Konrad Weiß: Deutschlands Morgenspiegel (Teil 2.7)
Kapitelinhalt
VII: Straßen durch Hessen
Wo die ersten deutschen Steine reden
Um das früheste deutsche Baubild
Von der Bergstraße durch den Odenwald
In Michelstadt und Seligenstadt
Wo einst eine Landschaft Buchonien hieß
Auf hessischer Fahrt an die Fulda
Frühlingsfahrt von der Fulda an die Eder
Was ist ein Frühling der Geschichte?
Romanisch-deutscher Stil und Barock
Am Rande von Vogelsberg und Knüllgebirge
Germanistische Frucht der Romantik
»Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit«
Ein Betrachter germanischer Kunst, wenn er aus ihr den germanischen Sinn erschließen will, kann nicht mit der Baukunst beginnen. Und wenn diese sich spät dann in der letzten frühgeschichtlichen Zeit der Germanenwelt erhebt, sind es Bauten des nordgermanischen Kunstkreises aus Holz. Man pflegt von dieser Tatsache aus und von einer in engerer Art empfundenen Anschauung her zu sagen, daß germanische Baukunst wesentlich in dem Bausinne aus Holz ihren Ausdruck finde, und man erklärt die sicher entsprechend vorhandenen Merkmale des deutschen Steinbaues auch gerne aus den Formbedingungen des Holzes.
Wie kommt es aber, daß mit dem geschichtlichen Bewußtwerden, nachdem die Deutschen einmal angefangen hatten, ihr Weltgefühl im Stein aufzubauen, eine Steinbaukunst entstand, die sofort voll zeithaften Atems ist, die auf dem Boden des Zusammentreffens der Kräfte im Westen am stärksten sich erhob und die zum einmaligen Ausdruck des Mittelalters und also eines vor allem deutschen Zeitalters gehört? Wer einwirft, daß das Christentum der wesentlichste Träger davon gewesen sei, der dürfte leicht zu wenig bedenken, daß der mittelalterliche Stil vor allem das Wesen einer bestimmten Zeit war, daß die Kirche mehr die Begriffe trägt, während die Geschichte durch Völker getragen wird, und daß, als im Mittelalter die Steine mehr die Geschichte als den Begriff trugen, eben das deutsche Wesen offenbar wurde, während die nachmittelalterliche Kirche sich wieder vom Bausinn der Geschichte zum Bausinn des Begriffes wegwandte.
Eine zusammenhängende Fahrt kann uns durch den Odenwald und dann über das weitere Hessen nach Westfalen bringen, dann über den Rhein nach Aachen, vom Niederrhein herüber an die Weser, weiter nach Schleswig und auf dem Rückweg durch die Lüneburger Heide. Im Odenwald und an seinem Rande stehen heute noch die karolingischen Bauten; und zu ihnen gehört in Aachen Kaiser Karls Palastkapelle als das Hauptwerk dieser aufstehenden Bauzeit. Aber wenn wir zunächst ganz allgemein das Wort »redende Steine« gebrauchen, können wir des spielenden Sinnes wegen erwähnen, daß in Schleswig einige der Runensteine, unbehauene, aber beschriebene Steine, zu sehen sind, die an die Wikingerzeit und an die Blüte von Haithabu erinnern. Schließlich trifft man in der Lüneburger Heide, im Walde bei Fallingbostel, auf die »Sieben Steinhäuser«, welche gewaltige, resthaft gewordene steinzeitliche Grabkammern darstellen.
Alle diese Steine reden. Und offenbar gibt es, auch wenn man selbstverständlich diese Gegenstande nicht unmittelbar vergleichen kann, eine bald naturhafte und bald geschichtliche, jeweils ganz verschiedene Sprache. Wollen wir hier unter den »redenden Steinen« nur die Sprache der eigentlichen Baukunst verstehen, die ganz und gar schon geschichtlicher Ausdruck geworden ist, so folgen wir damit der Gepflogenheit, die Betrachtung der deutschen Baukunst mit den karolingischen Bauten zu beginnen. Dies ist aber nichts anderes als die Tatsache, daß die deutsche Baukunst, wie man auch sonst ihren ursprünglichen Charakter verstehen möge, hier ihren Ausdruck durch ein Wesen des Steinbaus, und gleich im stärksten Maße, gefunden hat. Man kann dabei nicht übersehen, daß ein anderer Beginn der Betrachtung, etwa mit dem Unterschied im Wesen von Holz- und Steinbau, oder mit dem Unterschied von einem mehr naturhaften oder mehr geschichtlichen Wesen, sofort noch eine größere Spannweite des Sinnes ergeben würde. Etwas anderes aber bleibt die Frage nach der Erkenntnis der geschichtlichen Tiefe, nach dem Aufbruch des Sinnes aus der Bestimmung seiner Zeit.
Denn: ist nicht das Holz dem Sinne des Volkes näher, und also das Merkmalwesen des Holzes dem Ausdruck auch seiner Geschichte entsprechender? Und doch ist erst das spätere Mittelalter, die Gotik, in einem gewissen Sinne wuchshaft gleich dem Holze geworden. Damals ging auch der unbekanntere Sinn in das mehr bürgerliche Genus, der universale Bau in das generale Haus über. Am Anfang der Zeiten aber steht der Stein, und er ist auch zwei verschiedenen Kräften dienstbar. Aus der Macht und dem festigenden Begriff des Geistes entstand der Bau der Antike; aus Sinnfügung und richtungsmäßigem Vorgebot erhob sich die mittelalterliche Bauwelt. Am Zusammentreffen beider Sinnesweisen im Westen des Reiches, am Rhein, erhob sich für uns diese Sprache aus dem Steine am meisten. Gewiß kann nun das Holz noch die stammhaftere Sprache haben, aber der Stein trägt den schwereren Entscheid der Zeit. Er bleibt nicht bei den stammhaften Merkmalen des naturhaften Volkes stehen. Das Holz, dies vergängliche Element, verbindet sich mit der Beständigkeit des stammhaften Wuchses der Volksgeschlechter. Der Stein, dies beständige Element, nimmt in sich auf die Spaltung, die Bewegung und den Schritt der Zeiten und erhebt die Geschichte in das universale Ringen des Geistes.
Indem der Stein die Zelle der Zeit in sich nimmt, beginnt der Raum zeithaft zu wachsen. Auch will der Stein nun statt des raumhaften ein bildhaftes Wesen, gleichwie den Schmuck aus der Schönheit einer inneren Verletzung, in sich aufnehmen. Die Zelle der Zeit und des Baues wird von innen farbig. Und dies ist nicht nur deshalb zu sagen, weil nun bald an den geöffneten Feldern des In-nenraumes sich Bilder ansetzen; nein, die größere Zeithaftigkeit des steinernen Werkes an sich ist voller von Brechungen, von Gegensätzen und dadurch im geheimeren Wesen farbiger. Und durch diese Sinnesvermehrung des Baues im Inneren ist es vielleicht möglich, die also entstandene geschichtliche Bauwelt als »Bildwohnung« zu bezeichnen. Dies Wort will uns auch dienen, um im Gesamtblick über das deutsche Wesen, in der Spanne seines Geistes und vor allem seiner späteren Entwicklung einen Unterschied von »Bildwohnung« und »Worttenne« zu kennzeichnen. Bild und Wort sind die Sinneskräfte, aus denen und zwischen denen der deutsche Mensch seine Welt gefunden und entfaltet hat.
Von hier aus ginge es nun schließlich überhaupt auf Fragen wie die, welche Weiterungen der Sinn und das Wesen der Geschichte für die hierfür offenbar am empfänglichsten und auch widersetzlichsten ausgestatteten germanischen Sinnesanlagen gebracht hat? Es ist die Frage, was sie erben und wie sie ein Erbe verändern konnten. Und im Kunstgeschichtlichen heißt schließlich die engere Frage, wie weit der karolingische Bausinnn unter germanischem Gefühl stehe oder als römisches Erbe anzusehen sei. Wenn Dehio gerade in diesem Zusammenhang den Satz ausschalten wollte, daß am Anfang der »Logos der Rasse« stehe, so werden wir doch mit aller Achtung vor seinen Verdiensten gerade umgekehrt unser Gesicht darauf richten, was uns als germanisch im Gefühle des Raumes, im Ausdruck von Baugliedern, im gebauten Dasein jener Zeit erscheine.
Schon ist auch der Gedanke daran hereingekommen, daß unsere frühesten und auch weiterhin sinnkräftigsten Bauten in den Gegenden der stärksten geschichtlichen Bewegtheit stehen. Hängt das nur damit zusammen, daß in diesen Gegenden auch römische Bauten vorhanden waren und vorbildlich wurden? Oder ist es nicht richtiger, zu denken, daß der deutsche Sinn die geschichtliche Bewegung braucht und gerade in ihr den ihm selber gemäßesten Ausdruck am schärfsten und reichsten gefunden hat? Dieser Gedanke wächst, wenn man von der Mitte Deutschlands her dem Rheine sich nähert. Man pflegt wohl meist vom Rhein aus seine Reisen durch Deutschland zu beginnen. Dadurch mag für den Rhein allzuleicht eine bloß allgemeine Größe des Eindrucks bestehen bleiben, während man in den östlicheren Räumen Deutschlands dann die bestimmteren, weil im engeren Sinne faßbareren Merkmale erkennt. Kommt man nun umgekehrt aus der Mitte gegen Westen, so beobachtet man, daß die stammhafte Bequemheit, die landschaftlich oder geschichtlich rundere Faßbarkeit nicht mehr gegeben ist, daß sich überhaupt der in solcher Art sachlichere Begriff in eine scheinbar allgemeinere, aber schwerere Sinnform verwandelt hat. Es kommt all das Unbegreifliche hinzu, daß die geschichtlich früher bewußte Zeit auch sinnhaft schwerere Ansätze aller Art und Fortwirkung gebracht hat. Die größten Spannungen scheinen in der Welt zu sein, weil die Ansätze des Bewußtwerdens der Zeiten verschieden sind.
