Konrad Weiß: Deutschlands Morgenspiegel (Teil 2.8)
Kapitelinhalt
VIII: Auf der Fahrt durch den Nordwesten
Quer durch die niederrheinische Bucht
Zur karolingischen Kaiserpfalz in Aachen
Im Mittelpunkt der Frankengeschichte
Morgen am Niederrhein bei Rees
Durchs Münsterland nach Osnabrück
Justus Möser und die Spinnstube
Vom niedersächsischen Bauernhaus
Aufbruch nach Schleswig-Holstein
Über das Teufelsmoor nach Stade
»De nich will diken, mut wiken«
Unterwegs zur »Grauen Stadt am Meer«
Durch die Heimat Friedrich Hebbels
Abenddämmerung über Nordstrand
Quer über die zimbrische Halbinsel
Abschlußfahrt von der See zur Heide
Zwischen dem Reich und der Erde
Wir durchfahren das schöne Waldgebirge des Sauerlandes, um an die Ruhr und ihr entlang zum Niederrhein zu kommen. Wenn nun Essen unser nächstes Ziel ist, und wenn man jemandem sagt, daß hier ein wirklicher Herzfleck altdeutscher Kunst- und Kulturzeit sei, so begegnet man leicht ungläubig erstaunten Gesichtern. Unsere Vorstellung von Schloten und Bergwerken hat keinen Raum gelassen für die Möglichkeit wahrhafter, alter Zeitidyllen, als welche Werden und Essen an der Ruhr noch außerordentlich einprägsam geblieben sind. Einmal hier gewesen sein heißt, seiner Erinnerung an diese Gegend unermüdlicher Arbeit einige Kleinode von echtestem altem Wert eingefügt haben.
Wir haben das Edertal hinter uns gelassen. Hier hatte sich der hessische Reichtum von Bildungen des Geländes, von Kuppen und Tälern noch einmal in eine größere Weite, in einen Umblick von starken räumlichen Wohllauten aufgetan. Und nun ist schnell die Landschaft für die Empfindung viel stummer geworden. Da wo das sauerländische Platt und also ein anderer Menschenschlag beginnt, wo die Täler eng und tief einschneiden, wo die Fachwerkhäuser nicht mehr in der malerischen, ausladenden Haltung des Gebälks wie in den Hessendörfern dastehen, sondern wo sie mit wenigen, in ernstem Schwarz schrifthaft deutlichen Balken sich ansehen, verstärkt noch in dieser genauen Sparsamkeit durch das harte Weiß des Verputzes, da ist nun auch ein gebirgiger Ernst gegen den breiten Anfall des landschaftlichen Wohllautes aufgekommen. Nicht, daß dieser Ernst eines Wohllautes entbehrte; aber dieser ist nun von einer ganz anderen Art. Es ist ein Ernst der gebirgigen Bildung, so daß das Gebirge selber davon, von diesen stummen und nahen Maßen steiler und höher scheint. Das meiste zu diesem Eindruck tut aber der Wald. Während der Westerwald vielfach von weitem schon kahle Blicke auf gerodete Höhen gewährt, ist hier alles verschlossen von Waldung; und wenn man aus den engen Tälern herauf einen weiteren Sehkreis gewinnt, erscheint der Wald nach mancher Seite in einer ungetrennten Folge, Weite und Nähe, Hänge und Höhen, das ganze Gebirge bietet sich groß und gemessen, indem es sich in diesem Eindruck zugleich zurückhält und steigert.
So ist es also im Rothaargebirge; und dies ist zu schildern, weil mit dem Ebbe- und dem Lennegebirge und dann mit dem Arnsberger Wald etwas von der Art dieser Gegend bis zur Ruhr selber reicht. Eine einsiedlerische Stille ist also der lauten Werkkraft des Industriegebietes benachbart. Hier nun, auf der eigentlichen Höhe, die eine schöne Hochplatte mit dem Kahlen Astenberg ist, und nicht weit von Winterberg entspringt im Waldhang ein Fluß, dessen Namen zu den wichtigsten deutschen Flüssen gehört. Die Quelle der Ruhr ist eine rechte deutsche, einsame Waldquelle, ein mit rauhen Steinen gefaßter Tümpel oder ein kleines Weiherchen. In dem dunklen Waldblick des Wassers ist ein Steininselchen mit einem kleinen Baume. Das junge Flüßchen kommt also nicht aus einer heiteren Wiesenquelle, und wenn es auch bald auf einem flacheren, offenen Talhang hinwegeilt, so trägt es doch den Ernst seines Ursprungs seinem baldigen strengen Arbeitswege im Ruhrtal zu. Nebenflüßchen wie die Neger, die Elpe, die Valme enteilen aus den benachbarten Hängen und Tälern und bringen ihr eisengraues Wasser, unter dem die Felsen anstehen, zu der jungen Ruhr. Auf den nun breiteren Matten des Tales grasen die kleinen Herden von schwarzgefleckten Rindern und von Schafen mit schwarzen, mageren Beinen und Gesichtern. Schiefer und Blumen, dieser Gegensatz von Ernst und Freude, wie er im Gebirge ist, ziert noch die Häuser des weiteren Landes, in welchem, da es offenbar spät besiedelt wurde, die Denkmale alter Kunst spärlich sind.
Die Sohle des Tales ist flach und weit geworden, Ackerhänge und Waldberge setzen noch darüber an, bis das grüne Dickicht sich mit dem Arnsberger Wald wieder nähert, wo wir den Hinweis auf den schönen See der Möhnetalsperre nicht vergessen dürfen. Auch sei bei diesem die merkwürdige romanische Kapelle von Drüggelte wenigstens angemerkt, ein Rundbau mit Säulen, die im Innern in Kreisen stehen und deren Bedeutung heute die germanischen Sinne neu beschäftigt. Dann sind wir plötzlich in der Doppelstadt NeheimHüsten von der Industrie umzingelt. Wir hören, daß es links nach Iserlohn geht, und bemerken, daß der Ton auf der letzten Silbe des Namens liegt. Und bald werden unsere ortskundigen Freunde im Wagen vollends lebhaft. »Hier fallen wir direkt in die Kamine«, hören wir hinter uns sagen. Und hier also, in Fröndenberg nämlich, beginnt das eigentliche, nicht nur in der Wirtschaft bekannte, sondern schon in der älteren Geschichte der Ruhrindustrie ausgezeichnete Gebiet der Zechen und Werke.
Hier rechts der Ruhr heißt der anliegende Höhenzug auf eine Strecke, die von Fröndenberg bis Witten reicht, die Ardey. Da sind die Orte wie Schwerte, Wetter und Witten, und dazwischen steigt die Höhe der mittelalterlichen Burg Hohensyburg auf. Das ist ein Zusammenhang von Alter, geschichtlicher Gegend und auch einer alten Gewerken-Wirtschaft, die dann mit dem Aufkommen der Eisenbahnen im letzten Jahrhundert sich immer mehr umstellte, bis sie in die größeren und in die ganz großen Industrieorte nach Westen und Norden zwischen Ruhr und Lippe, nach Dortmund, Bochum, Herne, Gelsenkirchen, nach Essen, Mülheim, Duisburg und Ruhrort sich fortsetzte und umsteuerte.
Manche der Ruhrorte sind karolingische Königshöfe gewesen. Später greifen vor allem die Herren der Grafschaft Mark und die Herzöge von Berg mit dem Hochstift Köln hier zusammen. Hinter dem Zuge der Ardey aber liegt der westfälische Hellweg, der über Dortmund und Soest führt. Wir halten uns auf der linken Ruhrseite, wo die Straße verhältnismäßig ruhig ist, und haben so die Merkmale der Großindustrie ohne ihre Unaufhörlichkeit. Wohl kommen die gegen den Himmel gezeichneten Schornsteinbilder heran und reichen weit zurück in den blauen und rauchigen Dunst. Aber genug Felder sind noch da, sowie die westfälischen Einzelhöfe. In den Orten sind die Rathäuser, Kirchen und Marktplätze oft altersgrau und klein und bedeuten gerade mit diesem Gegensatz zur Gegenwart ein Stückchen Geschichte. Dann sind noch die großen Krümmungen, eine hohe, steile Bergstraße über Vollmarstein und anderer Wechsel der Gegend zu bemerken und schließlich, daß der Zusammenhang der Besiedelung immer weniger aufhört. Und doch sieht man auf einmal wieder Weidevieh zwischen all dem zur Tränke in der Ruhr stehen.
Die Unterhaltung aber geht um Dinge der alten Industrie, um die Worte wie Zechen, Kuxe, Gewerke, um die Besonderheiten des Bergrechts und vor allem um die Pioniere des letzten Jahrhunderts, wie den Industriellen Friedrich Harkort, der 1880 starb und dessen Wirkungsfeld hier war. Auch der Name des Freiherrn vom Stein konnte nicht fehlen, der einst zu Wetter tätig war und später die Oberleitung der westfälischen Bergämter inne hatte. Es wurde eine anregende Fahrt wie nur irgendwo, indem die Landschaft und in ihr die Bilder der Arbeit über Hattingen und Kupferdreh noch immer vielfältiger wurden. Und zuletzt sollte auch ein reicher Einschlag aus der Kunstgeschichte nicht fehlen.
[Werden, Abteikirche]
[Essen, Atrium des Münsters]
Als wir nun in ein dichtes Stadtnetz eintauchen, steht an der Straße auf einmal, etwas erhöht, ein großer romanischer Kirchenbau. Es ist das alte, teilweise zu den frühesten deutschen Baumälern gehörige Bauwerk des Klosters Werden, das 794 von Liudger, dem eigentlichen Beginner und ersten Bischof von Münster, gegründet wurde, der ein gebürtiger Friese war. Seine Person führt in viele Beziehungen seiner Zeit ein. Sein Vater Thiatgrim war wieder nach Friesland zurückgekommen, von wo sein Großvater Wursing vor dem König Ratbod nach Utrecht ausgewichen war. Damit war für Liudger die fränkische Verbindung mit Utrecht gegeben, zu der eine geistige Schulung in York in England bei Alcuin kam, welcher später Karl den Großen auf seinen Schüler aufmerksam machte. All dies spielt noch zwischen den Sachsenkämpfen. Liudger ließ sich nach vielseitigem Wirken in Werden begraben, wo jetzt noch eine große Krypta von seltener Form des Baugedankens ist. Die Kirche selbst ist aus mehreren Baukörpern erwachsen und hat Teile von strengen frühen und edelsten späten Formen der Romanik. Die Herrlichkeit einer hoch hinaufgestellten Kuppel nimmt den Blick zusammen. Und wenn es unmöglich ist, weiteres festzuhalten, so sei doch die Empfindung festgelegt, wie hier wieder bei aller geteilten und gestuften Vielzahl der Bauformen eine Art Lieblichkeit erreicht wird, von welcher mit den Schritten die Augen sich erfüllen. Wichtig sind in der Kirche noch schöne Freskenreste und in der Krypta sehr alte Reliefe.
Das dichte Stadtnetz verläßt uns nicht mehr, bis wir in Essen-Mitte sind. Es wird schon abendlich; und da überrascht uns wieder die Wahrnehmung, daß mitten zwischen der Stattlichkeit von Hochbauten und den großen Baumalen der Gegenwart gerade doch zusammen mit dem Abendgefühl die alten Bauformen, wenn sie in ihrer geschlossenen Ruhe auftauchen, stärker auf das Gemüt wirken. Auch empfinden wir wieder, daß nach dem deutschen Norden zu die Bauten der alten Geschichte immer strenger in sich stehend erscheinen als im Süden. Und so steht nun in Essens Mitte an einem etwas schrägen, neuen und raumvollen Platze ein tausendjähriges Denkmal alter Baukunst wie eine Bauinsel für sich da. Der Gründer war der sächsische Bischof Altfrid, ein Vertrauter des Königs Ludwig des Deutschen. Essens Anfänge aber sind ein Frauenkloster gewesen. Und der Kirchenschatz von Essen enthält heute noch eine Anzahl der wertvollsten Leistungen alten deutschen Kunstgewerbes nach dem Jahr 1000, die auf die Äbtissinnen zurückgehen. Nach Altfrids Bau, wo er 874 begraben wurde, erstand der Anfang des heutigen Essener Münsters, das noch in Teilen bis vor das Jahr 1000 zurückgeht, während sein Weiterbau mit dem Chor bis in die Gotik reicht. Ein schöner Vorhof ist voll steinerner Ruhe. Unmittelbar über seiner Seite erhebt sich ein zentral gefaßter Westbau, der an Aachen erinnert und der den Rhythmus dieser altdeutschen Bauinsel beherrscht. Dieser Bauteil mit dem weiteren Grundriß ist wie ein altes Siegel, das an einem alten Pergament befestigt ist, auf dessen Blattseite die Jahre bis zur Gegenwart weiter geschrieben haben. Ein Kampf der alten Baukörper um strengen Abschluß und doch um ein eindringendes Licht, dieser Sinn fällt uns in einer Stadt der neuen Arbeitsgröße wie Essen vor allem auf. Es ist die gleiche Schönheit, welche auch die Gold- und Schmuckwerke, die aus Metall und Edelsteinen in reichem Glanz gefügt wurden, beherrscht. Um die alte stille Insel brandet die bewegte Stadt.
Der Abend zog sich langsam zwischen den Hochbauten und den gestreckten Bauzeilen der geschäftigen Ruhrstadt Essen herein. Aber stärker hatte man schon vorher in ihrer Mitte das abendliche Licht empfunden, indem sich die Genauigkeit des großen Alters, womit das Münster hier gezeichnet ist, in die ersten stillen Schatten setzte.
Jedoch sollte uns die Nacht nicht in Essen gefangen halten. Mit dem Abendstrome von Menschen und Fahrzeugen strömten auch wir hinaus und kamen über Kettwig in die bergige Umgebung. Wahrscheinlich geht es noch manchem Unerfahrenen so, daß er mit dem Wort »Industriegegend« die Vorstellung von einem mehr flachweiten und unbewegten Gelände verbindet. Das ist aber offenbar häufig und jedenfalls, gleichwie vielfach in Sachsen, so auch hier an der Ruhr und ebenso an der Wupper nicht richtig. Und man überlegt sich dann, daß ja geologische Vorgänge die Grundlagen der späteren Industrielandschaften sind und daß also die Gegend ebenso bewegt ist von alter Erdgeschichte wie von der neuen Wirtschaftsgeschichte. So sind auch in den engen Tälern des Schiefergebirges die kleinen Eisengewerbe und ist dann der große heutige Arbeitsbetrieb entstanden.
Indes, der Abend steigert die Ruhe der Empfindung über die Beobachtung hinaus, und als wir in dem hohen Orte Heiligenhaus anhalten, schlummert der schwüle, erfahrungsreiche Tag unter dem fließenden Nachtwinde ein, der von rheinwärts heraufkommt. Der Mond ist eine große rote Scheibe, und man fühlt an ihm und an dem unklaren Umriß der dunklen Erde, daß wir doch ziemlich hoch sind. Arbeit und Land sammelt sich zu einem unbestimmten, nächtlich großen Bilde. Dann öffnet ein wolkenloser Morgen die bergige Weite, mit der das westliche Schiefergebirge zum Rhein hin abfällt. Man übersieht, daß dies hier eine langgezogene, fast zerstreute Ortschaft ist und daß sie als Beispiel auch für andere Städte im Bergischen gelten kann. Dann fährt uns auf der Straße ein rheinisch klingendes Bildchen entgegen. Ein Lumpensammler zieht mit einer Hand sein Wägelchen, während er mit der anderen ein Flötchen spielt. Dies hier beschaulich und einsam Klingende erinnert daran, wie ähnlich es häufig in den Straßen Kölns aus dem Kleinleben heraus klingt und singt. Auf dem Wägelchen steckten kleine Fähnchen, mit denen die Kinder beschenkt werden.
So standen eine Mondnacht und ein klingender Morgen über unserem Zugang zum Rhein, wo in der deutschen Frühzeit die fränkischen Kräfte ineinanderspielten. »Vom Berge« hießen sich, seit 1068 so bekannt, die Vorfahren der Grafen von Berg, die zunächst als Vögte der Abteien Deutz und Werder heranwuchsen. Sie hatten ihre Stammburg in Altenberg, wo heute noch der berühmte frühgotische Dom steht und wo die Grafen und späteren Herzöge von Berg, indem die Herrschaft sich auf andere Häuser in Verbindung mit Ravensberg, Jülich und Kleve fortsetzte, ihre Grabstätte fanden. Ein Graf Adolf V. von Berg ist auch für die heutige Gestalt von Kaiserswerth am Rhein wichtig geworden. Und zwar geschah dies 1214 durch eine Belagerung, bei welcher er die Insel mit ihrer Befestigung und dem Kloster auf dem »Werth« mittels eines Dammes an das Rheinufer heranholte. Auf dieses Kaiserswerth, so durch viele Beziehungen zu den alten Kaisern genannt, stieß jetzt unsere Fahrt.
[Essen, Münster]
[Kaiserswerth, Stiftskirche]
In Wittlaer rauschte uns zuerst der silberne Spiegel des Niederrheins. Dieses Rauschen fühlt man mehr mit den Blicken, bis es sich laut im Fahrwasser der Schiffe und langen Schleppzüge erhebt und den glänzenden Spiegel strömend ins Wanken bringt. Kaum sind diese vorbei, ist alles wie nicht gewesen, und das große Flußbild hat eine sozusagen unaufhörliche Stille, die leise rauschend an sich selber zehrt. Die Bäume erscheinen in ihren vom flachen Uferrande zurückgetretenen Zeilen sehr hoch, die Gärtchen dahinter sind klein und warm, und die Siedlungen sind auch am liebsten klein in sich gehäufelt. Aus dem weiten fließenden Wasser geht eine silberne Ruhe über die Landschaft.
Und so liegt auch Kaiserswerth, heute eine Künstlerkolonie der Düsseldorfer, als ein alter Ort um die romanische Suitbertuskirche und einen Hof gehäufelt. Die alte Kaiserpfalz aber, ein Werk Barbarossas auf der Befestigung der Pippine, zeigt ihre alte trotzige Stirn dem Rhein. Suitbert, der, von England gekommen, das Bergische Land christianisierte, hatte, als er vor den Sachsen weichen mußte, von Pippin dem Mittleren durch dessen Gemahlin Plectrudis die Insel bekommen, die den heutigen Ort bildet. Ein Kunstwerk, nämlich der spätromanische Schrein mit den Gebeinen des 713 Verstorbenen, ist ein Schaustück in der Kirche, welche selber etwas von einer innen sehr offenen haus- oder schreinhaften Ruhe und Bergung hat.
Zum ersten Male faßt uns dieses fränkische Wesen am Niederrheine an, das sich nicht eben klein, aber fest und genau zusammenschließt und so, während der Strom in die große Niederung wegfließt, ein fränkisches Gesetz von geistigen und geschichtlichen Malen hineinsiegelt. Dem aus einer stammhaft sichtbareren Begrenzung herkommenden Menschen wird es nämlich schwer, in der hier anhebenden Weite, die zu den Niederlanden fortgeht, eine geschichtlich sinnhafte Anschauung der Gegend zu gewinnen. Die Merkmale scheinen ihm wohl bald zu nah und bald zu weit. Aber damit scheint er eine frühe und große Bestimmung des fränkischen Wesens selber zu erraten, daß es nämlich geradeso über die Grenzen fluten konnte, wie es sich genau und ortsgerecht im einzelnen festankerte. Andere Stämme haben sich in der Weite verlieren müssen; aber der Franke hat den Anker wieder rückwärts geworfen. Hier dieses Kaiserswerth ist jedenfalls ein solcher Anker.
Mit der Fähre auf das linke Rheinufer setzend, erinnern wir uns, daß hier von dem »Werder des heiligen Suitbert«, der damals noch Insel war, der Erzbischof Anno von Köln 1062 den zwölfjährigen König Heinrich IV. nach heiterem Mittagessen auf sein Schiff lockte, um ihn dem Einfluß seiner Mutter, der Kaiserin-Witwe Agnes, zu entziehen. Der Knabe sprang in den Rhein, wurde aber aufgefangen und ließ sich dann doch nach Köln bringen.
Auf der Weiterfahrt fällt unser Blick auf das gehäufte KrefeldUerdingen. Aber wir wollen jetzt nicht die Städte des Großgewerbes, die hier die rheinische Bucht besetzen, sondern das weite Land und darin einige alte Dinge. Großgewerbe der Gegenwart, weite Flächen von Bauernland und alte Geschichtsorte schießen hier mit der Regel einer großen Willkür auseinander und wieder zusammen. Plötzlich ist man vor größten Arbeitsanlagen, unerwartet dann vor einem romanisch-schweren Baue und Orte und wiederum allein in einer flachen Landschaft, in welcher der »Hügelländer« geradezu das Richtungsgefühl verlieren kann.
Da war südwärts schon bald, halb noch in einer reckenhaften Freiheit vor den Industrieanlagen, der mächtige Quirinsdom von Neuß aufgetaucht, der, nach Köln, wie ein eigener Herrscher in dieser Landschaft steht. Mit dem ebenso würfelhaft hinaufgeschossenen wie im symmetrischen Zickzack seiner Formen und Blenden gewaltig gestuften und in seiner Stirn festlich gezeichneten Westturm ist er wie ein vierkantiger Richtungsweiser der Gegend. An der Ostsee empfindet man die gotischen Backsteintürme ebenfalls wie Richtungsweiser. Aber indem man nun an sie denkt, empfindet man, wie jene zum Meer gehören und in ihren, wenn auch reichen, so doch leisen Formen wie eine stumme Sicht, Meer und Himmel zugeordnet, in der Luft stehen. Dies hier aber ist eine laut- und reichgegliederte, schöne binnenländische Kantenform eines Richtungsweisers in der Ebene. Ja sie steht weniger in der Luft als in der Ebene, und während jene nordischeren den Blick hinausleiten, lenken hier die reichen, in sich geschlossenen Profile der Turmseiten den Blick zurück und beschäftigen ihn festlich. Das Größte will dabei fast zierlich werden und doch das Zierliche wieder ganz groß. Dies ist, etwa auch gegenüber Westfalen, hier ein lebhafter rheinischer Widerspruch, wozu noch kommt, daß dieser große Bau des romanischen Übergangs mit der Kraft eines letzten Widerspruchs sich zugleich öffnen und schließen will. Alles will sich zugleich durchdringen und befreien. Es ist darin ein reiches Schmuck- und Kulturgefühl. Es ist auch etwas Blumiges dabei, wie bei den Fächerbogen der Fenster, die um sich kreisen wollen und die das Licht da und dort rhythmisch im Stein wie eine weiße Blume auf- und einschließen.
