auf, und man glaubt, etwas von einer germanischen Kosmogonie oder Schöpfungsweise ahnen zu müssen, und daß in ihr das Gesicht vor dem Worte und die treibende Gewalt der angeschauten Bilder vor der engeren menschlichen Rede einen gewaltigen, aber stummen Vorrang haben müsse.
Ist nicht das Gesicht unbegrenzter als das Wort? Und ist ein solcher Anblick nicht wie ein ewiger Forthall, der nicht im kleinen Wort und Zweck sich verständigen will, sondern den treibenden Willen zu einer unstillbaren Einsamkeit hat? Es wäre eine Aufgabe, zu begreifen, ob und wie sehr in frühen germanischen Formen ein solcher Grundsinn des Gesichtes stattfindet, eine solche forttreibende und gleichsam stumm forthallende Bewegung, wie sie auch in der verschlungenen germanischen Sinnform des Schmuckes gültig ist. Wandert nicht der Germane in die Welt, als ob dies nur die Gegenform einer Wanderung aus dem ewigen Gesichte sei? Und ist von dieser inneren Bewegung nichts geblieben? Der Deutsche ist schnell zu den Formen der Geschichte geeilt. Aber ist es nicht, als ob noch ein letzter Schlummer in seinem Wesen auf einmal und vielleicht dann immer stärker aufwachen müsse? Die Bildungen der Geschichte werden kleiner und bildender. Aber sieht nicht der deutsche Schlummer noch ein größeres Gesicht, will er nicht einmal wieder in das »bildungslose«, urschöpferische Grundgefühl zurück, das ihm vielleicht mitgegeben ist, wo das Gesicht die Herrschaft hat, daß er davor stehen kann, und wo die Natur noch nicht auf eine bloß nachahmbare Bildung der Kunst zusammengerückt ist? Die Schöpfung ist das Gesicht und der große Widersatz, gegen den sich die Geschichte aufgemacht hat und den sie in ihrer eigenen Verkleinerung nicht mehr ermißt. Wird die große Ermessung dieses Widersatzes wieder eintreten? Ist nicht der unendliche und nie erfüllbare Hall und Nachhall, den kein Echo austrägt, immer noch, und steht nicht hinter ihm das ewig stumme und unkenntliche Gesicht? Man kann nicht antworten, wenn man so in Bildern spricht. Aber man kann in unsere Zeit und, um einen unbegrenzten Nachhall zu hören, zu den forttreibenden dichterischen Gebilden von Nietzsches Gedankenwelt gehen, um vielleicht ein Beispiel für dieses deutsche Grundverhältnis zu sagen.
Indes, die Natur des Landes ist wieder ringsum, und ein schönes farbiges Erleben wird uns jetzt zuteil. Wenigstens hatten wir noch nie gesehen, daß ein Regenbogen so groß und breit war wie hier und daß seine Breite so stark war in den Farben, als ob es die Farben von ganz großen Gartenblumen seien. So stand er als ein blühendes Wetter über dem weiten Felde. Das war indes noch nicht auf der Nehrung, sondern in dem flachen Lande vorher, wo der Bogen den ganzen Raum beherrschen konnte. Die Sonne schien, und es regnete; und je heftiger es hinter uns her regnete, desto stärker schien von Westen rückwärts in unseren Wagen sowie auf die fließende Straße und auf die vor Nässe und Grün funkelnden Weidewiesen die Sonne. Die Straße und die Gegend war vor uns wie ein lustiger, vom Regen durchblitzter Hohlraum. Auf den Weiden stand das schwarzgefleckte Vieh, unter den Bäumen standen die Menschen, und alles troff und glänzte von Wasser und Sonne. Und über allem spannte sich groß die farbige Erscheinung des doppelten Bogens. Zuerst war nur links voraus ein breites Bogenstück, dann ein etwas schmäleres weiter draußen rechts, die Bogenansätze wuchsen, und außerhalb erschienen dazu die Stücke ihrer Nebenbogen, bis sich schließlich groß über der rundesten und finstersten Verdichtung die prächtigste doppelte Bogenbrücke erhob. Es war, wenn dies auch abgebraucht zu sagen klingt, wie eine mythische Erscheinung und eine Brücke der Götter.