Mit der Frage der Faßbarkeit kommt man auch zu dem Begriffe oder zu den Stämmen der Franken, die aus ihren stammhaften Bestimmtheiten am meisten von allen deutschen Stämmen in die geschichtliche Wirkung hinübergetreten sind. Der Stamm und Begriff der Hessen gibt von diesen Verhältnissen ein ausgezeichnetes Abbild im kleinen, das jedoch gerade in den vorhandenen Werken oder also in der geschichtlichen Sichtbarkeit der Landschaft auch groß und ausgezeichnet ist. Es ist eine östlich mit dem Rhein gleichlaufende Seitenlinie vom Neckar über den Main bis zur Eder, wo näherhin das alte Stammland der Chatten war und geblieben ist. Mit den karolingischen Bauten des Odenwaldes, mit den Bauten in Fulda, Hersfeld, Fritzlar, mit den einmalig schönen Schöpfungen in Limburg und Marburg sind feste Punkte dieser Linie durch den deutschen Westen gegeben. Indem man die Werke betrachtet, möchte man diese Linie als eine Linie der Umsetzung der geschichtlichen Formsinne vom Rheine her für das übrige Deutschland und überhaupt Hessen als das schöne Land solchen geistigen und formhaften Umschlags im deutschen Raume erkennen. Indem diese hessische Linie dann nach Westfalen und zur niedersächsischen Weser übertritt, wird in den dortigen romanischen Domformen dieser Umschlag, diese nochmals besondere Fassung oder Zeitauslegung des rheinischen Formgeistes, weil eindeutiger, noch deutlicher. Hier wird auch alles härter und stiller. Der Charakter Hessens aber ist der einer ausgiebigen und doch gewählten Schönheit, einer freudigen geschichtlichen Sichtbarkeit, die sich offenbar auch in den Sinnen des Volkes und des Volkstums mit seiner Treue zum Alten widerspiegelt.
Im Januar 815 erhielt der karolingische Geschichtschreiber Einhard, aus einer vornehmen Familie im Maingau stammend, mit seiner Gemahlin Imma als Geschenk die Orte Michelstadt im Odenwald und Mühlheim am Main, welches, nachdem Einhard Reliquien dahin hatte überführen lassen, den Namen Seligenstadt bekam. Kaum ein Jahr vorher war Karl der Große gestorben, dessen Vertrauter Einhard gewesen war, und die Schenkung geschah durch Karls Sohn Ludwig den Frommen, welchem Einhard ebenfalls ein geehrter Ratgeber blieb. Einhard starb, nachdem seine Gemahlin Imma vier Jahre vorher gestorben war, im März 840. Im gleichen Sommer starb auch Ludwig der Fromme, der mit seinem Sohne Ludwig dem Deutschen im Kampfe war, auf einer Rheininsel bei Ingelheim.
Hier zwischen dem unteren Neckar und Main ist schon lange eine geschichtliche Gegend. Sie ist ein Tummelplatz der Völkerwanderung, und gerade auch mit den Anfängen des Frankenreichs ist sie eng verbunden. Man kann ausholen fast bis zum Beginne der großen Geschichte der salischen Franken im fünften Jahrhundert, als diese von ihren niederrheinischen Sitzen aus das gallisch-römische Land eroberten und dann bald nach Spanien, bald über den Rhein zurück ihre Kämpfe weiterführten. In Shakespeares »Heinrich V.« liest man zur Begründung eines Rechtsanspruchs Englands auf französisches Gebiet eine Erörterung des salischen Gesetzes mit Bezug auf den sagenhaften salischen König Faramund und dann auf Karl den Großen. Dabei wird gesagt, daß das salische Land an Saale und Elbe liege und das Land Meißen sei. Richtiges und Unrichtiges, Salisches, Niederrheinisches und Obersächsisches geht hier durcheinander. Aber man erhält durch eine solche dichterische Stelle doch einen starken Bezug und Hinweis auf die alte salische Größe.
Das salische Geschlecht der Merowinger mit Childerich I., dessen Grab später eine Fundstätte germanischer Geräte wurde, und hauptsächlich mit Chlodowech, nachher das Geschlecht der Karolinger, das von dem Amte der austrasischen Hausmeier aus mit Pippin II., Karl Martell, Pippin dem Kurzen und als Gipfel Karl dem Großen die gewaltige Frankenmacht ausbaute, diese lange fränkische Geschichtsperiode bedeutet mit der Tatsache, daß das Wort »Frankreich« zuletzt nicht bei dem austrasischen Teil des Reiches, sondern bei dem westlichen Neustrien verblieb, ein eigentümliches germanisches Schicksal. Der Name bezeichnet nunmehr das geschichtliche Vordringen und also wieder eine mehr geschichtliche als stammliche Gegebenheit, während sich Austrasien mit den Rheingebieten zu dem kommenden Deutschland fortbildete.
In dieser Geschichte nun spielt der anlagernde Landstrich vom Neckar zum Main schon immer mit, der auch zum Römerbesitz innerhalb des Limes gehörte. Schon seit Chlodowech 496 die Alamannen schlug, wurden hier die Rheinufer von Franken besiedelt. Auch der Eintritt der Hessen in den fränkischen Reichsverband geht so weit zurück, und später übertragen dann die Hessen ihren Namen auch auf dieses Gebiet, zu dem der Odenwald gehört. In dieser Gegend also lebte auch Einhard, der außer anderem ein »Leben Karls des Großen« geschrieben hat, das noch die Merowinger kurz in den Anfang nimmt und das als die beste biographische Leistung des Mittelalters gilt. Es ist bekannt, daß die Sage aus Einhards Gemahlin Imma eine Tochter Karls, was sie in Wirklichkeit nicht war, gemacht hat. Einhard habe sie heimlich nachts besucht, und als morgens Schnee lag, habe Imma den Geliebten zur Vermeidung verräterischer Spuren auf ihrem Rücken zurückgetragen. Karl habe aber die beiden von seinem Fenster aus gesehen, habe jedoch später vor seinen Großen aus der ärgerlichen Begebenheit eine Belohnung Einhards durch seine Tochter gemacht. Das vornehme Ehepaar Einhard und Imma aber gibt dem Vorhandensein der karolingischen Kirchen in dieser Gegend und dem Aufwuchs des geschichtlichen Bewußtseins eine feine weltliche Stimmung.
Am Odenwald aber ist wie nirgends auch der Völkerwanderung und der Burgunden zu gedenken. Hier rauscht es noch von dem naturhaft tragischen Beginn des Nibelungenliedes, als Siegfried, vom Niederrhein gekommen, auf der Jagd bei der Waldquelle durch Hagens Speer den Tod fand.
[Michelstadt, Marktplatz mit Rathaus]
[Torhalle zu Lorsch]
Unsere engeren deutschen Ansätze auf dem Boden des geschichtlichen Geistes erscheinen so unerschöpflich wie vielleicht auch im letzten undurchdringlich. In der Betrachtung der frühen Formen, die als Bauten oder sonst unser Werden begleiten, erhebt sich alsbald ein zweifacher Gedanke. Einmal nämlich erscheint es so, daß wir von den ersten großen Berührungen mit der Geschichte her auf unser eigenes Wesen und Dasein gleichsam erst wieder zurückwachsen und dieses dann von innen her fertig machen. Zum andern aber mögen wir mit Erstaunen bemerken, daß doch gerade in diesen ersten großen Berührungen unsere deutschen Eigenschaften eine stärkste Steigerung zeigen und daß diese hier schon, im Schnitt gegen die andere Welt, in der Ablösung zu unserer eigenen geschichtlichen Seele, was ein Geschehen wie durch eine Wunde ist, am stärksten sichtbar werden. Selbst was mit Hilfe der fremden, also vor allem der antiken Formen in Sichtbarkeit tritt, verändert sich aus dem Sinn der helfenden Form zu einem eigenen Wesen des Ausdrucks. Was der Deutsche als Formen übernimmt, geht bei ihm über in einen Weg und Kampf um Inhalte. Unsere späteren, in sich selbst fertig gewordenen Charaktermerkmale sind nun allerdings leichter zu sehen als diese ersten deutschen Eigenschaften der Geschichte. Aber eben darum werden wir die Erkenntnis dieser letzteren bei der Betrachtung unserer früheren, aus der fränkischen oder karolingischen Zeit vorhandenen Baubilder am meisten versuchen.
Wenn wir es nicht bloß als äußerliche Zeitfolge nehmen, daß auf römischen Resten und Fundamenten neue germanische Baukunst sich aufsetzt, so wie in Trier und sonst noch, sondern wenn wir glauben, daß solche Einbruchstellen, solche Kampfplätze, solche »Wunden« der Geschichte von den Deutschen am meisten fruchtbar gemacht wurden, so ist uns eben jene Gegend am Mittelrhein ein Beweis, wo die Wunden der Geschichte immer wieder neu wurden. Am Rhein, zwischen Neckar und Main, am Odenwald ist eine unaufhörliche geschichtliche Bewegung. Hier, wo auch die Römer eine fruchtbare Flanke für die Vorschiebung ihres Limes fanden, haben in der Völkerwanderung, als hier ein Tummelplatz deutscher Stämme war, die Burgunden ein Reich gegründet. Und dann war hier wieder eine Einbruchstelle der Franken, während sie ihr Westreich gründeten, zu sich selber zurück. Und so scheint es uns kein Zufall, daß Einhard, Karls Geschichtschreiber, hier den Raum des Lebens, Bauens und Schreibens gefunden hatte.
Das karolingische Hauptwerk in dieser Gegend aber sind zunächst nicht Einhards Bauten, sondern ist der früher und heute viel erforschte Torbau mit Eingangshalle des einstigen berühmten Klosters Lorsch. In Lorsch wurde durch Cancor, einen Grafen im Oberrheingau, und seine Mutter Williswinda ein Kloster gestiftet, das im frühen Mittelalter großen Reichtum und großes Ansehen hatte. Nach späterem Niedergang erfolgte im Dreißigjährigen Krieg 1632 die Zerstörung der Kirche. Zu den wenigen Resten, die heute noch von der Anlage da sind, gehört der in Form einer queren Torhalle noch stehende Bau, den man immer mit frühen germanischen Bauten zusammen nennt und besonders mit der Königshalle in Naranco in Spanien vergleicht. Das Datum des Baues geht auf 766 bis 774 zurück, also noch fast vor die Zeit Karls des Großen. Der Bau geschah durch den mächtigen Abt Chrodegang von Metz, der austrasischen Hauptstadt, welcher ein Verwandter des fränkischen Hofes war.
Die Reise nach Lorsch bringt ein feines und edles, einmaliges Bauerlebnis. Wir kommen von Eberbach her mitten aus der von Bergen umsäumten Neckarlandschaft, die im drohenden Regen eine blaugrüne, stille und angespannte Schönheit hat. Da war nun Heidelberg; und der Anblick seines Schloßberges, die feste und große Wirkung seiner hohen Lage vor waldiger Hintergrundwand, der Begriff von klarer, großer Formteilung am baulichen Zwecke, all dies möchte zu dem Begriff der karolingischen »Renaissance« ein späteres Stilgleichnis geben. Aber das tut es allerdings nicht. Der erste und bleibende Eindruck, wenn wir, auf der Bergstraße über Bensheim hergekommen, nun vor dem mit drei Bogenstellungen hallenhaft im Erdgeschoß geöffneten, schmalhohen, rechteckigen Bau stehen, ist eine feine Größe und Zierlichkeit zugleich, die sich gegenseitig zu steigern scheinen. Es ist jenes sichere innere Abstandsgefühl, in welchem auch durch kleine Formen Größe erzeugt wird und das wir als deutsch und auch schon mittelalterlich empfinden möchten. Es ist jene Größe, die nicht so sehr den Teilen vom Ganzen her ihren Wert gibt, sondern die das Ganze aus dem Einzelnen gewinnt und steigert. Es entsteht dabei eine feine Spannung in der Betonung der Formen und ihrer Dinglichkeit, und diese Spannung wird vorgültig wie ein leiser und stetiger Kampf um das Sein, so daß dieses mehr in seinen Zeichen lebt als in seinen Formen repräsentiert. Statt Repräsentation ergibt sich ein Spiel zwischen geistigem Abstand und seelischer Inständigkeit, eine feine Zweiheit von Sehen oder Im-Blicke-Sein und In-sich-Sein.