Nun sind wir, über Straberg zur Erft hin weiter, wirklich in der fruchtbaren Landschaft, wo das gleichmäßig ausgenützte Wachstum wie eine andere Kahlheit aussieht, verloren, so daß uns von Bäumen eingehegte Orte wie lauschige Funde werden. Auf den Feldstraßen sieht man die großen zweiräderigen Bauernwagen, die es hier gibt, über die Landfläche hinrollen. Die zwei Räder sind hoch, und man sieht von rückwärts dazwischen die langen Beine der gemächlichen Gäule. Dann geht es durch den Knechtsteder Busch, und hier steht wieder mit einem Kloster eine romanische Kirche. Knechtsteden ist wichtig, weil sich in dem Bau des zwölften Jahrhunderts mit seinen schönen Raumintervallen auch noch alte Malerei und in der Westhalbkuppel vor allem eine große christlichkosmische Darstellung findet. Die romanische Malerei konnte den Ausdruck der Majestät besonders gestalten, da ihr zur Würde eine bewegte Ruhe der Linien gelang, die an Kuppeln fast etwas von einem Kreisen der Gestirne haben kann. Es ist, wie wenn die Antike von dem Orbis stellarum spricht, aber Grund vor Grund näher gerückt und dadurch das Wesen des Bildes zugleich menschlicher und aus dem engeren Bewußtsein der Maße erhabener.
Die Roer (oder Rur) war am Ziel des Abends und an ihr die Stadt Düren. Das abendliche Glockengeläute schien an die Eifel anzuschlagen, welche gewitterig blau in die Ebene sah, aber uns nun wieder am neuen Morgen im Frühwinde herrlich grün entgegen kam. Burg Nideggen auf ihrer steilen Höhe war von Wind und Sonne umbrandet. In dem werktagsstillen Ort ist wieder eine stark gefügte romanische Kirche, und dann ist da im gleichen roten Sandstein eine richtige mittelalterliche Ruine der Herzöge von Jülich. Man sieht auf den blitzenden, gekrümmten Wasserlauf hinab, die steilen Hänge zittern im stärksten Lichte, die hohen zerbrochenen Mauern mit einzelnen Fenstern sind wie ein Gitter und Gerippe der Zeit, und die große Burg ist voll verliesreichen Alters. Und noch eine andere Höhe gab uns dann den Blick frei nach dem Rheinland zurück. Von da war die Hohe Acht zu sehen als beherrschende Kuppe fern über der Höhung der Eifel und noch ferner im Osten der schöne Raumzug des Siebengebirges. Und man vergaß die viele Ebene in dem gehobenen Rhythmus, der das Land umspannte.
Vom Norden der Eifel her westlich fahrend und das Hohe Venn anschneidend, hatten wir nun als Ziel vor uns Aachen. Die Umblicke, die eben noch um uns gewesen waren und die über mäßige Höhen, jedoch weithin, forttrugen, hatten uns die manchmal tafelgleiche Ebene der Rheinlandbucht fast vergessen lassen. Und nun wurden wir durch gedehnt und still hinschwingende Waldstraßen noch mehr von dem offenen rheinischen Leben hinweggezogen. Man möchte sich bald in die abseitige Einsamkeit verlieren, die das Venn verheißt; aber zugleich hat man hier auch das Grenzmarkgefühl, das sich immer mit einem Rechtsgefühl paart, in welchem die Geschichte die Sinne stärker weckt als die Natur. Inzwischen bemerkt man auch schnell die weitere Art der Gegend. Man sieht, daß eine tätige Industrie am Auslauf der Höhenzüge liegt, so wie in Stolberg; und andere Namen, wie Kornelimünster, weisen auf alte Bauten und Zeiten. Die Orte hier sind ohnehin vielfach auf römischen Stätten aufgewachsen.
Jedoch können uns die Tatsachen nicht so wichtig sein wie die Frage, was der germanische Sinn mit den römischen Formen gemacht hat. Wir sind, bevor wir Aachen zum Ziel nahmen, eigens durch den Odenwald gefahren, um an seiner Grenze Lorsch und in seiner Mitte die Einhardsbasilika von Steinbach zu sehen. Wir wollten die Orte sehen, wo die karolingischen Bauten zu sprechen begonnen haben. Aachen aber wird uns nun jenen Bau zeigen, der, im Kerne unverändert, das einmalige Denkmal jenes Zeitalters ist. Was er mit der Kantigkeit seiner Rundform, mit der Umlaufskraft seiner Bogenformen um eine allseits geöffnete Mitte bedeutet, das ist ein Raumwesen, das man als die gebundenste Freiheit um eine neue Mittelform der Welt, als den Baubegriff jenes neuen Imperiums verstehen kann. Dieses Raumwesen ist nicht bloß das Zeugnis eines Zeitalters, sondern es ist, was sich schwer genauer aussagen läßt, aber was wir immer fühlen, das einzigartige Denkmal der Vereinigung und noch mehr der Trennung von römischer und germanischer Daseinsform. Und unser Augenmerk wird vor allem auf die Merkmale der Trennung gerichtet sein.
Wenn man sagt, daß das Jahr 800, da Karls Bau schon zur Vollendung ging, ein spätes Datum für diese Trennung sei, so können wir noch das Grabmal des Theoderich um 500 dazunehmen, und der Sinn eines gleichen Baues zeigt sich uns dann sowohl von einem ostgotischen wie von einem fränkischen Geiste her bestimmt. Gewiß: »eines gleichen Baues« ist zuviel gesagt hinsichtlich der zwei Bauten von Theoderich und von Karl. Aber es sind da Merkmale, die den Raum jedesmal ähnlich bestimmen und die uns wie gleiche Gesetze anschauen. Sie scheinen uns auf ein eingeborenes deutsches Gesetz zu weisen, welches dafür sorgte, daß der geschichtliche Ausdruck eines Werkes stärker wurde als der begriffliche und räumlich schöne an sich. Jedenfalls ist Theoderichs Grab in Ravenna ganz von einer geschichtlichen Wucht seines wie ein steinerner Ring in sich selber abweisenden Daseins bestimmt. Und wie es in Aachen ist, werden wir nun sehen. Wir werden sehen, wie sich der steinerne Ring ent-. faltet hat. Aber wir ahnen auch schon, daß unsere frühesten Bauten noch anders sind als die Denkmäler unserer späteren Zeiten. Während solche späteren den unverlierbaren Atem ihrer Zeiten an sich tragen, sind diese ältesten von einer fast zeitlosen Größe. Oder anders gesagt: die späteren Bauten haben für uns eine starke Sprache, die frühen aber sprechen nur wenig und jedenfalls nicht mit dem altertümlichen Ernst, und doch hat ihr Dasein noch einen unvergleichlich mächtigeren Ausdruck als freie Gegenwart. Und was noch merkwürdiger ist, ihre Wucht und Macht, je mehr ihr die Sprache im einzelnen fehlt, ist in keiner Weise dumpf, sondern in Ravenna wie ein starkes und beschlossenes Schicksal, in Aachen aber fast heiter wie ein großer Himmel.
Manchmal, wenn wir uns auf ein großes Werk vorbereiten wollen, geht uns die Ankunft zu schnell, und so sind wir nun auch auf einmal in Aachen. Noch eben hatte man gesehen, daß die Stadt nicht ganz eben liegt, sondern mit dem Relief ihres geschichtlichen Daseins gegen eine Berghöhe hingezeichnet ist. Auch hatte man einen Blick erhascht von jenem Umriß, der sich in die Luft hebt wie der schnelle Anblick vieler Jahrhunderte und der sich wie nirgends in Deutschland in der Himmelskontur der durch Jahrhunderte in Zubauten fortgesetzten Pfalzkapelle gesammelt hat. Schon Albrecht Dürer hat diese Ansicht gezeichnet, wie sie heute noch ähnlich ist. Wir sind nun voll Begierde nach geschichtlicher Empfindung; denn wir sind im Mittelpunkt der fränkischen Weltgröße. Hier in Aachen hat der fränkische Großkönig Karl seinen Lieblingssitz gehabt.
Leicht kann jedoch unsere geschichtliche Empfindung zu eng werden; oder vielmehr die Absicht, mit der wir einen entscheidenden Ort der Geschichte angelegt sehen, kann im Gegenteil aus recht gelassenen Umständen hervorgehen. Die größten Orte der Geschichte haben vielleicht in ihrem Entstehen, obzwar gewiß ein tieferes Gesetz mitspricht, auch etwas von einem Zufall der Natur an sich. Einhard berichtet, daß Karl in Aachen seine Königsburg wegen der heißen Quellen daselbst gebaut habe, und er weiß auch von den Badeeinladungen zu erzählen, die Karl seinen Freunden zukommen ließ. Der fränkische König, dem zu einer Leibesgröße von zwei Metern nur acht Zentimeter fehlten, war mit Leidenschaft dem Reiten und der Jagd ergeben, und ebenso liebte er auch das Schwimmen. Also müssen wir die Badeanlagen, an deren Stattlichkeit wir zunächst vorübergekommen sind, als den Anlaß zu diesem Ort der deutschen Geschichte schätzen. Die Sage, die sich ja vielfach mit Karl beschäftigt hat, spielt auch in Aachen. Sie erzählt von dem Zauberring der Fastrada, der dritten, übrigens als hartherzig bekannten Gemahlin Karls, und zwar, daß der Ring Karls Herz mit Liebeszauber umstrickt habe und daß er, als ihn der Erzbischof Turpin in den Weiher bei Aachen geworfen habe, den Kaiser nun mit magischer Gewalt dort festhielt. Immerhin, wenn wir nun die geschichtliche Eigenheit, die geistige Reichweite des frühen fränkischen und deutschen Wesens verstehen wollen, werden die Bauformen dieses Ortes eine Sprache sprechen, die über den Naturanlaß hinausgeht.
Wenn Karl, so wie er es wenigstens schon 769 bestimmt hatte, in Saint-Denis begraben worden wäre, wo auch sein Vater Pippin der Kleine und sein Großvater Karl Martell begraben wurden, so wäre die herrliche Palastkapelle in Aachen trotzdem schon gestanden. Sie ist, 805 fertig geworden, ein Teil einer Königspfalz, wie sie von den mittelalterlichen Kaisern zum Absteigen auf ihren unaufhörlichen Reisen gebraucht wurden. Wir lesen immer, daß jene Kaiser möglichst die großen Festtage des Kirchenjahres auf solchen Pfalzen ausruhend feierten, wie sie Karl in den Gegenden des Rheinlaufs und die sächsischen und salischen Kaiser besonders rings um den Harz besaßen und anlegten. Die Pfalzen bestanden so aus zwei Hauptteilen, dem Königsbau und der dazugehörigens Kapelle. Eine solche Palastkapelle ist auch der berühmte Oktogon-Bau zu Aachen, und wo die dazugehörige Burg war, entstand das Rathaus des späteren und heutigen Aachen.
Einhard berichtet, daß der Säulengang, den Karl zwischen Kapelle und Burg erbaut hatte, plötzlich eingefallen sei, und nimmt dies, ebenso wie die Tatsache, daß die von Karl erbaute hölzerne Rheinbrücke bei Mainz im Jahr vor seinem Tode verbrannte, mit anderen Zufällen als Vorzeichen des Todes seines Herrn und Kaisers zusammen. In Aachen handelt es sich also nicht um eine Grabkapelle wie bei Theoderichs Bau in Ravenna. Und doch ist sie auch Karls Grabesort geworden, als er am 28. Januar 814 starb und am gleichen Tage noch in ihr beigesetzt wurde. Die Gebeine befanden sich einst in dem herrlichen Proserpina-Sarkophag, der noch in dem Bau ist. Aber 1165 kamen sie infolge der »gibellinischen« Heiligsprechung Karls, die Barbarossa durchsetzte, heraus, und nun ist die Stelle der Bestattung nicht mehr bekannt. Es ist also fast ein ähnliches Schicksal wie bei Theoderich, dessen Gebeine aus seinem Totenbau entfernt wurden und unbekannt sind.
Fast mehr noch als bei Heinrichs, des Sachsenkönigs, Grab in Quedlinburg sind uns hier solche Einzelheiten lieb, vielleicht auch, weil sie hier noch mehr im Gegensatz zu einem großen Baugesetz der Kapelle stehen, deren Form gerade nichts mit einer persönlichen Empfindung zu tun hat. Nun sind wir im Bannkreis des Baues, den der Magister Odo von Metz als Baumeister durchgeführt hat und von dem man weiß, daß Karl für Säulen und Schmuck sich bis von Ravenna Material kommen ließ. Das also ist das gewaltige Achteck, dessen hoher Mittelraum umstanden ist von den Bogen des Umgangs, die ein Obergeschoß, das Hochmünster, tragen, dessen Bogen nochmals unterteilt sind und hinter sich die Emporen haben, wo auch Karls Kaiserstuhl mit einfachen Marmorwänden steht. Alles zusammen ist ein Bauwerk, das die augenblickliche Wirkung einer so reichen wie einfachen Größe hat. Alles geht aus dem Gefühl der geschlossenen Rundung hervor und greift doch wie aus einem Mangel oder Bedürfnis, das aber hier wie die willenhafte Offenheit der Macht selber ist, voll unumschränkter Größe nach aller Welt. Wir fühlen alsbald etwas von einer lebendigsten Wesenheit eines baulichen Ortes, und mit unseren Sinnen durch die Öffnungen und Wölbungen ringsum in Bewegung gesetzt, denken wir uns in Plan und Ausdruck einer allseits beherrschbaren Zeit. Dies also, daß wir uns nach innen sammeln und doch noch mehr auskreisen, empfinden wir als etwas, worin unser Wesen seinen Ursprung hat.
Wir sind zum Ausdruck alter Geschichte Langformen gewohnt; aber dies hier ist eine gekantete Rundform. Man sollte also an antike und römische Beispiele denken; und die Säulen geben auch genug Anlaß dazu. Aber dies ist doch vom Grunde etwas anderes, und dies ist wie in Ravenna. Nicht der Raum ist das wichtigste, sondern der Vorgang, der ihn teilt und bildet; es ist der Beschluß und die Betonung dazu. Dazu spielen vor allem die Kanten wie in Theoderichs Bau entscheidend mit. Sie geben gleichzeitig einen sehr technischen und sehr geistigen Ausdruck und sind dadurch einem bloßen schönen Raumwesen nach zwei Seiten übergeordnet. Wir wollen vielleicht nicht an altgermanische Steinsetzungen denken. Aber wir können doch überlegen, daß bei ihnen die einzelnen Steine auch wie Kanten eine »technische« Stärke besitzen und daß doch gerade dadurch die kreisende, die siderische oder astronomische Wirkung verstärkt wird. Und doch ist der Bau auch in außerordentlichem Maße voll Geschichtskraft. Wie kommt dies zustande? Wir denken an die lauthafte Schönheit von San Vitale in Ravenna. Aber gegen die schöne Rundläufigkeit dort ist hier entscheidend, daß die Kanten, die Knickungen, die Angeln des Rundlaufs ganz anders mitsprechen. Sie schaffen eine inklusive und exklusive Wirkung zugleich, sie vereinigen den Sinn von Weltbau und Weltgerüst. Sie sind raumhafte »Dispositionen«, welche den bloß »positiven« und repräsentativen Charakter aufheben und zugleich ins Universale stellen. Und dies ist auch ein ganz anderer Sinn des Universalen, als es etwa im Barockbau ist. Gerade dieser Zwiespalt, dieses Verklammertsein von Technik und Inhalt gibt das Gefühl von einem offenen und klammernden Geschichtsgeiste; es gibt einen Umschlag im Raume, der ein schweigendes Vorgebot zur Wirklichkeit hin ist. Es ist eine nicht mehr lateinische, sondern germanische Realität, die man hier mit einer kaum wiederholten Gewalt der Einmaligkeit zu erkennen glaubt. Und wenn wir gelegentlich von dem pflichthaft und kategorisch Deutschen oder von dem »Dorischen« in der deutschen Wesensmöglichkeit gesprochen haben, so ist dies hier mit dem Geschichtlichen auf eine universale Weise überhöht. All dies aber scheint in dem Baue Karls das Angeborene unseres Wesens, womit es in seine ewige Bewegung und in den Trieb zur Geschichte weist. Wir stehen hier vor dem großen Sinnwillen und Rätsel unserer Geschichte.
Der Mittelpunkt der Palastkapelle will uns nicht entlassen. Jahrhunderte haben ihm ihre Kapellen und Turm- und Kuppelformen angegliedert. Der Chor ist von einer unglaublichen Schönheit und Stofflosigkeit seiner Gotik; aber er gehört, wofür er gerade in diesem Nebeneinander des Zeitablaufs ein Beispiel ist, zu jenem Sinne des Gotischen, das nicht mehr mit Macht wachsen, sondern sich nur noch inbildlich erhöhen kann. Er ist neben der Wucht des Karlsbaues wie eine Luft und Licht gewordene Raumseele. Die Ausstattungen durch Otto III., Heinrich II. und Barbarossa, sodann die Schatzkammer sind voll Schönheit und Erfinderischkeit der Zeiten. Die nachgebildeten Krönungsinsignien erinnern an die große alte Kaisergeschichte.
Und dieser Eindruck setzt sich nun auch im Kaisersaal des Rathauses fort, wo die berühmten Fresken Alfred Rethels neben anderen sind. Merkwürdig, wie man diese Romantik von Rethels Bildern um Karl mit einer stillen Elegie verbunden findet. Eine ernste Getragenheit ist in ihnen, die doch nur wie ein dichterisches Nachspiel zu der einstigen Wucht der fränkischen Zeiten wirken können. Die universale Gewalt der Wirklichkeit ist einem sammelnden Herzen voller Nachdenken gewichen. Und leise kann uns nun von den alten Dingen im Wandel der Zeiten eine Kälte ankommen wie von Rethels »Totentanz«. Die Zeiten gehen dahin, und der Sinn des Steines verliert sich in einer Welt der Trümmer.
[Knechtsteden, ehemalige Prämonstratenserkirche]
[Aachen, Palastkapelle]
Immer begleitet uns am Niederrhein die Frage, wie sich, während das große Frankenreich den Zusammenstoß aller Formen und Kräfte in sich aufnahm, doch gerade Sinn und Ausdruck des Germanischen und des Lateinischen auseinander getrennt haben, bis ein genaues deutsches Wesen dann selber seine Wurzel und Blüte fand.
Mit mächtigem Regen ging es aus Aachen in die niederrheinische Landschaft, die aber bald wieder blickweit und ganz grün gewaschen unter einer günstigen Sonne uns voraus liegt. Die Ebene ist wie besät mit Bäumen, und überall laufen Zeilen von Pappeln wie Grenzen, die doch nichts begrenzen. »Das ist hier schon wie bei La Bassée«, sagt unser Freund in Erinnerung an einen Ausschnitt aus dem Weltkrieg. Die Bäume nehmen manchmal zu, und einzelne Häuser stehen geborgen in der ländlichen Verdichtung. Da sind dann aber auch große Wälder, selbst mit Höhenzügen, und überall sind die Anzeichen, daß wir im Grenzwaldgebiet und nahe an der holländischen Zollgrenze hinfahren. Die Bauernhöfe sind mehr nieder und breit, etwas knapp und doch stattlich, und dabei nicht viel anders als etwa am Main; und so bleibt das fränkische Bauernwesen immer kenntlich. Der lange Nachmittag mündet in den Abend, und unser Weg, nun östlich gerichtet, führt auf die halb geistliche, halb reckenhafte Zweitürmigkeit von Xanten. Hier ist aber alles festlich überfüllt, und so fahren wir durch die Deichlandschaft am Rhein zu einer Stelle, wo die Fähre uns nach Rees übersetzt. Es war schon halb dunkel, der Strom zog bleich und unruhig in seiner gewaltigen Strömung dahin, und die Schiffe, die darauf lagen, waren gleich großen dunklen Lasten.
Naher Mensch und großes Land — so ist etwa der Gegensatz hier am Niederrhein, wo der Fluß mit der Ebene und dem Himmel im großen Entgleiten wetteifert. Der Mensch aber, und was er baut, hat genaue und fast kleine Maße, so wie diese alte kleine Rheinstadt ist, bei welcher die Deichlandschaft mit den Wegen auf den Deichen hin alles in eine begegnende Nähe bringt, wobei das Weidevieh auf den Grasplätzen zwischen den Deichen wieder als ein kleinerer Grad von Spielzeug erscheint. Steht man nun an der großen Rinne des Rheines — er wendet sich hier aus einer starken Biegung der Ufer herwärts, die das Wasserbild breit umschneiden und zusicheln —, so ersieht man die Stadthäuser in ihrer herangedrängten Gruppe nochmals klein und beschaulich. Eingesetzt an dem unbegrenzten Hinterland und an dem unaufhaltsamen Strome siedelt eine bürgerliche Begrenztheit. Das gibt, wohl weil der Gegensatz so groß ist, eine sozusagen spannungslose Spanne, die man oft im Anblick von niederrheinischen Bildern hat, welche trotz der gesamten Größe wie Idyllen sind. Idyllen allerdings sind sie mit dem Horizont des weiten Himmels. Auch Bilder holländischer Meister haben oft diese Spannung.
Viel kleines Leben ist des Sonntagmorgens an der Rinne des großen Flusses. Man sagt wohl Rinne, um mit dem kleinen Wort gerade das geographisch Große des Stromes zu empfinden, der, wiewohl ihn die Krippen an den Ufern hin bändigen, bei längerem Anblick über das Faßbare hinausgeht. Dabei fehlen dem Niederrhein alle Mittel einer romantischen Vergrößerung der Schönheit. Die Ruhe der unaufhaltsamen Gewalt drückt allein den Tiefgang ihrer Spur in das Gefühl. Düster und silbrig war der fließende Raum heute morgen bis zum jenseitigen Ufer, während der Wind mit einem trüben Himmel hinzog, ein nüchtern feuchter Wind, der doch voll Zügigkeit ist. Er trägt gleichsam die Epik der Geschichte dieser Frankengegend. Nochmals beschäftigt uns vor dem schönen spätgotischen Rathaus von Rees das fränkische Wesen. Der Bau ist über dem verschlossenen Erdgeschoß, vor dem die zweiseitige Freitreppe aufsteigt, voller Fenster, voller Bogenfriese, Zinnen und Türmchen. Dies gehört zum gotischen Grundsinn am Rhein, dessen Art aber, hier jedenfalls, nicht breit und malerisch ist, sondern gemessen und dabei doch sehr schmuckhaft. Der fränkische Ausdruck kommt hier nicht aus der Breite oder der schweren Fülle, sondern gleichsam aus einem Rhythmus der Zahl. Das heißt, eine genaue und vielfache Wiederholung, eine schöne Rechnung, ein vernünftiges Element ist im Wesen des Franken, wie man ihn hier erkennt. Man hat vielleicht bei der Gotik in Brandenburg ähnlich empfunden, und doch ist ein Unterschied wesentlich. Dort im Osten sucht die Geschichte eine stammliche Aufgipfelung. Hier im Westen geht es in eine allgemeine gemessene Größe; durch Teilung und Vermehrung bildhafter Gesetze geht es in eine allgemeinere Welt. So ist wohl auch der Franke in den Zeiten gestanden.