Offenbar ist am Meere die Erscheinung eines Regenbogens besonders groß und farbig. Vor allem das Gelb schien wie die Farbe gewaltiger Sonnenblumen aus der Verdüsterung des Raumes. Der ganze Raum aber war von dieser blühenden Klarheit des Bogens beherrscht; und sonderbar schön war es, daß gleichzeitig durch den Sonnenschein die vor Nässe leuchtenden Bäume ihre Schatten in das Feld warfen, das in der Nähe vor uns wie ein Glanzspiegel war. Überhaupt war die ganze Landschaft mehr glänzend als hell. Und am schönsten war nun, daß die breite linke Hälfte des Bogens immer mehr gegen uns herzukommen schien, bis ihr Fuß wie ein loses Band auf der Straße, gleichsam deren Breite versperrend, stand. Ich wenigstens hatte gemeint, daß sich das Auge eines Beschauers in der Richtung des Mittelpunktes eines Regenbogens befinden müsse. Und nun geschah aber, was man wohl als Kind wünscht, daß man an den Fuß des farbigen Bogens selber herankam. Es war zauberhaft, wie man sich schließlich von den losen, im Raum stehenden und von Tropfen durchblitzten Farben, von Violett und Gelb und den durchsichtigen Brechungen, umgeben fühlte, als der Wagen hineinfahr, bis dies nun auf einmal verschwand, während die rechte Hälfte noch im Felde draußen blühend weiter bestand. Als alles dann vergangen war, wurden die großen Wolken wieder deutlich wie blaue Trümmer einer Himmelsburg, und graue Dunstfahnen zogen wie Brandrauch darüber hin. Es war, nachdem man dies gesehen hatte, als ob man einen der schönsten Abschnitte bei Jean Paul über eine solche Naturerscheinung gelesen hätte.
Und nun saß man am bleichen Morgen im Fischerdorf, und vor sich hatte man auf dem Tische ein Gläschen »Sonnenschein« stehen.
Im dicken Regen und mit sinkender Nacht war man gestern noch durch den bedeutenden Badeort Cranz am Südende der Kurischen Nehrung gekommen. Bleich standen die großen Fenster der Gaststätten, und noch bleicher war das verregnete Land kurz vor der Nacht. Uns aber gelüstete es, zwischen dem Wasser des Himmels und der Erde in der Nähe von Haff und Meer mit dem Wagen noch »fortzuschwimmen« und auf den Sandweg der Nehrung zu kommen. Unser Ziel war der Fischerort Sarkau. Diese Nachtfahrt war schön, man sah nichts als durch den Schein der Wagenlichter den kleinen Nehrungswald zu den Seiten des Weges. Irgendwo ganz nahe hinter dem Dunkel wußte man rechts das Kurische Haff und links die Ostsee, und der Wagen fuhr, fast wie ein Boot plätschernd, durch das auf der sandigen Straße gesammelte Wasser.
Nun saß man also beim Frühstück und hatte einen Einblick in den Fischerort vor sich. Ein Regenwind trieb unruhig zwischen den mit weiten Lücken stehenden kleinen Häusern, unter deren Dachrändern gleich Girlanden die Flundern aufgehängt waren, um zu trocknen. Ihre langen Reihen hingen an den Hauswänden entlang gleich grauen, blinkenden Blättern. Da und dort stieg Rauch auf zwischen den Häuser,n und man sah, daß er aus der Erde selber herkam. Eine Kirchenglocke läutete, und einige Menschen gingen mit ihren Gesangbüchern altväterisch oder sonst als stille Bilder des Sonntagmorgens zur Kirche. Andere trieben ihren Lebensunterhalt, wie es ihr Gewerbe gebot. Sie machten sich daran, die Flundern, welche jetzt als kleine getrocknete und etwas raschelnde Ernten von den Häusern abgenommen waren, da man sie am anderen Tage zum Markt nach Königsberg liefern sollte, zu räuchern. Die Flundern sind ihr »tägliches Brot« und ihr Geld, denn es kann sonst aus dem mageren Sandlande nicht viel an Lebensunterhalt gezogen werden.
Manchmal erfährt man, wie gering die Bedürfnisse an einem Orte sind, aus einem kleinen Umstande. Etwa wenn man einem Fischer mit Tabak ein Sonntagsvergnügen machen wollte und dabei feststellte, daß in dem kleinen Verkaufsladen nur eine einzige billige Sorte vorhanden war. Dieser Fischer hatte seine Räucheranlage in einem kleinen sandigen Garten, der zugleich Kartoffelfeld war, an seinem Hause. Es war nichts als in der Erde eine breite Grube, welcher einige Längsstangen oben an der Rückwand, zugleich zum Zweck der Abdeckung, Halt und Form gaben. Indem eine Reihe von Querstäben mit den paarweis zusammengebundenen blattartigen Fischen behängt und so über die Grube gelegt wurden, daß sie wie ein hängendes Dach von Fischen waren, und als die Grube noch mit Brettern und Stossdecken dicht belegt war, konnte das Räuchern beginnen. Geräuchert wurde mit Kiefernzapfem die unter die Fische in die Grube geschüttet und angezündet wurden. Der Rauch stieg dicht und schwer über die Erde, und in einigen Stunden waren die Flundern geräuchert. All das besorgte die Frau des Fischers, welcher eine andere Gesellschaft leistete. An mancher solchen Gestalt sah man, daß die Witterung auf der Nehrung doch eben schwer zu ertragen war.