Bei Lorsch wird gerne darauf hingewiesen, daß antike Formen, so in den vorgelegten Säulen und Pilastern am Äußeren der Geschosse, schön erreicht seien und daß etwa nur die Reihung der Dreiecksgiebel als Wandzier des Obergeschosses sowie ein Fries statt eines Gebälks und dann die bunte weißrote Wandvertäfelung germanisch seien. Uns will umgekehrt scheinen, daß gerade letztere Merkmale das Baubild wesentlich bestimmen. Sie geben jene scheinbar widersprechende Größensinnigkeit, welche eine geschichtliche Stimmung wird, zum Raumkörper. Sie bringen in den »Positivismus« des Antiken gleichsam etwas »Negatives« oder Zeichnerisches und Malerisches oder jedenfalls Förmliches und Dingliches oder eine Art schrifthafte Zierform. Das ist deutsches Gefühl. Auch handelt es sich vielleicht weniger darum, daß antike Formen »mangelhaft« wiedergegeben sind, sondern eher, in welche Richtung diese »Mangelhaftigkeit« weist, um das neue Bauleben zu fühlen. So wie der kleine Bau dasteht, möchte man fast von einer Blumigkeit sprechen, falls man bei einem solchen doch wie ein Schrein strengen Baubilde die Empfindung so ausdrücken darf.
»Schrein« allerdings, das ist das Wort, das wir gerne sagen, um ein Raum- oder Hausgefühl auszudrücken; und Schrein ist ein Wort, welches für unser Gefühl nicht bloß einen positiven Baukörper meint, sondern eine Form zugleich für ihren Inhalt und in ihrer eigenen Bildhaftigkeit. Schrein vermeint eine zugleich inklusive und exklusive Empfindung und Form, wie es bei den nun kommenden Bauten des Mittelalters im Grunde immer sein wird. Der Blick geht nun hier und künftig weniger auf den Bau als auf ein Maß und auf die Spannungen, die aus dem Gesichte dieses Maßes gewonnen werden, aus einem Maß und Gesicht, das sozusagen zwischen Innenheit und Außenheit steht und das ein geistiges Zeitmaß ist. Damit steht der Bau noch mehr in der Zeit als an seinem Orte. Das gibt ihm auch eine an das Zarte grenzende Bestimmtheit, einen Abstand und Spielraum seiner Orthaftigkeit mit seinem Zeitgesicht; und, was nun besonders merkwürdig und gerade hier eine besondere Auffälligkeit ist, es gibt dem Bau auch eine gewisse Kleinheit, eine Kleinheit, in welcher die Genauigkeit von Maßen mit dem Begriff der Größe ein teilsinniges und schwankendes Bedürfnis hat, worin die Größe des Gesichts mit der orthaften Genauigkeit ringt und eines das andere innerlich bindet und wieder wie in einem Abstand lockert. So hat man ja oft besonders bei gotischen Figuren das Gefühl, daß sie nicht bloß positiv im Raume, sondern in einem feineren und schwankenderen Verhältnis zum Angeschautwerden stehen, wodurch sie den Anstoß zu einer größeren Wirkung tragen. So wird überhaupt im Mittelalter nicht bloß eine positive körperliche Größe, sondern eine Zeitgröße mitgestaltet. Und ähnlich also ist es hier an diesem alten Torbau, an dem dazu die Folge der Dreiecksgiebel als eine eigene Zone auch noch das Gefühl einer Fortsetzung und die Stückform eines Bauens in aller Zeit bezeichnet. Indem die Teile sich stärker noch einprägen als das Ganze, ist auch das Werk wie von einer feinen Zerbrechlichkeit noch schöner in die Zeit gestellt. Der Bau steht vor uns wie das Gelaß einer Geschichte, wie eine Zelle des Zeitraumes selber. Man möchte sagen, im Zeitenkörper der Geschichte das genaueste und zeitwirklichste Gelaß zu bauen, das sei die eigentliche deutsche Bauaufgabe geworden.
Zu den Erinnerungen von Lorsch gehört auch, daß hier Ludwig der Deutsche 876 begraben wurde. Und im Kloster von Lorsch war auch der bayerische Herzog Tassilo in Haft gehalten bis zu seinem Ende, nachdem er von Karl dem Großen zuerst zum Tode verurteilt und dann auf diese Weise begnadigt worden und ihm die Haare des Freien abgeschnitten waren.
Wir fahren wieder gegen die Bergstraße zurück, und die Kuppen des Odenwaldes lassen uns an den milden und doch prächtigen und unaufhörlichen Rhythmus des Nibelungenliedes denken. Bald sind wir von dieser Landschaft umgeben, und in der Mitte liegt dann das alte Michelstadt. Es rühmt sich, den ältesten deutschen Holzbau zu besitzen, nämlich auf seinem altheimeligen Marktplatz das Rathaus von 1484, das mit seinen mächtigen Holzständern des offenen Erdgeschosses, mit dieser offenen Gebälkehalle als ein rechter Volks- und Gemeindebegriff alt und ziervoll dasteht. Dann ist da aber ganz nahe und zu der großen, auch teils noch sehr alten Schloßanlage der Herren von Erbach gehörig, die berühmte Einhard-Basilika von Steinbach. Das erhaltene Mittelschiff der Ruine weist auf den basilikalen Bau, der durch das Fehlen der Seitenschiffe in seiner sinnhaften Schärfe, sozusagen in dem geschichtlichen Klang des begonnenen Raumschrittes noch deutlicher wird. Man nimmt diese auch im Alter noch gebliebene, einsinnige Schärfe der Baurichtung wahr, und man macht von selbst Vergleiche mit dem hölzernen Rathaus der späteren deutschen Zeit. Zwar ist ein unmittelbarer Vergleich natürlich infolge aller Verschiedenheiten nicht möglich. Aber man kann wohl sagen, daß die zusammengewachsene Echtheit des deutschen Gefühls in dem Holzbau die Stete des Volkssinnes ausdrückt, daß aber der frühe Steinbau dagegen noch ein schärferes, heftiger aus der Geschichte gelöstes und in sich fortschreitendes Wesen hat. Es ist der Kampf einer inneren Bewegung um einen weltanschaulichen Eigenwillen, was sich hier in der Harmonie der karolingischen Haltekräfte, die man »Renaissance« nennen mag, rührt.
Dieser überalte und resthaft schöne Bau von Steinbach gehört nun zusammen mit dem später in Mauer- und Pfeilerbauten weiter eingekleideten Kernbau von Seligenstadt am Main, beide in der Bauzeit von 820 bis 830 an Stelle kleiner Holzkirchen in Stein entstanden, zu den ersten deutschen Kirchenbauten. Man bewundert hier und dort wieder Kleinformem wie die technisch schönen Ziegelplatten, wo sie an Pfeilern verwendet sind, man mißt die beginnende Schritthaftigkeit der Pfeiler, und man erlebt, wie der Raum aus der Haltekraft in Bewegung übertritt. Wieder mag man denken, daß die Genauigkeit der Teilung der erste Vorgang sei, um gerade dadurch, in einem Verhältnis von Teilung zu Bewegung, den Raum und das Gesicht der Zeit in Bewegung zu setzen. Dies Vorgebot der Bewegung im Raum ist dann später das mittelalterlich Deutsche im Bausinne. So scheint in Steinbach der Raum gleichsam herausgenommen, um ein reines Zeitgefühl einzufangen, und dies dürfte wohl auch seinerzeit schon bei aller gefäßhaften Harmonie der Gliederung so gewesen sein. In Seligenstadt wurde eben heute der alte Kernbau in der spätromanischen Verkleidung gesucht. Die ganze Bauerscheinung ist hier sonst schön wie in der späten Hohenstauferzeit und bildet zusammen mit den hinlaufenden Ruinen der Kaiserpfalz ein prächtiges Geschichtsbild über dem Gestade des Mains. Schließlich sei nicht vergessen, daß der große Maler Grünewald ein Bürger von Seligenstadt war.
[Einhardsbasilika in Steinbach]
[Einhardsbasilika in Steinbach]
Als wir uns nach Hessen aufmachten und vom Neckar zum Main durch den Odenwald fuhren, kam es uns, wie früher gesagt, plötzlich stark zum Bewußtsein, wie schön und wichtig im deutschen Sinne eine Linie sei, die den Rhein östlich begleite und durch Hessen laufe. Auf dieser Linie schien uns überhaupt ein Umschlag sichtbar vom allgemeinen fränkischen zu einem näheren deutschen Geiste. Das heißt, es schien hier manches deutlicher als am Rhein; und es ließ sich vielleicht im Laufe dieser Linie der Vollzug einer geschichtlichen Wesenheit des deutschen Geistes ahnen. Diese Wesenheit scheint sich zunächst in der europäischen Aufgabe des fränkischen Geistes und in dem dadurch geschehenen Schicksal zwischen einer großen geschichtlichen Spannweite und der angeborenen näheren Bestimmung und weiter in der Auseinandersetzung des gleichen fränkischen mit dem sächsischen Geiste am meisten verdeutlicht zu haben. Im Grunde aber scheint dies eine kämpferische Klärung zwischen Naturwesen und Geschichtswesen, was offenbar kein anderer Menschheitsteil in dem gleichen Maße als Aufgabe bekommen hat wie der germanische. Und selbst die Annahme des Christentums scheint weniger in der persönlichen Haltung entscheidend geworden als in den Folgen, die sich daraus für eine geschichtliche Daseinsform ergaben.
Das ist also ein Schicksal, das offenbar zur frühen deutschen Wesenheit gehört und das eben in jenen zeitlichen Bedingungen eintrat, als ein Teil des deutschen Wesens schon mit aller Kraft sich zu einer neuen Geschichtsform in der Welt auszurichten begonnen hatte, während ein anderer Teil als Naturform in ihrer nächsten Gegebenheit beharrte. Beide Formen, die geschichtliche und die natürliche, verstärkten sich gegeneinander gewendet in Kämpfen, welche auch die gemeinsamen Kräfte für die Beherrschung des kommenden Mittelalters ergaben. Nicht nur, daß die Franken dieses Schicksal beförderten und daß in diesen Zusammenhang ihr langer Kampf mit den Sachsen gehört, der von Karl zum größten Ausbruch und zum Ende gebracht wurde. Auch die Sachsen haben offenbar in ihrer eigenen Wesenheit diesen zweiseitigen Weltsinn erlebt.