[Chor des Aachener Münsters]
[Xanten, St. Viktorsdom]
Dem aber will nun widersprechen, daß diese Gegend hier ein Ansatz deutscher Sage ist. Wir sind im Gebiet von Kleve, und nach Kleve gehört die Sage von Helias, dem Schwanenritter, die ein Vorbild des Lohengrin ist. Und nun werden wir Xanten sehen, wo bei seinem Vater Sigmund und seiner Mutter Siglinde der Held Siegfried aufwuchs, der das sinnig-tapfere Bild des deutschen Helden für alle Zeiten geworden ist. Am Rheine ist aus Geschichte mit nordischen Zügen das Nibelungenlied entstanden, das im bayerischösterreichischen Kulturkreis seine fertige Gestalt erhalten hat. Wir nehmen vielleicht an, daß Sage und Märchen vor allem aus dem Grunde von Natur und Volk heranwachsen, aber hier wachsen sie noch mehr aus dem Anstoß der Geschichte, aus der Messung der ersten Kräfte in der Zeit. Es ist damit ähnlich wie mit den Fragen, auf die wir bei Betrachtung der ersten Bauwerke, der ersten »redenden Steine« unseres Volkes kommen. Erst die Geschichte macht aus den Steinen der Erde gleichsam Edelsteine des Baues, welche einen inneren Sinn vollends heraustreten lassen. Und so trägt auch das Nibelungenlied von der Verschiedenheit seiner Entstehung die Spuren wie verschiedene Lichter in der Brechung eines Edelsteins. Und so ist der Rhein für Baukunst und Dichtkunst gleich wichtig.
In Xanten wurde Siegfried erzogen:
in einer rîchen bürge, wîten wol bekant,
nidene bi dem Rîne: diu was ze Santen genant.
Und im Dome von Xanten wurde ihm das Ritterschwert umgegürtet. Aber nicht nur Siegfried steht der Sage nach mit Xanten in Beziehung, sondern auch der grimme Hagen hat von hier einen Teil seines Namens. Nämlich die Bezeichnung »von Tronje« soll von dem anderen Namen Xantens herkommen, das auch Troja hieß. Denn es liegt Schicht auf Schicht in Xanten aufeinander. Wo erst eine germanische Stätte war, hatten die Römer ein festes Lager am Rhein erstellt, das Castra vetera oder nur Vetera hieß. Dies wurde von den Germanen zerstört, aber nahebei erhob sich wieder die Colonia Trajana, welche den Namen Troja ergab und wovon Hagen der Tronjer hieß. Auf der römischen Gräberstätte erhob sich schon im vierten Jahrhundert eine Kirche. An ihrer Stelle folgte immer wieder eine neue, darunter eine, in welcher eine Tochter Karls des Großen begraben wurde, und schließlich der heutige Dom, der, hauptsächlich gotisch vollendet, heute als die schönste Kirche am Niederrhein steht.
Der Ort Castra hier gegenüber der Mündung der Lippe, wo auch Varus seinen Ausgang nahm, war ein Mittelpunkt in dem großen Aufstand der Bataver unter Julius Civilis im Jahre 69 und 7o nach Christus. Civilis, der römisch geschult und der Todesgefahr in Rom entronnen war, hatte die Gallier und Germanen zur Empörung gebracht. Es war ihnen gelungen, Castra vetera zu erobern; und die Niederbrennung tilgte diesen Ort aus. Civilis siegte weiter, und die Kämpfe gingen über Bonn und Neuß bis Mainz und Trier, wo er eine Niederlage erlitt. Aber er war nicht besiegt, und Vetera spielte nochmals eine günstige Rolle. Fesselnd ist in dieser Geschichte, die Tacitus erzählt, besonders auch der Anteil der Veleda, einer Jungfrau aus dem Stamm der Brukterer, die nach einer Sitte der Germanen an den wichtigsten Entscheidungen Anteil hatte und fast göttliche Verehrung genoß. Der Krieg endete schließlich mit einem Vertrag. Veleda aber war später eine Gefangene in Rom.
Wieder, als wir kamen, war alles in den Mauern der alten kleinen Stadt, deren Eingänge zum Teil noch von Doppeltoranlagen beherrscht sind, überfüllt. Wir waren zufällig in ein großes Fest hineingefahren, das die Xantener Viktortracht heißt und nur selten stattfindet. In dem Geviert der Stadt und noch zunehmend in dem Geviert der Stiftsanlage um den Dom drängte sich Mensch an Mensch, und, kaum gekommen, sahen wir mit allen Bräuchen den Zug vorüberschreiten. Xanten bedeutet »ad Sanctos«, und diese Heiligen sind Soldaten der Thebäischen Legion, die auch in Bonn und Köln, aber noch mehr im Wallis und von da wieder in anderen Teilen Deutschlands eine Rolle spielen. Was uns an dieser merkwürdigen Legende beschäftigt, ist die Tatsache, daß hier eine Verehrung an römische Soldaten anknüpft und daß also kein eigentlich stammlich menschliches, aber ein soldatisches Element hier wieder zwischen Germanischem und Römischem eine Vereinigung und Sonderung bringt. Dann ist es auch merkwürdig, daß die Viktorverehrung einem Namen gilt, der inhaltlich mit dem Sieghaften in Siegfried verwandt ist. Die Stiftsanlage mit dem Dom ist noch voll alter Zellenhaftigkeit und Stimmung, und der Dom ist aufs reichste ausgestattet. Er hat den romanischen Viktorschrein, und seine eigenartigsten Werke sind die Schnitzereien des Heinrich Douvermann am Marienaltar. Es sind dabei von den Figuren fortspielende Ranken oder Holzgeschlinge, wie Disteln geschnitzt, gleichsam die altgermanische Ornamentik in ein reines vordergründiges Spiel gebracht, das mit einer letzten Lebensfaser nun alles Gewesene der Geschichte zusammenfaßt und damit noch in bloßen Ranken weiterspielt. Die aus der gotischen Innerlichkeit entsprungene Bewegung wird zur alleinigen, geschichtslos gewordenen Faser eines Wachstums, in welchem sich die Züge einer ganz gelösten Schrift mit dem entbundenen Naturelement selber zu berühren scheinen. Es ist das Ähnliche wie mit dem Wesen letzter spätgotischer Figuren, welche ganz in sich bildliche Charaktere und nicht mehr Wesen auf der zeitschweren Erde sind.
[Xanten, St. Viktorsdom]
[Xanten, Ausschnitt der Wurzel Jesse von der von Heinr. Douvermann geschnitzten Predella des Marienaltars]
Das war der stille, ein wenig trübe Nachmittag eines Herbstsonntags, als wir vom Niederrhein abbogen und ostwärts nach Westfalen, in das im blauen Sommer wie im grauen Herbst wohl gleich stille Münsterland fuhren.
Die Knicks, die Wallhecken um die Viehweiden, besetzten und kennzeichneten wieder die Weite und gaben dem flachen Lande auch etwas Verschwiegenes. Es war solch ein Herbstlicht, in welchem die Himmelsrichtung unbestimmt wird. Dazu kam die herbstliche Feuchte, und so nahm das ganze Land etwas Unbestimmtes an. Wie schon früher konnte man wieder empfinden, daß im Münsterlande das einzelne schwer zu fassen ist. Man mochte wieder an Annette Droste denken, und daß ihre Dichtung aus der anschaulichen Nähe, aber auch aus der unbestimmten Weite, aus solchen zwei gegensätzlichen Erlebungen gespeist ist, wie sie in diesem Lande sind. Man müßte Fußgänger sein, um dies ganz zu empfinden. Wir aber waren auf unserer schnellen Fahrt in das Städtchen Borken gekommen.
Nun war der Morgen da, ein horchender Morgen, wie man ihn empfindet, wenn ein ausgiebiger Regentag kommen will. Große Birnen sah man aus dem Fenster im kühlen Laube hängen. Da ertönte aus der stillen Gasse, die von meist kleinen Häusern gebildet wird, das auffällige Klappen von Holzschuhen. Buben und Mädchen klappten in ihnen dahin, sie gingen eifrig zur Schule, und ihre kleinen Holzschuhe waren ihre lauten Begleiter. Kleine Häuser, stille Gassen, das Klappern von Holzschuhen! Das ist nun ein Stilleben, das vom flachen Münsterland nach Holland ohne Unterschied weitergeht. Holzschuhe sehen immer aus, als ob sie ihren Gang selbst bestimmten. Und so sah man diesen unpersönlichen und doch kräftigen und hübschen Gang bei den Kindern, und man sah ihn tagsüber immer wieder, auch auf den Landstraßen. Fuhrleute gingen so neben ihren Pferden her, und ein Radler sah drollig aus, der mit den Holzschuhen sein Rad drehte. Holzschuhe sehen auch aus wie Boote, welche hinten tiefer sitzen; und so passen sie in ein Land, das flach wie die See ist.
Beim Frühstück sahen wir im gleichen Raume eine große Tafel gedeckt und erfuhren, daß hier ein »Beerdigungskaffeetrinken« stattfinden werde. Bald kam auch die Trauergesellschaft, um sich dieser Sitte des Totengedenkens hinzugeben. Aus unserer Jugend wissen wir, daß unsere süddeutschen Toten auf eine viel kräftigere Art im »Leichtrunk« geehrt werden. Aber der Kaffee gilt in Westfalen, etwa auch bei den Bauern auf dem Ernteacker, ganz anders als bei uns. Die kleine Stadt Borken ist übrigens, wie unser mit der Gegend vertrauter Freund erzählte, ein Hauptmarkt für Flachs und Leinen, womit sich eine Art »Freier-Markt« der Heiratslustigen verbindet. Wie manche Ansicht des Lebens in kleinen Zügen auf Holland, so weisen Flachs und Hanf auch schon auf das Gewerbe der großen Webereien an der holländischen Grenze voraus.
Die kleinen Flüsse in dieser Gegend, die Yssel an der wir schon gewesen waren, die Berkel und die Vechte, stießen nach Holland, während die Ems nachher durch einsames deutsches Land nahe der Grenze hin dass Meer gewinnt. Gleich bei Borken war noch das schöne westfälische Wasserschloß Gemen zu sehen, das heute noch seltsam ritterlich und wehrhaft inmitten seines reichen Wasserringes aufragt. Von dem gewaltigen Morgenregen war eine finster rauschende Luftstimmung im Nachmittag geblieben; die hohen Bäume rauschten, und die mehrfach überbrückten bleichen Wasserstücke um das betürmte Schloß gaben die finstere Stimmung wieder. Pferde auf der Weide gehörten zu diesem ernsten Nachmittagsbilde.
Bald kamen wir durch Stadtlohn, und unser ortskundiger Westfale sagte, daß hier nahebei in dem heute angebauten Bruch der Schauplatz der von Annette Droste in ihrer epischen Dichtung geschilderten »Schlacht im Loener Bruch« gewesen sei. Der »tolle Herzog«, nämlich Christian von Braunschweig, Bischof von Halberstadt, zuerst als Parteigänger des Prager Winterkönigs, dessen schöne Gemahlin, die stolze Engländerin Elisabeth, er glühend liebte, dann weiter im Dienste der protestantischen Union unstet kämpfend, wurde hier von dem Führer der katholischen Liga, dem Grafen Tilly, besiegt und über die holländische Grenze getrieben. Die Droste schildert ihn als den unsteten Helden und auch so, wie er seinen Wahlspruch auf Münzen anbrachte, wo er sich »Gottes Freund, der Pfaffen Feind« nannte. Und sie vergißt auch die »Liebeslocke« nicht, die ihm nach der Sitte der Zeit als einzelne lange Strähne vom linken Ohr her auf die Schulter hing. Für die westfälische Dichterin selbst ist die viele Naturschilderung bezeichnend, die sie in die geschichtliche Dichtung flocht.
Nun kamen wir, noch näher zur Grenze, nach Vreden. Widukinds nächste Nachkommen, so sein Sohn Wikpert, stehen mit dieser Gegend in Zusammenhang, und seine Tochter hat das Frauenkloster in Vreden gegründet. Von den zwei Kirchen, die sich in die Gotik fortsetzen, ist der einschiffige romanische Bau voll schlichter Getragenheit über seinem Grundriß. Auch das romanische Bogenfeld über einem Portal hat eine ruhige Ausdrücklichkeit lehrhafter Formen; und anderes wäre noch zu nennen, womit der alte Ort sich merkwürdig macht. Im Städtchen war Jahrmarkt, mit jener steifen Lustigkeit des jungen Volkes von hier, die breit und doch ungelenk erscheint. Dann ging wieder das weite Land nach Holland auf. Vieh wurde auf den Weiden gemolken; es war Heide da und auch Stücke von Buschwald; eine rauhe Dammstraße ging durch ein waldiges Moor; dann sah man im Abend die Äcker blauschwarz glänzen, während ein mächtig blitzendes Gewitter im Westen hing. Die Stadt Gronau mit ihren großen Webereien sah man darunter grell aufragen, und unsere Fahrt ging weiter in eine noch einsamere moorige Gegend. Hier hängt der Himmel oft mit Gewittern über dem Lande. In der Dunkelheit kamen wir über Gildehaus nach Bentheim.
Erst morgens sahen wir, daß die kleine Stadt mit dem großen alten Schloß der Fürsten von Bentheim hoch liegt. Es braucht hier allerdings nur wenig Höhe, um weithin den Blick über die von Laublinien durchzogene Ebene schicken zu können, die zwischen abwechselndem stürmischem Regen, in welchem alles Baumige und Laubige zitterte, manchmal unendlich aussah. Bentheim liegt an der Grenze jenes weiten Landstrichs nach Norden, welcher für wenige Menschen Raum hat, wo Heide und Moor ist und wo der Atem der Schöpfung karg und doch groß in sich selber fließt. Es möchte locken, gerade dieses Land zum Burtanger Moor hin aufzusuchen. Im Burghof von Bentheim steht ein steinerner Christus, eine mit langem Rock bekleidete Figur mit zickzackig ausgebreiteten Armen am großen Steinkreuz, die in ihrer romanischen Form wie ein uraltes zeitloses Mal und Wahrzeichen, wie ein Fund aus dunkler Erde oder ein Rest von Vorgeschichte in der Gegend ist. Der Ausdruck »Herrgott von Bentheim« ist als Ausruf der Heftigkeit wohl auch anderwärts bekannt geworden.
Diese gekreuzigte Figur in Bentheim mit den merkwürdig auseinandergehobenen Armen gehört auch zu jenen mancherlei Figuren und Formen an Portalen, Kapitellen und anderwärts, bei denen unsere Gegenwart einen alten germanischen Inhalt sucht. Dieses Suchen mag manches versprechen; mehr noch, es kann auf einen eigenen Weg in der Geschichtserkenntnis weisen. Die Werke dieser Art, die man unter dem Gedanken einer älteren und unterdrückten germanischen Bedeutung sammelt, haben in ihrem Ausdruck etwas sonderbar den Sinn Angreifendes. Man denkt darüber nach, woher dies komme. Man kann sagen, daß bei ihnen der Zwiespalt oder die Spanne zwischen Ding und Form, zwischen Erde und Sinn besonders groß sei. Diese Spanne ist wie ein heischender Hunger zwischen Gesichtslosigkeit und Gesicht, wie ein dunkler, zauberhafter Sprung zwischen einem »Nicht« oder einem ersten Sein und einem letzten Bedeuten. Keine rein positivistische menschliche Fixierung ist noch anstatt dieser Kluft von Wesen und Zeichen eingesetzt. Und eben darum empfinden wir, daß solche alten rätselhaften Formen etwas zugleich Zeitloses und ganz Geschichtswilliges oder Hungriges an sich haben, während dagegen die uns gewohnteren Kunstformen mit dem Begriff des Schönen den geschichtlichen Sinn verlieren. Jedenfalls ist es wesentlich, daß man unsere früheren germanischen Dinge nicht unter den Formen letzterer Art, sondern in jener dunkleren früheren Art der Kunst suchen will und muß. Und wenn es nun auch fraglich bleibt, wieviel sich an inhaltlicher Bestimmung und sohin bestimmter germanischer Ausbeute heute nachholen läßt, so bleibt hier doch ein Weg zum germanischen Sinne möglich, nämlich eben in der Frage nach der Art der Form, nach jener Spanne im figürlichen Wesen, nach jenem Zwiespalt oder Mangel oder tieferen Inbegriffe, welcher eine rätselhafte Gegenwart behalten hat, als ob er immer nach einer Zukunft und weiteren Geschichte verlange. Solche germanischen Werke sind eingeschrieben oder eingeschärft in den Grund, oder sie haben ein Vorgebot vor dem Grunde (was sich im gleichen Sinne entspricht), sie kämpfen mit ihrem tragenden Wesen ganz anders als die Formen, die wir von außerhalb der germanischen Welt überkommen haben. Wir nehmen in ihrem Anschauen an einem Rätsel teil. Dies Rätsel aus der Form selber aber will auch zu näher formulierten Erkenntnissen werden. Vielleicht ergibt sich, indem wir auch in unserem romanischen Kirchenbau den Mangel oder Hunger des Raumes nach Geschichte erkennen oder indem wir in romanischer Skulptur den Kampf mit dem Grunde und das Vorgebot des Figürlichen zum eigenen proportionierten Wesen sehen wollen, in all dem ein gemeinsamer Trieb und Zusammenhang. Und kurz: dieses Suchen nach dem Altgermanischen kann dazu führen, auch im weiteren Mittelalter die durchaus eigenen, germanisch gebliebenen und geschichtlich fortgesetzten Züge und Wesenheiten zu erkennen. Jedenfalls kann man ahnen, daß hier wie überhaupt in der Frage nach dem Ansatz des germanischen Wesens in der Geschichte nicht weniges für den bewegteren Sinn der Welt zu ernten ist.
Bei der Weiterfahrt geht es wieder durch ein ganz vom Regen überschüttetes Moor. Dann wird das Umland heller, und bis wir uns umsehen, sind wir schon bei Rheine über die Ems und sofort auch über den großen Dortmund-Ems-Kanal gekommen, während der von der Elbe über Hannover herkommende Mittelland-Kanal hier nahe rechts liegen bleibt. Voraus aber haben wir, über Ibbenbüren fahrend, den Anblick des Teutoburger Waldes, dessen westlicher Teil der Osning ist. Es geht auf Osnabrück zu, und am Wege fallen nun immer mehr die schönen altertümlichen Hofanlagen auf. Es sind strohgedeckte darunter, und der Eingang in die Diele, der als Haupteingang das sächsische Haus kennzeichnet, läßt wieder über die Wirkung nachdenken, die ein solcher Bau hat, der das Gemeinsame von Mensch und Tier betont, der ganz von Alter und Ruhe der Zeiten her stattlich ist und immer etwas Einsames behält. Die Art des Baues wird nicht sehr persönlich, sie behält mit den Eingangstoren eine einsame oder doch einzelhafte Gleichheit, die zu dem stummeren Wesen des Niedersachsen gehört. Und doch hat sich gerade auch auf diese Schönheit des Bauerntums die Beredsamkeit eines Niedersachsen, des Justus Möser, gerichtet.
Osnabrück, nun flach vor dem Anblick liegend, hebt eine Anzahl Türme fast zart in die Luft, bis man, in das breite, noch sehr altertümliche Wesen gekommen, die Straßen und Häuser sieht, die oft noch ähnlich den Bauernhäusern sind und nicht hochgehen. Das Ziel aber ist der spätromanische Dom, einer der großen westfälischen Dombauten, in denen sich die Macht des Steins zu einer aufgespalteten Wucht der Formen erhoben hat, wie sie, wenigstens in dieser gewaltigen inneren Aufschließung, auch am Rheine nicht gleich sind. Auf einer ausgeräumten Platzfläche steht der Dom und ist von außen ein breites und hohes romanisches Mal, welches mit der einfachen Größe von Umrissen und Masse auch teilweise einen reichen Rhythmus seiner Blendformen verbindet. Die Stirnseite, nicht mehr ganz ursprünglich, hat eine unsymmetrische Schönheit, mit einem romanischen und einem in riesigen Geschossen aufgesetzten gotischen Turm, während der Zwischenbau, zwar durch ein gotisches Portal und Rosenfenster aufgehellt, doch wie der trutzige Teil einer Burg ist, die mit ungegliederten Flächen und wenig Öffnungen dem Blick einen stummen Widerstand bietet. Aber in der Hochwand der Nordseite ist eine reiche und vornehme Folge von Öffnungen und Blenden. Auch der Vierungsturm hat diese vornehme Freude. Der Bau, im Ganzen reckenhaft, ist nun im Innern voller Bildhaftigkeit, soweit man von Bauformen in der Folge der reichen Joche und ihrem Zusammenspiel das aussagen kann. Der etwas spätere romanische Chor mit seinem geraden Abschluß, welcher sich in einem fast schlanken, nischenhaften Dreitakt der Fenster öffnet, macht dies bildhafte Raumgefühl noch feiner. Die Folge der Pfeiler und Joche mit den starken Rippen und den hohen Gewölben ist ebenso massig als frei, ebenso regelhaft wie vollkommen, im ganzen gedrungen und doch herrlich offen. Der Raum geht aus der Sichtbarkeit in einen fast fühlbaren Wohllaut über. Oder auch: diese späte Romanik geht von der Stummheit des Gesichts in eine reiche Lautheit über, die auch schon leise in gotischer Bogenform fortklingt. Oder ganz einfach, der Raum tut dem Gesicht wohl. Und man ist in seinem Genuß des Sehens wie hörend.
Ein Gang zur gotischen Johanneskirche, die wenig später erbaut ist, zeigt den stärksten Gegensatz und läßt wieder fragen, wie zur gleichen Zeit das Raumwesen sich so sehr brechen konnte. Hier ist aller Reichtum des steinernen Raumbildes weggenommen, und das Reckenhafte hat sich in einem neuen Inbilde verloren. Dann mußte das gotische Rathaus mit seinen ruhigen Queren der Geschosse und dabei die alte Stadtwaage mit ähnlichem Ernst der Queren und der tafelhaften Staffelgiebel gesehen werden. Und andere Giebelhäuser sind noch da mit fast erhaben behaglicher Geschlossenheit. Alles hat die ruhige Lagerung des breiten Landes.