Nun hätten wir unser Gläschen »Sonnenschein« fast Vergessen. In dem kleinen Verkaufsladen, wo die Männer ihre Morgenunterhaltung hatten, wurde ein Korn geschenkt, in den einige Tropfen einer anderen Flüssigkeit gegossen wurden. Das gab eine still glänzende Mischung, und diese wurde »Sonnenschein« genannt. Also vermehrten wir unser Frühstück auch um einige solche Gläschen, und während der Regen an die Scheiben schlug und den Rauch durch die Lüfte trieb, erschauten wir aus ihnen einen matten Sonnenblick. Ein einsamer Trinker hätte dazu über die Kargheiten des Lebens philosophieren können.
Und weiter ging die Fahrt nach dem Orte, der wohl den bekanntesten Namen auf der Kurischen Nehrung hat, nach Rossitten mit seiner Vogelwarte. Im schwersten Regen und Wassergischt ging es zunächst dahin, und Wanderer, die entgegen kamen waren wie aus dem Haff gezogen. Dann wurde es leise lichter und allmählich windig und sonnig. Der Nehrungswald mit Kiefern, Birken und Erlen war manchmal mit Flechten behangen, daß er aussah wie in einem weißen Winterreif. Große Königskerzen standen am Wege, Rehe gingen flüchtig davon, Buntspechte waren im triefenden Waldbilde farbig wie Märchenvögel. Und hier nun hatte man, als der Himmel weißflockig und blau wurde, zur Seite durch die Bäume auch schon den Anblick der hohen Sanddüne. Wie eine feste und unrückbare, in ihrer gelblichweißen, reinen Größe doch unsagbar fremdartige Erscheinung stand sie da, und gerade ihre Größe war noch besonders überraschend. Später sollten wir ihre ganze wesenlos blinkende und doch wie ein Gebirge erhabene Schönheit sehen
Rossitten ist einer der Hauptorte für den Besucher der Nehrung und schöne Gaststätten bieten Aufenthalt. Aber mit Recht darf die Vogelwarte von sich sagen, daß nicht zum wenigsten der Fremdenstrom, der jeden Sommer der Kurischen Nehrung zufließt, gerade ihr gilt. Seit 1901 besteht diese Forschungsanstalt für den Vogelflug, die es sich zunutze macht, daß die Nehrung für die Zugvögel im Frühjahr und Herbst eine »Brücke« ist, über welche bei ganz guten Flugtagen schätzungsweise eine halbe Million und mehr Vögel an einem Tage durchziehen. Durch Beringung und Buchführung wird ähnlich wie auf Helgoland die Zugrichtung und Zugweite der Vogelarten langsam festgestellt und auf Karten eingetragen. Daraus bilden sich die Ergebnisse, zu denen noch eine Reihe weiterer Aufgaben gekommen ist. Besonders gilt dem weißen Storch die Forschung, dessen Zugrichtung von hier aus östlich um das Mittelmeer geht und der auf monatelanger Wanderung das östliche Südafrika anstrebt, »wo die meisten ostdeutschen Störche den Winter verbringen«. Die Flugkarten der Vögel sind denn auch das erste, was den Besucher des Museums der Vogelwarte fesselt, und damit der Gedanke, daß gerade die Vögel als besondere, sorgliche Geheimnisse der Natur über uns den Luftraum teilen. Und dann sind es die vielen großen und kleinen Vögel, die in den Schränken unter verschiedenen Gesichtspunkten aufgestellt sind. Aber auch ein Gehege ist da mit lebenden, seltenen Großvögeln Ostpreußens.