Wie wäre es sonst verständlich, daß die germanischen Angelsachsen, nachdem sie im Kampf gegen Skoten und Pikten Herren des früher schon lange römisch gewesenen Britannien geworden waren, ebenfalls die Richtung in eine weitere geschichtliche Auseinandersetzung einschlagen. Als gegen 600 König Etelberth sich dem Christentum angeschlossen hatte, begann alsbald von England aus eine Rückwirkung auf das Festland, von dem sie gekommen waren. Die Erfolge ihrer Christenboten gelangen aber am schwierigsten gegenüber ihren nächsten Verwandten, den in ihren Stammsiizen und in ihrem Naturwesen beharrenden Sachsen. Gerade in diesem Verhältnis und Gegensatz von Sachsen gegen Sachsen hat man ein eigentümliches Problem innerhalb der deutschen Frühzeit erkannt. Sichtbare Erfolge stellten sich zunächst mehr bei den Friesen ein durch Wilfrid von York und Willibrord, wogegen jedoch der friesische Fürst Ratbod in seinem Kampfe mit Pippin dem Mittleren wieder eine starke Gegenwirkung entfachte. Später griff dann die Christianisierung östlich auf das Unterwesergebiet, besonders durch Willehad, und zur Elbe hin weiter.
Was sollen diese Erinnerungen hier, wo wir auf einer Hessenfahrt begriffen sind? Ja, das ist nun merkwürdig, daß die Gedanken, die uns hinsichtlich der fränkischen und frühdeutschen Auseinandersetzung während der Fahrt durch den Odenwald befallen haben, nun verstärkt wiederkehren, da wir die Fahrt in ein Stück vom älteren Hessen fortsetzen. Schon bald nach jenem Ansatz in Friesland griffen die angelsächsischen Boten, die östlicheren Schwierigkeiten umgehend, nach Mitteldeutschland aus, und der Angelsachse Winfrid-Bonifatius, der auch kurz mit Willibrord in Friesland zusammengearbeitet hatte, kam mit seinen Begleitern nach Hessen und Thüringen. Er hat dann die Christianisierung Deutschlands — für die, wie man weiß, in Süddeutschland nicht Angelsachsen, sondern, teils noch vor ihnen, die Iren tätig waren — in einer kirchlichen Organisation festgelegt. Als alter Mann zog Winfrid nochmals nach Friesland und wurde 755 bei Dokkum erschlagen. Sein Leib wurde inmitten seiner Gründungen in Fulda beigesetzt. Da Winfrid seine Mission als Legat Roms zu Ende führte, scheint er aus dem angelsächsischen Zusammenhang zu rücken, der uns in seiner geschichtlichen Merkwürdigkeit beschäftigt. Aber die stammhafte Sinnfälligkeit ruht für unseren Sinn doch in jener ursprünglichen Beziehung.
Die alte Bezeichnung Buchonien für die Gegend, wo sich später die Geschichte des Fuldaer Landes entwickelte, ist nur wenig bekannt. Man stößt auf sie beim Überblick über die Gegenden der alten Hessen. Sie taucht gelegentlich auf in der alten fränkischen Geschichte. Und dann wird sie uns deutlich für ein Buchenland oder einen Buchenwald, eine tiefe Waldwildnis an den Ufern der oberen Fulda. Buchonien gehört zum westlichen Teil des alten Grabfeldgaues. Die Gegend war unbewohnt, als Winfrid hier einen Mittelpunkt schaffen wollte, der im Kreise seines Wirkens zwischen Franken, Thüringen, Hessen und der Wetterau gelegen sein sollte. Sein Genosse Sturmi, ein Bayer von reicher Tätigkeit und wohl auch zum Streit aufgelegt, etwa mit seinem angelsächsischen Mitgenossen Lullus, hat dann das Kloster Fulda gegründet, während Lullus der Gründer des Klosters Hersfeld, weiter abwärts der Fulda, wurde. Die geschichtliche Ostlinie zum Rhein, die durch Hessen entlang geht, hat also hier an der Fulda seit alters eine geistliche Begleitung hinzubekommen. Ein stark klerikaler Einschlag wird hier noch deutlicher als am Rhein in seiner alten Geschichte. Kulturgeschichtlich ist sodann die Bedeutung Fuldas, ähnlich der des unten an der Weser selbst gelegenen Corvey, groß geworden.
Vor allem haben die beiden Klöster Fulda und Hersfeld, zu denen noch gleichzeitig das benachbarte, damals von dem Abt Wigbert besessene Fritzlar an der Eder kam, im Mittelalter und darüber hinaus durch ihre Schulen und Bibliotheken Ruhm erlangt. Zu den wichtigen Geschichtschreibern des früheren Mittelalters gehört Lambert von Hersfeld. Der Name des gelehrten Hrabanus Maurus ist ein Ruhm Fuldas, wie auch der des Walafrid Strabo, welcher dann die Reichenau auf eine ähnliche Blüte gebracht hat. Zu Fulda gehört aber auch aus der frühen deutschen Literaturzeit Otfrid von Weißenburg, der Dichter des »Krist«, mit dem eine Weiterbildung der dichterischen Elemente einsetzte. Und dann war zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts aber auch Ulrich von Hutten in der Fuldaer Schule, welche mitsamt dem Kloster schon bald im Mittelalter und später noch ausschließlicher sich dem Adel überantwortet hatte. Als Hutten die Schule heimlich verließ, schrieb er auf die Tafel das doppeldeutige Wort: »haec schola me non capit.«
Wir kommen diesmal aus dem alten, von der Tauber zum Main hingedrängten Wertheim. Das Altertümliche ist hier ganz selbstverständlich. Die Ruine der Burg, die gotischen Steinzieren der Kirche und auch alte Häuser, — manchmal ist hier das Bausinnige wie spielend getöpfert und gezimmert. Es ist wohl so, wie es der Süddeutsche gerne will, der nicht so sehr auf das Gesetzmäßige ausgerichtet ist, da es sich mit der Begegnung von Leben und Geschichte immer wieder selbst ergibt. Der Mainlauf bringt zu dieser gedrängten Umständlichkeit sein heiteres Lebensgefühl. Er gleicht damit dem Rhein, nur daß am Main alles noch gedrängter und dagegen sonderbar weiter ist, das will sagen, daß sich die enge Heimatlichkeit und das größere Gesetz noch spielender durchwalten und entheben.
Wir werden an dies Gefühl schon in Fulda zurückdenken. Es ist der Unterschied der deutschen Flußtäler, die, jedes in seiner Art, ein lebendiges Stück deutschen Sinneswesens bedeuten. Bald sind wir eine Strecke am Main hinaufgefahren und bei Lohr in das Tal der Sinn eingebogen. Das schöne Fächeln der Luft geht in die schärfere Durchsichtigkeit an der Rhön über. Bad Brückenau ist eine ruhig vornehme Einsprengung. Und schon geht es zur Fulda weiter, und die Umsicht auf Berge, die sich durch Bauten als Zeugen der Geschichte ausweisen, der Anblick sodann von Türmen und Kuppeln zeigt die alte geistliche Stadt. Die Gegend ist weit, und doch behaupten sich die Berge in der Nähe und jene, welche zum hohen Rande der Rhön gehören, mit einer eigenwilligen Stille. Diese kuppenhaften Berge zeichnen sich einzeln und mit einer kargen Völligkeit über dem Umkreis ab, und doch scheint es, als ob sie mit ihrem begrenzten blauen Dufte die Stimmung der Gegend durchsichtig werden ließen. Nach Westen aber ist der Vogelsberg ähnlich gebildet. Und die festen Kuppen und Bildungen über dem Lande gehören nun überhaupt zu den offenen und doch immer wieder auf diese Weise geschlossenen Bildern von Hessen.
Später sehen wir langhin die Fulda fließen. Wir haben früher die Werra betrachtet und in ihrem Tal einen romantisch ritterlichen Geist gefunden. Da ist nun ihr Zwilling, die Fulda, die einen bäuerlich stillen und fast feierlichen Lauf hat. Unter einem Gewitterhimmel sehen wir sie einmal wie ein leises und ebenes Licht dahinziehen. Und wenn wir nun an die Weser denken, scheint ihr größeres Bild von der Fulda und Werra zugleich bestimmt. Es ist ein episch treibender und doch fast feierlich stiller Anblick, wenn diese durch die Westfälische Pforte in die Tiefebene hinausmündet.
Es gibt einen naiven Anblick, wenn der Geschichtschreiber Lambert von Hersfeld im elften Jahrhundert, indem er die Chronik seiner Zeit schreiben will, dazu Jahreszahlen vom Beginn der Schöpfung und der alten Geschichte vorausschickt. Wenn er aber dabei glaubt, daß manche der frühsten Zeiten dem Knabenalter oder dem Jünglingsalter der Menschheit entsprochen hätten, so ist dieser Gedanke uns nicht fremd, da man ihn auch in neuen Zeiten nicht selten lesen konnte.
Jedoch dieser Gedanke ist wohl nicht mehr als ein schönes Bild vom Menschenleben. Die Geschichte hat sicher andere Gesetze. Die großen und schweren Dinge, die sie den Menschen und Völkern bringt, bringt sie immer wieder und brachte sie gerade auch in den Anfängen starker Völker. So sind es gleich die größten Aufgaben gewesen, die den germanischen Völkern zuteil wurden. Und das waren auch Frühlingszeiten für die Germanen. Darf man also sagen, dann sei ein Frühling der Geschichte vorhanden, wenn die Aufgaben eines Volkes zuerst groß geworden sind? Oder anders ausgedrückt: wenn die Naturanlagen eines Volkes am stärksten in den gesamten geschichtlichen Wettbewerb gesetzt werden? Bei den Germanen aber scheint es so, daß sie, während sie die Spanne der Welt einholten, diese zugleich in einem innersten, »kleinsten« Gelaß eines eigensten Wesens begründeten. Die Welt kann nicht größer sein, als daß sie nicht doch in einer innersten Zelle der Eigenheit faßbar wäre. Bild und Wort, von überall herkommend, müssen doch in einer einzigen Zeitkammer der Seele ihren Platz haben. Diese Ahnung zu haben, war wohl ein geschichtlicher Frühling der Deutschen.