Osnabrück an der Haase, zwischen dem Osning und dem Wiehengebirge, ebenso wie Münster als Abschlußort des Westfälischen Friedens bekannt, geht als Bistum auf Karl den Großen zurück und hatte nach 1648 die Sonderbarkeit, daß immer ein katholischer und ein evangelischer Bischof in der Regierung wechselte, bis es 1803 zu Hannover kam. Unter beiderlei Bischöfen hatte der Osnabrücker Möser (1720-1794) das Amt des eigentlichen Leiters der Staatsgeschäfte. Möser hat eine Geschichte Osnabrücks geschrieben, aber am bekanntesten ist er durch seine »patriotischen Phantasieen«. Dies sind die oft erzählungsartigen gesammelten Aufsätze, die er zuerst in den von ihm gegründeten »Osnabrücker Intelligenzblättern« veröffentlicht hat. Mit Ernst und Ironie, auch mit »homöopathischer« Übertreibung des von ihm Bekämpften hat er auf die Gesellschaft seiner Zeit gewirkt und sie, was für das achtzehnte Jahrhundert fremd ist, zur Vätersitte zurückgeleitet. Die Wendigkeit einer gesunden Vernunft gab ihm dazu die verschiedensten Mittel und Wege des Gedankens. Unter seinen Stoffen ist nicht zuletzt die Besprechung der Mode, des Haushaltes und der tüchtigen Hausfrau. Auch ist uns heute auffällig, wie gerne er von Flachs und Leinen, von Spinnen und Spinnstube sprach. Man möchte sagen, seine Weisheit sei aus der Art der Spinnstube entstanden, womit allerdings bei einem Geiste wie dem seinen nichts Hausbackenes gemeint sein kann. Doch mag gerade ein solch häusliches Wort seine Art bezeichnen. »Im Kriege sind einige Augenblicke groß, in der Haushaltung alle, und es muß keiner verloren gehen.«
[Der Dom zu Osnabrück]
[Johanniskirche in Osnabrück]
Mit dem Gedanken an Justus Möser verlassen wir Osnabrück. Ein kleines Beispiel kennzeichnet noch sein volkstümliches Denken. Er malt ein Vorbild schöner Einfachheit der Landmädchen im Genre eines Gemäldes des achtzehnten Jahrhunderts und vergißt dabei auch die Koketterie ihres Fußes nicht. »Das tun aber die weißen Strümpfe, so die Mädchen sich selbst knütten (stricken) und die sie durchaus tragen müssen, weil ich den Glauben habe, daß ein hübscher weißer Strumpf allemal den größten Einfluß auf die moralische Bildung des Menschen habe.« Diese letzte Wendung, die Vereinigung des Schönen mit dem Vernünftigen und Moralischen betreffend, ist ganz im Sinne seines Jahrhunderts. Diese Vernunft geht wohl allgemein auch lieber auf die schöne und richtige Gegenwart als auf ein älteres und dunkleres Volkserbe.
Auf der weiteren Fahrt werden wir, ähnlich wie im Münsterland, immer wieder das niedersächsische Bauernhaus am Wege sehen. Darum sei auch für dieses eine ganz bezeichnende Schilderung Mösers beigezogen. »Die Wohnung eines gemeinen Bauern ist in ihrem Plan so vollkommen, daß solche gar keiner Verbesserung fähig ist und zum Muster dienen kann. Der Herd ist fast in der Mitte des Hauses und so angelegt, daß die Frau, welche bei demselben sitzt, zu gleicher Zeit alles übersehen kann. Ein so großer und so bequemer Gesichtspunkt ist in keiner anderen Art von Gebäuden. Ohne von ihrem Stuhle aufzustehen, übersieht sie zu gleicher Zeit drei Türen, dankt denen, die hereinkommen, heißt solche bei sich niedersitzen, behält ihre Kinder und Gesinde, ihre Pferde und Kühe im Auge, hütet Keller und Kammer, spinnt immerfort und kocht dabei. Ihre Schlafstelle ist hinter diesem Feuer, und sie behält aus derselben eben diese große Aussicht, sieht ihr Gesinde zur Arbeit aufstehen und sich niederlegen, das Feuer verlöschen und anbrennen und alle Türen auf- und zugehen, hört ihr Vieh fressen und beobachtet Keller und Kammer. Jede zufällige Arbeit bleibt in der Kette der übrigen. Diese vereinigten Vorteile machen, daß die Bauern lieber beim Herde als in der Stube sitzen.«
Man sieht, wie Mösers Blick ganz auf die förderliche Ordnung vom Innern des Hauses her, auf eine gute Umsicht und ein daraus folgendes tätiges Lebensbild gerichtet ist. Was wir heutigen Wanderer wohl zuerst bedenken, nämlich wie hier in Niedersachsen das Bauerntum sein stammhaftes Hausbild von Anfang erhalten habe und wie dieses sich von anderen unterscheide, dieses Bild- und Volkhafte findet Möser vor allem in dem regen Sinne eines sich selbst bewachenden kleinen Gemeinwesens.
Wir haben schon früher einmal das Innere eines alten, großen Bauernhauses sehen können. Das Tor in die Diele, ihr breiter Gang unter dem dicken offenen Gebälk, zwischen den Ställen rechts und links, bis zu dem Raum und Quergang der abschließenden Herdwand, wo allerdings der Herd heute nicht mehr in der großen Tenne belassen, sondern in die rückwärtige Wohnung genommen war, dies Raumbild, wo der Raum ganz als Zweck und Ordnung das beschlossenste bäuerliche Lebensbild zeigt, macht einen merkwürdigen Eindruck. Während fränkische Gehöfte mit einem gewissen Reichtum sich um ihren Hofplatz legen und doch lockend darbieten, während wir in Hessen noch die Reihen von Gehöften sahen, die mit ihren Vorbauten fast lückenlos an die Straße treten und sich dabei heimelig mit ihrem Fachwerk und seinen Ausbauten um den Hof schließen, hat das niedersächsische Haus statt solcher Reihung und Lockung etwas Ausschließliches, fast Abweisendes. Man muß erst eingetreten sein, um dazu zu gehören. Mehr als anderwärts gleicht ein Hof dem anderen, und doch steht jeder noch mehr für sich. Was sagt diese auch stark zum Gemüt sprechende Erscheinung? Der Mensch der täglichen Arbeit fühlt sich, mehr als sich selber, dem gemeinschaftlichen Wesen zugeteilt; er ist ein »Angehöriger« der unpersönlichen, gemeinsamen Lebensmitte, die ihn gültig zum Dasein macht. Was ihm bleibt, ist ein gleichmäßig waltender Ernst, der den Charakter des Menschen in sich schließt.
Ist indes Justus Möser, der aus dem volkshaften Gewese einen solchen tätigen Sinn herauszieht, nur für seine Zeit und für Osnabrück bezeichnend? Weist nicht dieser Übergang oder diese Beschränkung aus dem geschichtlichen zum rein tätigen Gefühl und Willen wie überhaupt, so besonders für das niedersächsische Wesen auf den herrschenden geistigen Sinngang? Die alte Geschichte ist hier in der weiten nördlichen Ebene bei wenigen großen, aber recht häufig noch bei den kleinen frühen, gerade schon romanischen Kultmalen stehen geblieben. Der spätere Geist hat, während er diese alten Körper der frühen Zeiten erhielt, nach den näheren Aufgaben der Erde gegriffen, die ihn hier Land und Leben zur Küste hin gewinnen hießen. So ist dies weiterhin bis nach Jütland. Aber Bremen ist darin noch wie ein Knotenpunkt zwischen Geschichte und Dasein, zwischen Reich und Erde.
Jedoch wir fahren wieder, statt zu philosophieren. Was wir noch von zügig hügeligem Lande durchschneiden, ist der Ausgang des östlich zur Weser hinziehenden Wiehengebirges. Dann aber wird man im Hinblick auf Land und Haus, trotz bleibender Ähnlichkeit, plötzlich aus Westfalen fortversetzt. Der Weg geht an einem langhin nach Norden ziehenden Moorgelände, am »Großen Moor«, hin, das die Karte zeigt, während uns die Straße doch nur das nähere Einzelne sehen läßt; und das sind die stummen einzelnen Häuser, die man trotz der Landwirtschaft um sie her Moorhäuser nennen möchte. Nach Lemförde indes wurde der große Dümmersee sichtbar, der hier an der Grenze von Oldenburg und Hannover liegt; und wir fahren hier auch länger an der Hunte, die ihn durchfließt. Man hat, wo weniger zu sehen ist als in einem Landstrich von reicherer Bewegung, eine Lust, nach der Karte zu schauen. Und ist nicht das flache Land mit der Einzeichnung seiner kargen, aber deutlich von der Niederung zum Meer gerichteten Naturverhältnisse selbst wie eine Karte, wie ein stummer offener Plan, nach dem gelebt werden muß? Die Häuser der Landbewohner sind darin aufgestellt wie Beispiele, wo das Leben seine Möglichkeiten hat; sie geben der Karte ein bildhaftes Relief.
Aber sie geben auch ein sehr anschauliches Gefühl. Nicht so stattlich wie in Westfalen, sind sie noch mehr an die Erde gebunden. Die Strohdächer sind tief herabgezogen, das geringe oder niedere Haus umfassend, um dessen Giebel ebenfalls die Bedachung herumgeht. Unter dem großen, dunklen Dach ist die Wohnstelle breit und niedrig zu sehen. Die Wände haben selten mehr das schwarz-weiße Fachwerk, sondern sind im blanken Ziegel oder Verputz ganz dunkelrot getüncht und gefärbt. Dieses Dunkelrot, das zu den ganz weiß gestrichenen Fensterrahmen steht, ist in der dunstigen Sonne wie ein weicher und doch heftiger Zauber von Farbe, der die Hausgeister beschlossen hält. Und wenn nun noch das wetterfarbene Strohdach sich hell begrünt und bemoost hat, ist der Anblick vielleicht mehr seltsam als freundlich. Man versteht, wenn man solche Häuser manchmal mit viel Erdenschwere und doch wie bunte Märchen gemalt sieht. Auch sie haben wohl eine eigene Stattlichkeit, aber alles scheint der Natur noch wesenhafter zugeneigt, weil vergänglicher in ihrer Nähe, und doch noch ewiger in der Notwendigkeit des Daseins. Um die Siedelungen ist die flache Weite, über welcher die Luft nicht wie ein lockendes Echo, sondern wie ein stiller Segen und Regen ist. Nichts ist hier wie im Süden, wo das Land wie ein Echo den Blick umfängt. Hier scheint man selbst im Dahinfahren einsam und gefangen.
So eilt der Wagen durch das Land. Da war Diepholz, wo noch ein Rest von einer alten Grafschaft zeugt, dann Twistringen, und weiter Bassum, schon Mitte des neunten Jahrhunderts vorhanden, wo der Bischof Ansgar von Bremen, einer der Träger der ältesten Geschichte dieser Gegend, ein Nonnenkloster hierher legte. Wir umgehen die noch stark romanische Kirche, eine der wenigen großen der Gegend. Und nun ist Bremen nahe. Vom Dümmersee aber haben wir noch den Geruch von geräucherten Aalen in der Nase, wie es auch sonst an solchen flachen, großen Wässern Norddeutschlands riecht.
Der Name Bremen, liest man, gehört zu dem altdeutschen Worte »brem«, welches Rand oder Verbrämung bedeutet. Das Wort bezeichnet die Lage der Siedlung auf einer Düne am rechten Ufer der Weser. Wir machen, indem wir sofort in die Mitte der Stadt vorstoßen, uns diese Lage erst bewußt, da wir von der Altstadt, von dem ersten und wie ein Denkmal gebliebenen Kerne Bremens nun, so wie noch jetzt der Zug alter Gassen geht, zu der »Schlachte« am Strom zurückkommen. Nun zeigt sich uns nach dem gedrängten Baubild aus altgeschichtlichen Tagen das andere Bremen, die alte Stadt der Seefahrt und der Welthandelsplatz, der, um sich behaupten zu können, sich nach der Tiefe der Weser richten muß. Darum wurde 1827, in Vereinbarung mit Hannover zwecks der Gebietsabtretung, an der Mündung des Stromes Bremerhaven erbaut. »Was in Bremen modern, was Schöpfung der Technik ist, das liegt draußen vor seinen Toren stromabwärts und an der Mündung in Bremerhaven« (Bessel).
Im Spätsommer 1826, während der Bürgermeister Johann Smidt die wichtigen Verhandlungen führte, bei denen damals für Hannover noch London mitzuentscheiden hatte, war der kaum vierundzwanzigjährige schwäbische Dichter Wilhelm Hauff auf einer norddeutschen Reise nach Bremen gekommen, und Smidt nahm sich bei aller Arbeit die Zeit, »sich eine ganze Woche hindurch fast jeden Tag seinem jungen literarischen Gaste zu widmen, der alsbald auf seine Weise dazu beitragen sollte, dem Namen der alten Hansestadt Ehre zu machen«. Der Dichter der »Phantasieen im Bremer Ratskeller« ist im Spätherbst 1827 schon gestorben. In die geschichtlich strenge Hansestadt aber brachte sein Stück schwäbischer Romantik etwa eine ähnliche Laune wie E. T. A. Hoffmann in seine Heimat Ostpreußen. Und beide Male erscheint vor den heiter schweifenden Erfindungen Ort und Land noch beständiger und gesetzter. Vor dem Bremer Rathaus aber steht der große Roland, der Paladin des Bürgersinnes, der hier wie nirgends das Sinnbild eines Stadtgeistes geblieben ist.
Seit 1404 steht der Roland als ein großer steinerner Ritter, zu. Rathaus und Dom gehörig, auf dem Bremer Marktplatz. Zugleich ein junger Held und ein großes Kind, eine Puppe von Stein, steht die Figur in dem Gehege eines zierlichen Eisenzauns wie in einem Gärtchen. Man denkt wohl, daß man eine klassische Figur nicht so erdhaft aufstellen könnte, da eine solche immer mehr von Sockel und Idee her nötig hat. Die gotische Figur aber, besonders diese, deren junge Glieder mit der Rüstung eins sind und die man so nicht der Natur nachgebildet, sondern zuerst als ein Stück Geschichte empfindet, ist mit Schwert und Schild weniger und mehr als Idee, sie ist wie das Werkzeug eines bestimmten Sinnes und Willens. Damit wird die Figur auch über das Plastische hinaus auf eine besondere Art bildhaft; und das heißt wiederum, daß der geschichtliche Anblick stärker ist als natürliches Dasein, daß aber von jeder einzelnen Lebendigkeit, so des Gesichtes, her der junge Ritter wie durch Gegensatz um so mehr den kindhaften Reiz erhält.
In dem Puppenhaften ist aber auch das Modische noch etwas Besonderes. Das modisch Ritterliche mit dem schönen, tiefsitzenden Gürtel gehört in die Zeit um 1400. Damals waren die Figuren gern in diesem Sinne puppenhaft. Wenn man dazu denkt, wie die Figuren der romanischen Zeit voll Schwere waren, gleichsam dem ganzen Reiche eingefügt, und wie dann die Gestalten der späten Gotik um 1500 den Ausdruck des Gesichts und Charakters bekamen, der sie aus dem Reiche gelöst und dem bürgerlichen Dasein zugeteilt zeigt, so ist diese Form hier wie ein Zwischenzustand. Auch das modische Gefühl ist voll schöner sinniger Schwere. Man spielt in schönen Gewändern um den Reiz der Jugend. Es waren damals Figuren in der Wiege eines neuen Geschlechts, welches dann, indem es an neuen geistigen Bestimmungen gewinnt, doch die Gemeinschaft des schönen Spiels verliert.
Tatsächlich bezeichnen ja diese Rolande auch einen besonderen Zustand und die Gewinnung eines bürgerlich freien Rechts. Es sind geschichtliche Rechtsfiguren. Auch Bremen hat diesen Roland neu erstellt, als es den Rang einer freien Reichsstadt, wenn noch nicht formell erlangt, so doch besessen hat. Der spätere Schild der Figur weist auf Renaissance, und seine Inschrift heißt:
Vryheit do ick ju openbar,
de Karl und mennich vorst vorwar
desser stede ghegheven hat
des danket gode is min radt.
[Der Roland von Bremen]
[Bremen, Dom]
Also mag man sich die Rolandsäule als ein Zeitmaß zwischen dem alten Umkreis der Geschichte und der neueren Freiheit der Stadt und Bürgerschaft denken. Selbst noch zum Mittelalter gehörig, bezeugt sie das Freiwerden des Stadtwesens von der Bischofsherrschaft, mit der die Stadt schon früh um den eigenen Gebrauch der Weserstraße streiten mußte. So hat der Erzbischof Gerhard II. einmal die Weser des Zolles wegen mit einer Kette sperren lassen, welche aber der Rat, mit einer großen Kogge dagegen fahrend, entzweisegelte. Es war der gleiche Erzbischof, der, diesmal mit Hilfe seiner Stadt Bremen, welche sich dafür die Zugeständnisse hinsichtlich der Weserfahrt sicherte, 1234 das Bauernvolk der Stedinger westlich der Weser bei Altenesch niederwarf.
Die alte bischöfliche Geschichte Bremens kann aber nicht übergangen werden. Sie hat von der Eroberung des Wigmodesgaues und der Gründung des Bischofsitzes durch Karl den Großen in Bremen an bis zu der kirchlichen Beherrschung des ganzen Nordens, bis zu der Aussicht auf ein großes nordisches Patriarchat einmal größte Ausmaße gehabt. Der Christenbote und erste Bischof war auch hier ein Angelsachse, nämlich Willehad, der 789 in Bleren an der Weser starb. Der Willehadbrunnen beim Dom trägt seinen Namen. Sein bischöflicher Nachfolger in Bremen war Willerich. Und mit der gotisch ausgebauten Ansgarikirche ist ein anderer, noch wichtigerer Glaubensbote des Nordens in nahem Gedächtnis behalten. Ansgar, in der Pikardie geboren, als Mönch von Kloster Corvey kommend, dessen Bekehrungsreisen sich zu den Dänen und Schweden erstreckten, bezeichnet auch die Vereinigung des Bremer Bischofsitzes mit Hamburg. Die mächtigste Gestalt aber war nach Adaldag, der besonders mit Ottos des Großen Hilfe gegen die Dänen wirkte, der Erzbischof Adalbert, der, aus dem Geschlecht der Grafen von Goseck in Altthüringen stammend, von 1043 bis 1072 in Bremen herrschte und der, wenn damals schon immer die Geschichte von Dänemark, Schweden, Norwegen und auch England mit Bremen zusammenspielt, seinen Blick über den ganzen Norden ausdehnen und ein großes nordisches Patriarchat planen konnte. Sogar das »Winland«, mit dessen Entdeckung man eben Amerika erreicht hatte, lag in seinem Gesichtskreis. Dabei war er Berater des großen Kaisers Heinrich III. sowie seines Sohnes Heinrich IV., auf dessen Seite er sich immer gegen die sächsischen Billunger und die anderen Feinde des Königs hielt. Er ist nach einem inhaltsreichen Leben, zu dem ein schließlicher Absturz aus seiner Höhe kam, am Hofe von Goslar gestorben, aber im Bremer Dom, dessen Neubau seine Sorge galt, begraben. Es weist auch auf die große und heftige Persönlichkeit Adalberts hin, wenn sein Geschichtschreiber Adam von Bremen um Entschuldigung bittet, daß er die vielgestaltige Geschichte eines vielgestaltigen Menschen nicht anders als in einer vielgestaltigen Darstellung habe schreiben können.
Es geschieht fast mit einem Schlage, daß man, in der Mitte der Stadt vor Rathaus und Dom angelangt, während links die gotische Liebfrauenkirche hereinschaut, das Stadtwesen Bremens bemerkt. Anders als in anderen Städten, wo man sich mehr an die einzelnen Denkmale wendet, ist man hier, umgeben von dem Formschein eines Alters, welches eine ruhige Gegenwart geblieben ist, alsbald auf den Geist der Gesellschaft selber gewiesen. Hier ist der Ausdruck eines deutschen Stadtgesichts und also des innewohnenden Geistes deutlicher als anderwärts auf dem Übergang von Mittelalter zu Renaissance beharren geblieben. Der, obzwar in seiner Stirnseite erneuerte, mächtige romanische Dom und das als Kern der reichen, von Lüder von Bentheim vorgebauten Renaissance gebliebene gotische Rathaus geben einen Zusammenklang, als ob der Grundstock der Zeit immer den Menschen geblieben sei. Der schmuckvolle und doch von der gotischen Männlichkeit getragene, bürgerliche Spiegel des Rathauses hat seinen Widerschein auch an den anderen öffentlichen Bauten, dem Schütting, der das Amtshaus der Kaufleute war, dem alten Krameramtshaus, der Stadtwaage, und auch an Wohnhäusern wie dem Essighaus in schöner Vermehrung des Gesellschaftsbildes gefunden. Man geht durch die Altstadt und glaubt immer eine menschliche Maßkraft, eine sachliche Verhaltenheit und eine im eigenbehaupteten Raume wirkende stolze Beredtheit zu spüren. Die treibenden Formen der Frühzeit sind in ein konservatives Wesen, Geschichte und Lebenssinn in eine feste Gemessenheit aufgenommen. Man kann wohl fragen, welche Zeiten das Wesen des deutschen Menschen am meisten gebildet haben. Wie in den erhaltenen Formen der Städte muß wohl ein ähnliches Gesetz der Bildung und Bindung auch in den Menschen geblieben sein. Und jedenfalls: nirgends so wie im alten Bremen glaubt man, daß der deutsche Mensch zwischen Mittelalter und Renaissance behaust geblieben sei oder von da aus seine innere geistige Einrichtung getroffen habe. Mehr als Hamburg steht Bremen noch als ein geistiges Gesicht zwischen Geschichte und bleibender Gegenwart und — wenn wir den Sinn dieses Reiseabschnitts sohin besonders sehen wollen — zwischen Reich und Erde. -
Gewiß muß man sich entschuldigen, wenn man bloß von kurzen Anblicken auf ein Gesetz schließen will, wobei man allerdings für sich hat, daß Bremen ein besonderes Gesicht dessen ist, was man auch sonst gesehen hat. Aber nicht nur, daß die Stadt diese Gedanken gibt; es gehören auch Namen zu ihr, die man besonders in dieser Weise verstehen kann. Man kann an den Schriftsteller und übersetzer Gildemeister erinnern, der auch Bürgermeister von Bremen war. Heute gehört der Name Roselius hierher, wenn auch die Böttcherstraße mit sehr seltsamen Wucherungen über das Lebensgesetz hinausgeschossen scheint. Anderes in ihr ist mit dem Stil des Backsteinbaus eine Sehenswürdigkeit geworden. Dann gehört Anton Kippenberg hierher als Goethesammler und mit dem Sinne, der die Vergangenheit durch Gegenwart fortbildet und weithin wirkt. Und schließlich ist der Dichter Rudolf Alexander Schröder eine ganz bremische Erscheinung, sowohl wie er die Antike neu erwirbt, als wie er auch die andere Seite seines Bildungsgesetzes, das wir zu sehen glauben, die angestammte stille Seele, zur Aussage bringt. —
Übrigens in der Böttcherstraße, in der altbremischen Gaststätte, die »Flett« heißt, ist gut sitzen, und »Stout« ist ein Bier, das von Süddeutschland sehr entfernt ist.