Auf langem Steindamm geht es in Rossitten zum Schiff hinaus. Und während man nun auf die bewegte Weite des Haffs hinausfährt, fühlt man sich in einer wunderbaren Landschaft des Wassers mit der manchmal leise auftauchenden fernen Grenze des festen Landes und mit der näheren Grenze der Nehrung, und alles ist ohne feste Mitte, so daß die gewitterartig treibenden Wolken des Himmels scheinbar noch den festesten Anhalt bieten. Dies kann zu dem sonderbarsten Gefühl einer Unbeständigkeit werden, die ins Wesenlose entgleitet und die doch den festen Schein einer ewigen Stille hat. Die Beständigkeit des Unbeständigen, diese Empfindung kommt vor allem von dem Anblick der bald grell im Sonnenlicht, bald in einer dunkel gewordenen Altersfarbe mitziehenden, langen und in seltsamen Linien wechselnden Düne, die den Rand des Haffs bildet. Besonders eine matte, beinerne Färbung ist es, die eine Wirkung tut, als ob der Atem der Erde dort erstorben sei, der doch im unruhigen Winde über dem Wasser fortflutet. Einzelne Teile der Düne sieht man ergrünt und durch menschliche Arbeit mit leichtem Wuchs gebändigt, andere erheben sich auch als Waldstücke, aber um so befreiter in einer ewigen Nacktheit hebt sich die stumme Gewalt der gebirgigen Sandform dann wieder weiter.
Nun sind wir in Nidden ausgestiegen, und die doppelten Aufschriften an den Ortstafeln und sonstige Anzeigen in Litauisch und Deutsch machen uns auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse des Memellandes aufmerksam. Bald ist man in dem Orte, der von der waldigen Düne halb durchzogen ist und der mit seinen kleinen, zum Teil noch mit Rohr bedeckten Holzhäusern ein Bild voll Alter und immer gleicher Ruhe bietet. Manchmal, wenn die Häuser in den lichten Grund des ansteigenden Kiefernwaldes hineingehen, während andere mit Gärtchen auf den sandigen Höhen sind, wenn man die große, ruhige Schönheit der Kiefernstämme ringsum stehen sieht, deren edle grüne Gipfel leise wehen, glaubt man in einem schweigenden Bilde dahinzugehen, wie es unsere alten Meister etwa für Weihnachten gemalt haben.
Es ist vor allem der Eindruck einer unglaublichen Reinlichkeit, der unser Gemüt zu beherrschen beginnt und der durch den kargen Wuchs auf dem Sande und doch wieder durch die domhafte Höhe der Bäume erzeugt wird. Man denkt darüber nach, warum man gerade dies alles beschreiben möchte. Es ist wohl deshalb, weil man gleichsam an einem reinlichen Anfang der Erde und alles auf ihr Gewachsenen zu stehen glaubt. Es scheint das Reinlichste sich am einfachsten beschreiben zu lassen, zumal es hier Anfang und Ende in einem ist. So rollt der Sand vom Zaune der Gärten sofort wieder ungehemmt weg, während im Innern des Zaunes die grüne und stille Ordnung des Gemüses und der Blumen befestigt ist. Merkwürdig sind die hölzernen Gartenzäune; sie haben einen ganz schwärzlichen Ton, ihre hölzernen Spitzen aber sind alle blau gefärbt, so daß ein schmales, blaues Band über dem Zaungitter herumgeht, über welches überall das Gelb von großen Sonnenblumen herausragt. Übrigens sind auch schöne Gaststätten da, und die unsrige war wie ein großer Gutshof mit langer Fensterfront, in welche das weite Haff unmittelbar hereinglänzte.
Kaum mehr als eine Viertelstunde dauert der Weg, der über die mit hohem Kiefernwald bestandene Düne zu den kleineren Aussendünen an der Ostsee hinüberführt, an deren Sandstrand gebadet wird. Überall im Walde hämmerten die Buntspechte, der äußere Rand aber ist kaum mehr bewachsen, seine stille Wildheit geht in einen breiten Saum des schönsten Sandes über, und die Wellen haben von kleinen Steinen eine oft wunderbare rötliche und violette Färbung entlang ihres schwachen oder starken Schlages. Weiter draußen aber erhebt sich im lebhaften Winde das bald grünlich quellende, bald ruhig blaue oder in dunkleren Farben brütende Schauspiel von Wasser, Wind und Sonne des Meeres.
Während hier draußen die Natur allein lebt und atmet, ist aber auch am Haff herinnen ein anschauliches Leben der Fischer. Die Schiffe der Kurischen Nehrung haben eigenartige lange Segelbahnen von schwärzlicher Farbe, die in seltsamen Reihen mit ihren Schiffen in der Luft stehen. An der Spitze sind als eine Besonderheit die kurischen Wimpel. Das sind seltsam ausgesägte und in starke Farben gesetzte, drehbare Querhölzer, die in fremdartiger Stilisierung offenbar Wald und Häuser und ähnliches nachbilden, fast wie in alten Miniaturen. Eben war ein Schiffsbauer daran, ein Schiff zu bauen. Die Eichenplanken wurden über offenem Feuer gebogen, und der ganze schwere Bau ging mit den allereinfachsten Werkzeugen, fast nur aus der Hand und nach dem Augenmaß, vor sich. Und dies alles gab den Eindruck einer uralten und gleichen Tätigkeit und von homerischer Ruhe.