Unmittelbar werden solche Fragen immer lebendig vor den Formen der Kunst in unserer Frühzeit, wenn das Volk sich der übrigen Welt aufschließt und sich doch gleichzeitig in die eigene Form abtrennt. Was ist für ein Gegensatz zwischen dem frühen deutschen Bausinn und dem Sinn der Barockformen? In Hessen trifft es sich, daß man, wiewohl doch Franken, wo wir herkommen, noch reicher an Barockformen ist, mehr als bisher auf diesen Gegensatz aufmerksam wird. Schon macht sich aber auch geltend, daß die Selbstverständlichkeit, mit der in Franken wie überhaupt in unserem Süden die alte Deutschheit der Bauten mit der Barockwelt zusammensteht, nicht mehr so selbstverständlich zusammen ist. Nach dem Norden hin erscheint die Verschiedenheit solchen Bausinnes, wo sie noch auftaucht, getrennter und grundsätzlicher. Es geht eine große barocke Lebenslinie vom Rhein herauf und mit breitem Bogen über den Main und über Süddeutschland an die Donau und weiter nach dem deutschen Osten bis Wien. Gewiß findet sich ein berühmtes Barockwesen auch noch jenseits der Elbe, so in Potsdam, in Sachsen und in Schlesien. Aber hier will es immer wirken wie ein besonders eingesetzter Akzent der Geschichte. Und auch schon hier in Hessen erlebt und bedenkt man den besonderen Zusammenstoß. Es ist, wie wenn ein inneres Gelaß der Zeit und ein rhythmischer Kosmos, eine geschichtliche Frühlingszeit in sich und der mögliche Wohlklang der geschöpflichen Raumwelt im ganzen gegeneinander stünden, als ob dies die beiden Hauptsinne über die große antike Vernunft hinaus überhaupt seien. Davon erlebt man nun auch ein Stück in Fulda.
Der erste Eindruck von Fulda behauptet sich auch bei längerem Verweilen. Es ist das Wesen des Barock, das im Dom seinen großen Ausdruck hat, und das mit dem Abt-Schloß auf den geistlichen Fürstensitz hinweist, wie er sich mit der Zeit aus dem geschichtlichen Zusammenhang getrennt hat. Das Barock behält wohl immer für eine Denkweise, die in den alten Baubildern eine Bewegung und Ausschreitung des unmittelbaren geschichtlichen Sinnes sucht, eine gewisse Willkür und begriffliche Loslösung. Der mächtig schöne Dombau des Johann Dientzenhofer, bald nach 1700 begonnen, die beiden in eigener Art mit fester Deutschheit wirkenden Türme, dazu die Kuppel, das Ganze in einem großartigen Umriß geschlossen, dazu das hoch und breit ausgefaltete Gesicht der Stirnseite, dies alles in einem letzten Gefühl für Symmetrie entwickelt, — dies ist eine ins Licht gesetzte und darin Teil an Teil gebundene Baukunst, so daß gleichsam der Bau sich selber beherrscht. Er bildet mehr einen Begriff in sich als einen Sinn in der Geschichte. Eben dies sowohl Allseitige als eben darin Einseitige, was auch in dem beliebten Zeichen der häufig dabei verwendeten Obelisken sich ausdrückt, eben diese Absicht und begriffliche Umsicht, die an Stelle eines Vorgebots tritt, diese Symmetrie vor allem ist es, was sich auf eine universale Weise über den geschichtlichen Trieb hinwegsteigert. Ein romanischer Bau mit seiner basilikalen Teilung hat ebenfalls eine symmetrische Gegenwart. Aber man wird nicht daran denken oder nicht davon das erste Gefühl bestimmen lassen, weil eine andere Sinnkraft schon in der Beschlossenheit des Bauschritts alles bloß Formale überwindet, weil auch die Symmetrie nicht als partiale Zuteilung aus der Einheit, sondern als Wesen verschiedener Verhältnisse und ihrer dividualen Spannung ersteht.
Nahe dem Dome steht hier in Fulda noch der alte Bau von St. Michael, dessen Innenbau bis 820 zurückgeht und der vollends das Gegenteil der Barockidee ist. Dieser Bau gehört unter die frühen germanischen Beispiele. Sein Inneres ist ein von Säulen gebildeter, offener Rundbau, der über den Säulen noch als ein von Öffnungen durchbrochener hoher Mauerreifen weitergeht. Dies ist eine andere universale Form, die in den Sinn karolingischer Bauten gehört und die nicht so sehr von außen gefügt, sondern von innen geöffnet erscheint. Es ist kein Bau, der sich gleichsam nur im Lichte »demonstriert« und davon positiv erfüllt. Er nimmt sich gleichsam aus der Mitte hinweg und schafft dadurch unerschöpfliche Kreise. Man geht im Innern um den Ring der Säulen mit dem Gefühl, daß sich das Letzte und Innerste der Welt nicht erfüllen läßt. Der Raum ist weniger das Licht, als eine heimliche Brunnenstube für das Licht. Ein solcher Gang im Kreise um das Ewige kann uns fast an das unaufhörliche Wesen erinnern, das auch in alter germanischer Ornamentik umkreisen will. Und wenn man heute versucht, von einer solchen Rundform auf germanische Sinnzeichen, etwa zwecks einer Messung des Sonnenganges, zurückzuweisen und an gebaute »Jahressonnenmesser« zu denken (wie bei der rätselhaften Kapelle von Drüggelte in Westfalen), so wird man von dem Hinweis auf ein solches Naturelement unwillkürlich berührt. Der Natursinn kann einer begrifflichen Anschauung und er kann dem geheimeren geschichtlichen Willen dienen; jedenfalls wird er immer wieder seinen eigensten Umkreis suchen; und sicher gibt es auch eine eigene Seele des germanisch-deutschen Rundbaues. Was hier an diesem Orte jeden anfällt, das ist letztlich noch die Einfachheit, mit der ein Sinn der Größe im Ringe von Säulen wie in einer aufgesperrten Bewegung gegeben und womit eine bewegte Welt gleichsam eingemauert ist, um sich noch weniger zu erschöpfen.
[Dom zu Fulda]
[Fulda, Schloß]
Noch einige Daten müssen uns jetzt Ort und Gegend unserer Reise anschaulich machen. Im Jahre 794 besuchte Alcuin, der gelehrte Angelsachse aus dem Kreise Kaiser Karls, Fulda als den Ort, wo sein Landsmann Winfrid-Bonifatius begraben ward. Dies zeigt, wie die Geister der Zeit zusammenhingen. Die Krypta im Dom hat allerdings heute kaum mehr etwas von der alten geschichtlichen Stimmung. Jedoch auf dem hohen Petersberge unweit Fulda, wo der älteste Bau noch bis 837 zurückreicht, hat die Krypta noch eine solche Stimmung von stiller Wucht. Man fühlt sich in der gewölbten Steinkammer von alter strenger Kunst umklammert, um dann vom Berge den Anblick über das von Duftschatten überlagerte Ackerland vor allem zu den ernstblauen Rhönkuppen zu schicken. Auch sind hier noch romanische Reliefe, deren Figuren wie mit Furchen aus Äckern geholt und doch von feierlicher Gefaßtheit sind. Oft glaubt man ja, in alten Figuren das Ackerland selber zu lieben, indem es durch die Furchen der Erde ein himmlisches Gesetz hat. Gefurchtes Ackerland ist auch gleichsam das Bild unseres geschichtlichen Gefühls, und dieses Gefühl scheint, wie angegraben und gefurcht durch Verletzung, die himmlischen Gesetze zu ahnen.
Nochmals ist nach Fulda zurückzudenken, weil hier das Grab des fränkischen Königs Konrad I. ist, der 911 auf den letzten deutschen Karolinger gefolgt war und der, bevor er 918 starb, seinem Bruder und den Herzögen den folgenreichen Rat gab, das Reich nunmehr dem Sachsen Heinrich I. anzuvertrauen. In Fritzlar wurde denn auch im folgenden Jahre der erste der großen Sachsenherrscher gewählt, und so kam die Krone zum Harz und nach Quedlinburg. Wenn also unser Weg jetzt weiter in das ältere Hessen geht, indem zur westlichen Seite nach dem Vogelsberg bald schon die Basaltkuppen des Knüllgebirges erscheinen, haben wir auch einen geschichtlichen Weg in der Vorstellung. Und eine weitere Erinnerung kommt hinzu. Hier an der Fulda und Werra ist auch sozusagen eine Naht im alten Reiche. Hier konnte ein Chronist aus nächster Nähe das Schicksal eines deutschen Königs beobachten, der, als Knabe mit fünf Jahren zur Regierung gelangt, nach allen Seiten zu kämpfen hatte und dessen Weg über Canossa ging. Es ist der Salier Heinrich IV., dessen Lieblingssitz in Goslar war und der doch gerade mit Sachsen und Thüringen immer im Streite lag, der einmal über den Harz nach Eschwege flüchten mußte und der hier an der Fulda einen Ort hatte, wo er nicht ungern hinkam. Dieser Ort ist das Kloster Hersfeld, und hier schrieb zu jener Zeit der Chronist Lambert.
Als die Thüringer, welchen wie den Sachsen besonders die Zwingburgen König Heinrichs verhaßt waren, die Burg Spatenberg belagerten, wurde die Königin Berta, die Gemahlin Heinrichs, welche schwanger war, von dem Abte aus der Burg nach Kloster Hersfeld gebracht, wo sie ein Söhnchen Konrad gebar. Man sieht an dieser Nachricht wie auch sonst, daß Heinrich dem Kloster nahestand. Die geistlichen und weltlichen Mächte waren, je nachdem es ihren Bedürfnissen zugute kam, damals äußerst geteilt. Auch der Chronist Lambert, der diese innerdeutschen Verhältnisse aus nächster Nähe beschreibt, erscheint erst gegen Ende seiner Darstellung, die bis zur Wahl des Gegenkönigs Rudolf von Schwaben geht, als Parteigänger des Papstes Gregor VII. Die Fahrt Heinrichs nach Canossa in jenem Winter 1076 auf 1077 wird von ihm anschaulich erzählt. Der Winter war ungewöhnlich hart, so daß am Rhein die Wurzeln der Reben in der Erde erfroren. Der Übergang Heinrichs über das vereiste Gebirge war äußerst beschwerlich. Man mußte manchmal auf Händen und Füßen kriechen, und die Königin mit ihren Frauen wurde auf Ochsenhäuten über die gefährlichen Stellen fortgezogen. Und so schildert Lambert auch die Tage in Canossa mit vielen Zügen. Es ist ein Trauerspiel um die Herrschaft; und wenn es eigentümlich ist, daß dieser Chronist nicht selten zu den Ereignissen der Zeit den Vergleich eines Trauerspiels gebraucht, gerade als ob man damals schon eine reiche derartige Dichtung besessen hätte, so spricht uns überhaupt seine Chronik durch eine Fülle dramatischer Züge in Geschehnissen und Auftritten an.