[Bremen, Schütting]
[Bremen, Alte Stadtwaage]
Dem Binnenländer mag es vorkommen, als ob er nordwärts von Bremen und überhaupt in jenem niedersächsischen Herzwinkel, wo die niederdeutsche Geschichte ihren Ansatz nach einwärts und Deutschland seinen Auslauf hinaus zum freien Meere hat, den Boden des festen Daseins unter den Füßen verliere. Man fährt über unabsehbares Moorland, man sieht die Flüsse unüberbrückbar werden, man glaubt, staunen zu müssen, daß die Endungen der Landschaft, wenn sie sich kaum noch über das weite Wasser erheben, doch ihre bestimmten Ränder und Grenzen behalten. Der Binnenländer hat ein Gefühl, als ob ihm hier die Wurzeln fehlen, und er will sich wundern, daß immer noch Häuser und Siedlungen auch hier dauernde Orte haben und daß in den fortschwebenden Farben von Luft und Wasser sie mit der Sicherheit ihres eigenen Altwerdens doch zurückbehalten sind. Immer wieder verliert man sich in den Anblick der alles verschlingenden Weite. In der Nähe allerdings sind dann doch die Dinge anders und haben ihre friedliche, von den Geschäften der Menschen umgebene Festigkeit. Und wenn man, da es gerade Herbst ist, die Bäume voller Obst sieht, dann scheint das Natur- und Lebensbild fast so fröhlich und sicher wie in einem Hügellande des Südens.
Noch etwas anderes fällt auf, nämlich daß hier, wo die Erde zur Weite des Meeres hin sich verliert, die Häuser besonders wohnliche Innenräume haben. Zwar sieht ja der Reisende nicht viel davon, aber schon wenige Beobachtungen genügen, etwa von besonderen Gasträumen, oder von Wohnstuben in schlichten Bauernhäusern, die aber als Museum und Beispiel erhalten werden, oder das Zimmer des Hauses auf einer Hallig. Je unbegrenzter das Meer — so scheint es —, um so begrenzter, näher, heimeliger, um so mehr eingerahmt von verziertem Holz oder von farbigen Fliesen ist die Wohnung des Menschen. Überhaupt, je weniger faßbar der große Erdraum, desto faßlicher, ernst-freundlicher und handsamer zurechtgemacht die Geräte und Dinge um den Menschen. Und nun, wenn man einen etwas kühnen Vergleich wagen darf, erscheint Bremen auch als die schöne, vornehme Stube, die der Niedersachse hier an der Grenze, wo der Atem des Weltmeeres schon beginnt, für sich eingerichtet hat. Hamburg ist ja wohl mit der Zeit viel zu groß geworden, als daß man die engeren menschlichen Verhältnisse und den Bezug, den empfundenen Gegensatz zwischen Land und Meer noch derart im beschaulichen Sinne ausgedrückt sehen könnte. In Bremen scheinen Tätigkeit und Beschaulichkeit noch mehr in früherer Art. Und indem wir uns in das wohnliche Mittelalter Bremens versetzen, mögen wir uns gerne vorstellen, daß hier, wo die Enge der alten deutschen Gaue und die Weite der wenig bekannten nördlichen Erde zusammentreffen, auch der erste deutsche Geograph des Mittelalters seine Aufzeichnungen gemacht und die Nachrichten, mit denen sich die Welt öffnete, mit Fabeln verbunden hat, in denen sie sich auch wieder zuschloß. Die Geographie, jene Wissenschaft, in der sich Begriff und Anschaulichkeit seltsam im Widerstreit befinden, hat also auch in Bremen ihren eigenen und ersten Ansatz gehabt.
Als Bremen unter dem mächtigen Erzbischof Adalbert, welcher 1072 starb, größer war als sonst ein Bistum und bestimmt schien, in einem Patriarchat den ganzen Norden zusammenzufassen, da hatte es zu gleicher Zeit einen bedeutenden Geschichtsschreiber, welcher bezeichnenderweise auch als Geograph des Nordens berühmt geworden ist. Es ist der Magister Adam von Bremen, und sein Werk ist die Hamburgische Kirchengeschichte (Hamburg und Bremen waren ein Bistum), die er nach dem Tode seines Gönners Adalbert vollendet und dessen Nachfolger Erzbischof Liemar gewidmet hat.
Diese Widmung ist ein kleiner politischer Ausweis. Denn Liemar war ein häufiger Begleiter des Königs Heinrich IV. gerade in den Jahren um das Datum von Canossa. Ebenso war Adalbert Königsberater gewesen, und dies besagt wohl, daß die geistlichen Herren von Bremen, indem sie auf Seiten des Königs standen und also seinen Feinden und hier näherhin dem sächsischen Herzogshause der Billunger abgeneigt waren, damit eben auch ihre eigene Herrschaft fördern mochten. Als rund hundert Jahre später Heinrich der Löwe, der Nachfolger der Billunger, hier seine nordöstlichen Pläne verfolgte, war ihm wiederum ein bremischer Erzbischof, diesmal der hartnäckige Hartwig von Stade aus dem alten Geschlecht dieses Ortes, im Wege. Und dieser konnte ebenfalls wiederum zu seinem Vorteil oder Rechte kommen, als der Herrscher Barbarossa den Löwen gebändigt hatte. Also ist für das mittlere elfte Jahrhundert in der Kirchengeschichte des Adam von Bremen auch die politische Reichsgeschichte spürbar, jedoch mehr in den persönlichen Beziehungen und Nachrichten, während der Blick des Schreibers auf die Aufzeichnung der bremisch-hamburgischen Vergangenheit und dann auf die eigene Gegenwart, die er erlebte, sowie auf die Wege und Wirkungen nach dem Norden hin gerichtet ist. Schon die Tatsache dieser Blickrichtung allein ist Hinweis genug auf ein großes zeitgeschichtliches Verhältnis im Norden Deutschlands. Aber das Werk Adams, der übrigens kein gebürtiger Bremer, sondern von Bamberg dahin gekommen war, gibt an sich eine rechte Lust; und wenn überhaupt eine Lust nach dem Norden uns angeboren scheint, so wird diese hier in der Erzählung von bisher nicht Aufgeschriebenem, nicht zuletzt auch von der ahnungsvollen Weiträumigkeit und von Sagenhaftem neben Ereignissen aus der Zeit lebhaftest befriedigt. In den Bänden der Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit ist darum eben auch Adams kleines Werk eines der fesselndsten und stoffreichsten.
Es herrsche wohl — wird in den Forschungen zu diesem Werke gesagt — Einstimmigkeit darüber, daß Adam der bedeutendste Geograph des ganzen Mittelalters sei. Er habe geopolitisch gedacht und eine Verschmelzung der physikalischen und politischen Geographie, der Ethnographie, der Volkskunde, der politischen und der Kulturgeschichte vor Augen gehabt. Dieser Ruhm bezieht sich im besonderen auf das vierte Buch, in dem er mit einer Beschreibung der Länder und der Inselwelt des Nordens sein Werk abschließt. Jütland und die dänischen Inseln sind sein Ausgangspunkt. Und seine Hauptquelle ist der dänische König Svein Estridson (gest. 1076), ein Neffe Knuts des Großen, gewesen, mit dem übrigens eine jahrhundertelange dänische Dynastie begann. Adam hat ihn besucht und hat von ihm im besonderen auch Angaben über die Länder Schweden und Norwegen erhalten, die Svein persönlich bekannt waren.
Einiges aus Adams Darstellung soll auf seine Eigenart weisen. Es liegt ihm daran, einen Maßbegriff in die nördliche Welt zu bringen, und man hat auch versucht, in einer Karte seine Vorstellungen nachzuzeichnen. Von einzelnen Mitteilungen seien etwa die über Jumne (Vineta) erwähnt oder über die Insel Farria (Helgoland), die »Heiligland« heißt, denn »der Ort ist allen Seeleuten ehrwürdig, vorzüglich den Seeräubern«, welche nämlich ein abergläubisches Band ihres Gewerbes an diese Insel knüpfte. Sie glaubten, daß sich eine Beraubung der Insel durch Tod oder Schiffbruch räche; und sie pflegten deshalb auch den dort lebenden Einsiedlern den Beutezehnten mit großer Ehrfurcht darzubringen. Auch die Ostsee oder das Baltische Meer suchte Adam näher festzulegen. Das Wort »baltisch«, das man von dem slawischen Wort »balta« gleich Sumpf ableitet, erklärte er von dem lateinischen Worte »balteus« gleich Gürtel. Kurland, Estland und das Samland waren in seiner Vorstellung Inseln. Über die Preußen des Samlandes weiß er allerhand und Löbliches zu berichten, so auch über ihre Gastfreundschaft, nur daß sie die Fremden sich nicht ihren Hainen und Quellen nahen lassen. Von den Finnen sagt er, sie überflügeln sogar das Wild im Laufe durch den tiefsten Schnee. Sehr abenteuerlich werden die Vorstellungen nach dem äußersten Nordosten, wo Adam von einem Amazonenland, von Hundsköpfigen, von Menschenfressern und sonstigen Ungeheuern zu berichten weiß. Von Island wird berichtet, daß es dort Eis gebe, das vor Alter schwarz und trocken und brennbar geworden sei (Kohle). Besonders wichtig ist die Nachricht von dem« »Weinland«, der in dieser Form gegebenen Mitteilung von dem im Jahre 1000 entdeckten Amerika. Und nicht minder fesselt der Bericht von einer richtigen Forschungsfahrt über Island hinaus gegen den Nordpol, welche Friesen kurz vor der Zeit, als Adam nach Bremen kam, unternommen hatten.
Adam spricht von der Kugelgestalt der Erde und davon, inwiefern die Länge von Tag und Nacht in der Folge des Sonnenlaufes damit zusammenhänge. Daneben bleibt ihm aber die bildhaftere Vorstellung vom dunklen Rande der Welt, wenn er sagt, daß hinter den Bergen Norwegens »ermattet der Erdkreis endet« oder daß hier nur noch der furchtbare Anblick des grenzenlosen Meeres sei, das die ganze Welt umschließt. Kurz, man könnte sagen, die bildhafte Vorstellung und die geschichtliche Beziehung, etwa wie weit Otto I. Dänemark durchzogen oder wie weit der christliche Begriff die neuen Bindungen befestigt hat, sind vorherrschend. Darum liest man auch eine solche geographische Darstellung, als ob man alte Bilder anschaue, die sich aus Einzelheiten zusammensetzen und doch eigentümlich angespannt und heimlich mehr farbig als lichtig sind. Obwohl räumlich und sachlich voller Irrtümer, ist die Welt doch beziehungsreich. Und Vorstellungen wie von dem Schlund des Abgrunds, der die Flut steigen läßt, oder von den Ungeheuern am Rande der Welt sind voll märchenhafter Deutlichkeit.
Hier, nordwärts von Bremen, wenn man sich auf den Weg nachder Elbe zu begibt, stößt man, mehr im geschichtlichen Sinne als mit der eilenden Tatsächlichkeit des heutigen Reisenden, auf den Namen des Landes Hadeln. Von der Beschäftigung mit den Niedersachsen wird alsbald dieses Wort im Gedächtnis bleiben, wie noch manches andere, das dann ein fester Klang und doch nur eine ungefähre Bestimmung ist. Die kleinen Landstriche hier gehören dazu, die sich eigentümlich mit ihren Namen gegen die Unbestimmtheit zu wehren scheinen, die der Fremde im Überblick über die unbegrenzte Landweite zu finden glaubt. Da ist das Land Wursten, die Marschlandschaft rechts an der Niederweser hinab, dann drüben am linken Ufer der Elbe das »alte Land«, das von Hamburg bis Stade reicht und an das sich abwärts der Niederelbe das Kehdinger Land anschließt. Zwischen dem Lande Wursten aber und. dem Kehdinger Lande nun ist das Land Hadeln, das sich von der Elbmündung nach Cuxhaven weiter erstreckt.
In Hadeln, »Hadolaun«, seien die Sachsen gelandet, so schreibt der erste Geschichtschreiber der Sachsen in der Zeit Ottos des Großen, der Mönch Widukind von Corvey, der (wie früher erwähnt), selber sächsischen Stammes, die Herkunft der Sachsen untersucht. Und dann erzählt er eine reizvolle Geschichte, wie sie alsbald mit den Thüringern, deren Reich bis hier sich erstreckt habe, in Kampf gekommen und wie sie zunächst in einem Vertrag sich geeinigt hätten. Die Sachsen sollten danach kaufen und verkaufen können, aber kein Land erhalten. Als nun das Geld der Ankömmlinge auf der Neige und der Hunger eingekehrt war, da sei eines Tages ein sächsischer Jüngling mit einer goldenen Kette und goldenen Spangen aus dem Schiffe gestiegen und einem Thüringer begegnet. Dieser habe den jungen Sachsen gefragt: »Was bedeutet solch eine Goldmenge an deinem abgezehrten Hals?« In der Folge des Gesprächs, als sich der Sachse bereit erklärte, alles, was man ihm für das Gold gebe, dankbar damit zu kaufen, habe ihm der Thüringer einen Rockbausch voll Staub von der bloßen Erde verkauft. Jeder sei, mit dem Geschäft zufrieden, weggegangen, insbesondere der Thüringer. Die Sachsen indes hätten ihren jungen Genossen zuerst verlacht, bis dieser, sagend: »Folget mir, ihr wackeren Sachsen, und ihr werdet euch überzeugen, daß meine Torheit euch von Nutzen ist«, angefangen habe, die gekaufte Erde dünn über das Land bei den Schiffen auszustreuen. So habe man einen Lagerplatz auf der Erde und ein Stück Land erworben, das man im Kampf vollends gewonnen habe, bei welchem der »Sachs«, die bekannte Waffe des Stammes, die Entscheidung brachte. —
Nun aber, diese Gegend und den Übergang über Jütland nach dem Norden bedenkend, möchte man fragen, wie es komme, daß, was einst mit dem Gesichte eines nordischen Patriarchats als dauernde Verbindung nach dem Norden aussehen konnte, sich später nicht verwirklicht hat, daß das Germanische hier Grenzen in sich bekommen hat. Es ist gleichnishaft, daß auch Widukind auf Jütland Zuflucht fand und Hilfe suchte, aber gegen Karl unterlag. Die Bindungen, die sich hier an der Nordsee und weiter vollziehen, sind wesentlich, sie reichen in das eigentliche Leben des Deutschtums, aber sie haben die größeren Maße der Geschichte offenbar nicht erreicht. Man kann diese Verhältnisse aber mehr befragen als beantworten.
Wo möchte man so sehr die Erde selber anschauen wie hier, wo das Land so flach wie ausgeräumt ist, wo der Blick in eine noch grenzenlosere Weite zu reichen scheint als das Himmelsrund und wo man nun bald erwartet, daß der feste Grund ins Meer hinwegschwindet. Während man im Binnenlande, oder wo die Berge sind, das geordnete Maß der Felder, den Zusammenlauf einer fest und fröhlich gefügten Landschaft anschaut, blickt man hier mit sonderbarer Zärtlichkeit nach der bloßen Erde selber. Sie scheint fremd zu werden, sie scheint sich mit der Sonne in unwahrscheinliche Farben umzuwandeln, die das dunklere Gewicht verloren haben, sie scheint in eine unstillbare und märchenhafte Stimmung fortzuwachsen, und um so mehr möchte man sie mit den gewohnteren Merkmalen festbannen. Die wenigen Merkmale hier aber, die schwankenden silbernen Birken, die gründunklen Schirme hoher Kiefern, welche noch die festeren Farben in die verzehrende Luftweite hinaufhalten, eilen doch selber in eigenen Zeilen zur Ferne dahin und lassen die Nähe nicht aufkommen. Und die Flachkuppel des Himmels hat einen ganz weiten, ganz losen Rand, voll von kleinen und großen Wolkenflocken, und doch so leicht, als ob er, vom Winde besät, auch mit dem Winde hinwegtriebe. Ja, hier, wo das Land aufhören will, fangen wir an, die Erde selber zu lieben.
Der Mensch, vor dem diese Landschaft wie eine hemmungslose Zeit forteilt, muß wohl, wenn er hier auf einem Ort steht, den er sich zu seinem Lebensgebrauche erobert hat, diesen Ort um so mehr lieben. So sind hier die eingesessensten Bauerngeschlechter entstanden; sie waren zu Hause auf Warfen oder Wurten, deren Ortsnamen nachgeblieben sind aus der Zeit, da das Land noch nicht zusammenhängend war, oder auf Wurten, die noch jetzt im Meere ausgeliefert liegen. Ortschaften und Höfe liegen breit, nieder und schwer in den Marschflächen oder auf den Koogen, an denen die Unendlichkeit von Wasser und Luft zehrt. Das ist das Land vom Moor zum Watt, zwischen Geest und Meer. Das ist, wenn sich auch Merkmale ändern und der Himmel noch weiter wird, das Land zwischen Niederweser und Niederelbe, und ähnlich wiederum durch Dithmarschen hinauf nach Nordfriesland. Es ist auch das Bild von den Koogen, wo auf neu erorbertem Lande, auf flachem eingedeichtem Erdreich breite Höfe stehen, wo schwere Pferde gehen und wo neue Ernten ihre Garben über die dunkle Erde ausschütten. Ist es nicht auch so, daß man hier mehr auf die Ernten als auf die Feldungen, mehr auf die Frucht der Erde als auf eine blühende oder sonst in aller Art fruchtbare Landschaft die Blicke richtet? Ist nicht darum dies Bild an sich nüchterner? Aber kann nicht auch dieser zum Lebensgebrauch eingedeichte, unterm Abendhimmel einsame Landraum, wenn die zehrende Luft darübergeht und vielleicht die Regelmäßigkeit des rauschenden Meeres im Ohre ist, sich in ein Gefühl der Dichtung verwandeln?
Wieviel Wechsel ist doch auch hier einem einzigen Tage zu bringen möglich! Wir sind in voller Lust der Fahrt hinter Bremen, und eine holperige Straße bringt uns in die Gegend, wo das große Teufelsmoor beginnt. Rechts läuft ein anderer Weg nach Worpswede hinweg, nach dem Ort, der seinen heutigen Klang der Kunst auf der Moorerde verdankt. Das begann, als in dem letzten Künstlergeschlecht die Richtung zur Heimatkunst oder zu einem noch näheren Anschluß an Erde und Bauerntum erwachte. Worpswede war der Ort, wo diese Richtung ihre eigenartigste Bestimmung erfuhr, nämlich die schwere Bauernerde wirklich zu finden, aber zugleich auch in den Märchenbann zu verfallen, durch welchen die dunkle Erde sich in dichte, fremdartige Farben verwandelt. Das ergab eine Blüte, die erdgebunden und fremdartig, nordisch und exotisch zugleich werden konnte. Und dies weist auch auf ein Geheimnis, welchem das nordische Wesen an sich verfallen kann, wenn nicht das geschichtliche Bewußtsein dazwischentritt. So war es etwa um die Wende von 1900, wo noch vor der Schwere kommender Zeiten durch die Kunst das Leben nach dem Leben selber jagte und dabei nicht selten in bloßen Märchenstimmungen endete.
Jedoch uns Dahinfahrenden würde jetzt selbst nicht viel fehlen, uns mit den seltsamen Farben des Heidekrauts und der bläulich glänzenden Erde ins Unwirkliche zu verlieren, wenn nicht das gefleckte Weidevieh wäre, das die Stetigkeit des Daseins bedeutet; — fast möchte man, nochmals an die genannte Kunstzeit denkend, als der verwirrende Jugendstil blühte und gleichzeitig auch die Tiermalerei stark war, annehmen, dies Widerspiel im Naturerlebnis müsse sich gegenseitig bedingen. Aber da ist noch ein anderes Zeugnis des nüchternen Tages, der Torfstich und die davon schwärzlich angehäufte Erde, wobei die kleinen Pferde stehen oder mit hochräderigen Wagen in Arbeit sind. Aber auch dies reimt sich zu der ungebrochenen Stille, durch welche der Fahrweg ein wenig wie ein Damm erhoben hinläuft, worin Bäume einzeln sind wie Merkmale, in fernen Zeilen aber auch wie Höhenzüge oder wie Dünen aussehen und dann wieder die weite Fläche leicht besät erscheinen lassen. Durch die Luft streichen weiße, schwarzbebänderte Kiebitze. Die Ackererde, manchmal von grasigen Mäuerchen aus Steinfindlingen umzogen, hat selber die Farbe des Heidekrauts. Die Gegend ist wieder reicher. Aber die Häuser mit ihren großen Rohrdächern, auch auf den Giebelseiten schräg bedacht, worüber die Giebeldreiecke farbig und verziert herauslugen, sehen immer wie einzelne Wohnwesen aus. Ihre Farben sind von dunklem Ziegelrot, wozu das Fachwerk in Schwarz oder auch Grün seltsam absticht, die Rohrdächer sind wie schön gekämmt und ihre Firste mit Holzkämmen belegt, die ganzen Höfe eingesäumt von moosgrünen Angern und so für sich gesetzt. Immer gehen wieder die Farben, so an Feldern wie Höfen, seltsam zu Sinne, die oft etwas moosig Goldenes wie Stickereien haben. Und doch, je mehr diese Farben dicht werden, um so wesenloser werden sie, und das gibt eine sonderbare Mischung von Vergänglichkeit und Feierlichkeit.
So waren wir in Fahrt über Kuhstedt, Basdahl, Bremervörde und waren über die Oste mit ihrem tiefbraunen Moorwasser nach Stade gekommen. Immer will es uns mit unserem andersartigen Landgefühl nicht in den Sinn, daß diese weite Gegend, die so lose in Luft und Wasser hängt, auch geschichtliche Züge haben könne. Und doch nennen die alten Chroniken die Namen von Burgen, wie sie auch schon auf diesem Wege waren, so in Vörde und erst recht in Stade. Den Grafen von Stade gehörte auch Dithmarschen, das durch Karl den Großen in den fränkisch-christlichen Bereich einbezogen war, schon im zehnten Jahrhundert, und mit Stade stand es dann unter der Herrschaft des Bremer Erzbischofs. Also greift hier die Geschichte nach Nordalbingien hinüber. Wir aber setzen unseren Weg noch links der Elbe nordwärts fort und befinden uns nun im Kehdinger Land, das ebenfalls wieder flach und weit, aber in der Nähe langhin wie ein mildreicher, unaufhörlicher Obstgarten oder Obstwald ist. Auf den Marschufern der Elbe ist Baumgarten an Baumgarten, gleich gewölbten Grasbeeten, zwischen welchen tiefe Wassergräben sind, und bloß nach der Straße zu ist jedes Obststück durch einen Zaun abgesperrt, in den ein Türchen geht. Diese Zaunstückchen zwischen den Wassergräben kennzeichnen die Landschaft. Die Häuser haben manchmal Rohrdächer wie lustige Schöpfe. Das gesamte Land aber ist stattlich.