Das letzte Erlebnis war aber ein Gang auf die hohe Wanderdüne. Mit dem Jagdwagen auf breiten Rädern fuhr man hinaus, wie man auch zu den Elchen fährt, den Vertretern eines Bestandes von Urtieren mit großen Schaufeln, die hier noch ein Revier haben. Man kam an der Düne an wie an dem gewaltigen Relief einer anderen Welt. Man ging an ihrer breiten Seite hinauf, und das wenige Weidevieh mit einzelnen Bäumen am Grunde wurde zusehends kleiner. Man sah die unglaubliche Regelmäßigkeit der Sandrillen, welche in verschiedensten Formen den ganzen Hang wie mit Zeichnungen bedecken. Schließlich stand man auf der Höhe, und während auf der einen Seite das Haff und auf der anderen das Meer hell oder finster leuchtete, sah man, wie der scharfe Wind unaufhörlich den Sand, oft in Strähnen, über den nach einer Richtung zugespitzten und abfallenden Grat der Düne hinwegblies. Der Sand traf auch spitzig ins Gesicht und wehte in Taschen und Schuhe. Unten war eine breite Schlucht in die Düne gezogen, und diese, das Tal des Schweigens genannt, war wie von einem fernen Lande ohne Leben. Man glaubte, auf einem hohen Gebirge zu stehen, und verlor ganz das Gefühl der wirklichen Größen. So sehr waren Unbeständigkeit und ihr dauerndes Gesetz imstande, an sich selber und an dem lebenden und natürlichen Daseinsgefühl zu zehren. Als der Sand mit leichtem Dunkelwerden ein blendendes Zwielicht annahm, wurde der Eindruck noch größer. Und so nahm man sich als einen kleinen Behelf in die Wirklichkeit vor, beim Hinabgehen die Schritte zu zählen. Es waren nicht mehr als etwas über sechshundert Schritte. Aber man schien aus einem anderen Reiche zurückzukommen, aus dem Reiche des Sandes, wo alles groß und tot und vergeblich ist.
Der Abschied von der Kurischen Nehrung entläßt uns mit Augen und Sinnen, die erfüllt sind von den Stimmungen schöner Herbsttage. Wenn der Abend dämmerte, blieb es lange hell, auf dem Haff war ein Zwielicht, das den Raum weit offen hielt, und wie trümmerhafte Schwingen standen draußen noch die Segel der Schiffe, während die Mondscheibe gleich einer goldenen Sonne oben hing. Man mochte in diesem Nachtbeginn die blasse, langdauernde nordische Tageslandschaft ahnen. Und doch, da wir ein gewohntes Gefühl der Tageszeit in uns haben, spüren wir, daß hier die Nacht ziemlich früher eintrat als in unserer westlicheren Heimat. Und noch ungewohnter empfanden wir die frühe Morgenhelle an die Fenster glänzen. Bald nach vier Uhr war es gegen Mitte September schon zwielichtig hell, und bald darauf schienen die großen gelben Räder der Sonnenblumen wie lauter milde Morgensonnen über die blaubemalte Ränderlinie der dunkelgetönten Zaunlatten ebenerdig herein. Das war hier das Morgenbild, in dem die stillen Holzhäuser standen. Dazu glänzte immer heller der Sand, der überall durchkam, und die hohen Kiefern bewegten leise ein lockiges Grün ihrer reichen Wipfel.
Wieder hatte das Haff am Morgen, als wir abfuhren, ein stechendes und doch ernstes Licht. Über das Schiff zog ein lebhafter Fluß des Windes, die Dünen sahen in ihrem hingedehnten gilbenden Weiß aus wie die wesenlose Farbe der Zeit selber, und um den ganzen Gesichtskreis hing, weitumspannend, ein Kranz von würfelhaft zerbrochenen Wolken. Nun waren wir wieder in Rossitten und fuhren den Weg zurück, den die schmale Nehrung bietet. Auch der Badeort Cranz war jetzt hinter uns, und indem wir erst gegen Königsberg einwärts und dann wieder auswärts zur Küste fuhren, zu dem bekannten Badeort Rauschen, hatten wir das Samland schon in zwei Queren durchmessen. Es war da manchmal trotz der Fläche zum Meere der Eindruck einer Hochebene, mit fruchtbaren Ackerbreiten, mit schönen Einbuchtungen und idyllischen Erhebungen. Und in der Tat, als man nach dem aus einem hübschen kleinen Tal vom Land zum Meer wieder hinaufgehobenen Orte Rauschen kam, konnte nun der Anblick der samländischen Steilküste diesen Eindruck der Höhe bewahrheiten und verstärken.