In Hersfeld, wo der Lullusbrunnen der heutigen Badestadt an den Namen des Klostergründers von 769 erinnert, ist die größte Ruine romanischer Baukunst in Deutschland, der gewaltige Baurest des schon 1037 begonnenen Neubaus der Stiftskirche, die 1761 von den Franzosen niedergebrannt wurde. Es muß ein Bau reinster Größe seines Stils gewesen sein. Die Mauern fassen, teilen und richten die räumliche Gewalt so, als ob es keinen Raum als leeren Begriff gebe, sondern als ob er sich selber erst aus Richtung, Querung, Teilung und Stufung zusammenstücke. Die Kraft im Einzelnen — dies ist wieder deutsche Jugendform — steht vor dem Begriff im Ganzen. Die kolossale Anlage scheint in der Ruine noch größer, noch mehr losgewuchtet von allem Kleinen; die Offenheit erscheint selber geradezu wie Körper, die in einander geriegelt sind, und der ganze Anblick ist wie ein Skelett geistiger Räume und Maße.
Der Besucher spürt etwas von der Gewalt von Urkräften, wie sie in jenes elfte Jahrhundert gehören, als nach den Sachsen nun die Salier das Reich mit seinen geistlichen und weltlichen Gewalten durch einander riegelten. Noch eben hatten Konrad II. und Heinrich III. die größten Erfolge gehabt. Als aber letzterer 1056 zu früh sein Leben schloß, ließ er einen Knaben zurück, der, zunächst beraten von seiner Mutter Agnes und schwierigen Kirchenfürsten wie Adalbert von Bremen, schrankenlos und doch bald auch von allen Seiten, zuletzt von seinem eigenen Sohn, in Schranken gezwängt, in dieser heftigen Zeit stand. Weltliche und geistliche Mächte stießen nicht nur gegen einander, sondern auch gegen sich selbst. Die Zeit selbst schien ein kantiger, mächtig in einander geriegelter Bau, der sich verklammerte, je weniger ein einzelner die Herschaft innehielt, bis dann die Staufer an der Reihe waren.
[Fulda, Rotunde in St. Michael]
[Hersfeld, Ehemaliges Benediktinerkloster]
Manchmal können sich auf Reisen unsere Gedanken plötzlich so festsetzen, als ob sie nur in einer bestimmten Gegend ganz zu Hause wären und hier ihre Wirklichkeit entfalteten. Diese Wirklichkeit wird dann zu einem Stück Geschichte.
Wir haben erlebt, daß an der Bergstraße und im Odenwald noch die Bauten und Reste der im engeren Sinne beginnenden deutschen Geschichte stehen, daß hier die Steine »redend« wurden, als unsere Geschichte in sichtbare Formen rückte. Wir sahen und werden sehen, daß an der Fulda, an der Eder und dann an der Lahn sich Bauten erhoben, die den Rhein mit seinem großen geschichtlichen Bauwesen in einer östlicheren Linie durch Hessen begleiten und die, wenn sie nicht seine unaufhörliche Eindringlichkeit besitzen, doch als Denkmäler ihrer Art, in Ort und Zeit noch eine ausschließlichere Sinnform haben können. Wir mögen ahnen, daß dieses Hessen — einesteils mit seinen Flanken und Flußtälern nach dem Rhein hin geöffnet und zugleich über die Eder und Diemel an Westfalen und Niedersachsen und so auch von der Fulda an die Weser angeheftet, anderseits doch, wie dies auch mit seinem landgräflichen Herrscherhaus im Mittelalter der Fall ist, zu Thüringen und Sachsen und also zum binnendeutschen Stammestum hin verwandt — daß dieses Hessen ein besonders starkes Umschlagsland deutscher Formen und Gedanken sei. Und so sind wir denn auch kaum mehr erstaunt, wenn wir darauf aufmerksam werden, daß Männer wie der Freiherr vom Stein oder die Brüder Grimm, die sich um Sinn und Wesen des deutschen Geistes unter den ersten verdient gemacht haben, gebürtige Hessen sind.
Eben auf dem letzten Punkte unserer Reise gedachten wir des Chronisten Lambert von Hersfeld, der die Anfangsgeschichte des vielbewegten und unglücklichen Königs Heinrich IV. schrieb. Wir denken von Lambert zu den altdeutschen Geschichtschreibern, und dies wieder gibt eine Anknüpfung an den Freiherrn vom Stein. Der große, 1757 in Nassau an der Lahn geborene Staatsmann ist auch einer der großen Beweger des germanistischen Gedankens. Die Deutschen waren in der Erwerbung des Wissens um ihre nationale Geschichte sehr zurückgeblieben. Nach einzelnen Vorausgängen im achtzehnten Jahrhundert und nach der Zwischenkunft Herders rührte sich nun durch die deutsche Romantik neues Leben. Man suchte zu der neu ergriffenen Gegenwart den geschichtlichen Unterbau. »Den Geschmack an deutscher Geschichte zu beleben, ihr gründliches Studium zu erleichtern und hierdurch zur Erhaltung der Liebe zum gemeinsamen Vaterland und dem Gedächtnis unserer großen Vorfahren beizutragen«, das war der Gedanke des Freiherrn vom Stein, den er auch in die Tat umsetzte. Er sammelte und gab viel Geld aus Eigenem, und im Januar 1819 wurde zu Frankfurt der Anfang gemacht mit der Gründung der »Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde«. An Schwierigkeiten fehlte es in der Folge nicht. Aber der Plan, die »Monumenta Germaniae historica« zu sammeln und herauszugeben, wurde seit 1826 Wirklichkeit. Und wie es schon der Wunsch Steins war, wurde auch an die deutsche Ausgabe der »Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit« seit 1849 herangegangen.
Die germanistische Bewegung wurde eine große und schöne Sache. Was aber die alten Geschichtschreiber angeht, so mag man sich doch wundern, daß ihre Werke nicht stärker zum Gemeingut geworden sind. Vielleicht finden wir heute, daß die Sammlung, Vergleichung und rein objektive Bearbeitung in all den Teilgebieten des germanistischen Forschens noch nicht alles sein kann. Bei dem tieferen Graben nach Grund und Boden der Rasse wird man etwa erfahren, daß die Geschichte an sich allein nicht ausgiebig genug ist, daß sie zu einer Schauwand von bloßen Bildern werden kann, wie es in der spätromantischen vaterländischen Kunst mit ihrer konservativen Beschaulichkeit und Illustrationsweise wohl geschehen ist. Ähnlich, wie wenn man die ersten Bauten, die ersten »redenden« Steine ansieht, erfährt man auch als Leser unserer alten Geschichtschreiber, daß das Vergangene keine Sprache allgemeiner Begriffe ist, sondern daß es immer in bestimmten Verhältnissen zu den Sonderheiten des volkhaften Daseins steht. Nicht wo die Formen gelernt und hergeholt sind, ist entscheidend, sondern wie sie ihren Sinn um einen neuen, unsichtbaren und noch unausgesprochenen Kern des Volkes schon gleich verwandeln. Wir scheinen das meiste oder doch vieles unserer frühen Formen im Bauwesen und so auch im geschriebenen Wort der Geschichte — hier schon mit dem Latein der Sprache — rein übernommen zu haben. Aber vielleicht ist es, anders betrachtet, gerade umgekehrt. Das will heißen, daß sich im Übernommenen gerade der Gegensatz des Eigenen, das Ungeschriebene im Geschriebenen, das Ungebaute im Gebauten um so stärker ausdrücken kann. Was wir übernehmen, ist der Anstoß zu dem, was wir haben. Die Romantik ihrerseits hat alles gesammelt und mit bleibendem Verdienste in die geschichtlichen Reihen gebracht. Ihren Besitz aus diesem Erbe hat sie, wie es romantische Bauformen zeigen, teilweise bloß als ein integres mageres Schema herausgezogen. Vielleicht ist nun heute die geschichtliche Reihe überhaupt nicht so vordringlich wie die Erkenntnis der Sonderheiten, die, noch nicht ganz gelesen, in ihnen stecken, jener Sonderheiten, durch welche Natur und Geist des Volkes doch ganz als Eigenheit in der Geschichte lebt. Es mag hier etwas Ähnliches gelten wie im Verhältnis zur gewesenen patriotisch romantischen Kunst. Alle Formen der Geschichte wandeln sich im deutschen Wesen in andere und eigene Sinne und Zeugnisse der Geschichte weiter. — Der Chronist Lambert von Hersfeld, indem er eine dramatische deutsche Spanne jahrweise niederschrieb, führt uns besonders zu diesem Gedanken um das Germanistische. Man wird aufmerksam, wie die annalistische, nach den Jahreszahlen geschehene Form der Darstellung wirkt, aber auch darauf, welcher Grundsatz oder verpflichtende Geist dem Gang der Dinge untergelegt werde. Man erfährt unmittelbar, daß dem Augenblick mehr Wirkung gegeben wird als den Grundsätzen, daß kein begrifflicher oder leer moralischer Sinn der Geschichte zuvor gedacht wird, daß demnach das einzelne Schicksal immer in seinem Rechte und Gerichte der jeweiligen Entscheidung bleibt. Die Vorliebe für Reden und ähnliche Klärungen weist ebenfalls gerade auf diese Sinnform. Kurz, es ist trotz des rein Stofflichen eine mehr dichterische, eine dramatische Form des geschichtlichen Sinnes. Und nicht umsonst wird man vor dieser Form oft an die geschichtliche Art Shakespeares erinnert. Es ist dabei etwas von der Ungewißheit eines Ordals, das man weiter walten und sich in den Charakteren auswirken läßt. Und dies ist es denn auch, was den alten Chroniken besonders als eine starke dramatische Art anhaftet.
Wir biegen in die Landschaft nördlich des Knüllgebirges, kommen über Homberg, und bald sind wir Fritzlars ansichtig. Das Ackerland auf der einen Seite der Eder ist eben, die Stadt liegt in halber Höhe über der anderen Seite und ist mit dem zweitürmigen Dome und anderen Türmen wie ein geschichtliches Wahrzeichen. Fritzlar ist ein Begriff einer schönen alten Hessenstadt, wozu die steinerne Ruhe alter Bauten und die malerische Freude hochgegiebelter Fachwerkhäuser gehört. Was man oft noch in Hessen denkt, das gilt besonders für hier, daß alles gebaute Wesen, auch der bürgerliche Ausdruck der Städte sowie der Bauerndörfer, ein schönes offenes Gesicht hat. Die Geschichte hat es verstanden, sich hier in schöner Sichtbarkeit nach außen mitzuteilen oder ein reichlich sichtbares Gewand zu tragen, wie es die Menschen hier ebenfalls tun. Und dabei hat sie doch in ihren alten Bildern wie in Trachten Gegenwart behalten.