Doch wir sind jetzt schließlich in der Mittagssonne von Wischhafen aus auch der Elbe ansichtig geworden, haben noch mit den Leuten eine kleine Unterhaltung gehabt, die uns sagen, daß hier die beste hannoversche Vollblut-Pferdezucht sei, und nun sind wir bald, rücklings hinabgleitend, auf einem Fährdampfer eingeschifft, den wir vom andern Ufer bestellt haben. Es geht aus dem Seitenarm auf den mehrere Kilometer breiten Strom hinaus, und der Blick entwickelt sich, so daß man hinter den Dückdalben über dem Schilf und niederen Grünland des Ufers die hohen Deiche übersieht, auf denen das Vieh sich ausruht und hinter denen endlich bei weiterer Entfernung das ebene Land sich wieder auftut, Aber dann sind die beiden Ufer ein fernes, flaches Gestade geworden, und während man Segler und große Dampfer einzeln auf der Stromfläche sieht, denkt man sich: nun hat der Strom seinen eigenen Horizont bekommen. Alles ist nur noch ein nicht mehr körperhafter Umriß, und es ist ein monumentales Gefühl, das Einswerden von Land und Wasser inmitten der ungeheuren Stromrinne selbst zu sehen. Doch nun sind wir im Hafen von Glückstadt, und in einem etwas schwierigen Betrieb wird unser Wagen auf die Kaimauer hochgewunden.
»Es gibt drei Gaue von nordalbingischen Sachsen«, schreibt Adam von Bremen, »die ersten am Weltmeer sind die Dithmarschen, die zweiten die Holsten, die dritten und angesehensten heißen Stormarn.« Wenn man dazu die slawischen Wagrier gegen die Ostsee und besonders noch die Dänen nennt, hat man die Mitspieler in der Geschichte dieses Landes. Die Dithmarschen gehörten, wie gesagt, über Stade schon früh nach Bremen und ebenfalls wieder nach der Besiegung der Dänen in der Schlacht von Bornhöved 1227. Später nach heftigen eigenen Kämpfen um ihre Freiheit teilten sie schließlich die Geschicke Schleswig-Holsteins unter den Dänen und die Befreiung. Städte wie Glückstadt, das als dänischer Wettbewerb gegen Hamburg dienen sollte, oder Friedrichstadt, angelegt zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges, sprechen von dem geschichtiichen Verhältnis. Aber die Dithmarschen verstanden sich immer nur zu loser Abhängigkeit und hatten besonders im späteren Mittelalter einen charaktervollen Bauernfreistaat, der sich seine Satzungen selber gab. Wenn wir also zu Anfang das Gefühl aussprachen, daß hier oben weniger das Land als die Erde selber gelte, so scheint dies auch mit den Menschen hier zu sein, daß nicht so sehr die geschichtliche Fügung gilt, sondern der Mensch selber. Erde und Mensch hält sich hier in einem unmittelbaren, kernigen Gesetz.
Die Entfernungen sind nicht groß, und eine Fahrt im Nachmittag bringt uns weit. Wieder sind es die großen Bauernhöfe und die farbigen Äcker; und auch in den Städten beherrscht die Industrie das ältere Bild nicht. Aber von Itzehoe ab ist ein neuer, sehr hügeliger Anblick des Landes. Schenefeld zeigt noch manches von dem herzhaften Eindruck, den die Feldsteine einem alten Kirchenbau geben. Nachher vereinigt die Landschaft natürliche Schönheit und technische Größe, nämlich als uns eine hohe Brücke über den KaiserWilhelm-Kanal führt. »Nun sind wir rein über ein ganzes Gebirge gekommen«, meinte einer der Freunde. Aber das Land senkt sich wieder nach Nordwesten zur weiten Ebene, und nun kommen wir schon nach Heide, in den Hauptort Norderdithmarschens. Auf einem unwahrscheinlich großen Platz steht in der Ecke eine lange, niedere gotische Feldsteinkirche, und auch sonst hat die Stadt eine Breite, als ob die Fuhrwerke des ganzen Landes darin auffahren sollten. Für die Häuser ist das Geburtshaus Klaus Groths, das auch Museum ist, mit seinem ebenerdigen Geschoß und breiten, schlichten, scheunenartigen Giebel bezeichnend. Groth, der, wie bekannt, mit Fritz Reuter über die Fragen des Plattdeutschen in Streit gekommen ist, hat dem heimatlichen Laute den gerade im Platt nachhaltigen und kernig farbigen, beseelten Ausdruck gegeben. Indes das einfache Gesetz, auch im Sinne des Volkstums, ist wohl das schwerste, es will gegen die lyrische Hebung in einer unbewegteren Geradheit bleiben, es will den natürlichen Menschen auf andere Weise in sich haben, und nur der Weg Friedrich Hebbels hat in das größere Deutschtum der Dichtung geführt.
Der Abend wächst gleichsam mit den großen Felderflächen, durch die wir fahren. Die bewachsene Erde glänzt wie eine große farbige Tafel, und der Abendhimmel blendet immer stärker, indem er im eigenen Glanze herablastet; und so sind Erde und Himmel wie zwei mächtige Tafeln, während doch nach allen Seiten der Raum unendlich geöffnet ist, und wir sind inmitten, als ob um uns trotz des wachsenden Abends alle Schatten verloren gingen. So kommen wir nach Büsum und sehen hinaus auf das Meer, ein grün- und blau- silbernes, überall wehendes und fließendes Wasser, von dem das Watt bedeckt ist. Eine goldene Straße geht unmittelbar in die sinkende Sonne. In der Nacht aber bleibt der Deich die einzige, dunkel-mächtige Linie, hinter deren Schutzwall das Land gesichert schläft. Denn all dies Land hier ist dem Meere abgerungen. »De nich will diken, mut wiken.«
[Wesselburen]
[Der Dom zu Schleswig]
In Büsum erwachte man zu einem herrlichen Morgen. Der weißschimmernde Ort, der sich gegen das nördlichere Husum gern die »weiße Stadt am Meer« nennt und der einstens inselhaft abgetrennt war, liegt im Schutze seines langen, in geometrischen Kurven gegen das Wattenmeer hinausschwingenden Deiches. Eine hohe Brücke führt vom Hotel zur Deichhöhe hinüber. Eine scharfe Frühsonne, ein unaufhörlicher gleicher Luftzug macht die Sinne wach. Das Meer zeigt ein feines sprühendes Blau, das bald zu einer rauheren, ehern-dunklen Farbe übergeht und dann wieder die feine Morgenblässe des Himmels in sich aufnimmt. Die Strandkörbe sind noch leer, Schafe weiden am Damm, Möwen werfen sich ins Wasser, und der Leuchtturm ragt empor als ein immer gleiches Mal. In Meer und Luft scheint es überall zu knistern und zu raunen, und doch ist hinter allem eine tiefe Lautlosigkeit. f
So war es auch am Abend gewesen, als man die Stille wie einen gewaltigen Ruf über Land und Meer zu hören glaubte. Und doch schien jeder Laut aus der Brust genommen und nur ein unaufhörliches Schweigen möglich. Da waren aber auch noch die Schiffe der Krabbenfischer im beginnenden Dunkel gewesen, und man hatte gesehen, wie mittels großer Körbe, die annähernd je einen Zentner Inhalt hatten, die toten Krabben als eine graublaue körnige Masse von Körperchen in bereitstehende Wagen zum Abtransport umgeladen wurden. Büsum ist der Hauptfangplatz für Krabben, und man konnte sich so in die abendliche Ernte und in den anstrengenden Erwerb der Fischer einsehen. Manche Fischer sah man auch noch rötliche eßbare Krabben aus der Hand neben der Arbeit her verzehren. Dazu vernahm man die Sprache des Platt, die uns oft eine weiche, dunkle Schwingung wie vom Meere zu haben scheint. Andere Fische gab es übrigens an diesem Tage nicht, da längere Zeit starker Sturm gewesen war. Dieser Sturm hatte auch, wie wir beim Herfahren ge- . sehen hatten, gemacht, daß das Laub der Bäume weit landein eine schon frühzeitige Rostfärbung bekommen hatte.
Später gegen Mittag aber, nachdem wir ein reiches Aquarium mit all den sonderbaren, oft wie ein Rosengarten im Wasser blühenden Lebewesen besichtigt hatten, war der Anblick ganz verwandelt. Jetzt lag in der ganzen Weite vor dem Deich hinaus nur das nackte Watt; nur in der Ferne war noch die glitzernde Randbewegung des Wassers, und der Raum war wie ein stiller, flimmernder Zustand zwischen Leben und Tod. Aber einzelne Menschen gingen ohne Wege nach draußen, und die Vögel waren auf der Fläche noch tätiger als vorher. Man konnte sich leicht auf diesem dunklen Erdgrunde, den das Meer hier zu säen, als Schlick zurückzulassen und gleichsam auch sich zu entblättern nicht aufhört, ergehen, und da und dort sah man große, gläserne, manchmal noch ein wenig zuckende Mollusken. Es war, als sähe man zergehende Meteore des Lichtes.
Auf dieser jetzt öden, gleißenden Flucht der Erde hingehend aber versinkt man gleichsam in die Fragen nach den Lebensmöglichkeiten der Menschen. Es ist hier nicht der feste Bau der Schöpfung wie an einem südlichen Meere, sondern hier ist ein fortwährendes Geben und Nehmen, ein steter Kampf um den Ort der Nahrung und eine Erde, an welcher der Mensch immerfort wachen, Fuß fassen und seinen Ort gründen muß. Die Zeiten und Gezeiten sind wie ein Ordal der Schöpfung, in welchem die Möglichkeit des Lebens schwankt. Bevor noch eine Saat bestellt wird, muß sich erst die Erde selber nähren, und erst müssen langsam die eingedeichten Felder wachsen, bis das Leben stetig wird und dann auch die Sinnfälligkeit der Geschichte ihren weiteren Aufbau auf diesem Lande beginnen kann. Der Gedanke liegt um so näher, als das Land, auch soweit es schon sein größeres Alter hat, hiefür Bild und Beispiel zu liefern scheint, da hier vielfach noch die kleinen romanischen Kirchen des geschichtlichen Anfangs stehen, die nicht weiter in andere Formzeiten gewachsen sind. Der Mensch ist hier auf dem Grunde seiner ersten Naturgegebenheit verblieben. Und auch was sich in seinem Herzen angesät hat, strebt nach der einfachen Festigkeit seines ersten Charakters.
Unser Gedanke führt gleichwie unsere Straße jetzt zu Friedrich Hebbel, dem großen Dithmarscher Dichter, weiter. Es ist wohl schade, daß er einen Stoff »Die Dithmarschen«, den er als Drama ausführen wollte, bis auf weniges nicht bearbeitet hat. Es wäre zwar wohl ein historisches und kein unmittelbar volkhaftes Bild geworden, obwohl er eben aus dieser Gelegenheit bemerkt, daß die dithmarsische Geschichte eigentlich, mit Ausnahme der großen Schlacht bei Hemmingstedt, unter dem Volke nicht lebe und keine faßlichen Charakters biete. Es ist jene Freiheitsschlacht von 1500 an der Dusend Düwels-Warf bei Hemmingstedt, wo die Dänen mit den schleswig-holsteinischen Herzögen durch die Dithmarscher Bauern unter Wulf Isebrand eine furchtbare Niederlage erlitten, was aber nicht hindern konnte, daß der Bauernstaat 1559 doch unterworfen wurde. Wie gesagt, es ist schade, daß von der Geschichte der Dithmarschen nicht ein Stück durch ihren großen Dichter verlebendigt ist. Aber wenn Hebbels Geist, wie man auch sonst wohl gemeint hat, weit von seiner Heimaterde hinweggeschritten ist, so bedeutet dies mitnichten eine Minderung. Sein Genius — und das ist eben das Erstaunliche bei diesem Erdgeborenen aus armem Stande — rang mit innersten Sinnen um eine ganze Welt, ja mit einem griechischen Fühlen um Gesetze der Formen, und er schuf, ähnlich wie Kleist, an dem tragischen Bau einer deutschen Erkenntnis. Wenn die Erde in seiner Heimat Natur und Arbeit bleibt, so hat er, der unter großer Entbehrung und ohne die üblichen Fundamente der Bildung Mann wurde, unser Weltwesen mit einer Zielstrebigkeit in sich eingeholt wie wenige Deutsche. Aber gerade weil ihr der einfache Erdboden blieb, bekam seine Seele die Möglichkeit, ein deutsamer Spiegel auch für geistige Gesetze zu werden, die sich sonst in Konventionen verlieren.
Die Fahrt nach Wesselburen war kurz. Es war ein viel weiterer Weg, den der Knabe Hebbel einmal mit seinem Vater und Bruder zum Besuch von Verwandten in Meldorf, dem Hauptort Süderdithmarschens, zu Fuß zurücklegte. Die Wanderer kamen müde an, aber vor dem Besuch kaufte der Vater noch beim Bäcker Brot, um den Kindern den Magen zu stopfen, damit sie nicht zu viel bei den armen Verwandten zehren sollten. Das war die Gesinnung dieses Vaters, des armen Maurers, von dem Hebbel schrieb: »Die Armut hatte die Stelle seiner Seele eingenommen.« Der Gedanke an die Armut, und wie sie den Lebenssinn eng und hart macht, ist dem Dichter zeit seines Lebens wie eine Furcht nicht verloren gegangen. Aber auch daß er mit dem Satze: »Mein Vater besaß zur Zeit meiner Geburt ein kleines Haus« seine Erinnerungen beginnt, zeigt, wie wichtig für den geringen Menschen dies erste Haltgefühl seines Lebens war. Doch auch dieses Haus wurde, als er älter war, verloren. Wie es dem jungen Hebbel weiter bei dem Kirchspielvogt (höherer Beamter) Mohr als Schreiber erging, bei dem er mit dem Gesinde essen und unter der Treppe schlafen mußte, ist bekannt. Die Bitterkeit über die fortwährende Demütigung, welcher Hebbel sein schüchternes, verlegenes Wesen zuschreibt, ist später nicht von ihm gewichen. Gewiß hat sie sein Gefühl für Rache und Recht, diesen nie zu stillenden tragischen Sinn der Welt, genährt. Und wie lange hat dann später in Hamburg, München, Kopenhagen und noch in Wien die Entbehrung ihn verfolgt, wo er immer wieder mit einer Armut zu Tische saß, die schuldlos und doch gleich Gewissensbissen war. »Man hört auf einem gewissen Punkte zu denken auf und schlägt sich nur noch mit Empfindungen herum«, dies ist eine Wahrheit innerer Verlorenheit, die Hebbel erprobt hat. Aber er ist unaufhörlich in Gedanken und Entwürfen weiter gereift, wie seine Tagebücher, die Zeugen eines wirklichen Lebensweges, bis zu seinem Tode in Wien (1863) beweisen.
Das Städtchen Wesselburen, in dem Hebbel 1813 geboren wurde, liegt ganz flach in einer Gegend, wo das Watt einst bis an die Geest reichte und wo um die Kirchenwurt mit Eindeichungen allmählich das heutige Land geschaffen wurde. Vom Eindruck würde man sonst nicht viel festhalten, wenn eben nicht der Name Hebbels über dem Orte schwebte. Das Hebbel-Museum ist denn auch für uns der besondere Ort im Orte. Der Schornsteinfegermeister Engelhardt Herwig hatte in aller Stille mit der Sammlung von Erinnerungsstücken begonnen, bis das Material unterbaut war, das heute mit Autogrammen, Erstdrucken, Möbelstücken, Bildern, Büsten den Inhalt des Museums ausmacht. In verschiedenen Zimmern, einem Wesselburener Zimmer, einem Hamburger Zimmer, wo dem Gedächtnis an die Geliebte Elise Lensing ein Bild von ihr fehlt, das nicht aufzutreiben ist, einem Wiener Zimmer mit dem Bild von Hebbels Frau Christine Enghaus, sind die Lebensperioden des Dichters anschaulich gemacht. Auch der bekannte Dichter und Literarhistoriker Adolf Bartels, ein geborener Wesselburener, ist in dem Museum vertreten.
Wenn es den menschlichen Sinn des Landes hier ausmacht, daß er mehr an dem Grunde der Naturgegebenheit bleibt als an den komparativischen Formen der Geschichte teilnimmt, wie mußte der Hebbelsche Geist sich dann bezeugen? Es spricht manchmal ein Grimm, eine biblische Starre im Umgang mit der Lebendigkeit der Weltstoffe aus Hebbels Natur. Ist es die persönliche Anlage, durch die norddeutsche Art verstärkt, ist es auch der Kampf gegen die illustrativ leere Zeitdichtung, der ihn treibt? Die Selbstbehauptung des inneren Menschen kann dabei wie Zerstörung werden. Und dem entspricht als ein sonderbarer Zug der Schreck vor dem schlafenden Leben; »nur rühre nimmer an den Schlaf der Welt«. Wiederholt, so auch in Gedichten, hat er Schlaf und Mordsinn unheimlich zusammengefühlt. Scheint dies Wesen einem einfachen Menschen gehörig, dessen Inneres allzu wach geworden ist, so macht es anderseits, daß die Dramatik sich nicht zu der magischen Blüte wie bei Kleist erhebt, sondern immer wieder in sich dringt. Auch die Neigung, viel »Lokalfarbe« oder viele Einzelzüge, die an sich reich und schön sind, zu verwenden, ist, indem sie mehr der Verstärkung des Einzelnen als des Ganzen dient, nicht der Weg zur ganz gelösten Freiheit. Aber freilich, die gleichen Züge sind es auch, die Hebbels Dichtung wesentlich und groß gemacht haben.
Es genüge, noch an einzelne Stücke des Dichters, wie »Maria Magdalena« und »Gyges und sein Ring«, das Volksstück und die griechisch überfeine Schöpfung, zu denken. Hat nicht Hebbels Lebens- und Rechtsbegriff gerade hier etwas von der Hartnäckigkeit einfacher Menschen, die ihre eigene innere Haltung mehr verteidigen als ein allgemein menschliches Gefühl? Und wird nicht dieser Begriff wie ein ungemein zarter und auch ungemein spröder, sozusagen immer wieder dünner aufgespaltener Spiegel eines Innern, das schließlich sich selbst und menschliche Schicksale mit sich zerbrechen muß, wie es im »Gyges«, diesem wohl seelisch schärfsten Drama Hebbels, geschieht? Aber kann nicht auch die Gestalt der Rhodope an Kleist erinnern, nämlich trotz allen Unterschieds an die Alkmene im »Amphitryon«? Und ist dieser Sinn des Weibes nicht etwas von jener sonderbaren Tiefe, die dem germanischen Wesen eignet, ein Teil von jener vertrauenden und rächenden Kraft des Geschlechts und der Geschlechter in der Geschichte, dem dann Hebbel folgerichtig auch durch die Kriemhild in seinem großen Nibelungendrama Ausdruck gegeben hat? Im Ausgang dieses Dramas kaum weit vom Nibelungenlied entfernt, hat er doch die Schärfe seines eigenen Sinnes hineingebracht. Ist aber nicht auch seine »Genoveva« zu Kleists »Käthchen von Heilbronn« irgendwie parallel? Gewiß, in dem Werk der beiden Norddeutschen ist eine große und verwandte deutsche Sinnesspanne.
Im ebenen Lande, in welchem Begonien- und andere Blumenfelder liegen, kommen wir nun nach Lunden und nach Friedrichstadt, das in seiner Geschichte eine holländische Zuwanderung und in seinem Aussehen mit Staffelgiebeln die kubisch klare und gereihte holländische Gleichordnung hat. Die Eider, die seit Karls Zeiten zwischen den Stämmen eine Rolle spielte, ist hinter uns, und mit der Zufahrt nach Husum sind wir jetzt in Nordfriesland, zu dem auch die Inseln und Halligen rechnen. All das flache Land herwärts glänzte so weit, daß es aussah, als ob es mit seinem Rande nur durch einen schwarzen Faden am blauen Himmel verhängt sei.
Husum — wieder ist es eine Stadt, die durch einen Dichternamen gestempelt ist. Aber uns erschien sie nicht wie Storms »graue Stadt am Meer«, sondern in ihrer Geräumigkeit, mit ihren Giebeln, mit der sauberen Klarheit und mit einer leichten, älteren bürgerlichen Klassizität, dazu mit dem überraschenden Anblick des Hafens und der Schiffe fast mitten in der Stadt, lag unter dem Himmelblau alles in der goldenen Heiterkeit des Herbstes. Um auch in die anderen Stimmungen Theodor Storms zu kommen, muß man sich das jetzt in glänzender Weite vor den Deichen der Stadt liegende Watt in Trübe und Sturm denken und muß, wie es zum Lande gehört, seinen »Schimmelreiter« lesen. Dann erwacht eine empfindungsreiche und beredte und doch, selbst im Gespenstischen, halblaute nordische Seele. Aber bleibt nicht immer in Gedichten wie Novellen seine dichterische Art wie eine Inneneinrichtung der seelischen Kräfte, wodurch er aber in seiner Zwiesprache mit Natur und Menschen eben auf diese Kräfte aufmerksam macht? Storm liebt auch die Rahmenerzählung, in welcher der Stoff zwischen den Erzählern weiter eingeheimst und ihm die Heftigkeit des unmittelbaren Lebens und der offenen Natur genommen wird. Dafür hat er den gemüt-haften, gedämpfteren Klang im näheren Raume eingefangen. Man mag wohl auch an den Sprachklang denken, mit welchem die Leute hier etwa »Storm« sagen. Man hört das »r« nicht, sondern dafür eine schwebende, melodische Bewegung. Storm, 1817 in Husum geboren, war in seiner Vaterstadt früher schon und nach der Verdrängung wegen seines Patriotismus und der Befreiung von der Dänenherrschaft wiederum als Beamter tätig und hat sich später in Hademarschen angesiedelt, wo er 1888 starb. Sein Grab in Husum liegt unter stillen hohen Bäumen.