Auch in der Nähe der höchsten Erhebung des Samlandes war man inzwischen vorbeigekommen, an dem Galtgarben, welcher, wie in frühesten Zeiten so auch heute noch, als ein geschichtlicher Punkt und eine nationale Gedenkstätte angesehen und benützt wird. Und nun in Rauschen, wenn man an der Brüstung der steil erhobenen Küstenstufe über die Linie hinausblickt, die mit beträchtlicher Höhe in scharfem und rauhem Abriß des Landes zum Meer, mehrmals vorstoßend und doch in die Entfernung nach beiden Seiten schwingend, hinausläuft, hat man gewiß eines der einprägsamsten deutschen Landschaftsbilder. Was an Anlagen des Bades mit reichlicher Zurüstung dem Strande entlang da ist, hatte schon unter den treibenden Wettern des Meerhimmels die Stimmung herbstlicher Verlassenheit. Um so mehr konnte man sich der Einsamkeit erschließen, die zu den nördlichen Gewässern gehört, und dazu die Gewesenheit der Zeiten sprechen lassen, die über dem Lande ist. Noch stehen mittelalterliche Bauten, wenn auch oft Reste oder Ruinen, und es ist da wie die Schicht einer zweiten Zeit über einer ersten, in welcher die Pruzzen noch ihre Heiligtümer mit Hainen und Bäumen im Lande hatten.
Gerade hier im Samlande hat man gerne nach beiden Schichten geforscht und aus der Vorzeit noch viele Funde gemacht. Es ist ein frühbesiedeltes Land, das Land der Bernsteinschöpfer, sagenhaft berühmt bei den alten Völkern durch das »Samländische Gold« am Meere der »Ästier«. Dieses zwischen dem Frischen und dem Kurischen Haff wie ein Rechteck mit scharfem Winkel beim Leuchtturm Brüsterort in die Ostsee vorstoßende Land war ein mächtiger Gau der alten Preußen. Ihr Gottesdienst fand in Hainen statt, Romove genannt; und im Samland war mit einem mächtigen Oberpriester ein besonders gefeiertes solches Romove, wo man in einer heiligen Eiche sich das Götterbild verhüllt dachte. Hier wurde auch Adalbert von Prag, der »Apostel der Preußen«, als er von Danzig hierher kam, nach alter Überlieferung bei Fischhausen, welcher Name von Bischofshausen herkommt, im April 997 erschlagen. Die etwa zweihundert Jahre später, hauptsächlich von Oliva aus, wiederbegonnene Christianisierung kam erst mit dem Einsatz des Deutschen Ordens zum bleibenden Erfolge. Der Preußengau wurde 1255 erobert.
Aber wieder gibt der Blick auf das Meer jene unaufhörliche Gegenwart, die zu erleben man niemals fertig wird. Finstere, mit Regen treibende Wetterbehänge wechseln schnell mit hellen Sonnenblicken. Die ungestüme Bewegung des Wassers hat Farben vom hellen Grün bis zum dunkelsten Violett, aber die Linie des Sehkreises, zwischen die Wetterbewegungen von Meer und Himmel gespannt, bleibt doch in ihrem fernen Umlauf unangetastet als ein blaues Lichtband. Ein Rieseln in den Bäumen, ein unaufhörlich unruhiges Schäumen des Meeres, all diese Unruhe gibt doch eine Gleiche des Tones, die kaum anschwillt oder abnimmt und in der unser Herz ruhig wird wie die Natur selber. Dann erhebt sich wieder eine Wucht des Regens, ein Rütteln und Rattern des Windes und das Schauspiel eines Sturmes, das doch den Raum offen läßt und so mehr dem Gesichte gilt als dem-Ohre. Und alsbald war das gewaltige Rundzelt des Himmels wieder durchlichtet wie ein Gewölbe von zertrümmerten, würfelhaften Wolken. Man denkt sich jede Landschaft mit nur ihr eigenen Wetterstimmungen, nur daß unser Auge und unsere Sprache meist zu schwach sind, um diese Eigenheit herauszubringen. Aber hier an diesen Küsten und Nehrungen will der Besucher immer noch mehr die Schönheiten des Erdraumes auffangen.