Auch im Dome denkt man, indem man eine herbe gotische Pietà und eine berühmte Skulptur der Dreifaltigkeit betrachtet, an diese Fähigkeit, einem Werke der Kunst und des Daseins ein ruhig großes Gesicht zu geben. Gerade in die große gotische Gewandung ist der Schmerz eines Wesens wie auch seine Freiheit um so mehr eingeschwiegen. Die Stirnseite des Domes selbst, der von verschiedenen Bauzeiten seinen romanisch-gotischen Akkord hat — diese häufige Verbindung von romanischen und gotischen Bauformen gibt von selber schon ein großes Gewand des Zeitausdrucks —, erhält durch die offene Vorhalle seines »Paradieses«, hinter dem der steinerne Zweiklang der romanischen Türme aufsteigt, eine prächtige Gürtung und ein episch starkes Gesicht. Eine ruhige Energie faßt die Vielzahl aller Formen zusammen. Dann wendet man sich wieder in die bürgerliche Fachwerkstadt. Der prächtigste Bau ist das »Hochzeitshaus«, das auf steinernem Erdgeschoß ein ganzes formhaftes Theater von Gebälk und Fachwerk der deutschen Renaissance entfaltet. So greifen in Fritzlar die alten Zeiten schön und voll ineinander.
Der weitere Weg führt nach Wildungen und damit in das Gebiet von Waldeck. Die Schönheit der Badestadt rückt die alten Bilder vom Auge weg, aber die rauh und alt für sich stehende gotische Kirche muß besucht werden. Darin ist ein pompöses Grabmal für den Grafen Josias von Waldeck, der als venezianischer General 1669 auf Kandia gegen die Türken fiel, wie ein figurenreiches Theater, das ihn nun in der Heimat auszeichnet. Der Ruhm Wildungens aber ist der große Altar des Meisters Konrad von Soest, sein Hauptwerk und eines der schönsten Werke der deutschen Malerei nach 1400. Die Geschichte Mariens und der Passion ist in Tafeln aneinandergereiht. Die Bildfelder sind beherrscht durch Gewänder, Gesichter und Gebärden, und die Gruppen der Figuren sind gleichsam durch geometrische Blicklinien miteinander verspannt. Einige Figuren sind durch einen unglaublichen modischen Reichtum besonders der Gürtel gekleidet. Solche Einzelheiten sind oft wie Spannungen, mit denen Drama und Lyrik der Darstellung zu schönen Flächen verbunden sind. Auch hier gilt der Sinn der gotischen vielen Gewandung mit dem inneren Ausdruck, wodurch der Inhalt einer Szene sich hemmend steigert und dauernder bildhaft wird. Es ist jene Zeit um 1400, in der die Malerei wirkt, als ob das Bild nicht den Raum freigeben wolle, als ob es in schöner lyrischer Andacht beharren wolle, um der Schwere kommender Zeiten zu entgehen. Noch will sich der Raum in die Bildtiefe nicht öffnen vor der schönen und sinnigen Beschäftigtheit im Vordergrund, wobei doch der kräftige westfälische Charakter des Meisters mitspricht. Das tafelreiche Werk ist, wie wenn eine Schaulade geöffnet wäre; und das Drama der Religion ist eingebettet in die Betulichkeit und Vornehmheit schöner Sinne.
[Fritzlar, Stiftskirche St. Peter]
[Fritzlar, Vesperbild aus der Stiftskirche]
Unsere Fahrt setzt wieder am Main an. Sie geht von Hanau aus durch Offenbach, Frankfurt und Höchst zum Taunus, um über seine Schönheit hinweg in das Lahntal zu kommen. Und nochmals erschließt sich dem vom fränkischen Main Abbiegenden eine reiche Kulturlinie durch das hessische Land, die vom Rhein gegen die Lahn herauszieht und dann gegen Westfalen und gegen Kassel sich verbreitert. Die Hauptstadt Kassel liegt da, wo auch im Norden Hessens die alten Chatten ihre ersten Sitze hatten.
An diesem Stücke des Mains von Hanau weg ist eine wuchernde Überbautheit mit zusammenrückenden Städten, zwischen denen, wer etwa nachts fährt, kaum viel von Landschaft ahnen wird. Jedoch lassen am Tage der Fluß, die Landschaft und die alte Zeit ihre älteren und höheren Rechte noch gerne erblicken. Uns sind diese Städte jetzt nur eine Schwelle für den Übertritt in die nördlichere Landschaft und dazu ein Ansatz für die Gedanken, die wieder auf die deutsche Art und Wesentlichkeit hier östlich des Rheins hinstreben. Während der Frankfurter Goethe seinen eigentlichen Geistesraum in Mitteldeutschland ansetzt, und er sich in Weimar seinen eigenen Kulturkreis schuf, ging hier im hessischen Westen noch in seinen Jahren ein großer und gründlicher Teil jener romantisch germanistischen Bewegung aus, für die wir schon den Freiherrn vom Stein genannt haben und zu der in ihrer wissenschaftlichen Form die Brüder Grimm das Entscheidende geleistet haben. So will unsere Fahrt mit dem Gedanken an die deutsche Sprache, an die deutsche Götterwelt, an die deutschen Rechtsaltertümer und an die deutschen Märchen beginnen.
Es ist viel, was die Brüder Grimm, welche beide, Jakob 1785 und Wilhelm 1786, in Hanau geboren sind, gesammelt und geistig bewegt haben, zu viel, um auch nur ein weniges dazu näher zu bedenken. »Im Altertum war alles sinnlicher entfaltet, in der neuen Zeit drängt sich alles geistiger zusammen«, das ist ein Wort Jakob Grimms, und es bezeichnet den Spielraum seines eigenen Wirkens, die sinnige Methode, mit der er seine Erkenntnisse aufspeicherte und sie, wenn er sie dann auch begrifflicher zusammendrängte, doch in der Weite des Gefühles lassen wollte. Dies Gefühl war ihm aber das angeborene und mitsprechende deutsche Wesen. Er fand, daß etwa die im Mund des Landvolkes erhaltenen Weistümer um so mehr erhalten waren, je kleiner und gesonderter eine Herrschaft war, also in Nassau, Katzenelnbogen, Dietz, Isenburg, Hanau. Ähnlich wuchs ihm selbst das Deutsche aus dem Kleinen ins Große. Aber wie ihm sein Tun ein gemütvolles Erleben war, ein persönliches Stück in der ehrlichen, altdeutschen Sinnigkeit der Romantik, so war es doch wohl auch eine Rückschlagsform gegen die Weite der Aufklärung. Es war dabei eine stille Reformation des Gemüts und in ihr die Besinnung auf die volksmäßigen Hausgötter.
Aber neben diesem besteht noch eine Frage von feiner und geheimer Art. Jakob Grimm hat die Dichtung und die Sprache und er hat die Rechtsaltertümer betrachtet. Seine Jugend war von Savigny und dessen rechtshistorischen Forschungen beeinflußt. Man kann nun sagen, es sei ein Zufall, daß der Sinn für das Recht, für Sprache und Dichtung in eines Mannes Brust zusammen wohnten. Das waren auch sonst Gebiete der Romantik. Aber eben daß dies so war, daß die Romantik das wort- und bildhafte Wesen des deutschen Menschen und daß sie daneben besonders das Rechtswesen bedachte und behandelte, zeigt vielleicht ein geheimes Verhältnis dazwischen. Zwischen dem inneren Wesensbild des deutschen Menschen und seinem Rechtssinn besteht gewiß ein nahes und wohl näheres Verhältnis als bei anderen Völkern. Und damit hängt dann wieder das geschichtlichere Gefühl des deutschen Menschen zusammen, indem sein völkisches Dasein ihm gleichsam der innere Teil eines großen Rechtswesens ist. Diese Frage ist nicht leicht; aber in Jakob Grimms Schaffen dürfen wir wohl nicht nur verschiedene Seiten, sondern eben diese romantische Zusammengehörigkeit sehen. Und durch die Kinder- und Hausmärchen, an denen sein Bruder Wilhelm noch den größeren Anteil hat, wird ein weiteres Glied zu diesem Geheimnis von Dichtung und Rechtsgefühl geschaffen, das im Wesen der Märchen selbst liegt.
[Marburg, Elisabethkirche]
[Der Dom zu Limburg]
[Dom zu Limburg, Blick von der Empore]
[Wildungen, Pfarrkirche, Anbetung der Könige. Teil des Flügelaltars von Conrad von Soest]
Von schöner Abendfahrt kamen wir mit sinkender Nacht in Limburg an. Der Taunus war hinter uns wie eine abendliche Ode, steigend und fallend und mehr im Geist getragen als im Gefühle nahe. Überall war ein klarer Duft unter der glühenden Sonne gewesen, und die Hebungen und Senkungen der Landschaft schienen südlich und nicht für ein bäuerliches Wesen bestimmt. Und doch war Ländliches und Dörfliches darin um so mehr zusammengerückt. Und dann war ein hochgestelltes altersgraues Stadtbild da in Camberg. Über dem Tal der Lahn aber, als wir Limburg erreicht hatten, stand der vieltürmige Dom auf seinem Felsen wie eine undurchdringliche, hohe und dunkle Krone, um welche der ähnlich dunkle Himmel mit Sternen glänzte.
Die erste Erbauung eines Domes bei der »Lintburc«, auf diesem Felsen im Tal def Lahn, geht (910) auf das fränkische Geschlecht der Konradiner zurück, und zwar auf Konrad Kurzbold, der ein Vetter des Königs Konrad I. war und der, nachdem von diesem Geschlecht die Herrschaft an die Sachsen gegeben war, dann auch fest zu Otto I. stand. Das Grabmal des Kurzbold auf einer Empore des Domes mit den in sinnig eifriger Sprache bewegten Tragfiguren ist wie ein in Stein hochgestelltes Blumenbeet, in welchem die Gestalt eingebettet ist. Es ist eines der in seiner Art auffallendsten Werke des früheren dreizehnten Jahrhunderts. Der heutige Dom geht aber durch den Erbauer Heinrich auf das alte hessische Geschlecht der Isenburg zurück. Seine siebentürmige Schönheit, auf den Felsen gesetzt und ihm doch wie ein steingrauer Gegensatz entwachsen, ist von einer Eindrücklichkeit, wie sie wohl in Europa nicht oft überboten wird. Der Bau hat die Geschlossenheit des romanischen Stils im Übergang zur Gotik, eben des Übergangsstils. Alles schließt sich noch mehr zusammen, um sich in ganzen Gruppen aufzulösen. Das ist wie ein Wort und Schicksal der Geschichte. Das Innere steigt in vier Zonen von Bogen, Emporen, Triforien und Fenstergewände, um am Gewölbe sich abzuschneiden. Ein vielteiliger Körper, der sich auch sonst gleich Kristallen kantet und abschneidet, so ist dann auch der gedrängte und doch ganz große Eindruck im Äußeren. Man kann besser das Gesetz im ganzen sagen als die Formen im einzelnen, die gegenüber der Öffnung von Raum und geistiger Insinnigkeit ihre eigene, hierarchische Vielstufigkeit zu betonen begonnen haben. Es ist das Ende des romanischen Stils, wo auch die menschliche Figur freigesetzt ist und wo auch das Baugesetz sich so stark gemacht hat, daß es selber aus Kanten und Angeln des Raumes wie eine ganz in sich gefügte Figur wurde, welche die menschliche Figur ausschließt. Es ist wie das Symbol eines damaligen Geschehens um den Menschen. Es ist der Höhepunkt des Mittelalters, in welchem der Sinn des Daseins in jedem Teile sich selber und ganz darstellen will. Während aber doch alles noch unter dem gleichen Gewölbe sich beschlossen fühlte, fing ein anderes, geschichtlich kleineres, aber persönlich stärkeres, mystisches Seelengefühl an zu wachsen. Das gibt aber auch einen gedanklichen Weg nach Marburg.