[Der Dom zu Schleswig, Mittelschiff]
[Marientod, Wandgemälde im Dom zu Schleswig]
[Dom zu Schleswig, Bordesholmer Altar]
[Abraham beim Priesterkönig Melchisedek, Ausschnitt aus der Predella des Bordesholmer Altars]
Wir sind von Husum auf den großen Deich herausgekommen und haben wieder das weite Wattenmeer vor uns. Wir schauen der Landgewinnung zu, die in deutlichen Abgrenzungen, zwischen denen noch das Wasser hintreibt, vor sich geht, und ein alter Mann erklärt uns die Reihenfolge der Arbeiten, das »Besticken« oder Befestigen, das wie eine Art Flechtwerk auf dem nassen Schlick ausgeführt wird, die Einrichtung der Siele in den Deichen, wodurch aus dem Niederlande hinter den Deichen das Wasser herausgeschleust wird, und was es da alles zu verstehen gibt. Aber was wir hören, dringt nicht so weit in unser Inneres, als was wir sehen. Oder vielmehr, die unaufhörliche Weite reißt unsere Blicke fort über die zu stiller neuer Lebenserwartung angelegte Erde und beherrscht uns ganz. Sie nimmt uns die Worte hinweg, welche der Verstand oder das Herz finden möchte, um dem Gefühl des Daseins gerecht zu werden.
Dieser Hilflosigkeit des Gefühls, wenn man auf dem Deiche stehend »in die raumlose Ebene wie in eine Ewigkeit« hinausblickt, hat übrigens Theodor Storm einen drolligen Ausdruck verliehen. Er erzählt, daß eine Halligbewohnerin, als sie von ihrem kleinen Eiland zum ersten Mal hierherkam, gesagt habe:
»Mein Gott, wat is de Welt doch grot; un et gifft ok noch en Holland!«
Indessen werden unsere Blicke jetzt, indem sie vor uns draußen auf die Insel Nordstrand treffen, durch einen bestimmten Anhalt gefangen, nämlich durch die abgewalmten wuchtigen Dächer von neuen Großgehöften, die dort über den Deichrand herausschauen. Es ist überraschend, wie die Stimmung der Unbegrenztheit durch diesen bestimmten Anblick nicht gestört, sondern in einer herzstärkenden Weise befestigt und eingeholt wird. Orte der Menschen setzen einen festen Bann in die ungemessene Weite. Dies ist der ganz ursprüngliche Bann und Reiz alles Fußfassens auf der Erde, wovon wir hier ein anschauliches Beispiel haben; und dieser bannende Anblick gilt nun für all das Küstenland hier, wo die rinnende Ebbe und Flut unabsehbar herrscht, wo aber eben diese Unabsehbarkeit durch ungezählten Fleiß vom Land aus mit langsam, aber bestimmt hinauswachsenden Feldern gedämmt und eingegrenzt wird. Die Männer, die an dieser Arbeit sind, stehen zwischen Erde und Meer im ziehenden Luftstrom des wolkentragenden Himmels, und ihr Tun erweitert sich immer zu einem nordischen Bilde des Lebens. Sie schaffen sich die Erde zu einem Dasein, das ihnen gehört.
Auf uns aber dringt der Eindruck ein, wie verschieden der Begriff Erde sei von dem Begriff Scholle. Anderwärts und also im Binnenlande kennt man nur die fruchttragende Scholle. Aber hier, indem wir nun auf dem langen, erhöhten Steindamme vom Festland weg zwischen dem an unseren beiden Seiten erbleichenden Glanze des Wattenmeeres hinausfahren, indem wir nun auf dem großen, neu gewonnenen Kooge von Nordstrand einmünden und indem wir das abgeerntete Land mit seinen gelben Stoppeln gleichsam von der sinkenden Sonne vor uns ausgebreitet sehen, das so flach ist, als ob vom Tisch und vom Korn der Erde bis zum Tisch und zum Brot des Hauses kaum ein Unterschied sei und sich auch beides in einer goldenen Farbe des Segens gleichen müsse, — hier können wir nicht vergessen, daß diese Scholle erst noch eine rinnende Erde gewesen ist. Wenn eben ein Pflüger vom Feld wegfährt, glauben wir nachsehen zu müssen, ob in den Furchen, die er aufgewühlt hat, mehr von der Scholle ist, die ihm gehört, oder mehr von einer Erde, die hier als ein flüchtiges Element, ein rinnendes Glück erscheint. Aber die neuen Feldungen sind äußerst stattlich, die Höfe mit Kanten und Flanken breit dareingesetzt, und unter dem großen Umlauf des Deiches ist jetzt eine schweigende Geborgenheit, welche sich, gleich ob die Nacht sie zudeckt oder der Morgen aufdeckt, nicht mehr verändert. Das neue Land hat sich das Maß seines Daseins zugemessen.
Aber wenn wir über einen älteren Deich in den alten Teil des Innenlandes hinüberwechseln, gibt es mit seinen teils noch eigens auf Warfen höher sitzenden Höfen doch einen sonderbaren Anblick. Es ist, als ob die Gehöfte hier in dem abendgrünen Lande selber auf die Weide getrieben seien. Nur die Zeilen von kleinen Häusern auf dem Deiche selber sind wie Stückchen von Ortschaften vorhanden und geben ein anderes Lebensgefüge. Die Sonne sinkt nun tiefer, aber es ist, als ob die Schatten des Insellandes ihr nicht nachschwebten, sondern sich unter einander herumirrend verlören. Da wird es nicht schwer, alte Geschichten von Untergängen durch die Sturmftuten zu erwecken. Wir sind indes wieder des Rückwegs auf dem leeren langen Steindamme. Die auf seinen beiden Seiten in den toten Winkeln angelegten Schlickfelder, die schon leise ergrünen, haben jetzt unwahrscheinlich starke Farben. Sie gehen aus Dunkelblaugold in Tiefbraungold und Landgrüngold über. So wissen wir nun hinter uns das gewonnene Land, als ob das Gold der Schöpfung darauf hervorgezaubert sei. Und vor uns steht das verwetterte Kirchlein von Schobüll, gedrungen wie eine alte Geschichte, am festen Lande.
Meertrift, Meerweide — merkwürdig, daß uns, während wir in dem alten Heverstrom auf das Wattenmeer hinausfahren, dieses Meer, das nahe und weit um die Fahrrinne seine farbig sichtbaren Untiefen erkennen läßt, zu lebhaften Vorstellungen ermutigt. Gewiß denken wir nicht an Bilder volltöniger Klassizität wie etwa Poseidons Rosse. Aber das treibende Meerbild, in das sich die Umrisse des schwindenden Landes und die kommenden inselhaften Linien der Halligen hineinzeichnen, regt an; und es wäre auch nicht schwer, sich schlanke Schiffe in Wikingerart herzudenken, die ihre geschnitzten Roß- oder Drachenköpfe spähend nach den Kennzeichen des Landes erheben. Unsere germanischen Vorstellungen sind nicht so körperlich wie die antiken, aber sie haben randhaftere Schärfen, sie greifen mehr nach dem Sinn des Lebens.
Es sieht sich indes auch sonderbar genug an, wenn an einer kleinen Hallig, mit einem Haus auf seiner Warf, ein Schiff verankert ist. Auch treibt es die Vorstellung an, wenn man über den Ort hinfährt, wo einst die Hallig Rungholt war, die mit ihrem gesamten Leben im Januar 1362 Von der Flut verschlungen worden ist. Man sucht nach den Spuren im Grunde, während man von den Fundstücken erzählen hört. Dann sieht man wieder ein Boot fahren, halb mit Motor und halb als Segler, und angesichts seines einen Segels, das wie ein großer Schmetterlingsflügel in der Luft hängt, löst sich die Spannung gaukelnd und zuversichtlich in dem großen Bereich. Die Himmelskuppel ist blau, aber im Vorblick auch blaß und wie zu einer größeren Erde gehörig. Sie scheint den Raum selber mit einer hellen und stummen Kraft hinauszulocken. Und hier nun, wo diese große, stille Lockung vor uns ist, liegt auch das Reich der Halligen. Von der Halbinsel Eiderstedt zieht es sich nordwärts bis zur Insel Föhr und war einst ein Festland, das im elften Jahrhundert zerstört wurde. Man weiß, daß seit dem sechzehnten Jahrhundert die Zahl der Halligen immer kleiner geworden ist.
Da liegen nun die wenigen grünen Scheiben draußen, als seien sie kleinste Abbilder der großen Scheibe des Kosmos, wie es die antike Vorstellung ansah. Unserer Jugend ist wohl keine Landschaft so nahe gegangen wie die einer Hallig, und dem älteren Menschen geht es wohl noch ebenso. Aber als wir die herbstliche Schönheit dieses Nachmittags priesen, an welchem die Hallig aus dem leisen Rauschen der Brandung gleichsam in die milde Frische des Himmels hineinflog, sagte die Wirtin: »Nein, es ist nicht schön hier; im Winter ist es nicht schön.« Wir wußten, wie sie das meinte, denn sie war eine gesunde Frau voll fester Rasse. Wir hatten das Nationalgetränk der Halligen vor uns, das Teepunsch heißt (Tee mit Kümmel und Zucker). Als man es von einigen großen Männern, die in Schaftstiefeln waren, trinken sah, wunderte man sich, daß sie mit so kleinen Tassen zum Munde fuhren. Über dem Tische hing in einer Glaskugel eine Holzkugel, die mit Blei ausgegossen ist und zum »Boseln« dient, einem Wurfspiel, das auf den Halligen um die Wette gespielt wird. Draußen aber vor dem Hause auf der Warf, wo noch wenige andere Häuser nahe standen, waren blumige Streifen von Gärtchen, und in der Mitte der Warf hinab geht eine tiefe Grube, Fehting genannt, wo das Wasser sich sammelt, das grün überwachsen und von Buschwerk und wenigem Baumwuchs still umgeben und so vorm zehrenden Wind geschützt ist. Ringsum aber, unter der Warf hinaus, von der man noch andere Warfen erblickt, liegt das Weideland, das baumlos ist und durchzogen von den Prielen, die Meerwasser führen und über welche Holzstege gehen. Das Vieh wurde jetzt eingetrieben und kam die Anhöhe der Warf herauf.
Am Nachmittag waren wir auf den einzelnen Warfen gewesen und hatten auch den sogenannten Königspesel gesehen, das Staatszimmer eines Hauses, das mit Kacheln in Delfter Malerei mit Bibelbildern ganz vertäfelt ist und in dessen Art es noch weitere gibt. Wie mußte dieser feste Schmuck auf der luftigen Insel überraschen! Auch auf der Kirchwarf waren wir, wo die geduckte und gedrungene Kirche steht, deren Vorgängerin 1634 unterging. Ein hölzerner Glockenstuhl stand daneben. Immer kommt so dem Fremden der Gedanke der Gefährdung durch den Neid des Wassers wieder nahe. Und bei der Ankunft hatten wir ja auch die Sommerdeiche überschritten, die, der einzige Schutz der Hallig, zu allen anderen Jahreszeiten von den Fluten übersprungen werden. Als wir nun in tiefer Nacht im gastlichen Zimmer saßen, glaubten wir das Rauschen bis hier herein zu hören. Aber hier war jetzt ein wenig Musik, und mit den Frauen drehten sich die Männer mit schweren Stiefeln in ruhigem Tanze. Da ging die Tür auf, und der Schiffer kam, um »seine Herren« zu holen. Es ging im Dunkeln von der Warf hinab und auf dem Grase dem Rauschen des Meeres entgegen. Der schaukelnde Kahn wurde im windverwehten Sternenlicht bestiegen und brachte uns zum Boot hinaus, das man ebenso ohne Sicht und nur im Greifen erklettern mußte. Der Schiffer aber brachte uns gegen Mitternacht nach Pellworm zurück, und er verfehlte die Landstelle nicht um einen Zentimeter. Leuchtfische erhellten während der Überfahrt im strengen Ostwinde um uns das rauschende Geräusch des Wassers.
Hinter uns aber blieb das Bild der spätsommerlichen Hallig. Wir kannten nun die kleine grüne Erdscheibe, die Warf darauf wie eine Burg, die Ziegelmauern der festen Häuser in starkem Rot und die abgewalmten Rohrdächer schwer und doch in schönem Umriß darübergezogen. Die Dächer hatten unter dem blauen Himmel die Farbe von Altgold. Und das nordische Dasein erschien uns von griechischer Heiterkeit.
Vom Westen zum Osten Schleswig-Holsteins ist Bauernland. Da steht auch am Rande von Husum noch das Ostenfelder Bauernhaus, das als ein kleines, anschauliches Museum für sich erhalten wird.
Der niedere strohgedeckte Bau, der Stall mit Diele übergehend in den offenen Küchenraum mit Herdstein, der Pesel oder das Staatszimmer, die Schlafräume, nichts mehr in Benutzung, alles aber um so mehr von einem Zwecke sprechend, alles Bauliche und Dingliche, alle Geräte vom Pflug bis zu Kanne und Teller beredt, wie sie nur in Bauernhäusern beredt sind, wobei die Spanne der Gebrauchsform zur Erde die nächste und weiteste, die einfachste und schönste ist, — so zeigt das alte Haus seine äußere und innere Gehörigkeit. »Gehörigkeit« ist wohl der Ausdruck für Bauernkultur. Die Dinge, zumal die hölzernen, haben in Form, Zier und Kerbung einen Merksinn des Lebens. Und wenn auch im Pesel vornehme Schränke mit figürlichem Relief in Renaissancefeldern stehen, so spricht das bereicherte Stilwesen doch eine gleiche Sprache. Es ist die bestimmte, ablesbare Spanne zum Dasein, was hier gilt; es sind die »Runen« der Wohnbarkeit. Ein solches Haus sagt, daß der Bauer mit der Reichweite der Dinge, die um ihn sind, und selber mit der Vertäfelung des Hauses nach innen Schicht an Schicht und Wand an Wand mit der Natur haust, zu der er gehört. Das ist übrigens auch das Wohngefühl, das der Bauer wohl sonntags am meisten hat. Als das besondere Norddeutsche hier erschien dazu der Verzicht auf eine bunte Ausgiebigkeit und die bloße Betonung des Dinglichen und der merkmalhaft gekerbten Formen. Es ist immer die sachliche Nähe und ein gedämpftes sichtbares Wesen, worin sich die nördlichere Art ausdrückt.
Da ist nun zunächst wieder das tellerebene Land. Und die Bauernhöfe mit Strohdächern und schönen »Dachluchten«, das Vieh im hellen Mittagslicht des Sonntagshimmels auf schattenlosem herbstlichem Gefild, alles ist so, daß man sich recht mittinnen im unbewegten Bauernwesen vorkommt, an welchem zu keiner Zeit eine Änderung rüttelt. Es braucht einen Ruck, um sich vom bloßen Anblick wegzureißen und mit den Gedanken in die Geschichte zu kommen. Eine mäßig beeilte Sonntagsfahrt bringt uns quer über die zimbrische Halbinsel und weiter noch im Zickzack von Flensburg nach Schleswig durch die Landschaft Angeln. Da ist überall der ländlichste Frieden; und weil die Feldung von großbuschigen Hecken und von den trennenden Knicks durchzogen ist, welche das weite Land gleichsam in lauter freilüftige Binnenräume verwandeln, weil nun auch im Osten die Gegend sich zu welligen und lieblichen Aussichten öffnet, findet man sich aufs angenehmste im Freien behaust. Kleine Gitterpförtchen führen häufig vom Wege in die Felder. Man müßte ein Buch nehmen und hier sitzend von alten Zeiten lesen, und dabei käme man sich doch von nichts entfernter vor als von der Tatsache, daß gerade von Jütlands Gauen der »zimbrische Schrecken« in das große Römerreich ausgefahren ist und daß also von hier aus das erste geschichtliche Auftreten der Germanen geschah, das auf die spätere Völkerwanderung vorauswies.
»Zimbrische Halbinsel« — mit diesem Namen wurde Jütland schon bald nach dem Beginn unserer Zeitrechnung benannt, weil von hier, vermutlich durch eine Meerflut vertrieben, die Zimbern auszogen, welche 113 v. Chr. an die Ostalpen kamen und in Kärnten und Krain auftauchten, wo sie zum ersten Mal sofort die Römer besiegten. Ihre Züge führten dann nach Westen zum Rhein, wo sie sich mit den Teutonen, ihren früheren Nachbarn vom Wattenmeer, verbanden. Und teils gemeinsam heerten sie über die Rhone zu den Pyrenäen und weiter, mit wechselnden Zielen, aber immer neuen Siegen, bis der Römerfeldherr Marius sie einzeln, die Teutonen unter ihrem König Teutobod nahe der Mündung der Rhone (102), die Zimbern unter König Boiorix zwischen Turin und Mailand (101), völlig schlug. Naive Kühnheit, vollkommene Unerschrockenheit, unerbittliche Entschlossenheit und die strenge Gesinnung der Frauen sind die Züge, mit denen sie sich in die Geschichte eingeschrieben und zugleich die kommende große germanische Wanderung angezeigt haben.
Aber auch die engere Völkerwanderung selber erhält von hier aus ein Hauptdatum, auf das der Name des Landes Angeln weist. Von hier sind, während die anderen deutschen Stämme vor allem zu den Alpen strömten, die Angeln vereinigt mit Sachsen und Jüten gegen 450 unter Hengist und Horsa nach dem von den Römern im Stich gelassenen Britannien aufgebrochen. Hier gründeten sie kleine angelsächsische Königreiche, aus welchen unter baldiger Mitwirkung des Christentums das künftige Anglia = England heranwachs. Jedoch wenn dies alles Geschichte von grauer Größe ist, so kommen uns hier auch häufige Erinnerungsmale an den Weg, die noch in unserer Jugend einige Lebendigkeit hatten. Es sind Namen und Daten von der deutsch-dänischen Auseinandersetzung, besonders des Krieges von 1864 um die Herzogtümer Schleswig und Holstein; und dynastische Namen wie Gottorp und Sonderburg-Glücksburg oder Namen von Gefechtsorten wie die Düppeler Schanzen und die Insel Alsen klingen jetzt neben solchen, die hier in unmittelbarer Nähe sind, wieder auf. Am merkwürdigsten wird uns aber das Danewerk, das zugleich wieder in das tiefe Mittelalter zurückführt, wo unter Karl dem Großen die dänische Geschichte deutlich zu werden beginnt, als Widukind zum Dänenkönig Siegfried floh, und als König Gottfried 808 das Danewerk gegen Franken und Sachsen errichtete. Heute ist das Danewerk durch das damit verbundene alte Haithabu bei Schleswig ein Punkt voll neuer Liebhaberei.
[Dorfkirche in Sörup]
[Eckernförde, Marine-Ehrenmal]
Mittags im schönen Flensburg an der blitzenden Förde, nachmittags in der weidestillen Landschaft Angeln, abends in dem wundersam in die Nacht hineindunkelnden Schleswig mit weißen Segeln auf der weiten, fördeartigen Schlei — das ist hier die reiche Hälfte eines Reisetages. In Flensburg erstreckt sich die Förde mitten in die beiderseits hochsteigende Stadt, von deren Flanken und Höhen gotische Spitztürme aufragen. Bei den Schiffen am Kai ist Sonntagsbetrieb, und es ist schwer, der Lockung zur Hinausfahrt zu widerstehen. Unser Weg aber geht, nachdem noch Altflensburger Räume und das Deutsche Haus besehen waren, das die Stadt zur Erinnerung an die Abstimmung nach dem großen Kriege bekommen hat, in das freie Land hinaus. Der besondere Zweck war, einige der romanischen Dorfkirchen zu sehen, welche dies Land kennzeichnen und seiner alten Erde den geschichtlichen Grundstock geben, und als deren schönste die niedere, mit Granitquadern auf der Scholle sitzende Kirche von Sörup gilt. Granitquadern oder Feldsteine geben solchen bescheiden und doch stark geformten Kirchlein ihren Stil, der gleich alten Zeitmälern ist. Und im Innern ist, was auch sonst als Ausstattungsstück auffällt, ein wertvoller Taufstein von romanischer figürlicher Herbheit. Am Portal ist ebenfalls ein solches Relief von jener Kerbung, welche zu einem nachdrücklichen Merksinn des ländlich- geistigen Charakters gehört.
Nun sank der Abend über die erbleichende Fläche der Schlei, und aus einem dichteren Punkte der schmal gezogenen Uferstadt ragte der Domturm als hoher Zeiger über die Landschaft. Schleswig aber, das die Anblicke eines Landstädtchens und einer schönen kleinen Residenz bietet, ist zugleich selber eine stundenlange Landschaft an der Schlei, um die es sich im Bogen zu dem heutigen Grabungsorte von Haithabu hinzieht. Der hohe Westturm des romanisch-gotischen Dombauwerks ist zwar neuen Datums, aber als ein Zeiger zwischen Geist und Erde bringt er uns zu stillen Abendüberlegungen über das Land hier. Sinn und Geschichte des Daseins — so möchte man die meisten deutschen Landschaften in ihrem Anblick kennzeichnen — treiben sich auf gedrängtem Raum gegenseitig zur Höhe. Hier aber sind auf dem Lande die grundstockigen kleinen romanischen Kirchen geblieben, und die Ruhe des Erdreichs ist in ihnen stärker als der Drang zur geschichtlichen Erhöhung. Der Sinn des Daseins — so mögen wir denken — hat hier zwei Ausdehnungen. Da ist der Trieb zur Weite, der zum nördlichen Menschen gehört und der den Wikinger geschaffen hat; und da ist die Gegenbewegung zur häuslichen Nähe und zum ländlichen Merksinn, der in der besonnenen Reichweite seiner Dinge bleibt. So scheint sich das Land hier als ein geistiges Bild zu zeichnen. Es ist der unermessene Horizont und die nahe Erde, ein Reich also von zweierlei Art, wovon die Menschen bestimmt wurden. Schleswig aber ist zugleich für das ganze Land doch das Bild einer großen mittelalterlichen Erhöhung. Und mit Haithabu ist es dazu eine Gedenkstätte des Wikingertums, welches sozusagen ein Reich nicht kannte, sondern nur das Leben. Es sind schöne dunkle Gedanken, welche den Abend in Schleswig begleiten können.
Vom Dom zum Runenstein, von der lichtvoll aufgeschlossenen Höhe des Mittelalters zum heldischen Kennzeichen auf zwielichtiger Erde, vom figurenreichen spätgotischen Bildwerk, in welchem bürgerliche Menschen den religiösen Geschichten ihre eigenen Gesichter in heftiger Nähe und drängender Vergesellschaftung liehen, zu einem einsamen unbehauenen Schriftstein, auf dem ein König mit sichtbar und greifbar eingekerbten Zeichen seines toten Waffengefährten gedenkt — das bezeichnet die zwiefache Welt, welche Schleswig-Haithabu heißt. Im Dom, zu dessen erstem Beginn man den 1035 gestorbenen dänischen und englischen König Knut den Großen nennt, ist eine wunderbare Dreikönigsgruppe von frühgotischer Schlankheit, und dann jenes Hauptwerk spätester Gotik, welches der Bordesholmer Altar heißt und von Hans Brüggemann mit über vierhundert Figuren aus Eiche geschnitzt ist. Jene frühe Gruppe zeigt, wie das Mittelalter seine Schönheit der Gebärden immer in eine Zone, in einen exklusiv durchwalteten Raum zusammenschloß; dieses Spätwerk zeigt, wie sich der Raum nun zu einer unaufhörlichen Illustration mit worthafter Deutlichkeit entlädt. Dabei entsteht aber eine Unsumme von wahrster und nächster Einzelheit des menschlichen Ausdrucks. Das wirkliche Leben ist aus der Faser der harten Eiche herausgeholt. Und beim Dom darf heute auch der Kreuzgang nicht vergessen werden, der hier »der Schwahl« heißt und an dem eben eine wunderbare Folge von Wandgemälden besonders des vierzehnten Jahrhunderts freigelegt wurde. Man hat in ihnen auch noch eine Verwendung von germanischen Sinnzeichen festgestellt.