Weiter ging unser Weg zu dem Orte, wo man die zu durchsichtigem Golde versteinten »Tränen der Heliaden« findet. Einfacher und prosaischer will das sagen, daß wir nun nach Palmnicken fuhren, und der Kundige weiß, daß hier vor allem der Bernstein gewonnen wird, ja daß er heute hier zum wenigsten aus dem Meere geholt, sondern im staatlichen Bernsteinwerk, in einem offenen Bergwerke ausgebaggert, gereinigt und teilweise verarbeitet wird. Aber die alte Sage ist schön, und sie entspricht dem Zauber des geheimnisvollen Harzes, das schon die Menschen des Altertums beschäftigt und sie zum Handel mit diesem Nordlande veranlaßt hat. Es ist die Sage von Phaethon, dem Sohne des Sonnengottes Helios und der Okeanide Klymene (einer der Töchter des Okeanos). Phaethon hatte auf seine Bitten die Erlaubnis erhalten, den Sonnenwagen zu lenken; aber er hatte, da er es nicht vermochte, mit seiner Fahrt alles in Brand gesetzt. Da tötete ihn Zeus mit einem Blitzstrahl. Phaethons Schwestern, die Heliaden, wurden, als sie ihren Bruder beweinten, in Pappeln verwandelt, und ihre harzigen Tränen sind nun heute der goldene Bernstein.
[Zimmer in der Komturei der Ordensburg Lochstedt]
[Merseburg, Steinkreuz im Dom]
Während wir des Weges fuhren, sah man oft den bleichen Glanz der Ostsee draußen. Es ging durch Groß-Kuhren, und da war auch in der Nähe der Leuchtturm von Brüsterort. Wir waren indes nicht auf einer Hauptstraße, sondern lernten nun die Ackerwege des Samlandes kennen, nicht ohne einiges Aufatmen, nachdem wir mit kühnen und schrägen Anläufen um Wasserlöcher herum und auch mitten hindurch glücklich Palmnicken erreicht hatten. Das war nun die Westküste des Samlandes. Wohl ist auf der ganzen Linie zwischen Danzig und Memel Bernstein gefunden worden, aber die Strecke zwischen Pillau und Cranz ist die eigentliche ostpreußische Bernsteinküste.
An unser Gasthaus schloß sich ein prachtvoller Park, der schräg zum Gestade hin und dann mit hölzerner Treppenanlage vollends zum breiten Sandstrande hinuntergeht. Der Wind rauschte schwer in den alten hohen Bäumen, und das Meer jagte mit weiten überschlagenden Wellen einwärts. Das Naturbild im Abend steigerte sich zu stürmender Lebendigkeit. Eigenartig war hier die Farbe des Wassers, die unter allem Schäumen und Branden einen gleichmäßigen Grad behielt. Es war ein starkes, helles, kalkartiges »Freskoblau«. Ich weiß nicht, ob diese Farbe von der sogenannten »Blauen Erde« kam; einer tieferen Erdschicht des Samlandes, die auch an der Meeresküste ansteht und in welcher sich der Bernstein abgelagert hat. Jedenfalls wurden wir daran erinnert und gingen noch auf dem halbnächtlichen Strande hin suchen, wie man hier öfters solche einsamen Wandler sieht, die gerne die Freude eines selbstgemachten Fundes hätten. Aber nur unser westfälischer Doktor hatte Glück mit kleinen Splitterchen. Er erstand sich denn auch nachher einen »Einschluß«, eines jener Bernsteinstücke, in denen Insekten oder pflanzliche Reste eingeschlossen und mit einer wunderbaren Klarheit im durchsichtigen Harze erhalten sind.
Die ganze Nacht war ein unaufhörliches Rauschen, gleichmäßig eingeteilt von einem lauteren Brechen der Wellen, wovon das Rauschen aber eigentlich nicht stärker wurde, sondern nur den Rhythmus der Dauer vermehrte. Des Morgens gingen wir zur Besichtigung der staatlichen Bernsteinwerke, wo der Bernstein aus der »Blauen Erde« im Tagebau heraufgebaggert und mit Wasser ausgewaschen wird. Dann wird das Gewonnene nach Größe und Qualität geschieden. Wir hören, daß Stücke von kleinen Splittern bis zu mehreren Kilogramm Gewicht vorkommen. Nur das Samland hat, obwohl Bernstein auch sonst auf der Erde vorkommt, diese Ergiebigkeit, die planmäßige Ausbeutung gestattet. Jedermann kennt den Schmuck, der aus Bernstein gemacht wird. Und da will man wissen, nach welchen Gesichtspunkten sich die Werte bestimmen. Wir hören, daß die dunkleren Farben einen Vorrang haben, welcher natürlich durch die reinen Eigenschaften einer helleren Farbe übertroffen werden kann. Der Abfall wird besonders für Lackherstellung verwendet. Neben den Arbeitsräumen ist auch ein Museum zu sehen, das den Arbeitsgang zeigt und hervorragende Stücke enthält. Lichter einer frühen Weltensonne scheinen uns aus den gelben Stücken entgegen.