Das altgraue, doch auch im Glanze des Schiefers nachleuchtende Limburg mit der Lahnbrücke unten an dem bebauten Felswürfel des Domes ist hinter uns. Es geht über Weilburg und Wetzlar auf Gießen zu. Man sah das Land des reichen Tales, und als es ein wenig regnete und in dieser stillen Luft Mädchen und Bäuerinnen des Weges kamen, waren diese in ihren ernsten, nach oben lichten Trachten wie Gestalten aus alten Bildern. Wieder kam uns der Gedanke, daß in Hessen, wo Kirchen und Rathäuser oft mit vier Ecktürmchen an den Turmhelmen dem Blicke viel bieten, auch immer das dörfliche Fachwerk voll im Holze gezeichneter Sichthaftigkeit ist und daß so auch die Menschen hier wie Bilder der Trachten und dabei ohne künstliche Altertümlichkeit sind. Es ist, als ob eine Zone über dem Erdboden hier ein freundlich helles Licht habe. Kaum ein Land erzählt sich so gerne in aufgeschlossenen Bildern dem Auge.
Auch Erinnerungen an Dichterisches fallen in diesen Weg. Der Stil von Brentanos »Chronika eines fahrenden Schülers« mit der Laurenburger Els, wozu er die Anregung im Lahntal gefunden und die er in Marburg geschrieben, will gerade in die etwas feierliche Helligkeit hierher gehören. Dazu ist allerdings auch der um Jahrzehnte später in Gießen studierende Georg Büchner nicht zu vergessen, dessen Dichtung gegen den mit Menschen und Märchen spielenden Brentano wie ein revolutionärer Aufbruch ist und der wie nur wenige deutsche Dichter gleichsam die bildlose, alleinige Lebensfaser des Herzens in ihrer Bewegung fühlen konnte. Und in Wetzlar mit seiner alterschönen Kirche ist einmal auch ein Ort Goethes gewesen. Es war an dem Reichsqkammergericht, das schon in seinem Endzustand war, welchen Goethe schildert, um dabei vieles über den deutschen Charakter zu sagen, über den »ehrwürdigen deutschen Fleiß, der mehr auf Sammlung und Entwicklung von Einzelheiten als auf Resultate ausging und der hier noch einen unversiegenden Anlaß zu immer neuer Beschaftigung fand«.
Marburg wurde in einem Regenduft erblickt. Das Landgrafenschloß stand auf der Höhe über dem verdüsterten Stadtgrunde wie in einem epischen Zwielicht. Und das war auch die ernste Stimmung, um den reinen steinernen Wald der Elisabethkirche zu besuchen, die für Deutschlands Gotik ein so entscheidendes Zeitwerk ist. Bei der feierlichen Bestattung der thüringischen, 2131 verstorbenen Fürstin, die so bald heilig gesprochen wurde, war der große Hohenstaufe Friedrich II. zugegen, um ihr alle Ehre zu erweisen. In dem neuen, 1235 als Deutschordensgründung ihr zu Ehren errichteten Bau weiß man aber ihr Grab nicht genau. Die Thüringerin ist auch die Stammmutter des hessischen Landgrafenhauses geworden, indem Sophie, die Mutter Heinrichs I., des ersten Landgrafen von Hessen, der »das Kind von Brabant« genannt wird, eine Tochter der heiligen Elisabeth war. Er nahm aus dem nach Heinrich Raspes Tod entstandenen Erbfolgestreit mit den Wettinern den Landgrafentitel nach Hessen mit und wählte Kassel zu seiner Residenz.
Der berühmte frühe Bau der Gotik in Marburg ist zuerst fast enttäuschend, indem gegenüber Limburg hier alle Schwere hinweggenommen ist. Aber es ist nicht nur, daß man vom Vergleichen her befremdet wird. Denn bald wird man sich auch fragen, ob nicht ein Sinn, wenn er ganz rein als sein eigenes Gefüge — mehr Sinngefüge als Bau — in Erscheinung tritt, sich selber gleichsam fremd werden muß, ob er sich nicht aufheben muß, je mehr er sein eigenes Daseinsbild wird. Den »Sinn« sind wir gewohnt, in der Geschichte zu sehen, und nun steht er ganz geschichtlos geworden, ganz nur als ein pflanzliches Aufgebaut- und Inne-sein vor uns. Und dieses Sinnwerk ist doch ganz und gar auch nur die Folge aus dem geschichtlichen Geiste in der Mitte des Mittelalters. Also sieht man nun hier am Äußeren die hohen klaren Streben, im Inneren die steilen Pfeiler, die den Raum der drei Schiffe zu versperren scheinen, um ihn dafür noch innerlicher zu öffnen. Und dies, diese Zahl-werdung außen und innen ist kaum mehr etwas, was man im Bausinn das Fleisch der Geschichte nennen kann. Hier ist kein Dokument in diesem Sinne mehr. Und es wird dem Betrachter nun schwer, weiteres zu folgern. Zwar will das große Gefüge alsbald überall sinnhaft leben. Aber wenn der Kristall dieses Raumes hier zugleich zu einem reinen Wachstum wird, so wird dies doch auch verneint, um eine reine hauchlose Stille zu bleiben. Auch der atmende Kranz der so lebendigen wie geringen Kapitelle besagt nichts anderes. Der Sinn scheint sich töten zu sollen, um anschaulicher und in der Anschauung immer noch stoffloser und entsagender zu sprechen. Das Leben trägt nur noch von sich ein gleich gestilltes Sein. Etwas Stoffloses, ja fast kampflos Technisches ist hier, das in dieser Reinheit fast erschrecken macht. So gehen die mit ihren Diensten gebündelten Rundpfeiler hin, und sie sind wie Sperrungen und wie Schlüssel zugleich. Und so sind auch die hoch aufgeschnittenen Fenster, in zwei Geschossen stehend, derart, daß sie durch Gleichung ihr Bild vermehren und ihren Zweck vermindern, und sie sind mit ihren Öffnungen gegen das Licht derart, daß sie mit ihren Maßwerken eine gleichsam mechanische Naturnähe — Wachstum und Zirkelung sich gegenseitig hebend und hemmend — haben, wodurch das Licht eine willenlose Bereitschaft zum gesamten Raume findet. In dieser Stimmung für das Licht wird der inbildliche Grund für die Glasfensterkunst geschaffen. Die Farbe muß auf einer inbildlichen Bereitschaft und Ohnmacht mächtig werden, und so ist das Bild als Inbild möglich statt eines Raumbildes. Aber ist hier nicht auch der Raum des Inneren mehr Inbild in sich als Raumbild für eine starke Zeitschaft? Und doch ist gerade in dieser Gotik die kirchliche Raumform für eine Gemeinschaft als ein wesentlichster Zeitausdruck gefunden worden? Das Genus der Geschichte trat zurück, das Genus des Volkes trat vor.
Dieser Bau ist nicht mehr wie ein Kampf um den Mangel und Inhalt in der Geschichte und auch nicht mehr wie ein Gesetz und eine Wunde in der Zeit. Er ist ganz und gar Ausdruck als Bekenntnis. Er ist wie ein Gefäß vom Lichte durchschienen, und er hat etwas von einer seligen Botanik. Er bezieht sich auf die ungeschichtliche gottgewollte Kreatur in ihrer ausgleichenden Gemeinsamkeit. Diese Begründung des Genus Kirche, oder Genus Haus, oder Genus Gemeinschaft aber, dieser Formsinn der Gotik ist hier in der Nähe des Rheines reicher im Einfachen und Letztsinnigen als die nördlichere Backsteingotik, die noch mehr die große Technik und den Zweck des gotischen Genus ausspricht. Denn hier in Marburg kann man auch diesen Sinn der zweckhaften Größe und des Bekenntnisses vergessen. Der Sinn des Steines, das Wesen des Raumes ist hier zu einer Inständigkeit der sichtbaren Geistigkeit und zu einer Innerlichkeit geworden, die sich selber im Banne hält und die, paradoxerweise, von sich selber »entworden« scheint. Ein Wesen der Entsagung, ein eigenster und gleichster Sinn gibt hier allem das eigenste und stillste Maß des Lebens. Diese frühe Gotik kehrt sich nach einwärts, die spätere Gotik nach auswärts.
Aber es ist auch das gotische Wesen, daß der Sinn nicht mehr größer werden kann. Je offener diese gebaute Zone der Erde wird, desto mehr kann sie bloß noch nach einwärts wachsen, und das Wesen kann sich nur noch innerlich erhöhen. Der Sinn verzehrt sich ohne die Geschichte. So ist also hier nun die Schwere der Geschichte noch in der Hohenstaufenzeit selber vergessen; und dies mögen wir also in Marburg von der Fremdheit bis zur Innerlichkeit erleben. Und wenn wir später wieder herkommen, wird es uns wieder so ergehen, daß wir vor dieser Art Schönheit, die man so leicht nachbauen zu können glaubt, wie vor einer Fremdheit stehen. Und so stehen wir auch vor dem Schrein der heiligen Elisabeth. Formen, die rein aus der Zeit »entworden« sind, lassen uns um so mehr mit dem Sinne der Zeit ringen.
Der Weg aber führt weiter zu großen Hessendörfern mit reichen Fachwerkbauten, und oft begegnen nun die Frauen mit ihren Trachten und mit dem Haarknoten auf dem Scheitel, worauf sie sonntags die schöne Haube mit dem »Stülpchen« tragen. Und rechts geht es auch in das Schwälmer Gebiet, durch das wir einmal in der Erntezeit gefahren waren; die rauschende Fruchtbarkeit der Äcker war mit den vielröckigen Frauen dazwischen eine seltsame Landschaft für sich gewesen. Im nördlichen Verfolge unserer Fahrt aber kommt nun über Laasphe schon im Rothaargebirge die reizende Barockresidenz von Berleburg. Oder ein andermal kamen wir rechts über das altertümliche Frankenberg hinweg in die Hauptstadt Kassel. Wenn man das germanische Kunstwesen weiter ausdehnen wollte, wären die Bilder Rembrandts, die hier im Museum sind, das Nächste; sie würden für den weiteren inneren Weg zu den stärksten Sinndeutern gehören.