Am früheren bischöflichen Schloß Gottorp vorbei besucht man das Haithabu-Museum, und noch weiter draußen gewinnt man einen kurzen Blick auf die Grabungen im heutigen Haddeby. Das kleine Museum zeigt die Forschungen zur Vorgeschichte des Landes. Uns beschäftigen am meisten die gefundenen Runensteine. Es sind nach nordgermanischer Sitte Totengedenksteine, und sie führen in Wikingerfahrten und zu Kämpfen um Haithabu. Man erfährt, wie die Königin Asfrid ihres Sohnes Sigtrygg gedenkt und hat damit ein Merkmal an das schwedische Königsgeschlecht, das um 900 in Haithabu eindrang. Ein anderer Stein ist gesetzt von König Sven für seinen Gefährten Skartha. In letzter Zeit hat man an der Geschichte des befestigten Haithabu, das hier an dem Hauptpunkt des späteren Danewerks liegt, und an der Geschichte des nordischen Wikingerstaates, der sich hier in der Seite Jütlands neben den Dänen zur Zeit Karls einschob und der auch Heinrich I. und die Ottonen noch beschäftigte, viel gerätselt. Der Anblick eines Runensteines aber bleibt immer eine eigene Sprache gleichsam am Rande der Geschichte.
Wenn nun hier oben unser Wagen wieder die Richtung nach Süden nimmt, ist das ein Abschied von vielfachen Gedanken oder besser von vielfacher Wirklichkeit, die man gesehen. Hier oben hat man nicht mehr den römisch-germanischen Kampf, den Limes, die Aufspaltung der alten Welt vor Augen, aus deren Wunde sich ein neues Geschlecht der Geschichte im germanischen Dasein erhoben hat. Hier ist es zu der Wanderung und zu der germanischen Verbreitung der Ausgang selber, der, ungewiß in den Ansätzen, doch in seiner treibenden Natur alle Folgen geschaffen hat. Hier vor allem zwischen West- und Ostmeer sieht man die Heimat der Germanen, ihren Zusammenhang mit den Inseln und dem Norden und ihren Fortgang über die Elbe und nach dem Süden. Runensteine, Schriften auf Steinen, sind bezeichnend für diese wandernde Welt. Und indem man zur Betrachtung der großen Bewegungen über Land immer mehr die Wikingerzüge hernahm, wird ebenfalls der Gedanke an den ungewissen, aber natursinnigen Trieb in der Geschichte verstärkt. Der Limes, ganz allgemein gesagt, bedeutet gleichsam ein Wort und einen Ansatz für ein komparativisches Geschehen, womit sich die alte Welt noch in jeglicher Stärke mit einer neu kommenden messen mußte. Die Erde aber, die angeborene Entstammung, und das Meer der Fahrenden, dies sind die Gegenpole, die Grenzen und Ansätze der Natur; sie sind das Frühere und Ungemessene gegenüber der geschichtlichen Gemessenheit. Reich und Erde aber, das ist immerfort die Spanne des deutschen Sinnes geblieben. Indem wir nun im Osten Schleswig-Holsteins zurückfahren und über Hamburg in die Lüneburger Heide kommen, werden wir noch Bilder und Gedanken in diesem Abschiedsgefühl vom nördlichen Deutschland erleben.
[Die Erschaffung der Tiere vom Grabenser Altar des Meister Bertram]
[Weihnachtsbild am Altar des Meister Franke]
Der Glanz der Schlei ist hinter uns verblichen. Die Landschaft zur Ostsee hin trägt aber immer neuen lieblichen Glanz. Sie ist wie ein Stück von einem sonnigen Süden, nur daß alles viel mehr im Grün und das Grün noch mehr in der Luft schwimmend, webend und wesend ist. Man sieht fast erstaunt, mit wieviel Reiz das helle gebleichte Grau von Rohrdächern darin steht. Links erscheint bald die reinblaue große Förde von Eckernförde. Und kurz vorher hatte man sich, den über das Wasser und die duftigen Höhen hin verlorenen Blick zurückholend, ein wenig damit vergnügt, dem Exerzieren von Matrosen mit ihrem Boote zuzusehen. Doch die Ausschau hebt sich wieder, und auf hoher Brücke fährt man über den Kaiser Wilhelm-Kanal. Die Landschaft, das blaue Wasser und das ernste Spiel der Marine wollen nun aber sich zu einer neuen Stadt zusammenfügen. Wir sind in Kiel, und so neu im Stil und auch frisch die Stadt ist, das Frischeste und für den Anblick Kühnste, das wie offene Baugerüste, wie Spinngewebe in die Luft gesetzt ist, das erhebt sich in den Hafenanlagen. Hier, wo alles so verwirrend wie zielbewußt aussieht, sind unsere Sinne von selber am tätigsten und am losesten. Masten und Fahnen, Werften, gepanzerte Schiffe, Kähne, Hebe- und Laufwerke, die geregeltste Regellosigkeit — da rauscht ein Schiff hinaus; und indem man ihm mit dem Flug der Möwen nachsieht, bekommt man in der schönen Luft des fernen Hintergrundes das Marine-Ehrenmal von Laboe in den Blick.
Eine nächtliche Fahrt brachte uns nach Plön, während manchmal nur noch ein mattes Gewässer schimmerte; und erst der Morgen zeigte uns mit Wäldern und Hügeln und Seen, die ineinandergingen, die Schönheit dieser Holsteinischen Schweiz. Das Geräusch des nahen Sees, darin laubwaldige Inseln, darüber ein Morgenhimmel, in dessen Blau das leichte Gewölke wie weiße Fahnen oder wie Schwingen von großen Vögeln sich auszuwischen und wieder zu schwellen schien, lieblich ansteigende Hänge und die vollkommene Rundung in die Ferne, das alles war für sich von reinlichster Ganzheit. Das Wasser aber, kräftig in Bewegung, wollte etwas von der Nähe der großen See spüren lassen. Stieg man auf die milde Höhe, so sah man Land und Wasser zerlappt und ineinander kreisend, aber mit einer bildhaften Anmut, die von schwerer Erde frei war und in der sich Feldungen und Weidevieh leise einfügten. Man mochte denken, daß der Raum hier sei wie Reime und wie die Hebungen und Senkungen eines Gedichts. Der Gedanke an Geschichte schien hier ferne.
Und doch ist hier am Ufer auch der Ort Bosau, wo einer der besten Geschichtschreiber des früheren Mittelalters, Helmold von Bosau, als Pfarrer gewirkt und seine »Chronik der Slawen« geschrieben hat. Ohne sein Buch wäre vieles von der größeren Zeit der damaligen Germanisierung und vor allem vieles von den Einzelheiten besonders der Slawen und Slawenfürsten und ihrer Begegnungen mit den deutschen Vergrößerern des Reiches unbekannt. Das Buch ist voller Erzählung, dabei auch von einer eigenen Reise, welche Helmold 1156 durch das noch wendische Wagrien, den Ostteil Holsteins, gemacht hat. Die Bekehrung dieses Wendenlandes durch den Apostel der Wagrier, Vizelin, gehört zum Hauptinhalt. Nachrichten über den Grafen Adolf II. von Schauenburg-Holstein und die Taten Heinrichs des Löwen, der sich in der Gründung Lübecks mit dem Grafen Adolf auseinanderzusetzen hatte, über die Sachsenherzöge noch vorher und die Schicksale der Wendenfürsten sind der größere nationale Rahmen und Anhalt. Kaiser Lothar hatte schon den Anstoß zu diesem nationalen Wuchse im Norden gegeben. Graf Adolf II. ist aber hier auch der ausgezeichnete Förderer des Deutschtums. Die Gestalt des schlichten, eifrigen Vizelin, der nach vielen Schwernissen schließlich Bischof von Aldenburg oder Oldenburg, dem heutigen kleinen Orte in Wagrien, geworden war und 1154 starb, hat diese weitere Gegend mit Kirchen, den sogenannten Vizelinkirchen, also mit den kleinen geschichtlichen Grundstöcken besät, wovon mancher sofort namhaft wuchs. Helmold, der für seinen Anfang auf Adam von Bremen fußt, mit dem er auch die Neigung zum Volkskundlichen gemein hat, war ein Holste oder Holsate oder auch vielleicht, da er die Holsten sonst nicht zu rühmen weiß, ein Sachse. Hier also, und da nun unsere Fahrt durch Neumünster weitergeht, sind wir in seiner Gegend, und dieses wie auch Segeberg und andere Orte waren früh lebendig. Da war aber noch vorher auch Bornhöved am Wege gewesen, wo durch die Schlacht von 1227 Holstein wieder von der Herrschaft der Dänen, welche nach einem größeren Ostseereiche drängten, frei wurde.
Auf ebenstem Lande geht es südwärts, und dann sind wir durch Altona hindurch und in Hamburg. Wenn man auf dem Jungfernstieg am Alsterbassin gewesen, die hohen, noch altertümlichen Häuser an den Fleeten aufsteigen gesehen und zur St. Pauli-Landungsbrücke gekommen, hat man nur noch Augen für das Leben am Hafen. Diese Lebenssumme ist nicht mehr für die Gedanken, sondern für das Lichtbild. Doch ist man mitten darin, und die Verhältnisse bleiben, so kolossal sie sind, doch nahe, da man noch sehr auf die richtige bürgerliche Gewordenheit und auf den Zusammenhang mit dem gewachsenen Gesetz des Stromes aufmerken kann. Auch die St. Michaelis-Kirche mit ihrem kolossalen Barock, dem in ein Tempelchen aufgegipfelten hohen Turm und der sachlich prächtigen Fassade mit der ganzen begrifflich zügigen Architektur ist noch ein mitsprechender Trumpf in diesem Zusammenhang. Mit dem gewaltig ausladenden Kranzgesims über der mächtigen Aufstockung des Baues auf mäßiger Sockelbildung, mit dieser bestimmten Hinaufgehobenheit, mit der Vielheit und Einheit der Bauformen dann am Ganzen ist auch hier, obzwar nicht so ausschließlich wie bei der Frauenkirche in Dresden, ein Monument der Universalität gegeben, wie es dem Protestantismus sonst nicht eigen ist. Sieht man sich aber nach dem bürgerlich geistigen Grundstock des geschichtlichen Reiches um, so ist davon für diesen Norden nicht Hamburg, sondern Bremen die größere Sichtbarkeit geblieben. Und doch ging die Geschichte beider Städte für den Anfang Hand in Hand. Hamburg war ein Grenzposten in Karls Reich gewesen. Und 831 als Bischofsitz für Ansgar gegründet, wurde es unter diesem noch infolge einer Zerstörung (845) durch die Normannen in einem gemeinsamen Erzbischofsitze mit Bremen vereinigt. »Es waren kirchliche Absichten gewesen, von denen aus Bremen und Hamburg hier zu Mittelpunkten neuen Lebens gemacht worden waren. Kein Bistum, keine Landschaft, kein Ort jener Zeit kann sich einer so sicheren historischen Überlieferung rühmen, wie sie die hamburg-bremische Kirche durch die Biographieen der drei führenden Männer Willehad, Ansgar und Rimbert, des Nachfolgers von Ansgar, erhalten hat.« Die frühen Nachrichten bezeugen das Gefühl, daß man die Kunde für eine Nachwelt erhalten wollte »von den Anfängen des großen Werkes, das hier an den Grenzen der damaligen Kulturwelt in einem zukunftsreichen Neuland begonnen worden war« (Bessel). Nun stehen hier die älteren Kirchen in einer resthaften Stille, und die alten Zeiten sind schweigend geworden an der großen Elbe.
Und doch hat sich in unseren Sinn von der Verstummung der alten Ganzheit etwas unzerstörbar Wesentliches gerettet, und es war die Gotik, die uns dies unser Eigenwesen finden half, das gerade in der Stille nicht verloren geht. Als ob der Deutsche ein innerliches Wesens- und Schöpfungsbild immerfort spüren müsse, so sind manchmal die gotischen Bildtafeln. Wenn die große Spanne von Sein und Innesein, von Geschichte und Eigenheit, von Bild und Wort im Weltwesen nicht mehr sprechen will, dann sind solche gotischen Bilder wie ersetzende Inbilder, welche zugleich etwas bildhaft Bewegtes und leise Sprechendes an sich haben. Sie erzählen, was immerfort ist, als ob es bloß war, und was bloß war, als ob es einen stetigen und letzten Ingrund bewege, um immer zu sein. Wohl bei keinem gotischen Meister aber mag man dies Wesen inneren Austauschs von Schöpfung und Erzählung, von angeborener und zeitgewordener Bestimmung so still und nachdringlich spüren als bei dem Meister Bertram. «
Wir stehen in der Hamburger Kunsthalle vor seinen Altartafeln und vor denen des ihm alsbald nachfahrenden Meisters Francke. Der Meister Bertram ist, obwohl etwa 1345 in Minden an der Weser geboren, ein Hamburger geworden, und seine Bilder glaubt man gerne in alter Zeit am Elbstrom geschaffen. Wir stehen nun hier vor seinem sogenannten Grabower Altar. Was uns hierzu angehen will, ist besonders die Schöpfungsgeschichte. Wir betrachten die Inhalte, Gott Vater als Wirkenden und die Dinge des Daseins als seine Wirkungen, und diese Inhalte sind wie geatmete Erzählungen. Dann fällt uns im Schauen auf, daß die Proportionen hier noch auffälliger als sonst ihre eigene Bedeutung haben. Die Dinge sind dabei klein, aber die Sinnigkeit der Ausdrucksweise ist groß. Das heißt, der Sinn, und wie er seine Umrisse sich selber zufügt, schafft die Größe; und die Dinge, die er ins Entstehen ruft, sind nicht zuerst bei sich selbst, sondern sie stehen zu dem Sinne in Spannung. Sie sind mehr zu sich ausgeschlossen und zugleich zum Sinne hin doch festgemacht, und sie sind nicht zuerst bloß natürlich vorhanden. Es ist ein Stil der Erzählung, der sie bindet; und es macht darin nichts, daß sie ihre natürliche Proportion nicht haben. Sie sind doch gerade bei Bertram im Bezuge zu einer schweigenden Richtigkeit.
Aber sie sind auch, wenn wir unseren Blick wegwenden, in uns gedrungen wie eine Frage der Erde, ob sie der Größe des rufenden Sinnes folgen könne. Eine Frage, ein Sinn von einem »Wie« scheint in uns fortzusprechen: »Wie groß oder wie klein — wie geschieht das, was geschieht?« Nun blicken wir wieder auf die Tafeln und sehen, wie einfach alles auf ihrem schönen, reinlich und in kleinen Rahmen abgeteilten Plane geschieht. Doch dabei empfinden wir es nun auch so, als ob diese Figuren und Dinge mehr ihr Geschaffenes, ihre Geschaffenheit aussprächen als ihr Dasein wüßten. Es ist das Vorgebot eines Sprechens im Bilde vor dem An-sich-Vorhanden- sein. Eine tätige, wie sprechende Bewegtheit, dieser bei Meister Bertram besonders schöne Sinn, bildet das Wesen der Gotik. Und daß die Kreatur durch ihre Bezogenheit spricht, dies ist der schließliche stille Grundbegriff der Kreatur im Mittelalter.
Das Tun also ist bewegt durch ein »Wie«. Und wenn dieses bewegte »Wie« sich die Schöpfung zu bilden vornimmt, so ist dies kein Zufall im Stoffe, sondern eine sinnige Zeitwahl. Wenn diese bewegte, stille und stillende Erzähltheit aber nachläßt, so wird leicht ein sinniger Zug sich vermehren, der etwas schmerzlich ist. Dies ist dann bei dem ein wenig späteren Hamburger Meister Francke. All dieser gotische Sinn aber will sagen, daß die Welt der Schöpfung ein Gleichnis des fassenden Sinnes ist. Je getreuer das Tun des Menschen mitgeht, desto weniger wird die Besinnung schmerzlich. Und diesen ganzen Sinn aber hat wohl keine Kunst so wesentlich gefaßt oder ausgeübt als eben diese noch frühe deutsche Gotik.
Die Gotik war ein geschichtlicher Zustand. Wir pflegen diese deutschen Meister naiv zu nennen. Aber dies ist insofern ein Mißverständnis, als es ihre geschichtliche Zeitform war, die sie als ihr tragender Grund bestimmte, und von der sie selber als ein »Wie« ihres Daseins bewegt waren. Wenn wir sie von unserer bloßen Natürlichkeit her nachahmen wollen, geraten wir ins Künstliche. Denn ihre Tafeln haben so wenig von unserem natürlichen Dasein wie ihr Goldgrund von unserer nackten bloßen Erde. Der Goldgrund ist wie ein zweiter Grund, ein Sinngrund, auf dem das Tun dem Dasein zuvorwalten kann. Und auch die Tafeln und die Schreinaltäre sind nicht zuerst zweckmäßige Erfindungen für den Gebrauch der Kirche, sondern sie sind Schaugründe an Stelle des Erdwesens, und sie bedeuten — mag dies auch drollig klingen — etwa die vermehrten Angeln des Inbildes, um die sich die Sinnhaftigkeiten bewegen. Der gotische Sinn malte nicht vom Erdgrunde, sondern vom Geschichts- und Zeitgrunde her.
Und doch — nun ist es eben merkwürdig, daß für unseren deutschen Sinn gerade die gotischen Tafeln noch so viele, auch nach der Verlorenheit der äußeren Kirchenfestigkeiten fortschweigende Sinngültigkeit haben. Die Gotik erscheint uns als eine besonders gültige Schöpfung unserer Kreatur, worin diese sich selber mitgeschaffen hat. Es scheint hier ein sonderbares deutsches Geheimnis verborgen, daß nämlich der deutsche Sinn auf dem geschichtlichen Wege zu einem besonderen schöpfungsmäßigen Gefühl von sich selber gekommen ist oder auf diesem Wege eine natürliche Beständigkeit sucht. Ob man von solchen Gedanken aus zu der schon früheren Mystik und etwa zu Meister Eckhart einen Zusammenhang finden könnte? Doch es handelt sich schließlich nicht darum, sondern eben darum, daß die Gotik ein einiges Element der empfindenden Sinne geworden scheint, das durch alle Gemüter des deutschen Bekennens noch gleich hindurchgeht. Es ist diese Gotik, welche nicht mehr mit ihrer Kraft das mittelalterliche Reich erhalten konnte. Aber sie scheint eine letzte Inständigkeit gesichert zu haben, in welcher sich der deutsche Sinn wie in einem Bilde sucht und findet.
Wir könnten mit diesem Gedanken an die Gotik, welcher noch weniger ein Gedanke als eine Frage an das Schicksal des deutschen Wesens ist, unsere Reise durch deutsche Landschaften schließen. Wir werden uns bewußt bleiben, daß, so weit die gotische Spanne auch über das völkische Wesen hingriff und so sichtbar sie, wenn zwar weniger zum Reich, jedoch zum »Haus« des Volkes werden konnte, ihr Sinnbau der Geschichte für das Grundwesen der Welt nicht ausreichend sein mochte. Gerade das geschichtlichste Gebilde ist schließlich nur ein Bild gewesen. Und gerade wo der Mensch seine eigenste Bergung finden will, da ist er schließlich nicht geborgen. So war es mit diesem gotischen Sinne. Was im Willen ist und was im Grunde ist — das Reich und die Erde muß sich immer wieder in stärkster Spanne auseinander legen, um dem Sinn der Welt seinen Raum zu geben. Das Gesetz der Geschichte ist keine Bergung, es ist eine Aufspaltung, eine Notwendigkeit und ein Wille zum Schicksal. Zwischen Zeit und Erde muß immer wieder ein sich steigerndes komparativisches Geschehen einsetzen.
Der Morgen nach einer beschaulich schweigsamen Nachtfahrt findet uns in Fallingbostel in der Lüneburger Heide. Unser Weg geht mit schöner Sonne durch sandigen schütteren Wald, und unser Ziel sind die Sieben Steinhäuser. Das sind gewaltige steinzeitliche Grabkammern, Steinblöcke als Kammern und auch noch in Ordnung einer weiteren Anlage hingesetzt und die Kammern mit ebensolchen gewaltigen rohen Steinplatten überdeckt, das Vorhandene mehr oder weniger im Verfall, aber von einer Mächtigkeit, die der Verfall beinahe noch mehr aufgedeckt hat. Wir Heutigen, die sich leichter an Kunststimmungen gewöhnen als an Naturstimmungen, müssen uns den schweigenden Begriff einer Naturanlage der Gräber hier erst vergegenwärtigen. Wir finden die Ganzheit eines frühen Lebens; und dann dringt auf uns ein, daß auch die stärkste Naturhaftigkeit eines Denkmals ein Wille gegen die Natur, ein »Trotzdem« ist, das sich dem Reich der Erde nur durch das dunkle Wesen einer Vergleichung und Steigerung verschwistert fühlt. Hier in dieser Vorzeit hat die einfache und erdschwere Gewalt des »Trotzdem« noch das Übergewicht über den Sinn. Aber indem alles in der Zeit, im Verhältnis zu seinem Sinn oder Inbilde wachsend, zu sich selber wächst, wächst auch der Sinn selber, und das gesamte Verhältnis scheint einer reinen Lösung nahe. Der freie Sinn oder das innerlich wirkende Verhältnis will sich an die Stelle des »Trotzdem« setzen. Aber dies Letzte geschieht nicht. Ja, wenn es geschähe, wäre die Erde nicht mehr fruchtbar. Denn der Sinn der Erde, nach einer reinen Gänze strebend, muß, als ob es so von einem Geschehen bestimmt sei, welches keine Ruhe, weder in der Vollkommenheit eines Gestirns noch in einer menschlichen Brust, gefunden hat, sich immer wieder neu und wie aus einem in der Erde vergrabenen Bilde erholen. Nicht ein Gesamtes gilt, sondern jeder Teil muß den Beschluß immer neu zu sich selber fassen. Der Zusammenhang der Welt ist nicht gegeben als in dem »Trotzdem«, das bestehen bleibt. Vielleicht hat von aller Welt am meisten die deutsche durch dieses Wesen zwischen Erde und Reich ihr stärkstes Sinngefüge erhalten.