Nochmals hatten wir das Frische Haff unmittelbar vor Augen, als wir, über Fischhausen kommend, zu der Ordensburg Lochstedt fuhren. Nach der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, als der Orden sich des Samlands bemächtigt hatte, mußte ihm die Burg Lochstedt als eine Wehr am Anfang der Nehrung nach Westen hin dienen. Außer einem Pfleger als oberstem Verwalter der Burg hatte der Orden daselbst auch einen Bernsteinmeister, woraus man die Bedeutung des kostbaren Gutes auch für die Ordenszeit sieht. Später, als der Orden schon in den schweren Kämpfen seines Niederganges stand, hatte Lochstedt nochmals eine Szene zu bilden für die tragische Rolle des Hochmeisters Heinrich von Plauen. Nach der Schlacht von Tannenberg hatte Heinrich die Marienburg vor der Eroberung gerettet. Mit seinen weiteren Plänen stieß er auf offenen und auch hinterhältigen Widerstand von Ordensgenossen, wurde seines Amtes entsetzt und kam, als sein Name mit gewagten Abmachungen verknüpft erschien, in strenge Haft, die später durch Überführung nach Lochstedt gemildert wurde. Schließlich erhielt er 1429 noch das Pflegamt von Lochstedt, das er kurz inne hatte. Begraben wurde er ehrenvoll in der Hochmeistergruft der Marienburg.
Oft kann eine kleinere Anlage mit bestimmteren Zügen sprechen als eine große. So ist es hier im Anblick der Burg Lochstedt. Sie erhebt sich ziemlich hoch am Rande des glänzenden Haffs. Zwei lange, heute teilweise blockhaft erniedrigte Bauflügel sind als Rest der gesamten Burg erhalten. In dieses resthafte Ziegelwerk ist das gotische Gesicht aber noch überall rhythmisch ruhig eingeschnitten. Es ist eine epische Einsamkeit um dieses Bruchstück der Burg. Trotzig und altertümlich schön sieht es aus, noch ganz die stillmächtige Vorstellung des Mittelalters fühlen lassend, die jetzt Grabungen noch ergänzen wollen.
Hervorragend schön ist aber auch in der alten Echtheit eine Reihe von Innenräumen, darunter die Konventsküche mit schwerem, niederem Gewölbe, der sogenannte Komtursremter mit Mittelpfeiler, die in reinen gotischen Maßen profilierte und gewölbte Kapelle, die Bernsteinkammer, Stübchen, Bußzellen und anderes. Aber außer durch eigenartige Reliefe und Konsolen ist Lochstedt noch ausgezeichnet durch eine reich ausgeführte Folge von Wandmalereien. »Die Wandgemälde in den Lochstedter Gebietigergemächern gehören zu den ganz wenigen und allerbesterhaltenen Beispielen solcher Raumdekoration. Für die zweite Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts stehen sie sogar vereinzelt da« (K. H. Clasen). Mit der dichterisch-linienhaften Lieblichkeit ihres Stils zieren sie die geschlossene Kraft, die in den Räumen einer solchen Burg ausgedrückt ist, welche nach innen eine ritterliche Zartheit an den Wänden haben konnte, wie ihre Mauern nach außen die trutzige Stärke zeigten.
So schloß nun unsere Reise durch Ostpreußen nochmals mit einem vollen Blick landschaftlicher und geschichtlicher Schönheit ab. Fast schwer mochte uns der Abschied werden, als wir nun in Pillau, samt unserem Wagen, das Schiff bestiegen — es war die neue »Tannenberg« des »Seedienstes Ostpreußen« —, um über Zoppot, Swinemünde, Warnemünde nach Travemünde und Lübeck zu gelangen. Über dem Meere fahrend mochten wir nachsinnen, was wohl länger dauere, wenn man ein solches Land gesehen hat, die Ausbeute des Geistes oder die Ausbeute des Herzens.